Kontroverse um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit

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Gudrun Hentges und Julia Reuter

    Kontroverse um Meinungs-
     und Wissenschaftsfreiheit

D                                                                                      In jüngster Zeit findet der Begriff
         ie Wurzeln des Neologismus            Neuerdings findet der Begriff der
         »Cancel Culture« reichen weit      »Cancel Culture« auch an Hochschulen       der »Cancel Culture«, verstan-
         zurück in das 20. Jahrhundert.     Eingang in Debatten um »Wissen-
                                                                                       den als Einschränkung der Rede-
Debatten um »Political Correctness« ha-     schaftsfreiheit«. Dabei kommt es zu ei-
ben ihren Ursprung in den USA, sie ent-     ner eigentümlichen Vermischung von         und Meinungsfreiheit, auch Ver-
standen im Kontext der Sozialbewegun-       Argumenten. Denn die Frage, wie »frei«     wendung in Diskussionen um
gen des 20. Jahrhunderts, die vor allem     Wissenschaftler*innen in Forschung         die »Wissenschaftsfreiheit« an
in den 1960er Jahren eine große Wir-        und Lehre sind, und ob sie »alles« sagen   deutschen Hochschulen. Argu-
kungskraft entfaltet haben: die Bürger-     dürfen, wird oft gegen eine diversitäts-
rechts-, die Frauen-, die Lesben- und       gerechte Hochschulbildung ausge-
                                                                                       mentiert wird häufig gegen eine
Schwulenbewegung.                           spielt.4                                   diversitätsgerechte Hochschul-
                                               Als Sozialwissenschaftlerinnen, die     bildung und gegen die Bedin-
                                            als »weiße« Professorinnen an einer        gungen akademischer Wissens-
»Cancel Culture«                            Universität zu postkolonialen und ras-
                                                                                       produktion, unter denen diese
                                            sistischen Ordnungen in der Wissen-
als Kampfbegriff                            schaft forschen und lehren, kamen wir
                                                                                       stattfinden kann. Gudrun Hent-
Immer häufiger wird hierzulande der         zuletzt immer wieder mit Debatten um       ges und Julia Reuter widmen
Anglizismus »Cancel Culture« als            Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in     sich der Frage, wie Forschung
Kampfbegriff gegenüber Personen ein-        Berührung. Dabei stellen wir uns die       und Lehre zu einer diversitäts-
gesetzt, die sich öffentlich für Men-       Frage, wie Forschung und Lehre einen
                                                                                       sensiblen Hochschule beitragen
schen- und Minderheitenrechte enga-         Beitrag leisten können zu einer diversi-
gieren und gegen gruppenbezogene            tätssensiblen Hochschule, an der Diskri-   können, an der Diskriminierung
Menschenfeindlichkeit vorgehen.2            minierung und Menschenfeindlichkeit        keinen Platz hat und diskutie-
   Da es bei diesem Engagement zu-          keinen Platz haben. Ergebnis dieser ge-    ren, in welchem Verhältnis die-
meist um die Sichtbarmachung und Be-        meinsamen Reflexionen ist die Stellung-    ser Anspruch zur Meinungs- und
kämpfung von Marginalisierung und           nahme »Für Freiheit in Forschung und
                                                                                       Wissenschaftsfreiheit steht.1
struktureller Diskriminierung benachtei-    Lehre« der Forschungsstelle für inter-
ligter Personengruppen und um das           kulturelle Studien, die auch über die
Anstoßen statt Absagen zentraler De-        Fachöffentlichkeit hinaus auf mediales
batten geht – gerade auch mit Blick auf     Interesse stieß.
die Frage, welche Rolle die Wissenschaft
bei alledem spielt –, ist eine pauschale
Aburteilung als »Cancel Culture« nicht      Netzwerke für Meinungs-
gerechtfertigt. Häufig wird der Vorwurf
                                            und Wissenschaftsfreiheit
formuliert, es gehe lediglich um das Mo-
ralisieren, um »individuelle Befindlich-    Welche Rolle spielen in diesem Kontext
keiten« oder um die Durchsetzung von        Stiftungen oder Netzwerke, die sich den
Ideologien mächtiger »Weltanschau-          Schutz und die Verteidigung von Mei-
ungsgenossen«.3 Diese Spielarten der        nungs- und Wissenschaftsfreiheit auf
Kritik, die häufig medial inszeniert wer-   ihre Agenda geschrieben haben und ge-
den, zielen darauf ab, Antirassismus und    gen eine vermeintliche »Cancel Cultu-
Antisexismus zu delegitimieren.             re« vorgehen wollen?

