Kontroverse um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Gudrun Hentges und Julia Reuter Kontroverse um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit D In jüngster Zeit findet der Begriff ie Wurzeln des Neologismus Neuerdings findet der Begriff der »Cancel Culture« reichen weit »Cancel Culture« auch an Hochschulen der »Cancel Culture«, verstan- zurück in das 20. Jahrhundert. Eingang in Debatten um »Wissen- den als Einschränkung der Rede- Debatten um »Political Correctness« ha- schaftsfreiheit«. Dabei kommt es zu ei- ben ihren Ursprung in den USA, sie ent- ner eigentümlichen Vermischung von und Meinungsfreiheit, auch Ver- standen im Kontext der Sozialbewegun- Argumenten. Denn die Frage, wie »frei« wendung in Diskussionen um gen des 20. Jahrhunderts, die vor allem Wissenschaftler*innen in Forschung die »Wissenschaftsfreiheit« an in den 1960er Jahren eine große Wir- und Lehre sind, und ob sie »alles« sagen deutschen Hochschulen. Argu- kungskraft entfaltet haben: die Bürger- dürfen, wird oft gegen eine diversitäts- rechts-, die Frauen-, die Lesben- und gerechte Hochschulbildung ausge- mentiert wird häufig gegen eine Schwulenbewegung. spielt.4 diversitätsgerechte Hochschul- Als Sozialwissenschaftlerinnen, die bildung und gegen die Bedin- als »weiße« Professorinnen an einer gungen akademischer Wissens- »Cancel Culture« Universität zu postkolonialen und ras- produktion, unter denen diese sistischen Ordnungen in der Wissen- als Kampfbegriff schaft forschen und lehren, kamen wir stattfinden kann. Gudrun Hent- Immer häufiger wird hierzulande der zuletzt immer wieder mit Debatten um ges und Julia Reuter widmen Anglizismus »Cancel Culture« als Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in sich der Frage, wie Forschung Kampfbegriff gegenüber Personen ein- Berührung. Dabei stellen wir uns die und Lehre zu einer diversitäts- gesetzt, die sich öffentlich für Men- Frage, wie Forschung und Lehre einen sensiblen Hochschule beitragen schen- und Minderheitenrechte enga- Beitrag leisten können zu einer diversi- gieren und gegen gruppenbezogene tätssensiblen Hochschule, an der Diskri- können, an der Diskriminierung Menschenfeindlichkeit vorgehen.2 minierung und Menschenfeindlichkeit keinen Platz hat und diskutie- Da es bei diesem Engagement zu- keinen Platz haben. Ergebnis dieser ge- ren, in welchem Verhältnis die- meist um die Sichtbarmachung und Be- meinsamen Reflexionen ist die Stellung- ser Anspruch zur Meinungs- und kämpfung von Marginalisierung und nahme »Für Freiheit in Forschung und Wissenschaftsfreiheit steht.1 struktureller Diskriminierung benachtei- Lehre« der Forschungsstelle für inter- ligter Personengruppen und um das kulturelle Studien, die auch über die Anstoßen statt Absagen zentraler De- Fachöffentlichkeit hinaus auf mediales batten geht – gerade auch mit Blick auf Interesse stieß. die Frage, welche Rolle die Wissenschaft bei alledem spielt –, ist eine pauschale Aburteilung als »Cancel Culture« nicht Netzwerke für Meinungs- gerechtfertigt. Häufig wird der Vorwurf und Wissenschaftsfreiheit formuliert, es gehe lediglich um das Mo- ralisieren, um »individuelle Befindlich- Welche Rolle spielen in diesem Kontext keiten« oder um die Durchsetzung von Stiftungen oder Netzwerke, die sich den Ideologien mächtiger »Weltanschau- Schutz und die Verteidigung von Mei- ungsgenossen«.3 Diese Spielarten der nungs- und Wissenschaftsfreiheit auf Kritik, die häufig medial inszeniert wer- ihre Agenda geschrieben haben und ge- den, zielen darauf ab, Antirassismus und gen eine vermeintliche »Cancel Cultu- Antisexismus zu delegitimieren. re« vorgehen wollen? Forum Wissenschaft 2/21 13
