Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
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N° 2/2021 Momentum Das österreichische Journal für positive Suchttherapie Herausgegeben vom Anton Proksch Institut Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln 1
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! Ich hoffe, diese Ausgabe von „Momentum“ erreicht Sie in einem für Sie persönlich entspannten Sommer. Die Corona-Pandemie, die uns auf vielen Ebenen fordert, wird uns weiterhin beglei- ten: Delta-Variante, Impfraten und die Frage der Impflicht beschäftigen uns aktuell besonders. Zahlreich und folgenschwer sind die Auswirkungen der Pandemie auch für die Behandlung chronisch Suchtkranker. Seit 2020 tauscht sich das Anton Proksch Institut daher mit anderen Einrichtungen für chronisch Suchtkranke in (Ost-)Österreich in regelmäßigen Skype-Calls unter dem Motto #gemeinsamsindwirmehr aus. Es geht u.a. darum, wie 4 Psychotherapie mit wir – trotz unterschiedlicher Aufgabenstellungen – sicherstellen Suchtkranken: Ein können, dass chronisch Suchtkranke ambulant und stationär störungsspezifischer COVID-tauglich und trotzdem adäquat betreut und behandelt Ansatz werden können. Wir überlegen, wie wir gemeinsam Wege der Birgit Köchl, Michael Kommunikation und des notwendigen Austausches für uns Schmalhofer aufrechterhalten können und thematisieren dabei auch die ersten wahrnehmbaren Veränderungen für und Anforderungen 8 Therapeutische Gemeinschaft und Suchterkrankung an unser Klientel durch die Corona-Pandemie. An dieser Stelle ein herzliches Danke an die Geschäftsführungskollegin und Human-Friedrich -kollegen des Vereins Dialog, des Grünen Kreis, des Vereins Unterrainer Pass und des Schweizer Haus Hadersdorf! In diesem Heft schreibt jede dieser Einrichtungen über 12„Kleiner Leuchtturm“ für Kinder aus sucht- belasteten Familien etwas, das ihr besonders wichtig ist. Wir alle mögen unsere eigenen Zugänge und Schwerpunkte haben; doch uns eint die Wertschätzung für unsere Klientinnen und Klienten, Patien- Nadja Springer tinnen und Patienten und der Fokus auf deren bestmögliche 16„Die Leute fangen nicht mehr bei Null an“ Wolfgang Preinsperger Behandlung und Betreuung. Diese wird im Nachgang der Pandemie wichtiger denn je! Wir sehen, dass Menschen, die schon davor psychosozial besonders gefordert waren, nicht im Interview nur vermehrt (wieder) Suchtmittel konsumieren, sondern auch 20 Gender und Sucht- erkrankungen: Sind Frauen anders süchtig? Familien und Arbeitsumfelder erhöht belastet sind. 2021 ist für das Anton Proksch Institut ein Umbruch- jahr. Seit Jahresbeginn ist Prim. Dr. Wolfgang Preinsperger Barbara Gegenhuber ärztlicher Direktor des Hauses. Über seine Haltung und Pläne 26 Ende einer Ära: Ein Fest für Michael Musalek lesen Sie auf den Seiten 16-19. Ende Juli haben wir unseren langjährigen ärztlichen Direktor Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek verabschiedet – mit der Präsentation einer Festschrift, einer Michael Robausch Podiumsdiskussion und einer Überraschung aus dem Gesund- heitsministerium (Seiten 26-27). Kostenlose „Momentum“-Abos können Sie auch weiterhin per Mail an abo@api.or.at bestellen. Empfehlen Sie uns gerne weiter! Viel Freude beim Lesen! DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS Geschäftsführerin 3
Psychotherapie mit Suchtkranken: Ein störungsspezifischer Ansatz Der 1992 gegründete Verein p.a.s.s. setzt auf ein ambulantes, multiprofessionelles, methodenvielfältiges und störungsspezifisches Behandlungskonzept. Der Suchtbegriff ist dabei weit gefasst. Zusammenhänge zwischen Bindung und Sucht werden als essentieller Bestandteil der umfassenden, oft längerfristigen psychotherapeutischen Arbeit berücksichtigt. BIRGIT KÖCHL UND MICHAEL SCHMALHOFER Ä tiologie, Genese und Dynamik sowie phar- und andererseits als Ausdruck unterschiedlicher makologische, somatische, soziale und psy- psychischer Grundstörungen jeglicher Art (diverse chische Wirkfaktoren greifen ineinander und psychische und Verhaltensstörungen; oft Persön- interagieren. Dementsprechend sollte jedes ganz- lichkeitsstörungen, affektive Störungen, ...), bzw. als heitliche Verständnis von Sucht notwendigerweise Symptom dieser zu verstehen. Lediglich Ersteres interdisziplinär und störungsspezifisch angelegt wird im Diagnoseklassifikationssystem (ICD-10, sein. Sucht ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter Internationale statistische Klassifikation der Krank- sind komplexe Thematiken wie „Konfliktpathologie, heiten und verwandter Gesundheitsprobleme) Psychotraumatologie und strukturelle Störungen“ betont (World Health Organisation [WHO], 1993). zu behandeln (Bilitza, 2009): Es ist erwiesen, dass Suchterkrankungen im Rahmen eines „komorbiden“ Nachhaltiger Behandlungsansatz Problems bei bestimmten Traumafolgestörungen, Es wird großer Wert auf eine umfassende und wie etwa der Posttraumatischen Belastungsstörung, ganzheitliche Behandlung mit Nachhaltigkeit ge- auftreten. Sie können aber durchaus auch zu den legt, sodass oftmals neben psychischen und medi- direkten Traumafolgestörungen gezählt werden zinischen Aspekten auch das soziale Umfeld einge- (Möller et al., 2003): Untersuchungen zeigen, dass bunden wird. Ein wichtiger Fokus im Verein p.a.s.s. die Lebensgeschichten vieler Suchtkranker durch liegt auf einer fundierten klinisch-psychologischen Gewalterfahrungen, sexualisierte Übergriffe und/ und psychiatrischen Diagnostik. Darauf aufbauend oder einen umfassenden, oft chronischen, Vertrau- wird eine psychotherapeutische Behandlung (meist ensmissbrauch gekennzeichnet sind. mittel- oder längerfristig), bzw. auch eine passende MAG. DR. BIRGIT Sucht ist kein Schichtproblem und betrifft alle medikamentöse Einstellung (sofern aus fachärztli- KÖCHL ist Klinische und Gesundheits- gesellschaftlichen Milieus – beispielsweise stellen cher Sicht indiziert) etabliert. Regelmäßige Sozial- psychologin, Psycho- auch „Wohlstandsverwahrlosung“ oder ein „gren- arbeit findet begleitend statt. In der Suchtbehand- therapeutin und zenloses Zuviel an Aufmerksamkeit“ Risikofaktoren lung ist anfänglich viel an Motivationsarbeit nötig, Lehrende; in freier dar. Es ist ein Grundproblem der Diagnostik, die um eine entsprechende Basis bzw. Compliance Praxis sowie beim Suchterkrankung einerseits als Störung sui generis herzustellen. Stabilisierungsarbeit ist ein zentrales Verein p.a.s.s. tätig. 5