                                                                                                      Forum Wissenschaft 2/21   13
Wissenschaftsfreiheit

                                                     müsse nun zur Rechenschaft gezogen          Lehre« »wissenschaftsfremde Grenzen«
                                                     werden. Das Manifest The Shadow Uni-        gesetzt werden. Somit entstehe ein
                                                     versity wirft den Universitäten vor, über   »Konformitätsdruck«, der »wissen-
                                                     ein »verdecktes Justizsystem« auf dem       schaftliche Debatten« von Beginn an zu
                                                     Campus zu verfügen, auf Scheingerichte      ersticken drohe. Es wird unterstellt, dass
                                                     zurückzugreifen und »willkürliche Be-       Forschungsprojekte, die nicht den welt-
                                                     strafung« vorzunehmen, um die Mit-          anschaulichen Vorstellungen der An-
                                                     glieder der Hochschulen zur Konformi-       hänger*innen einer »Cancel Culture«
                                                     tät zu zwingen. Die Autoren sind der        entsprächen, verhindert würden. Da
                                                     Meinung, an den Hochschulen dominie-        Projektanträge und das Reviewing von
                                                     re eine »totalitäre Denkweise«, die sich    Publikationen zumeist von Fachkol-
                                                     in »Sprachregelungen, Verhaltenskodi-       leg*innen durchgeführt werden, steht
                                                     zes und Bürokratien des Campuslebens«       also durchaus auch der implizite Vorwurf
                                                     manifestiere.6                              »wissenschaftlichen Fehlverhaltens« im
                                                         Auch FIRE-Mitarbeiter Greg Lukia-       Raum.
                                                     noff bediente das Narrativ einer »Schat-       Gemessen an der großen Anzahl an
                                                     tenuniversität« und sorgte mit seinem       Unterzeichner*innen (ca. 450) des Ma-
                                                     Buch Unlearning Liberty: Campus Cen-        nifests und der Presseresonanz sind die
                                                     sorship and the End of American Debate      bisherigen Aktivitäten des Netzwerks je-
                                                     (2012) für breite öffentliche Aufmerk-      doch gering. Sie beschränken sich der-
                                                     samkeit.7                                   zeit (Stand: 30. April 2021) auf die An-
                                                         Lukianoff präsentiert »schockierende    kündigung eines Workshops zum The-
                                                     Fälle von Zensur an Amerikas Colleges       ma »Wissenschaftsfreiheit und Cancel-
                                                     und Universitäten«. Er behauptet, dass      culture«, in dem »Kritiker, Opfer und
                                                     aktuell die universitäre Lehre Studieren-   Verteidiger der Cancelculture miteinan-
                                                     de nicht zu einem kritischen Denken er-     der ins Gespräch« gebracht werden sol-
                                                     ziehen könne, sondern ideologische          len, um sich über »rechtliche Grundla-
Index librorum prohibitorum (= Verzeichnis der       Spaltungen verstärke. Diese Kultur der      gen, Grenzen und aktuelle Probleme der
verbotenen Bücher), ein Verzeichnis der römischen    Unterdrückung von Meinungs- und             Wissenschaftsfreiheit«        auszutau-
Inquisition
                                                     Wissenschaftsfreiheit hinterlasse ihre      schen.10