Wissenschaftsfreiheit müsse nun zur Rechenschaft gezogen Lehre« »wissenschaftsfremde Grenzen« werden. Das Manifest The Shadow Uni- gesetzt werden. Somit entstehe ein versity wirft den Universitäten vor, über »Konformitätsdruck«, der »wissen- ein »verdecktes Justizsystem« auf dem schaftliche Debatten« von Beginn an zu Campus zu verfügen, auf Scheingerichte ersticken drohe. Es wird unterstellt, dass zurückzugreifen und »willkürliche Be- Forschungsprojekte, die nicht den welt- strafung« vorzunehmen, um die Mit- anschaulichen Vorstellungen der An- glieder der Hochschulen zur Konformi- hänger*innen einer »Cancel Culture« tät zu zwingen. Die Autoren sind der entsprächen, verhindert würden. Da Meinung, an den Hochschulen dominie- Projektanträge und das Reviewing von re eine »totalitäre Denkweise«, die sich Publikationen zumeist von Fachkol- in »Sprachregelungen, Verhaltenskodi- leg*innen durchgeführt werden, steht zes und Bürokratien des Campuslebens« also durchaus auch der implizite Vorwurf manifestiere.6 »wissenschaftlichen Fehlverhaltens« im Auch FIRE-Mitarbeiter Greg Lukia- Raum. noff bediente das Narrativ einer »Schat- Gemessen an der großen Anzahl an tenuniversität« und sorgte mit seinem Unterzeichner*innen (ca. 450) des Ma- Buch Unlearning Liberty: Campus Cen- nifests und der Presseresonanz sind die sorship and the End of American Debate bisherigen Aktivitäten des Netzwerks je- (2012) für breite öffentliche Aufmerk- doch gering. Sie beschränken sich der- samkeit.7 zeit (Stand: 30. April 2021) auf die An- Lukianoff präsentiert »schockierende kündigung eines Workshops zum The- Fälle von Zensur an Amerikas Colleges ma »Wissenschaftsfreiheit und Cancel- und Universitäten«. Er behauptet, dass culture«, in dem »Kritiker, Opfer und aktuell die universitäre Lehre Studieren- Verteidiger der Cancelculture miteinan- de nicht zu einem kritischen Denken er- der ins Gespräch« gebracht werden sol- ziehen könne, sondern ideologische len, um sich über »rechtliche Grundla- Index librorum prohibitorum (= Verzeichnis der Spaltungen verstärke. Diese Kultur der gen, Grenzen und aktuelle Probleme der verbotenen Bücher), ein Verzeichnis der römischen Unterdrückung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit« auszutau- Inquisition Wissenschaftsfreiheit hinterlasse ihre schen.10 Spuren auch in der Gesellschaft; diese Aussagekräftiger als das recht allge- Die US-amerikanische Foundation for sei nicht mehr dazu in der Lage, rational mein gehaltene Manifest sind die Posi- Individual Rights in Education (FIRE) zu debattieren. tionen der Netzwerk-Initiatorin Sandra verfolgt das Ziel, die individuellen Rech- Ausgerechnet am Internationalen Kostner, die den Begriff einer »identi- te von Studierenden und Lehrenden zu Frauentag 2021 wurde mit der Acade- tätslinken Läuterungsagenda« geprägt verteidigen. Dazu zählt FIRE u. a. Rede- mic Freedom Alliance (AFA) just ein hat: freiheit, Vereinigungsfreiheit, Religions- weiterer Zusammenschluss von Hoch- freiheit und die Unantastbarkeit des Ge- schullehrenden in den USA gegründet, »In der extremsten Form hat das Läu- wissens. Die 1999 von Alan Charles Kors der ebenfalls für die »Wahrung des Prin- terungsbedürfnis so weit geführt, dass und Harvey Silverglate gegründete Stif- zips der akademischen Freiheit« ein- Identitätslinke ein neues Überlegen- tung begreift es als ihre Aufgabe, die tritt.8 Während FIRE vor allem das Cam- heitsgefühl entwickelt haben. […] Mitglieder der Colleges und Universitä- pusleben der Studierenden im Blick hat, Das neue Überlegenheitsgefühl be- ten sowie die Öffentlichkeit