Element im ersten Stadium der multiprofessionel- Psychotherapeutisches Angebot im Verein p.a.s.s len Arbeit unserer Einrichtung. Auch das Herstellen Im Verein p.a.s.s. werden sehr häufig psychisch einer guten Vertrauensbasis zwischen TherapeutIn schwer kranke Personen in einem ambulanten und KlientIn ist ein essentieller Bestandteil eines Rahmen hauptsächlich im Einzelsetting betreut. erfolgreichen, tragfähigen Arbeitsbündnisses. Um Neben speziellen fachlichen und persönlichen Nachhaltigkeit in der Behandlung garantieren zu Kompetenzen des gesamten Teams ist das bereits können, liegt der Fokus, unabhängig von den psy- aufgegriffene umfassende klinisch-psychologische, chotherapeutischen Methoden der klinisch sehr er- psychotherapeutische bzw. psychiatrische Know- fahrenen PsychotherapeutInnen, auf der störungs- how erforderlich, um zudem die häufig bestehen- spezifischen Suchtbehandlung. Das Ziel ist stets den Komorbidiäten entsprechend erkennen und eine Langzeitstabilisierung und eine essentielle behandeln zu können. Die störungsspezifischen He- Verbesserung der Beziehungs- und Bindungsfähig- rausforderungen implizieren in vielen Fällen einen keit, weshalb evidenzbasierte Interventionen, wie sehr nachgehenden Ansatz (z.B. Unterstützung im folgenden Abschnitt beschrieben, zur Anwen- durch Erinnerungsnachrichten vor dem Termin bei dung kommen. strukturellen Störungen, aktive Kontaktaufnahme mit KlientInnen, bspw. nach einem auf Grund eines Besonderheiten in der Suchttherapie Rückfalls nicht stornierten Termin, …). Im Folgenden werden nun Besonderheiten in der Ein Spezifikum der Einrichtung ist, dass die Suchttherapie an sich angeführt, die im Verein behandelnden PsychotherapeutInnen fallführend p.a.s.s. immer wieder Thema und durch die unter- sind. Je nach Kostenträger findet erst ein sozial- schiedlichen psychotherapeutischen Richtungen arbeiterisches Erstgespräch statt (nicht bei Behand- repräsentiert sind. Da das Verwenden aller Konno- lungen, die über die ÖGK finanziert werden) und tationen der 23 in Österreich anerkannten Metho- immer eine Abklärung notwendiger medizinischer den diesen Rahmen sprengen würde, werden die bzw. psychologisch-diagnostischer Maßnahmen. Besonderheiten der Psychotherapie exemplarisch Anschließend übernehmen die Psychotherapeu- durch die Verwendung tiefenpsychologischer Litera- tInnen die fallführende Betreuung und sind für alle tur angeführt: weiteren Behandlungsschritte verantwortlich. Die KlientInnen werden nach der Abklärung (Clearing) • K ontinuierliche Arbeit am Setting und im Rahmen der wöchentlichen Fallbesprechungen Arbeitsbündnis, vorgestellt und dem/der fachlich für die/den • Notwendigkeit, sich als Selbstobjekt zur KlientIn bestpassendste(en) TherapeutIn zuge- Verfügung zu stellen (Kohut, 2002), ordnet. Diese Betreuung findet zu einem großen • ein wohlwollendes Zur-Verfügung-Stellen von Teil in Gemeinschaftspraxen der Psychotherapeu- Hilfs-Ich-Funktionen, tInnen statt, die in verschiedenen Bezirken Wiens • Fähigkeit zum „Containing“ (Bion, 1992) und lokalisiert sind. Es gibt eine enge Kooperation im zum „Holding“ (Winnicott, 2006), Rahmen der Fallbesprechungen mit den anderen • primär haltend und nährend zugleich, vorsichtig Fachbereichen innerhalb der Einrichtung. Die Fall- aufdeckend, besprechungsgruppen stellen einen wesentlichen • unterstützende Klarheit als neue emotionale Qualitätsfaktor dar. Die nun seit Jahren wertvolle Interaktionserfahrung, die neue innere Arbeit auf hohem Niveau soll dadurch erhalten und Strukturen wachsen lässt, weitergeführt werden. • Fähigkeit zur Förderung der Strukturfähigkeit Die drei Grundeinstellungen der verbalen der Klientinnen und Klienten; Arbeit an der und nonverbalen Präsenz, des Respekts und der Ak- Triangulierungsfähigkeit, zeptanz der individuellen Lebensgeschichte sowie • Auseinandersetzung mit der Inszenierung die affektive Annahme bzw. das Mitgefühl gegen- grundlegender, sehr früher Triebwünsche, über dem/der PatientIn in der Behandlung sind uns • Bereitschaft für das Aufsuchen der verborgenen, in der Suchttherapie besonders wichtig. Bedingt frühen Scham- und Schuldkonflikte, durch den psychotherapeutischen Schwerpunkt der • A ffektmarkierungen und Affektetikettierungen, Einrichtung stehen vor allem die Aufrechterhaltung • unreife Symbolisierungsfähigkeit bei eines geregelten Lebens, sowie die Entwicklung strukturellen Störungen (Klein, 1972), von Selbstmotivation, Selbstbestimmung und • aktivere Interventionen, wenn indiziert Selbstkontrolle im Vordergrund. Psychosoziale DSA MICHAEL (Krisenintervention bei großer Haltlosigkeit, Hindernisse dafür, auch über die Suchtproblematik SCHMALHOFER Orientierungslosigkeit, Indikation einer hinausgehend, sollen im Rahmen der Behandlung ist Diplomierter stationären Aufnahme, ...), überwunden werden. Sozialarbeiter, • große Kraft der Dynamik des Unbewussten und Durch ein aktiv von den TherapeutInnen Personzentrierter des Agierens (regelmäßige Supervision!) ausgehendes Beziehungsangebot wird eine Psychotherapeut, Supervisor und • Beziehungsdynamik der Herkunftsfamilie/ vertrauensvolle, tragfähige und wertschätzende Therapeutischer Leiter innerfamiliäre Beziehungsstörungen Beziehung hergestellt. Durch diese Form der Be- im Verein p.a.s.s. (Horst-Eberhart Richter, 1975) treuung können regelmäßige Kontakte mit dieser 6
herausfordernden KlientInnengruppe bestmöglich Thematiken (Trauma, affektive Symptomatiken, umgesetzt werden und es wird eine unterstützende Persönlichkeitsstörungen, …): Es werden Strategien Struktur geschaffen, die Kontinuität bietet und die und Verhaltensmaßnahmen vermittelt, um den Eigenverantwortung fördert. Das konkrete Ziel in Umgang mit konsumierenden bzw. nicht mehr der jeweiligen Psychotherapie wird in der gemein- konsumierenden Personen besser gestalten zu samen Arbeit zwischen der KlientIn und TherapeutIn können. Co-Abhängigkeit ist ein wichtiger Fokus bei bestimmt und in einem dynamischen Prozess regel- den Vortragstätigkeiten. mäßig überprüft. Selbstverständlich wurden und werden auf Neben den Einzelpsychotherapien spielen Grund der anhaltenden Corona-Pandemie auch ver- auch andere Schwerpunkte eine wichtige und ergänzende Rolle. Zentral ist, im Rahmen der Kinder- und Jugendlichentherapie die Kommunika- tion bzw. Settingwahl je nach Alter der KlientInnen Kindern soll kindgerecht (Familiengespräche vs. separate Elterngespräche, die