                                                     Spuren auch in der Gesellschaft; diese         Aussagekräftiger als das recht allge-
           Die US-amerikanische Foundation for       sei nicht mehr dazu in der Lage, rational   mein gehaltene Manifest sind die Posi-
        Individual Rights in Education (FIRE)        zu debattieren.                             tionen der Netzwerk-Initiatorin Sandra
        verfolgt das Ziel, die individuellen Rech-       Ausgerechnet am Internationalen         Kostner, die den Begriff einer »identi-
        te von Studierenden und Lehrenden zu         Frauentag 2021 wurde mit der Acade-         tätslinken Läuterungsagenda« geprägt
        verteidigen. Dazu zählt FIRE u. a. Rede-     mic Freedom Alliance (AFA) just ein         hat:
        freiheit, Vereinigungsfreiheit, Religions-   weiterer Zusammenschluss von Hoch-
        freiheit und die Unantastbarkeit des Ge-     schullehrenden in den USA gegründet,          »In der extremsten Form hat das Läu-
        wissens. Die 1999 von Alan Charles Kors      der ebenfalls für die »Wahrung des Prin-      terungsbedürfnis so weit geführt, dass
        und Harvey Silverglate gegründete Stif-      zips der akademischen Freiheit« ein-          Identitätslinke ein neues Überlegen-
        tung begreift es als ihre Aufgabe, die       tritt.8 Während FIRE vor allem das Cam-       heitsgefühl entwickelt haben. […]
        Mitglieder der Colleges und Universitä-      pusleben der Studierenden im Blick hat,       Das neue Überlegenheitsgefühl be-
        ten sowie die Öffentlichkeit darüber         adressiert AFA in erster Linie Hochschul-     zieht seine Kraft aus dem moralischen
        aufzuklären, dass die Rechte an den          lehrer*innen.                                 Läuterungsgrad, den Mitglieder der
        Hochschulen bedroht seien.5                      Anknüpfend an FIRE und Lukianoffs         ›Dominanzgesellschaft‹ aufweisen
           Mit ihrer Streitschrift The Shadow        Publikation erfolgte die Gründung des         können. […] Wahrlich frappierend ist
        University: The Betrayal Of Liberty On       Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit im Fe-       in diesem Kontext, dass viele Identi-
        America‘s Campuses (1998) erzielten          bruar 2021.9 Die inhaltliche Nähe zwi-        tätslinke offenbar gar nicht merken,
        Kors und Silverglate große Resonanz.         schen der US-amerikanischen Blaupause         wie sehr ihre gut gemeinten, dem
        Nach Ansicht der beiden Autoren grenz-       und dem Netzwerk Wissenschaftsfrei-           Kampf gegen Rassismus gewidmeten
        ten sich Universitäten von der Gesell-       heit ist auffällig. Auch im Manifest des      Strategien einer neuen Form von Ras-
        schaft ab, indem sie ihre »eigene poli-      Netzwerkes ist davon die Rede, dass die       sismus, den man als Läuterungsrassis-
        tisch korrekte Weltsicht durch Zensur,       »Freiheit von Forschung und Lehre« ge-        mus bezeichnen könnte, Vorschub
        doppelte Standards und ein Rechtssys-        gen »ideologisch motivierte Einschrän-        leisten. Indem sie die ›Dominanzge-
        tem ohne ordentliche Verfahren durch-        kungen« verteidigt werden müsse. An-          sellschaft‹ alleine oder so gut wie aus-
        setzen«. Sie versteigen sich zu der The-     geprangert wird, dass die Freiheit von        schließlich für die gesellschaftliche
        se, die Universitäten hätten eine »heim-     Forschung und Lehre unter »morali-            Positionierung aller Nichtprivilegier-
        liche Kehrtwende« vollzogen und seien        schen und politischen Vorbehalt gestellt      ten verantwortlich machen, sprechen
        zum »Feind einer freien Gesellschaft«        werden« solle. Man könne beobachten,          Identitätslinke denjenigen, als deren
        geworden. Diese »Schattenuniversität«        dass der »Freiheit von Forschung und          Anwälte sie auftreten, ihre Hand-

14      Forum Wissenschaft 2/21
Wissenschaftsfreiheit

Galileo Galilei bei seinem Verfahren vor der Inquisition. Sein Werk Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e
Copernicano stand auf dem »Index«.