darüber adressiert AFA in erster Linie Hochschul- zieht seine Kraft aus dem moralischen aufzuklären, dass die Rechte an den lehrer*innen. Läuterungsgrad, den Mitglieder der Hochschulen bedroht seien.5 Anknüpfend an FIRE und Lukianoffs ›Dominanzgesellschaft‹ aufweisen Mit ihrer Streitschrift The Shadow Publikation erfolgte die Gründung des können. […] Wahrlich frappierend ist University: The Betrayal Of Liberty On Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit im Fe- in diesem Kontext, dass viele Identi- America‘s Campuses (1998) erzielten bruar 2021.9 Die inhaltliche Nähe zwi- tätslinke offenbar gar nicht merken, Kors und Silverglate große Resonanz. schen der US-amerikanischen Blaupause wie sehr ihre gut gemeinten, dem Nach Ansicht der beiden Autoren grenz- und dem Netzwerk Wissenschaftsfrei- Kampf gegen Rassismus gewidmeten ten sich Universitäten von der Gesell- heit ist auffällig. Auch im Manifest des Strategien einer neuen Form von Ras- schaft ab, indem sie ihre »eigene poli- Netzwerkes ist davon die Rede, dass die sismus, den man als Läuterungsrassis- tisch korrekte Weltsicht durch Zensur, »Freiheit von Forschung und Lehre« ge- mus bezeichnen könnte, Vorschub doppelte Standards und ein Rechtssys- gen »ideologisch motivierte Einschrän- leisten. Indem sie die ›Dominanzge- tem ohne ordentliche Verfahren durch- kungen« verteidigt werden müsse. An- sellschaft‹ alleine oder so gut wie aus- setzen«. Sie versteigen sich zu der The- geprangert wird, dass die Freiheit von schließlich für die gesellschaftliche se, die Universitäten hätten eine »heim- Forschung und Lehre unter »morali- Positionierung aller Nichtprivilegier- liche Kehrtwende« vollzogen und seien schen und politischen Vorbehalt gestellt ten verantwortlich machen, sprechen zum »Feind einer freien Gesellschaft« werden« solle. Man könne beobachten, Identitätslinke denjenigen, als deren geworden. Diese »Schattenuniversität« dass der »Freiheit von Forschung und Anwälte sie auftreten, ihre Hand- 14 Forum Wissenschaft 2/21
Wissenschaftsfreiheit Galileo Galilei bei seinem Verfahren vor der Inquisition. Sein Werk Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano stand auf dem »Index«. lungsfähigkeit ab. Ausgerechnet die- ner, stand von Beginn an fest, dass Geor- nen Konformismusdruck durch »Identi- jenigen, die ihre antirassistische Hal- ge Floyd starb, weil er schwarz war. Eine tätslinke« sehen. tung als ethisch moralisches Leucht- Infragestellung dieser Aussage führe Es bleibt die Frage, ob vorschnelle An- signal vor sich hertragen, entlarven zum Rassismusvorwurf. Kostner wagt rufungen identitätspolitischer Katego- sich dergestalt selbst als Rassisten.«11 die steile These, dass die »gefilmte Sze- rien nicht den Blick für gemeinsame For- ne, die das Knie eines weissen Polizisten schungsanliegen unterschiedlicher Ak- Hier wird deutlich, dass Kostner nicht auf dem Hals eines am Boden liegenden teur*innen verstellen und Dynamiken nur »Identitätslinke« als Begriff erfun- Afroamerikaners zeigt« keineswegs of- eines identitätspolitischen Zugehörig- den, sondern auch den Begriff des fenbare, »ob für den Polizisten Rassis- keitsregimes hochschrauben, das kaum »Läuterungsrassismus« aus der Taufe mus ein handlungsleitendes Motiv« ge- Raum für einen wissenschaftlichen Aus- gehoben hat. Ein Effekt der Begriffs- wesen sei. Während einige der Journa- tausch lässt.14 schöpfung ist eine Täter-Opfer-Um- list*innen und Wissenschaftler*innen Es wäre zielführender, die Diskussion kehr: Nicht Rassist*innen seien verant- davon überzeugt seien, verurteilten an- um Freiheit in Forschung und Lehre wortlich für