Wahrheit kommuniziert Kontakte mit dem Amt für Jugend und Familie durch therapeutische Leitung, …) ausreichend werden. zu reflektieren und zu gestalten. Hierbei ist auch besonders wichtig, dass die Psychotherapie in den jeweiligen privaten Kinderpsychotherapiepraxen mehrt Online-Behandlungsangebote etabliert (z.B. stattfindet, um die Minderjährigen nicht zu stark in Videotelefonie), die ebenfalls – wie alle angeführten eine Suchtbehandlungseinrichtung zu involvieren. Interventionen – durch die Kostenübernahme ver- Während die Kinder und Jugendlichen in einer schiedener Kostenträger ermöglicht werden. Auch möglichst gesunden Entwicklung gefördert werden dieses Angebot wurde von vielen KlientInnen gut sollen und die Integration in Kindergarten, Schule und gerne angenommen und zeigt sich hinsichtlich bzw. Ausbildung gestützt wird, zielt die Elternarbeit bestimmter Störungsbilder als die Behandlung auf eine Erhöhung der Erziehungskompetenz, eine besonders unterstützend und ermöglichend. Verbesserung des Einfühlungsvermögens gegen- Die Behandlung im Verein p.a.s.s. ist für die über dem Kind und einer Stärkung der Eltern-Kind- KlientInnen in der Regel kostenlos. Bindung (sichere Bindung) ab. Weites ist die häufige Schwierigkeit beim adäquaten Grenzen-Setzen ein sehr wichtiger Arbeitsinhalt mit den Familien. Kindern soll kindgerecht die Wahrheit kommuniziert werden. Das Fernhalten negativer Inhalte hinter- lässt bei Kindern und Jugendlichen einen Mangel Der Verein p.a.s.s. in Zahlen an Vertrauen, was sich in Folge negativ auf die Beziehungs- und Bindungsqualität auswirkt und 985 Patientinnen und Patienten (582 , 403 ) wiederum die Vulnerabilität für die Entwicklung von Justiz (gerichtliche Auflage): 91 (74 , 17 ) Sucht und anderen psychiatrischen Erkrankungen Sozialversicherungsträger: 195 (138 , 57 ) begünstigt. Neben der Vermeidung der Ausbildung Sucht- und Drogenkoordination Wien – illegale Substanzen bzw. der Verringerung von Symptomen bei den (SDW): 141 (86 , 55 ) Kindern liegt der Fokus auch auf der Behandlung Alkohol. Leben können.: 558 (284 , 274 ) der Kindeseltern, da es den Kindern meist nur so gut gehen kann, wie den Kindeseltern selbst. Das Team Mentalisierungsfähigkeit und Empathie sollen im 1 Fachärztin für Psychiatrie, 1 Allgemeinmedizinerin, gesamten Familiensystem durch die therapeutische 3 Sozialarbeiterinnen, 4 Psychologinnen und Psychologen Arbeit gefördert werden. 92 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (32 , 60 ) Gruppenpsychotherapie wie auch paar- oder mit einer umfassenden Palette methodischer Ansätze familientherapeutische Settings spielen ergänzend zu den Einzeltherapien bei einigen KlientInnen Zusätzliche Angebote eine wichtige Rolle. Die „Kraft der Gruppe“ wird Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Elternarbeit, genutzt, damit vor allem Stigmatisierung und Scham Angehörigenberatung, Paartherapie, Gruppentherapien; der chronischen Erkrankung besprochen werden Psychoedukative Workshops zu laufenden Themen wie An- können („auch andere sind von Sucht betroffen und gehörigenberatung, Co-Abhängigkeit, Rückfallsprophylaxe, wollen etwas ändern, ...“). Komorbiditäten etc. Austausch, Information, Diskussion und Prävention finden im Rahmen von Workshops Qualitätssicherung statt, die zu einem besseren Selbstverständnis der Regelmäßige Durchführung von Teamsitzungen, Fall- Betroffenen führen sollen. Alkohol- und Drogen- besprechungen und (internen bzw. externen) Vernetzungen, krankheiten werden psychoedukativ näher erläutert, Helferinnen- und Helferkonferenzen, Weiterbildungs- auch verschiedenste Komorbiditäten sind zentrale angebote, Supervision, Intervision 7
Therapeutische Gemeinschaft und Suchterkrankung Als größter Anbieter stationärer Langzeitdrogentherapie sieht sich der Verein Grüner Kreis seit seiner Gründung der Therapeutischen Gemeinschaft (TG) verpflichtet. Diese versteht sich als therapeut- isches Lernfeld, in welchem sich jedes Mitglied der Gruppe mit allen seinen Talenten und auch mit seinen Defiziten einbringen kann. HUMAN-FRIEDRICH UNTERRAINER D er Verein Grüner Kreis wurde 1983 nach auch durch eine eigene Studie bestätigt werden. einem Konzept von Primar Dr. Günter Mit Hilfe einer neurowissenschaftlich informierten Pernhaupt gegründet. Die erste stationä- Bindungsforschung können Veränderungsprozesse re Sozialhilfeeinrichtung „Treinthof“ konnte dann im Erleben der KlientInnen abgebildet und die TG 1985 in der Buckligen Welt in Niederösterreich als evidenzbasierter Behandlungsansatz weiter ge- eröffnet werden. Die Basis der Behandlung bildet stärkt werden. seit damals das Konzept der Therapeutischen Im vorliegenden Beitrag sollen historische Gemeinschaft (TG): Basierend auf dem Grundkon- Aspekte, allgemeine konzeptuelle Grundlagen, zept der TG und dem bio-psycho-sozialen Modell empirische Befunde zur Behandlung in der TG und PRIV.DOZ. DR. DR. findet die Behandlung im Verein Grüner Kreis die TG im Kontext neuerer bindungstheoretischer HUMAN-FRIEDRICH mittels eines 4-Säulen-Behandlungsmodells statt: Konzepte dargestellt werden. UNTERRAINER Dabei bildet die erste Säule den Bereich „Medizi- ist Klinischer und nische Betreuung, Behandlung und Rehabilitation“ 1. Historisches Gesundheitspsycho- ab, die zweite Säule den Bereich „Klinische/Ge- Obgleich Süchte die Menschheit seit Anbeginn loge, Psychotherapeut, Lehrtherapeut; sundheitspsychologische Behandlung und Psycho- begleiten, ist der Begriff der „Therapeutischen Wissenschaftlicher therapie“, die dritte Säule den Bereich „Arbeits- Gemeinschaft“ (TG) ein recht junger. Erstmals traten Leiter des Zentrums und Soziotherapie bzw. Aus- und Weiterbildung“ TG im eigentlichen Sinne in Großbritannien wäh- für Integrative und die vierte Säule den Bereich „Aktive Freizeit, rend der 1940er Jahre auf. Dabei entstanden TG Suchtforschung im Sport, Kunst und Kreativität“. Die TG kann als Alter- in psychiatrischen Kliniken etwa 15 Jahre vor der Verein Grüner Kreis; native zur klassischen psychiatrischen Klinik gese- Entwicklung der TG für Suchterkrankungen – dies Privatdozent an den Unis Graz (KFU, MUG) hen werden, wobei es auch zu einer Relativierung kann als revolutionärer Schritt in der psychiatri- und der Uni Wien. des Verhältnisses zwischen KlientIn und Thera- schen Behandlung gewertet werden (De Leon, Forschungsschwer- peutIn kommt. Das Leben in der Gemeinschaft 2000; De Leon & Unterrainer, 2020; bzw. auch punkte: Neurowissen- kann korrigierend auf kränkende bzw. traumati- Jones, 1956): Die Entwicklung der TG speziell für schaftliche Methoden sierende Beziehungserfahrungen wirken. Es soll Suchterkrankungen begann in den USA. In Nord- in der Psychotherapie, den KlientInnen die Möglichkeit gegeben werden, amerika gründete Charles Dederich als ehemaliger Suchterkrankungen, durch die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ihre Alkoholabhängiger und Mitglied der „Anonymen Bindung und Persön- lichkeit, Spiritualität Abhängigkeitserkrankung hin zu einem autono- Alkoholiker“ im Jahr 1958 erste Selbsthilfegruppen und psychische men Leben zu überwinden. Die Effektivität der TG für Drogensüchtige und erschuf eine Gemeinschaft Gesundheit. konnte in einigen Überblicksarbeiten gezeigt bzw. namens „Synanon“ (Janzen, 2001): Angeregt wurde 8