  lungsfähigkeit ab. Ausgerechnet die-         ner, stand von Beginn an fest, dass Geor-       nen Konformismusdruck durch »Identi-
  jenigen, die ihre antirassistische Hal-      ge Floyd starb, weil er schwarz war. Eine       tätslinke« sehen.
  tung als ethisch moralisches Leucht-         Infragestellung dieser Aussage führe                Es bleibt die Frage, ob vorschnelle An-
  signal vor sich hertragen, entlarven         zum Rassismusvorwurf. Kostner wagt              rufungen identitätspolitischer Katego-
  sich dergestalt selbst als Rassisten.«11     die steile These, dass die »gefilmte Sze-       rien nicht den Blick für gemeinsame For-
                                               ne, die das Knie eines weissen Polizisten       schungsanliegen unterschiedlicher Ak-
Hier wird deutlich, dass Kostner nicht         auf dem Hals eines am Boden liegenden           teur*innen verstellen und Dynamiken
nur »Identitätslinke« als Begriff erfun-       Afroamerikaners zeigt« keineswegs of-           eines identitätspolitischen Zugehörig-
den, sondern auch den Begriff des              fenbare, »ob für den Polizisten Rassis-         keitsregimes hochschrauben, das kaum
»Läuterungsrassismus« aus der Taufe            mus ein handlungsleitendes Motiv« ge-           Raum für einen wissenschaftlichen Aus-
gehoben hat. Ein Effekt der Begriffs-          wesen sei. Während einige der Journa-           tausch lässt.14
schöpfung ist eine Täter-Opfer-Um-             list*innen und Wissenschaftler*innen                Es wäre zielführender, die Diskussion
kehr: Nicht Rassist*innen seien verant-        davon überzeugt seien, verurteilten an-         um Freiheit in Forschung und Lehre
wortlich für rassistische Diskriminie-         dere diesen Fall als rassistisch motivier-      nicht unter juristischen und politischen
rung, sondern jene, die im Namen des           ten Mord, um nicht selbst ins Faden-            Begriffen wie Meinungsfreiheit, Wissen-
Antirassismus vorgeben, diesen be-             kreuz der »äusserst kampagnenstarken            schaftsfreiheit oder »Cancel Culture« zu
kämpfen zu wollen.                             Aktivisten zu geraten«.12                       führen, sondern unter theoretisch-ana-
   Diese höchst problematische Argu-                                                           lytischen Begriffen, wie z. B. der symbo-
mentation findet an anderer Stelle noch                                                        lischen Gewalt, der institutionellen Dis-
eine Steigerung, wenn Kostner behaup-          Für diskriminierungskritische                   kriminierung, der Positionalität oder In-
tet, dass das Konzept des »strukturellen                                                       tersektionalität. Genau aus diesen For-
Rassismus« Ergebnis einer »neue[n] ak-
                                               Forschung und Bildung                           schungszusammenhängen sind in den
tivistische[n] Wissenschaft« sei, die aus      Sicherlich lenkt das Netzwerk Wissen-           letzten 20 Jahren nicht nur zahlreiche
den Critical Race Studies hervorgegan-         schaftsfreiheit mit seinen Bedenken ei-         anspruchsvolle empirische wie theoreti-
gen sei. Es handele sich um eine »Rassis-      nes »Konformitätsdrucks« den Blick auf          sche Analysen, Forschungsverbünde
musforschung, die ohne alle empirische         die Voraussetzungen von Wissen-                 und Studiengänge hervorgegangen. Es
Basis« auskomme, was sie am Beispiel           schaftsfreiheit in Zeiten eines »akademi-       wurden auch Institute, Vereine und
des Todes von George Floyd erläutert.          schen Kapitalismus«13; wenngleich die           Netzwerke gegründet, die ihrerseits auf
Für »Antirassismusaktivisten«, so Kost-        Netzwerk-Sprecher*innen vor allem ei-           die sozialen Limitierungen von Wissen-

                                                                                                                   Forum Wissenschaft 2/21         15
Wissenschaftsfreiheit

      schaft(sfreiheit) hingewiesen haben.         freiheit nicht benannt wird. Dabei könn-     Fähigkeit abgesprochen wird, objektiv
      Diese Netzwerke von Wissenschaft-            te die »teilnehmende Objektivierung«         über Rassismus forschen zu können,21
      ler*innen fokussieren jedoch nicht die       der eigenen Tätigkeit hier durchaus auch     fallen ebenso darunter wie gezielte Dif-