rassistische Diskriminie- dere diesen Fall als rassistisch motivier- nicht unter juristischen und politischen rung, sondern jene, die im Namen des ten Mord, um nicht selbst ins Faden- Begriffen wie Meinungsfreiheit, Wissen- Antirassismus vorgeben, diesen be- kreuz der »äusserst kampagnenstarken schaftsfreiheit oder »Cancel Culture« zu kämpfen zu wollen. Aktivisten zu geraten«.12 führen, sondern unter theoretisch-ana- Diese höchst problematische Argu- lytischen Begriffen, wie z. B. der symbo- mentation findet an anderer Stelle noch lischen Gewalt, der institutionellen Dis- eine Steigerung, wenn Kostner behaup- Für diskriminierungskritische kriminierung, der Positionalität oder In- tet, dass das Konzept des »strukturellen tersektionalität. Genau aus diesen For- Rassismus« Ergebnis einer »neue[n] ak- Forschung und Bildung schungszusammenhängen sind in den tivistische[n] Wissenschaft« sei, die aus Sicherlich lenkt das Netzwerk Wissen- letzten 20 Jahren nicht nur zahlreiche den Critical Race Studies hervorgegan- schaftsfreiheit mit seinen Bedenken ei- anspruchsvolle empirische wie theoreti- gen sei. Es handele sich um eine »Rassis- nes »Konformitätsdrucks« den Blick auf sche Analysen, Forschungsverbünde musforschung, die ohne alle empirische die Voraussetzungen von Wissen- und Studiengänge hervorgegangen. Es Basis« auskomme, was sie am Beispiel schaftsfreiheit in Zeiten eines »akademi- wurden auch Institute, Vereine und des Todes von George Floyd erläutert. schen Kapitalismus«13; wenngleich die Netzwerke gegründet, die ihrerseits auf Für »Antirassismusaktivisten«, so Kost- Netzwerk-Sprecher*innen vor allem ei- die sozialen Limitierungen von Wissen- Forum Wissenschaft 2/21 15
Wissenschaftsfreiheit schaft(sfreiheit) hingewiesen haben. freiheit nicht benannt wird. Dabei könn- Fähigkeit abgesprochen wird, objektiv Diese Netzwerke von Wissenschaft- te die »teilnehmende Objektivierung« über Rassismus forschen zu können,21 ler*innen fokussieren jedoch nicht die der eigenen Tätigkeit hier durchaus auch fallen ebenso darunter wie gezielte Dif- Frage, ob im akademischen Bereich jede produktiv für die eigene Thematik ge- famierungen von ausgewiesenen Ras- Person ihre Meinung sagen darf oder wendet werden.18 Denn wie wirkmäch- sismusforscher*innen, wie etwa das nicht. Es geht eher darum, welche Äuße- tig das symbolische Kapital des Netz- Beispiel von Professorin Maisha-Mau- rung als persönliche Meinung und wel- werks ist, zeigt sich auch am großen me- reen Auma zeigt. Die FiSt tritt mit ihrer che als wissenschaftliches Argument dialen Interesse an seinem inhaltlich va- Stellungnahme für eine Wissenschaft wahrgenommen wird, wie ein, die mit dem Instrumentari- durch Worte Soziales geschaf- um kritischer Rassismus- und fen wird, welche Sprecher*in- Diskriminierungsforschung nenposition im wissenschaftli- ebendiese Phänomene erkennt chen Diskurs mehr oder weni- und einordnet. Kommt sie zu ger Gewicht hat, oder auch dem Ergebnis, dass hier »klas- welche Personen(gruppen) das sistische«, »sexistische« »ras- Privileg besitzen, die Gewalt, sistische« oder allgemein die von manchen Äußerungen »menschenverachtende« Äu- ausgeht, nicht wahrnehmen zu ßerungen und Handlungen müssen.15 Dies sind keine »per- vorliegen, sieht sie die Not- sönlichen Empfindungen oder wendigkeit zu widersprechen. Empfindlichkeiten«, »morali- Dies ist keine Verletzung von sche Appelle« oder »linke Läu- Neutralität, sondern die Um- terungen«, sondern zunächst setzung von Sachargumenten einmal analytische Fragen, die – insbesondere für Dozent*in- sich Wissenschaftler*innen nen, die sich qua ihres Be- stellen (sollten). amt*innenstatus oder ihrer Be- Die Forschungsstelle für in- schäftigung an einer staatli- terkulturelle Studien (FiSt) der chen Bildungseinrichtung, aber Universität zu Köln beschäftigt auch als Mitglieder einer aka- sich mit diesen Fragen seit nun- demischen Gemeinschaft im mehr 25 Jahren.16 Dieser Zu- Sinne der Menschenrechte und sammenschluss kritischer Mi- des Grundgesetzes sowie den grationsforscher*innen gab im Simone de Beuvoir. Ihr Buch Le Deuxième Sexe ethischen Kodizes der Scientific August 2020 die Stellungnah- (Das zweite Geschlecht) stand auf dem »Index« Community und der hier gülti- me »Für Freiheit in Forschung gen Codes of Conduct ver- und Lehre« heraus, die das Er- pflichtet haben. gebnis gemeinsamer Aktivitäten in For- gen Gründungsmanifest, das statt wis- Die Überwindung von strukturellen schung und Lehre markiert. Anders als senschaftlich-differenzierter Analyse auf Ungleichheiten und Vulnerabilität ist beim Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, erfolgreiches Agenda Setting in einer keine Aufgabe der betroffenen Ak- dessen überwiegend professoraler politisch aufgeheizten Debatte um ver- teur*innen selbst, sondern eine Aufgabe Gründungskern 62 Akademiker und meintliche »Cancel Culture« abzielt.19 aller Mitglieder der Hochschule, vor al- zehn Akademikerinnen etablierter Fach- Demgegenüber steht die lange vor lem aber derjenigen, die von diesen Un- disziplinen umfasst, wird hier Expertise Gründung des Netzwerks Wissen- gleichheiten profitieren.22 Zahlreiche aber nicht vom (Professor*innen-)Status schaftsfreiheit formulierte FiSt-Stellung- Hochschulen haben dies in jüngster Zeit abhängig gemacht. Denn aus Sicht der nahme, der ein anderes Verständnis von erkannt und Diversitätskonzepte entwi- FiSt fängt genau dort die Beschränkung Freiheit und Forschung zugrunde liegt. ckelt. Auch die Deutsche Forschungsge- von Wissenschaftsfreiheit an, wo über So beobachtet die FiSt mit Sorge, dass in meinschaft hat sich dem Problem der die Asymmetrie wissenschaftlicher Kom- jüngster Zeit verstärkt rassismuskriti- Chancenungleichheit in der Wissen- munikation nicht nachgedacht wird und sche Forschung und Forscher*innen ge- schaft gestellt und fordert von Antrags- bestimmte Statusgruppen im akademi- zielt diffamiert werden. Das umfasst stellenden seit einigen Jahren Stellung- schen Diskurs nicht dieselben Teilhabe- Lehrveranstaltungen, in denen Studie- nahmen zur Einhaltung ethischer Stan- chancen besitzen.17 rende oder Kolleg*innen wissenschaftli- dards und den Schutz vulnerabler Pro- Auch das Netzwerk Wissenschafts- che Befunde oder Konzepte der Rassis- band*innen.23 Das hat nichts mit »Can- freiheit sollte seine Position im sozialen musforschung als Diskussionsgrundlage cel Culture« oder Einschränkung von Feld der Universität kritisch hinterfra- ignorieren, oder auch das Abkanzeln Meinungsfreiheit zu tun, sondern dient gen. Es ist zumindest verwunderlich, rassismuskritischer Aktionen als »über- der Sicherung guter wissenschaftlicher dass diese durch strukturelle Macht- und zogene Antworten einzelner Beleidig- Praxis. Herrschaftsverhältnisse begünstigte ter«. 20 Diskriminierungserfahrungen »Gute wissenschaftliche Praxis be- »Unfreiheit« wissenschaftlicher Rede im von Promovierenden, denen aufgrund deutet, die Grenzen des Sagbaren be- Manifest des Netzwerks Wissenschafts- ihrer eigenen Migrationsgeschichte die gründet zu markieren. Gute wissen- 16 Forum Wissenschaft 2/21