er hierbei unter anderem von den Werken des spracherecht und größere persönliche Freiheit der Schriftstellers und Philosophen R. W. Emerson und Bewohnerinnen und Bewohner charakterisiert ist. einer religiösen Organisation namens „The Oxford- Beide Modelle haben prinzipiell dieselben Ziele Group“ [Die Oxford-Gruppe], gegründet von Frank und überschneiden sich in der klinischen Praxis Buchman, die sich als moralischer Gegenpol zur (Kennard & Haigh, 2012). internationalen Kriegsaufrüstung verstand. Auch beeinflussten ihn die „Anonymen Alkoholiker“ (AA) 3. Empirische Studien zur Wirksamkeit der und ihre „Zwölf-Schritte“-Methode zur Behandlung Therapeutischen Gemeinschaft von Alkoholabhängigkeit. Es entwickelten sich Es finden sich in der Literatur einige randomi- sogenannte „Synanon“-Häuser und „Synanon“-Dör- siert-kontrollierte Studien, welche die Effizienz fer, in welchen sich abstinent lebende Suchtkranke der Behandlung in den TG dokumentieren. Eine durch gemeinsames Leben und Arbeiten an Werten Überblicksarbeit dazu wurde von Vanderplasschen wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit (Authentizität) et al. (2013) publiziert. Hier konnten insgesamt 16 orientierten. Im Unterschied zum „Zwölf-Schrit- Evaluationsstudien betrachtet werden. Es zeigten te“-Programm der AA bestand die therapeutische sich in zwei von drei Studien deutlich verbesserte Grundidee von „Synanon“ allerdings nicht in der Ergebnisse hinsichtlich eines verminderten Subs- Hinwendung zu einer spirituellen Dimension (höhe- tanzkonsums bzw. auch delinquenten Verhaltens re Macht), sondern in der Entwicklung eines stabilen für die Behandlung in der TG. Fünf weitere Studien Selbstwerts (Petzold, 1974): Die Idee der heilenden berichteten ein höheres Ausmaß an Werktätigkeit bzw. ein verbessertes psychologisches Wohlbefin- den nach dem Aufenthalt in der TG. Die Länge des Aufenthalts und die Teilnahme an Nachbetreuungs- Süchte begleiten die programmen ergaben sich als hoch positive Korrela- te des Behandlungserfolgs. Die AutorInnen ver- Menschheit seit Anbeginn. weisen abschließend auf ein deutlich verbessertes Behandlungsergebnis für den TG-Ansatz hinsichtlich zahlreicher Parameter. In einer weiteren Überblicks- Kraft der Gemeinschaft findet sich aber sowohl in arbeit von Malivert et al. (2012) zeigte sich, dass vor Grundkonzepten der TG als auch der AA verankert allem die reguläre Beendigung der Behandlung als (Vanderplasschen et al., 2014; Yablonsky, 1990): stärkster Prädiktor für eine anhaltende Abstinenz Nach dem Niedergang von „Synanon“ Anfang der gelten durfte. Das Auftreten einer oder mehrerer 1990er Jahre finden sich bis heute Ableger in den zusätzlicher psychiatrischer Erkrankungen (Komorbi- USA als auch in Europa. dität) spielte in dieser Studie keine signifikante Rolle – hier finden sich in der Literatur aber durchaus 2. Allgemeine Grundlagen widersprüchliche Ergebnisse. Ähnliche Ergebnisse Das Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft berichten Magor-Blatch et al. (2014): So wird der (TG) begründet sich unter anderem auf der Idee TG-Ansatz als therapeutische Intervention im Allge- einer individuellen Nachreifung der Persönlich- meinen als effektiv ausgewiesen. Auch detaillierter keit im geschützten Rahmen. Damit soll vermittelt betrachtet, findet man die Resultate der anderen durch alternative Beziehungserfahrungen ein Übersichtsarbeiten als bestätigt: So zeigte sich nach Überwinden der Drogenabhängigkeit ermöglicht erfolgreicher Behandlung ein reduzierter Subs- werden. Der Abbau von Beziehungsängsten steht tanzgebrauch bzw. eine verminderte Delinquenz, dabei im Vordergrund – ein In-Kontakt-treten mit auch berichteten die befragten Personen über eine dem Gegenüber im „Hier und Jetzt“ kann dadurch verbesserte psychische Gesundheit und zeigten ein passieren. Die Förderung des Wachstumsprozes- höheres soziales Engagement. ses des Individuums in der Gemeinschaft gilt dabei Des Weiteren konnten in einer eigens im als ein zentrales Anliegen und stellt gleichzeitig Rahmen einer Diplomarbeit (Kirschner, 2018) durch- auch die größte Herausforderung dar. Somit ist geführten Studie im Sinne eines systematischen die TG ein auf den Menschen in seiner Gesamt- Überblicks 14 randomisiert-kontrollierte Studien heit (holistisches Menschenbild) fokussierendes gefunden werden, welche auf eine Evaluation des Behandlungsverfahren, wobei Personen mit einer Behandlungserfolgs in den TG fokussierten. Die von vergleichbaren Erkrankung über einen längeren Vanderplaschen berichteten Ergebnisse konnten Zeitraum zusammenleben (De Leon, 2000): Etwas bestätigt werden (2013; vgl. auch Vanderplasschen differenzierter lässt sich zwischen zwei Behand- et al., 2014). Auch hier wurden die Behandlungs- lungsmodellen der TG unterscheiden: Einerseits ergebnisse der TG mit den Ergebnissen anderer gibt es TG für Suchterkrankungen, welche auch als Ansätze verglichen. Nach Entfernen der Duplikate, hierarchisch aufgebaute, konzept-basierte Gemein- Analyse von Titel und Zusammenfassung sowie schaft beschrieben werden können. Andererseits einem Volltextscreening konnten schlussendlich findet sich die TG für allgemein-psychiatrische 14 Arbeiten in die systematische Übersichtsarbeit Erkrankungen, welche durch ein verstärktes Mit- eingeschlossen werden. Bezüglich der Kategorie 10