      Frage, ob im akademischen Bereich jede       produktiv für die eigene Thematik ge-        famierungen von ausgewiesenen Ras-
      Person ihre Meinung sagen darf oder          wendet werden.18 Denn wie wirkmäch-          sismusforscher*innen, wie etwa das
      nicht. Es geht eher darum, welche Äuße-      tig das symbolische Kapital des Netz-        Beispiel von Professorin Maisha-Mau-
      rung als persönliche Meinung und wel-        werks ist, zeigt sich auch am großen me-     reen Auma zeigt. Die FiSt tritt mit ihrer
      che als wissenschaftliches Argument          dialen Interesse an seinem inhaltlich va-    Stellungnahme für eine Wissenschaft
      wahrgenommen wird, wie                                                                             ein, die mit dem Instrumentari-
      durch Worte Soziales geschaf-                                                                      um kritischer Rassismus- und
      fen wird, welche Sprecher*in-                                                                      Diskriminierungsforschung
      nenposition im wissenschaftli-                                                                     ebendiese Phänomene erkennt
      chen Diskurs mehr oder weni-                                                                       und einordnet. Kommt sie zu
      ger Gewicht hat, oder auch                                                                         dem Ergebnis, dass hier »klas-
      welche Personen(gruppen) das                                                                       sistische«, »sexistische« »ras-
      Privileg besitzen, die Gewalt,                                                                     sistische« oder allgemein
      die von manchen Äußerungen                                                                         »menschenverachtende« Äu-
      ausgeht, nicht wahrnehmen zu                                                                       ßerungen und Handlungen
      müssen.15 Dies sind keine »per-                                                                    vorliegen, sieht sie die Not-
      sönlichen Empfindungen oder                                                                        wendigkeit zu widersprechen.
      Empfindlichkeiten«, »morali-                                                                       Dies ist keine Verletzung von
      sche Appelle« oder »linke Läu-                                                                     Neutralität, sondern die Um-
      terungen«, sondern zunächst                                                                        setzung von Sachargumenten
      einmal analytische Fragen, die                                                                     – insbesondere für Dozent*in-
      sich Wissenschaftler*innen                                                                         nen, die sich qua ihres Be-
      stellen (sollten).                                                                                 amt*innenstatus oder ihrer Be-
         Die Forschungsstelle für in-                                                                    schäftigung an einer staatli-
      terkulturelle Studien (FiSt) der                                                                   chen Bildungseinrichtung, aber
      Universität zu Köln beschäftigt                                                                    auch als Mitglieder einer aka-
      sich mit diesen Fragen seit nun-                                                                   demischen Gemeinschaft im
      mehr 25 Jahren.16 Dieser Zu-                                                                       Sinne der Menschenrechte und
      sammenschluss kritischer Mi-                                                                       des Grundgesetzes sowie den
      grationsforscher*innen gab im             Simone de Beuvoir. Ihr Buch Le Deuxième Sexe             ethischen Kodizes der Scientific
      August 2020 die Stellungnah-              (Das zweite Geschlecht) stand auf dem »Index«
                                                                                                         Community und der hier gülti-
      me »Für Freiheit in Forschung                                                                      gen Codes of Conduct ver-
      und Lehre« heraus, die das Er-                                                                     pflichtet haben.