Wissenschaftsfreiheit schaftliche Praxis bedeutet, die Situiert- Anmerkungen 15) Vgl. auch die Beiträge in: Gudrun Hentges / Kristina Nottbohm / Mechtild Jansen / Ja- heit wissenschaftlicher Praxis und die ei- mila Adamou (Hg.) 2014: Sprache – Macht gene Positionierung entlang ungleich- 1) Für hilfreiche Anregungen und Kommenta- – Rassismus, Berlin. re bedanken wir uns bei Henrike Terhart heitsrelevanter Machtstrukturen mitzu- und Daniel Meyer (beide: Universität zu 16) https://www.hf.uni-koeln.de/37630. denken«.24 Wissenschaft ist ein soziales Köln) und Michael Klundt (Hochschule 17) Auch wir als Autorinnen dieses Textes wer- Kräftefeld. Anstatt Meinungsfreiheit Magdeburg/Stendal). den aufgrund unserer Positionen in der Uni- 2) Vgl. Gudrun Hentges 2014: »Geschichte versität vermutlich häufiger auf die Stel- und Rassismuskritik gegeneinander aus- lungnahme der Forschungsstelle als An- und Intention der Political Correctness«, in: zuspielen, sollte man die vom Netzwerk Polis. Report der Deutschen Vereinigung sprechpartnerinnen »gelesen« und für wei- Wissenschaftsfreiheit wiederholt geäu- tere Auskünfte oder Publikationen häufiger für Politische Bildung, Heft 1/2014: 6 – 9. angefragt werden als etwa andere Mitun- ßerte Befürchtung einer ungleichen Ver- 3) Sandra Kostner 2020: »Flucht vor Argu- terzeichnende in anderen akademischen teilung von Rederechten, Forschungs- menten«, in: FAZ v.28.11.2020. Abrufbar Positionen. unter: https://www.faz.net/aktuell/karrie- mitteln und Stellen lieber empirisch un- 18) Vgl. Pierre Bourdieu 1975: »The specificity re-hochschule/hoersaal/warum-eine-be- of the scientific field and the social condi- tersuchen. Denn am Ende sind nicht grenzung-der-redefreiheit-an-hochschu- tions of the progress of reason«. Informati- Meinungen, sondern Erkenntnisse die len-fehl-am-platz-ist-17067717.html . on (International Social Science Council) Leitwährung wissenschaftlicher Kom- 4) Vgl. z.B.: Encarnación Gutiérrez-Rodríguez 14: 19 – 47. et al. 2016: »Rassismus, Klassenverhältnisse 19) Durch die vom Netzwerk Wissenschaftsfrei- munikation. und Geschlecht an deutschen Hochschulen. heit, insbesondere seiner Sprecherin Sandra Ein runder Tisch, der aneckt«, in: sub\ur- Kostner in der Presse (s. o.) geäußerte Kritik ban. zeitschrift für kritische stadtforschung an der Stellungnahme, hat sich der Auf- 4 (2/3): 161 – 190; Sara Ahmed 2012: On merksamkeits- und Rezipient*innenradius Ausblick Being Included. Racism and Diversity in In- schlagartig erweitert. stitutional Life. Durham: Duke University 20) Vgl. z. B. die Reaktionen auf die Petition Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Press. #unirassismuskritisch der Kölner Studentin der Kontroverse haben auch eine inter- 5) Vgl. https://www.thefire.org. Senami Hotse: https://www.ksta.de/koeln/ nationale Dimension. Somit sollten Wis- 6) Alan Charles Kors/Harvey Silverglate 1999: -sie-sehen-exotisch-aus–studentin-fas- The Shadow University: The Betrayal Of Li- sungslos-ueber-alltagsrassismus-an-der- senschaftler*innen über den national- uni-koeln-37788694. berty On America‘s Campuses, Free Press. staatlichen Tellerrand blicken und zur Eigene Übersetzung. 21) Vgl. Karim Fereidooni 2020: »›Du führst Kenntnis nehmen, welchen Gefahren 7) Greg Lukianoff 2012: Unlearning Liberty: Dich auf wie Mister Diskriminierung per- sönlich!