Drogenkonsum konnten 54% (7 von 13 Studien) der wirkt sich in weiterer Folge im Sinne eines „circulus diese Outcome-Kategorie untersuchenden Arbeiten vitiosus“ wiederum negativ auf die Bindungsfähig- ein signifikant besseres Ergebnis für die stationäre keit aus (Schindler, 2013): Eine sichere Bindung TG im Vergleich zur jeweiligen Kontrollgruppe, hingegen senkt laut metaanalytischen Befunden von welche einer anderen Behandlungsmethode oder Jordan und Sack (2009) das Risiko für Substanzmiss- einer ambulanten Form der TG entsprochen hatte, nachweisen. Auch hinsichtlich der Kriminalitätsrate (56%; 5 von 9 Studien), Arbeit und Bildung (56%; 5 von 9 Studien) und der psychischen beziehungs- Das Bindungssystem wird weise physischen Gesundheit (67%; 6 von 9 Studien) der Betroffenen konnte ein Vorteil für die TG in den durch das frühe familiäre Verlaufskontrollen bestätigt werden. Umfeld geprägt. 4. Bindungstheoretische Konzepte in der Therapeutischen Gemeinschaft Die Bindungstheorie geht auf die Arbeiten von brauch um etwa ein Drittel. Darüber hinaus steht der John Bowlby und Mary Ainsworth (Bowlby, 1988; Bindungsstil auch in Verbindung mit individuellen vgl. auch Unterrainer et al., 2017 oder auch La- Unterschieden in der Kooperationsbereitschaft, der housen et al., 2019) zurück, wobei unter dem Suche nach neuen Erfahrungen und der Abhängig- Bindungssystem ein biologisch und evolutionär keit von Belohnung (Chotai, Jonasson, Hägglöf & verankertes Motivations- und Verhaltenssystem Adolfsson, 2005): Suchtkranke weisen im Allgemei- verstanden werden kann, welches „…über die nen ein vermindertes Ausmaß an sicherer Bindung Interaktion mit den Bindungsfiguren (meist den („insecure attachment“) auf (De Rick et al., 2007; Eltern) vermittelt wird und sich seinerseits auf Kassel et al., 2007) bzw. zeigen sie eine verstärkte Affektregulation, Beziehungsgestaltung und deren Bindung an süchtig machende Substanzen (Burkett neurobiologische Korrelate auswirkt.“ (Schindler et et al., 2012; Insel, 2003; Orford, 2001): Heroin al., 2012, S. 45): Demnach wird das Bindungssys- wurde dabei als Beispiel einer möglichen Form der tem durch das frühe familiäre Umfeld geprägt und (dysfunktionalen) Kompensation untersucht im Laufe unseres Lebens immer wieder in unter- (Schindler et al., 2009). schiedlichsten Situationen aktiviert (Bowlby, 1988; Milch & Sahhar, 2010): Eine sichere Bindung schafft eine „sichere Basis“ für die Erkundung der Außen- welt sowie einen „sicheren Hafen“, in den bei Angst oder Stress zurückgekehrt werden kann. Steht diese Sicherheit nur eingeschränkt zur Verfügung, kann dies die Entstehung psychischer Erkrankun- gen begünstigen (Sheinbaum et al., 2015): So kann Bindung als Einflussgröße im Rahmen eines multi- dimensionalen Modells der Suchtentwicklung be- schrieben werden, in welchem neurobiologische, soziale sowie psychologische Faktoren berücksich- tigt werden (Schindler et al., 2012). Der Zusammenhang zwischen unsicherer Abschließende Betrachtungen Bindung und Substanzabhängigkeit ist theoretisch gut beschrieben (Flores, 2004): Demnach darf Die TG stellt auch 80 Jahre nach Ihrem Entstehen eine wichtige davon ausgegangen werden, dass Beziehungser- Konstante vor allem für die Drogenlangzeittherapie dar. Auf der fahrungen in der Kindheit, die keine ausreichende Basis eines bio-psycho-sozialen Modells von Gesundheit und Sicherheit bieten, dazu führen, dass das Kind Angst Krankheit spielen Bindung und Beziehung im therapeutischen und andere Affekte nicht oder nur unzureichend Miteinander eine zentrale Rolle (vgl. Griffiths, 2005): Dies betrifft im mit Hilfe seiner Bindungsfiguren zu regulieren lernt Besonderen die stationäre Langzeittherapie, wirkt sich aber auch (vgl. auch Fonagy, Gergely & Target, 2007): Im Laufe auf die therapeutische Haltung im ambulanten Bereich aus. Ein des Lebens werden diese negativen Beziehungser- neurowissenschaftlich informierter bindungsbasierter Forschungs- fahrungen internalisiert und es kommt zur Bildung ansatz kann in Zukunft dazu beitragen, die Effektivität der TG mittels negativer „innerer Arbeitsmodelle“ in Bezug auf das empirischer Daten zu untermauern (vgl. dazu Lewis, Unterrainer, Selbst und andere Menschen, was wiederum eine Galbally & Schindler, 2021 oder auch Panksepp et al., 2002): Auf Verringerung der positiven Qualität von Bindungser- die Notwendigkeit der vermehrten Durchführung von randomisiert- fahrungen bewirkt (Schindler, 2013): Der Substanz- kontrollierten Versuchsreihen und auch des kombinierten Einsatzes konsum dient in diesem Zusammenhang als „Selbst- von qualitativen und quantitativen Forschungsdesigns (Mixed Me- medikation“ bzw. „chemische Affektregulation“ thods) darf abschließend mit Nachdruck verwiesen werden. (Khantzian, 1997): Der Substanzmissbrauch selbst 11
12 Foto: Getty Images
„Kleiner Leuchtturm“ für Kinder aus suchtbelasteten Familien Das psychoedukativ-stützende Gruppenangebot, vom Verein Dialog in Kooperation mit dem Institut für Erziehungshilfe konzipiert, möchte den Kindern eine altersgemäße Aufklärung über die Sucht- erkrankung ihrer leiblichen Eltern geben und darüber hinaus einen Rahmen für die Bewältigung des Alltags bieten. Auch die Bezugspersonen der Kinder werden adressiert. NADJA SPRINGER D ie psychische Gesundheit bzw. Resilienz Drogenkonsum von der Außenwelt isolieren und der Kinder aus suchtbelasteten Familien Fremdeinflüsse von ihren Kindern abschirmen (Wel- erhält in Wissenschaft, Forschung und lisch & Steinberg, 1980). Nair et al. untersuchten Praxis in den letzten Jahren verstärkt Aufmerk- 1997 die Beziehungsgeschichten der Kleinkinder samkeit. Aufgezeigt werden mögliche Zusammen- von 152 drogenabhängigen Müttern. In dieser hänge zwischen Bindungsmustern und Sucht, die Untersuchung erlebten 43,3% der Kinder bis zu sich in den Ergebnissen der Bindungsforschung ihrem 18. Lebensmonat einen Wechsel der Haupt- im Kindes- und Jugendalter zeigen. Forschungs- bezugspersonen. Laut Klein (2005) hat sich die MAG. NADJA SPRINGER, ergebnisse bezüglich transgenerationaler Vermitt- Arbeit mit den Kindern von Suchtkranken als wichtig Klinische- und Ge- lung von Bindungsmustern sowie eingeschränkte und wirksam erwiesen. Begleitende Angebote für sundheitspsychologin, „Elternkompetenz“ bei alkohol- und/oder drogen- Eltern bzw. obsorgeberechtigte Personen verstärken Psychotherapeutin abhängigen Eltern lassen eine Häufung unsicher die Wirksamkeit der Angebote. in freier Praxis; Mit- gebundener Kinder in diesem Zusammenhang ver- Aus den Ergebnissen der großen ENCARE arbeiterin im Verein muten (Fonagy, 2006). Laut Zweyer (2008) haben Studie zum Thema „Häusliche Gewalt