      gebnis gemeinsamer Aktivitäten in For-       gen Gründungsmanifest, das statt wis-           Die Überwindung von strukturellen
      schung und Lehre markiert. Anders als        senschaftlich-differenzierter Analyse auf    Ungleichheiten und Vulnerabilität ist
      beim Netzwerk Wissenschaftsfreiheit,         erfolgreiches Agenda Setting in einer        keine Aufgabe der betroffenen Ak-
      dessen überwiegend professoraler             politisch aufgeheizten Debatte um ver-       teur*innen selbst, sondern eine Aufgabe
      Gründungskern 62 Akademiker und              meintliche »Cancel Culture« abzielt.19       aller Mitglieder der Hochschule, vor al-
      zehn Akademikerinnen etablierter Fach-          Demgegenüber steht die lange vor          lem aber derjenigen, die von diesen Un-
      disziplinen umfasst, wird hier Expertise     Gründung des Netzwerks Wissen-               gleichheiten profitieren.22 Zahlreiche
      aber nicht vom (Professor*innen-)Status      schaftsfreiheit formulierte FiSt-Stellung-   Hochschulen haben dies in jüngster Zeit
      abhängig gemacht. Denn aus Sicht der         nahme, der ein anderes Verständnis von       erkannt und Diversitätskonzepte entwi-
      FiSt fängt genau dort die Beschränkung       Freiheit und Forschung zugrunde liegt.       ckelt. Auch die Deutsche Forschungsge-
      von Wissenschaftsfreiheit an, wo über        So beobachtet die FiSt mit Sorge, dass in    meinschaft hat sich dem Problem der
      die Asymmetrie wissenschaftlicher Kom-       jüngster Zeit verstärkt rassismuskriti-      Chancenungleichheit in der Wissen-
      munikation nicht nachgedacht wird und        sche Forschung und Forscher*innen ge-        schaft gestellt und fordert von Antrags-
      bestimmte Statusgruppen im akademi-          zielt diffamiert werden. Das umfasst         stellenden seit einigen Jahren Stellung-
      schen Diskurs nicht dieselben Teilhabe-      Lehrveranstaltungen, in denen Studie-        nahmen zur Einhaltung ethischer Stan-
      chancen besitzen.17                          rende oder Kolleg*innen wissenschaftli-      dards und den Schutz vulnerabler Pro-
         Auch das Netzwerk Wissenschafts-          che Befunde oder Konzepte der Rassis-        band*innen.23 Das hat nichts mit »Can-
      freiheit sollte seine Position im sozialen   musforschung als Diskussionsgrundlage        cel Culture« oder Einschränkung von
      Feld der Universität kritisch hinterfra-     ignorieren, oder auch das Abkanzeln          Meinungsfreiheit zu tun, sondern dient
      gen. Es ist zumindest verwunderlich,         rassismuskritischer Aktionen als ȟber-      der Sicherung guter wissenschaftlicher
      dass diese durch strukturelle Macht- und     zogene Antworten einzelner Beleidig-         Praxis.
      Herrschaftsverhältnisse begünstigte          ter«. 20 Diskriminierungserfahrungen            »Gute wissenschaftliche Praxis be-
      »Unfreiheit« wissenschaftlicher Rede im      von Promovierenden, denen aufgrund           deutet, die Grenzen des Sagbaren be-
      Manifest des Netzwerks Wissenschafts-        ihrer eigenen Migrationsgeschichte die       gründet zu markieren. Gute wissen-

16    Forum Wissenschaft 2/21
Wissenschaftsfreiheit

schaftliche Praxis bedeutet, die Situiert-     Anmerkungen                                          15) Vgl. auch die Beiträge in: Gudrun Hentges /
                                                                                                        Kristina Nottbohm / Mechtild Jansen / Ja-
heit wissenschaftlicher Praxis und die ei-
                                                                                                        mila Adamou (Hg.) 2014: Sprache – Macht
gene Positionierung entlang ungleich-           1) Für hilfreiche Anregungen und Kommenta-
                                                                                                        – Rassismus, Berlin.
                                                   re bedanken wir uns bei Henrike Terhart
heitsrelevanter Machtstrukturen mitzu-             und Daniel Meyer (beide: Universität zu          16) https://www.hf.uni-koeln.de/37630.
denken«.24 Wissenschaft ist ein soziales           Köln) und Michael Klundt (Hochschule             17) Auch wir als Autorinnen dieses Textes wer-
Kräftefeld. Anstatt Meinungsfreiheit               Magdeburg/Stendal).                                  den aufgrund unserer Positionen in der Uni-
                                                2) Vgl. Gudrun Hentges 2014: »Geschichte                versität vermutlich häufiger auf die Stel-
und Rassismuskritik gegeneinander aus-                                                                  lungnahme der Forschungsstelle als An-
                                                   und Intention der Political Correctness«, in:
zuspielen, sollte man die vom Netzwerk             Polis. Report der Deutschen Vereinigung
                                                                                                        sprechpartnerinnen »gelesen« und für wei-
Wissenschaftsfreiheit wiederholt geäu-                                                                  tere Auskünfte oder Publikationen häufiger
                                                   für Politische Bildung, Heft 1/2014: 6 – 9.