‹ Gedanken zur Kritik an einer ras- Wissenschaftler*innen in anderen Län- Campus Censorship and the End of Ameri- sismuskritischen Forschungsarbeit«; in: dern ausgesetzt sind – sei es in Ungarn, can Debate, New York. Eigene Überset- Daniela Heitzmann/Kathrin Houda (Hg.): zung. Polen, Rumänien oder in der Türkei. Die Rassismus an Hochschulen. Analyse – Kritik 8) https://academicfreedom.org. Einem der – Intervention, Weinheim/Basel 2020: Initiative Scholars at Risk stellt sich die- Gründungsmitglieder, Steven Pinker, wird 131 – 156. sen Herausforderungen, indem sie ver- aufgrund seiner Veröffentlichungen Rassis- 22) Heitzmann/Houda (Hg.) (siehe Anm. 21): folgte Wissenschaftler*innen durch Be- mus und Sexismus vorgeworfen. Vgl. Mi- 9. chael Powell 2020: »How Steven Pinker be- ratung, Rechtsbeistand, Stipendien etc. 23) Vgl. https://www.dfg.de/foerderung/ came a Target over his Tweets«, in: New unterstützt. In ihrem Bericht »Free to grundlagen_rahmenbedingungen/diversi- York Times, 15.7.2020. ty_wissenschaft/index.html. think«25 dokumentieren sie allein für 9) »Ich las ein Buch von Greg Lukianoff, der 24) So zu lesen in der FiSt-Stellungnahme. den Zeitraum von September 2019 bis bei der Foundation of Individual Rights and 25) https://www.scholarsatrisk.org/resources/ August 2020 341 Angriffe auf Hoch- Education arbeitet, die es in den USA seit 20 free-to-think-2020/. Jahren gibt. Ich dachte: Eine Institution, die schulen in 58 Ländern. Darunter fallen sich für individuelle Freiheitsrechte an gewalttätige Angriffe auf Universitäten Hochschulen einsetzt, brauchen wir auch«, in Afghanistan, Indien, Jemen, illegale Sandra Kostner, zit. nach: »Freiheit der Wis- senschaft. Was nicht genehm ist, wird ab- Inhaftierungen und Verfolgungen von gelehnt«, in: Die Zeit v. 4.2.2021. Wissenschaftler*innen, Einschränkun- 10) https://www.netzwerk-wissenschaftsfrei- gen der Reisefreiheit (Israel, Türkei, heit.de/veranstaltungen/aktuelles/ . Gudrun Hentges, Professorin für Politik- USA), Unterdrückung von Meinungs- 11) Sandra Kostner (Hg.) 2020: Identitätslinke wissenschaft, Bildungspolitik und poli- äußerungen von Studierenden (Kolum- Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren tische Bildung an der Universität zu Folgen für Migrationsgesellschaften, Stutt- bien, Indien, palästinensische Gebiete, gart: 31. Köln; 2020 erschien der von ihr hrsg. Südafrika) und Bedrohungen der Auto- 12) Sandra Kostner 2020: »Wer den strukturel- Band »Krise der Demokratie – Demo- nomie von Universitäten (Brasilien, len Rassismus leugnet, muss selbst ein Ras- kratie in der Krise? Gesellschaftsdiag- Ghana, Polen, Rumänien, Russland, sist sein – Analyse eines gefährlichen Denk- nosen und Herausforderungen für die fehlers«, in: Neue Züricher Zeitung v. Türkei). 1.12.2020 politische Bildung«; im August 2021 er- Diese bedenklichen Entwicklungen 13) Richard Münch 2011: Akademischer Kapi- scheint der von ihr gemeinsam mit außerhalb der EU und der USA sollten in talismus. Über die politische Ökonomie der Georg Gläser und Julia Lingenfelder der Debatte um wissenschaftliche Frei- Hochschulreform, Berlin. hrsg. Band »Demokratie im Zeichen von heit und die Frage einer »Cancel Cultu- 14) Nicht zuletzt werden mit einem identitäts- Corona«. politischen Schubladendenken auch solche re« mitberücksichtigt werden. Sie lassen Julia Reuter, Professorin für Erziehungs- Wissenschaftler*innen inkludiert, die sich deutlich werden, dass die Rechte von aus ganz unterschiedlichen Gründen einem und Kultursoziologie an der Universität Minderheiten auf dem Campus immer Netzwerk, Verein oder einer Bewegung as- zu Köln; 2020 erschien der von ihr wieder massiv bedroht sind und auch in soziieren; möglicherweise gar nicht als öf- mithrsg. Band »Vom Arbeiterkind zur fentliche*r, schon gar nicht politische*r, demokratischen Gesellschaften vertei- sondern professionelle*r Wissenschaft- Professur. Sozialer Aufstieg in der Wis- digt werden müssen. ler*in in Erscheinung treten wollen. senschaft«. Forum Wissenschaft 2/21 17
Sie können auch lesen