und Miss- Dialog am Standort Kinder drogen- und alkoholabhängiger Eltern ein handlungen bei Jugendlichen aus alkoholbelas- Suchtprävention und Früherkennung mit höheres Risiko, eine unsichere Bindung zu entwi- teten Familien“ (Velleman & Reuber, 2007) geht den Schwerpunkten: ckeln, die dann selbst wiederum einen Risikofaktor hervor, dass viele Jugendliche gerne in der Ver- Kinder aus sucht- bei der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten gangenheit mit jemandem außerhalb der Familie belasteten Familien, und süchtigem Verhalten darstellt. Therapeutische gesprochen hätten: „Mit jemanden, der das wirklich wissenschaftliches Interventionen können das Risiko senken. versteht und nicht so tut, als ob es normal wäre.” Arbeiten, schulische Bisher bekannte, Erfolg versprechende An- Viele Jugendliche berichteten auch, dass sie gerne Suchtprävention; Teammitglied der sätze stellen Interventionen dar, die eine feinfühlige mit jemandem gesprochen hätten, „um besser Lehrgangsleitung des Interaktion zwischen Müttern und Kleinkindern in verstehen zu können, warum Mama trinkt und so Weiterbildungslehr- Hochrisikogruppen fördern (Liebermann & Zeanah, traurig ist.“ Schulze (2014) betont, dass „nicht nur gangs „Suchtberatung 1999). Studien berichten, dass sich drogenabhän- die Eltern, sondern auch ihre Kinder belastet sind, und Prävention“ an gige Mütter mehr als Mütter ohne problematischen wenn ein Elternteil psychisch krank ist. Die Kinder der FH St.Pölten 13
leiden unter Loyalitätskonflikten und können sich gemeinsam konzipiert. So entstand ein semi-struk- meist nicht unbekümmert äußern. Sie haben häufig turiertes Programm mit dem Titel „Kleiner Leucht- gelernt, dass sie die Erkrankung der Eltern nicht turm“. Durch die Kooperation zweier im Bereich thematisieren dürfen“. der Suchthilfe und im Bereich der Erziehungshilfe Laut Black (1981) lernen Kinder, die in einer anerkannter Institutionen kommt es seither bei problembelasteten Familie aufwachsen, nicht offen diesem Angebot zu einer optimalen Nutzung der zu sprechen. Stattdessen lernen sie zu minimieren, vorhandenen Kompetenzen. zu verdrängen und zu rationalisieren. Die Kinder Konkret handelt es sich dabei um ein psycho- nehmen ihre familiäre Umgebung nicht als sicheren edukativ-stützendes Angebot sowohl für die Kinder (7–12 Jahre) als auch für deren Bezugspersonen. Ziel dieser Gruppenintervention ist es, den Kindern eine altersgemäße Aufklärung über die Sucht- Kinder drogen- und alkohol- erkrankung ihrer leiblichen Eltern zu geben und abhängiger Eltern haben ein einen Rahmen zu schaffen, der es den Kindern und den Bezugspersonen ermöglicht, Alltagssituationen höheres Risiko, eine unsichere und daraus resultierende Affekte wahrzunehmen und unter professioneller Begleitung zu bearbeiten. Bindung zu entwickeln. Zehn themenzentrierte Kinder-Einheiten mit psychodynamischem Schwerpunkt fokussieren zu Beginn auf die emotionale Erlebenswelt der Kinder. Ort wahr, an dem sie emotional ehrlich sein können. Der Fokus wandert ab der 4. Einheit zu kognitiven Vielmehr herrscht die Prämisse: Fühle nicht! Rede Inhalten, die emotionale Erlebenswelt der Kinder nicht! Traue niemandem! zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch das Ein Großteil der Kinder, die mit substanz- ganze Angebot. Das Programm wurde von uns aus missbrauchenden Eltern aufwachsen, übernehmen dem Mentalization-Based Treatment for Children die Elternrolle für sich selbst, ihre Geschwister und (MBT-C) von Midgley et al. (2017) entwickelt und an ihre Eltern. Diese Kinder, die oft gut erzogen und die besonderen Bedürfnisse von Kindern aus sucht- scheinbar sehr kompetent sind, müssen unterstützt belasteten Familien angepasst. werden. Es besteht sonst die Gefahr, dass sie erheb- Mentalisierungsbasierte Behandlungen liche psychologische und emotionale Schwierig- (MBT) zur Verbesserung der psychischen Struktur keiten entwickeln, die sich bis ins Erwachsenenalter wurden bereits vielerorts für verschiedene In- erstrecken können (Tedgard et al., 2019). dikationen wie emotional instabile Persönlichkeits- störungen, Drogenabhängigkeit und für Kinder mit Die Konzeptionierung des Angebots psychisch erkrankten Eltern entwickelt und erfolg- im Verein Dialog reich umgesetzt (z.B. Bateman & Fonagy, 2008, Brus- Im Verein Dialog wurde im Rahmen der Jahrzehnte- kas, 2008; Suchman, 2010). Sie zielen darauf ab, die langen Behandlung substituierter Schwangerer Fähigkeit des Einzelnen zu verbessern und über die und Eltern und der damit verbundenen Koopera- eigenen und die Gefühle, Gedanken und Wünsche tion mit dem Jugendamt sowie anderen involvier- anderer zu reflektieren. Bei der Anwendung dieses ten Institutionen der Bedarf an Unterstützung für Konzepts für Kinder und deren Bezugspersonen diese Mütter und Kinder deutlich. Das Bedürfnis, konzentriert sich die MBT auf die Unterbrechung entsprechende Aktivitäten zu setzen, wuchs sowohl destruktiver gewohnheitsmäßiger Gefühls- und durch Erfahrungen in der Interaktion mit konsumie- Handlungsweisen, um die Mentalisierungsfähigkeit, renden Eltern, wie auch durch konkrete Hilferufe zusammen mit dem emotionalen Wohlbefinden des von Seiten verzweifelter SozialpädagogInnen aus Individuums und dessen sozialen Kompetenzen, zu Wohngemeinschaften, die dringend spezielle verbessern (Mayes, 2012). Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder aus sucht- Bislang fehlten dennoch Interventionen, belasteten Familien suchten, die über das Angebot die sich mit den Erfahrungen und Gefühlen der der bereits gut etablierten Mutter-Kind-Gruppe hi- Kinder im Zusammenhang mit einer Fremdunter- nausgehen und sich älteren Kindern widmen. Auch bringung befassen (Byrne, 2020). Auch wurden der Kontakt zu Pflegeeltern über Fortbildungsver- mentalisierungsbasierte Interventionen noch nicht anstaltungen von Seiten des Standorts Suchtprä- an die Bedürfnisse von Kindern aus suchtbelasteten vention und Früherkennung hat dazu beigetragen, Familien und ihren Pflege- und/oder biologischen dass ein entsprechendes Angebot 2017 schluss- Bezugspersonen angepasst, obwohl im Kontext von endlich konzipiert wurde. Pflege und Adoption einige Fortschritte gemacht Um den hohen Ansprüchen und der notwen- wurden, um das psychische Wohlbefinden und die digen Sensibilität in der therapeutischen Arbeit mit gesunde Entwicklung von Jugendlichen zu fördern Kindern gerecht zu werden, wurde eine Kooperation (Jacobson, Ha & Sharp, 2015). mit dem Institut für Erziehungshilfe (Child Guidance Neben dem Konzept der Mentalisierung Clinic) eingegangen und das Gruppenangebot wurden von uns folgende Theorien in der 14