                                                                                                        angefragt werden als etwa andere Mitun-
ßerte Befürchtung einer ungleichen Ver-         3) Sandra Kostner 2020: »Flucht vor Argu-               terzeichnende in anderen akademischen
teilung von Rederechten, Forschungs-               menten«, in: FAZ v.28.11.2020. Abrufbar              Positionen.
                                                   unter: https://www.faz.net/aktuell/karrie-
mitteln und Stellen lieber empirisch un-                                                            18) Vgl. Pierre Bourdieu 1975: »The specificity
                                                   re-hochschule/hoersaal/warum-eine-be-                of the scientific field and the social condi-
tersuchen. Denn am Ende sind nicht                 grenzung-der-redefreiheit-an-hochschu-               tions of the progress of reason«. Informati-
Meinungen, sondern Erkenntnisse die                len-fehl-am-platz-ist-17067717.html .                on (International Social Science Council)
Leitwährung wissenschaftlicher Kom-             4) Vgl. z.B.: Encarnación Gutiérrez-Rodríguez           14: 19 – 47.
                                                   et al. 2016: »Rassismus, Klassenverhältnisse     19) Durch die vom Netzwerk Wissenschaftsfrei-
munikation.
                                                   und Geschlecht an deutschen Hochschulen.             heit, insbesondere seiner Sprecherin Sandra
                                                   Ein runder Tisch, der aneckt«, in: sub\ur-           Kostner in der Presse (s. o.) geäußerte Kritik
                                                   ban. zeitschrift für kritische stadtforschung        an der Stellungnahme, hat sich der Auf-
                                                   4 (2/3): 161 – 190; Sara Ahmed 2012: On              merksamkeits- und Rezipient*innenradius
Ausblick                                           Being Included. Racism and Diversity in In-          schlagartig erweitert.
                                                   stitutional Life. Durham: Duke University        20) Vgl. z. B. die Reaktionen auf die Petition
Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in             Press.                                               #unirassismuskritisch der Kölner Studentin
der Kontroverse haben auch eine inter-          5) Vgl. https://www.thefire.org.                        Senami Hotse: https://www.ksta.de/koeln/
nationale Dimension. Somit sollten Wis-         6) Alan Charles Kors/Harvey Silverglate 1999:           -sie-sehen-exotisch-aus–studentin-fas-
                                                   The Shadow University: The Betrayal Of Li-           sungslos-ueber-alltagsrassismus-an-der-
senschaftler*innen über den national-                                                                   uni-koeln-37788694.
                                                   berty On America‘s Campuses, Free Press.
staatlichen Tellerrand blicken und zur             Eigene Übersetzung.                              21) Vgl. Karim Fereidooni 2020: »›Du führst
Kenntnis nehmen, welchen Gefahren               7) Greg Lukianoff 2012: Unlearning Liberty:
                                                                                                        Dich auf wie Mister Diskriminierung per-
                                                                                                        sönlich!‹ Gedanken zur Kritik an einer ras-
Wissenschaftler*innen in anderen Län-              Campus Censorship and the End of Ameri-
                                                                                                        sismuskritischen Forschungsarbeit«; in:
dern ausgesetzt sind – sei es in Ungarn,           can Debate, New York. Eigene Überset-
                                                                                                        Daniela Heitzmann/Kathrin Houda (Hg.):
                                                   zung.
Polen, Rumänien oder in der Türkei. Die                                                                 Rassismus an Hochschulen. Analyse – Kritik
                                                8) https://academicfreedom.org. Einem der               – Intervention, Weinheim/Basel 2020:
Initiative Scholars at Risk stellt sich die-       Gründungsmitglieder, Steven Pinker, wird             131 – 156.
sen Herausforderungen, indem sie ver-              aufgrund seiner Veröffentlichungen Rassis-       22) Heitzmann/Houda (Hg.) (siehe Anm. 21):
folgte Wissenschaftler*innen durch Be-             mus und Sexismus vorgeworfen. Vgl. Mi-               9.
                                                   chael Powell 2020: »How Steven Pinker be-
ratung, Rechtsbeistand, Stipendien etc.                                                             23) Vgl. https://www.dfg.de/foerderung/
                                                   came a Target over his Tweets«, in: New
unterstützt. In ihrem Bericht »Free to                                                                  grundlagen_rahmenbedingungen/diversi-
                                                   York Times, 15.7.2020.
                                                                                                        ty_wissenschaft/index.html.
think«25 dokumentieren sie allein für           9) »Ich las ein Buch von Greg Lukianoff, der        24) So zu lesen in der FiSt-Stellungnahme.
den Zeitraum von September 2019 bis                bei der Foundation of Individual Rights and
                                                                                                    25) https://www.scholarsatrisk.org/resources/
August 2020 341 Angriffe auf Hoch-                 Education arbeitet, die es in den USA seit 20
                                                                                                        free-to-think-2020/.
                                                   Jahren gibt. Ich dachte: Eine Institution, die
schulen in 58 Ländern. Darunter fallen             sich für individuelle Freiheitsrechte an
gewalttätige Angriffe auf Universitäten            Hochschulen einsetzt, brauchen wir auch«,
in Afghanistan, Indien, Jemen, illegale            Sandra Kostner, zit. nach: »Freiheit der Wis-
                                                   senschaft. Was nicht genehm ist, wird ab-
Inhaftierungen und Verfolgungen von                gelehnt«, in: Die Zeit v. 4.2.2021.
Wissenschaftler*innen, Einschränkun-           10) https://www.netzwerk-wissenschaftsfrei-
gen der Reisefreiheit (Israel, Türkei,             heit.de/veranstaltungen/aktuelles/ .             Gudrun Hentges, Professorin für Politik-
USA), Unterdrückung von Meinungs-              11) Sandra Kostner (Hg.) 2020: Identitätslinke       wissenschaft, Bildungspolitik und poli-
äußerungen von Studierenden (Kolum-                Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren          tische Bildung an der Universität zu
                                                   Folgen für Migrationsgesellschaften, Stutt-
bien, Indien, palästinensische Gebiete,            gart: 31.
                                                                                                    Köln; 2020 erschien der von ihr hrsg.
Südafrika) und Bedrohungen der Auto-           12) Sandra Kostner 2020: »Wer den strukturel-
                                                                                                    Band »Krise der Demokratie – Demo-
nomie von Universitäten (Brasilien,                len Rassismus leugnet, muss selbst ein Ras-      kratie in der Krise? Gesellschaftsdiag-
Ghana, Polen, Rumänien, Russland,                  sist sein – Analyse eines gefährlichen Denk-     nosen und Herausforderungen für die
                                                   fehlers«, in: Neue Züricher Zeitung v.
Türkei).                                           1.12.2020
                                                                                                    politische Bildung«; im August 2021 er-
   Diese bedenklichen Entwicklungen            13) Richard Münch 2011: Akademischer Kapi-
                                                                                                    scheint der von ihr gemeinsam mit
außerhalb der EU und der USA sollten in            talismus. Über die politische Ökonomie der       Georg Gläser und Julia Lingenfelder
der Debatte um wissenschaftliche Frei-             Hochschulreform, Berlin.                         hrsg. Band »Demokratie im Zeichen von
heit und die Frage einer »Cancel Cultu-        14) Nicht zuletzt werden mit einem identitäts-       Corona«.
                                                   politischen Schubladendenken auch solche
re« mitberücksichtigt werden. Sie lassen                                                            Julia Reuter, Professorin für Erziehungs-
                                                   Wissenschaftler*innen inkludiert, die sich
deutlich werden, dass die Rechte von               aus ganz unterschiedlichen Gründen einem         und Kultursoziologie an der Universität
Minderheiten auf dem Campus immer                  Netzwerk, Verein oder einer Bewegung as-         zu Köln; 2020 erschien der von ihr
wieder massiv bedroht sind und auch in             soziieren; möglicherweise gar nicht als öf-      mithrsg. Band »Vom Arbeiterkind zur
                                                   fentliche*r, schon gar nicht politische*r,
demokratischen Gesellschaften vertei-              sondern professionelle*r Wissenschaft-           Professur. Sozialer Aufstieg in der Wis-
digt werden müssen.                                ler*in in Erscheinung treten wollen.             senschaft«.

                                                                                                                          Forum Wissenschaft 2/21        17
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