Entwicklung des Angebots berücksichtigt: Risi- und um den Bezugspersonen das Konzept der ko- und Schutzfaktorenmodell; Bindungstheorien Mentalisierung implizit vorzustellen, um diese in der und Objekbeziehungstheorien in Bezug auf eine Unterstützung der Kinder zu integrieren. Der zweite Suchtentwicklung im Jugend-/Erwachsenenalter Elternabend, der nach der Hälfte der Sitzungen für sowie Theorien zur Resilienz. die Kinder angesetzt wird, dient der Reflexion der Von 2017 bis 2019 wurde das Angebot als laufenden Intervention und ihrer Auswirkungen auf Praxisprojekt durch die Gemeinsamen Gesund- das tägliche Leben der Kinder. Der abschließende heitsziele aus dem Rahmen-Pharmavertrag finan- Elternabend dient als Rückblick auf die Erfahrung ziert und als Angebot für fremduntergebrachte und als Vorschau auf zukünftige Interventionsmög- Kinder geführt. Dank der Kostenübernahme durch lichkeiten, falls diese indiziert sind. die Sucht- und Drogenkoordination Wien ist die Die Umsetzung des „Kleinen Leuchtturms“ ent- Gruppenintervention seit 2020 ein fixer Bestandteil spricht dem von Fonagy und Allison (2014) be- der Angebote des Vereins Dialog in Kooperation schriebenen Prozess wie folgt: mit dem Institut für Erziehungshilfe; sie konnte 1) Therapeutischer Kontext: Entwicklung zusätzlich um eine Gruppe für nicht-fremdunter- eines therapeutischen Kontextes, in dem sich die gebrachte Kinder aus suchtbelasteten Familien Kinder und Pflegepersonen verstanden fühlen, erweitert werden. Den KlientInnen der Wiener so dass ein Gefühl des epistemischen Vertrauens Suchtberatungsstellen steht somit ein Angebot zur aufgebaut werden kann. Verfügung, das sich direkt an ihre Kinder richtet 2) Mentalisierungsfähigkeit: Wiedererlan- und sie unterstützen soll, ihrer Erkrankung auch gung der Mentalisierungsfähigkeit. Mittels Aus- in der Erziehung und in der Begegnung mit den einandersetzung mit den Vorstellungen, Gefühlen Kindern den notwendigen Raum zu geben. und Verbalisierungen des Gegenübers wie auch mit den eigenen Vorstellungen über dessen Ge- Beschreibung der Intervention fühle, aktuelle Befindlichkeiten, Einstellungen und Jeder Behandlungszeitraum dauert 5 Monate, in denen zehn Gruppensitzungen für die Kinder und drei „Elternabende“ für die aktuellen Bezugsper- sonen (Eltern, Pflegeeltern, BezugsbetreuerInnen) Ziel ist es, den Kindern eine von zwei PsychotherapeutInnen und Klinischen Psy- chologInnen durchgeführt werden. Jede Sitzung altersgemäße Aufklärung dauert etwa 90 Minuten. über die Suchterkrankung Die Gruppensitzungen für die Kinder folgen einem ritualisierten Ablauf: Es gibt vordefinierte ihrer Eltern zu geben. Inhalte, wie z.B. Drogenabhängigkeit im Allgemei- nen, die Situation der Kinder in der Fremdunterbrin- gung oder zu Hause, ihre Gefühle gegenüber den Wünsche, die dessen Verhalten zugrunde liegen, leiblichen Eltern und ihren BezugsbetreuerInnen. Da soll man die Fähigkeit erwerben, am Verhalten die Gruppendynamik in den Sitzungen nie vorher- des Anderen „ablesen zu können, was in dessen sehbar ist, gibt es immer Zeit für „offene Themen“, Kopf vorgeht“, wie auch die eigenen affektiven und die von den Kindern eingebracht werden. mentalen Zustände zu verstehen und vom Verhal- Die Gruppensitzungen werden immer im ten zu unterscheiden und sie dabei gleichzeitig als selben Raum durchgeführt, der nicht zu viele ab- deren Verursacher anzuerkennen. lenkende Elemente enthält, aber groß genug ist, um 3) Gruppe als Ort des Erfahrungsaustausches: Spiele wie das Werfen und Fangen eines Balls oder Sich als GruppenteilnehmerIn des Inhalts der das Spiel „Emotions-Scharade“ zu ermöglichen, psychoedukativen Arbeit der GruppenleiterInnen bei dem die Kinder versuchen, sich gegenseitig bewusst zu sein und sich dafür zu interessieren und nonverbal eine vorher ausgewählte Emotion panto- von der Gruppe als Ort des Erfahrungsaustausches mimisch darzustellen. Das den Kindern zur Verfü- zu profitieren. gung gestellte Material umfasst Mal-, Zeichen- und Bastelwerkzeug. Die Kinder werden aufgefordert zu sprechen oder ihre Gedanken und Gefühle mit den zur Verfügung stehenden Materialien auszu- drücken. Zeichnen kann besonders nützlich sein, da es als weniger bedrohlich empfunden wird, als über eigene Erfahrungen vor der Gruppe zu sprechen (Gardner & Harper, 1999). Der erste Elternabend findet nach der ersten Gruppensitzung der Kinder statt, um sich gegensei- tig kennenzulernen, einen ersten Eindruck von der Gruppe durch die GruppenleiterInnen zu erhalten 15
„Die Leute fangen nicht mehr bei Null an“ Seit Anfang 2021 ist Prim. Dr. Wolfgang Preinsperger ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts. „Momentum“ sprach mit ihm über die DNA des Anton Proksch Instituts, seine Pläne und Schwerpunkte sowie über die Erfahrung, dass Veränderung möglich ist – auch wenn es dafür manchmal mehrere Anläufe braucht. INTERVIEW: ANDREA HEIGL Sie haben Ihr ganzes Berufsleben der Behandlung Psychoanalytiker und Mitglied der Wiener psycho- Suchtkranker gewidmet und sind seit mehr als 30 analytischen Vereinigung. Dieses Wissen erachte Jahren im Anton Proksch Institut tätig. Was faszi- ich für meine Tätigkeit im Anton Proksch Institut niert Sie an dieser Tätigkeit? als ganz wesentlich. Den Zugang zu dem Thema habe ich als junger Mensch gefunden durch persönliche Erfahrun- Wenn Sie auf diese Zeitspanne zurückschauen: gen mit Alkoholsucht im weiteren Familienkreis. Inwieweit hat sich das Bild von Suchtkranken im Außerdem habe ich mich der Psychiatrie immer öffentlichen Diskurs verändert? auch von einer psychotherapeutischen Seite her Ich glaube leider, dass Suchtkranke nicht viel genähert. Als ich studiert habe, ist die Psycho- weniger stigmatisiert sind, als sie es früher waren somatik aufgekommen. Es gab Mitte der 1980er- – ob das nun Alkohol- oder Drogenabhängige Jahre eine Gruppe von interessierten Studieren- sind. Vielleicht ist die Stigmatisierung gesamtge- den rund um die beiden Uni-Professoren Erwin sellschaftlich ein bisschen heruntergegangen, auch Ringel und Hans Strotzka, zu der ich auch gehört durch die Medienarbeit, die unser Haus und viele habe. Im Suchtbereich geht es um wesentlich andere leisten. Aber elementar ist die Veränderung mehr als um medikamentöse Behandlung oder nicht. Besonders bitter finde ich, dass auch im um akute Intervention. Das Psychotherapeutische psychiatrischen System Suchtkranke in manchen und Sozialpsychiatrische ist in der Suchtbe- Bereichen noch nicht als genau so wertgeschätzte handlung so elementar, dass es mich in diesen Patientinnen und Patienten angekommen sind wie Bereich gezogen hat. Ich bin auch ausgebildeter jene mit psychiatrischen Problemen. 16
PRIM. DR. WOLFGANG PREIN- SPERGER, MBA, ist seit 1986 mit kurzen Unterbre- chungen am Anton Proksch Institut tätig. 2009 übernahm er das Primariat der Drogenabteilung. Er ist außerdem als niedergelassener Psychiater und Psychoanalytiker in Mödling tätig. Seit 1. Jänner 2021 leitet er das Anton Proksch Institut. Woran liegt das Ihrer Wahrnehmung nach? Die Haltung, dass Veränderung möglich Das liegt zumindest zum Teil an negativen Er- ist, prägt ja insgesamt die Arbeit des Anton fahrungen mit dieser Klientel. Jemand, der schwer Proksch Instituts … alkoholisiert und aggressiv ist und dann auf der Ja, das ist ein wesentlicher Aspekt. Erfolg ist ja Akutpsychiatrie landet – das ist natürlich unan- nicht nur, wenn jemand nach seiner stationären genehm für die Behandlerinnen und Behandler. Es Behandlung ein Leben lang abstinent bleibt. Erfolg ist nachvollziehbar, dass sich die Kolleginnen und ist, wenn sich an den Lebensumständen etwas Kollegen auf solche Situationen nicht freuen und verändert und verbessert. Und wenn es dann sich dann eher distanzieren. Wir im Anton Proksch wieder bergab geht, kann sich ein Patient oder Institut arbeiten ja mit Suchtkranken in einem frei- eine Patientin bei uns wieder die Hilfe holen, die er willigen, sub-akuten Kontext. Wir haben auch immer oder sie braucht. Die intensive Behandlung, die wir wieder schwierige Situationen, weil es zum Beispiel anbieten, hat ja auch einen kumulativen Effekt. Die Krankheits-Rezidive gibt. Aber wir arbeiten mit den Leute, die zum zweiten oder dritten Mal kommen, Patientinnen und Patienten in Phasen ihrer Erkran- fangen nicht mehr bei Null an. Suchterkrankungen kung, in denen sie etwas verändern wollen. Diese sind chronische Erkrankungen. Manchen Patientin- Erfahrung ist sehr wertvoll: Dass Veränderung und nen und Patienten gelingt es, das mit einem Mal Entwicklung möglich ist, dass sich Menschen mit zu lösen, ganz vielen gelingt es aber nicht. Viele Unterstützung von therapeutischen Einrichtungen brauchen eben mehrere Anläufe und profitieren von wie der unseren auch am eigenen Schopf aus ihrer der Summe an therapeutischen Bemühungen. Es ist Lage herausziehen können. sehr schön, das zu erleben. Foto: Theresa Wey 17
Zur DNA des Anton Proksch Instituts gehört auch, Viele Schwesterorganisationen haben überhaupt zu- dass wir zwar eine ärztlich geleitete Krankenanstalt gesperrt. Wir haben uns sehr rasch dazu entschlossen, sind, aber die Multidisziplinarität leben. Auch offen zu halten, auch in Rücksprache mit der Stadt Berufsgruppen wie Psychologinnen und Psycho- Wien, um die Akutspitäler nicht zusätzlich zu belasten. logen, Psycho-, Ergo- und Aktivtherapeutinnen Also haben wir niemanden entlassen, auch nicht in der und -therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozial- ersten Schockphase. Binnen drei Wochen haben wir arbeiter, Physio- und Sporttherapeutinnen und das ganze Haus umstrukturiert, eine Aufnahmestation -therapeuten, Pflegerinnen und Pfleger spielen eine etabliert, alle Abläufe komplett geändert, Testungen enorm wichtige Rolle. Die arbeiten den Ärztinnen eingeführt. Nach diesen drei Wochen konnten wir und Ärzten nicht bloß zu, sondern sind elementare dann auch wieder neue Patientinnen und Patienten Bausteine in der Behandlung. Und letztlich sind wir aufnehmen. In dieser Anstrengung haben verschie- eine therapeutische Gemeinschaft, weil die Patien- denste Berufsgruppen eine Rolle gespielt und ihre tinnen und Patienten sehr lange bei uns sind. Wir Expertise eingebracht. Wir haben das auf eine breite teilen den Alltag mit ihnen, wir leben im weitesten Basis gestellt, auch mit dem Betriebsrat – das ist uns Sinne mit ihnen zusammen. gut gelungen. Hat Sie dieses Zusammenwirken auch durch die Wie ist die Situation jetzt? Pandemie getragen? Wir haben noch immer Einschränkungen für die Definitiv. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter identi- Patientinnen und Patienten. Ausgänge sind weiter- fizieren sich sehr mit dem Haus. Wir waren immer hin nur begleitend möglich, das versuchen wir zu schon eine Modell-Institution, andere haben sich bei forcieren. Gleichzeitig bereiten wir nun auch wieder uns etwas abgeschaut. In der Corona-Krise war es im unbegleitete Ausgänge für Patientinnen und Patien- Grunde ähnlich: Es gab natürlich gesetzliche Vorga- ten vor, die sehr lange bei uns sind. Der Ablauf des ben, aber vieles haben wir für uns gestalten müssen, therapeutischen Programms entspricht weitgehend weil es in Österreich keine gleichartige Institution gibt. wieder jenem vor Pandemiebeginn. 18
Aufeinander abgestimmte Teamarbeit ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Behandlung im Rahmen der therapeutischen Gemeinschaft. Mit 1. Jänner 2021 haben Sie die Rolle des ärzt- Behandlungsschwerpunkt für „Mischabhängige“ lichen Leiters des Anton Proksch Instituts übernom- bzw. für Menschen mit einer vorwiegenden Kokain- men. Wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte? oder Cannabisproblematik vor. Wir sind in der Therapie in den letzten Jahren zunehmend differenzierter und individualisierter Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit war zuletzt die vorgegangen. Gleichzeitig dürfen wir den Patienten Ganztägig Ambulante Therapie, kurz GTAT. Wird bzw. die Patientin nicht nur in bestimmten Prob- diese weiter ausgebaut? lembereichen betrachten – also etwa seiner oder Dieses Angebot wird von den Patientinnen und ihrer Depression, seiner oder ihrer Angststörung Patienten unglaublich gut angenommen. Es etc. –, sondern müssen immer auch den Menschen ist eine sehr intensive Behandlung ohne einen in seiner Gesamtheit sehen. Das gelingt meiner stationären Aufenthalt. Die meisten Patientinnen Erfahrung nach am besten mit einem intensiven und Patienten machen das als Anschlusstherapie Kontakt zum Bezugstherapeuten bzw. zur Bezugs- nach einem stationären Aufenthalt, insbesondere, therapeutin. Die therapeutische Beziehung ist ein wenn sie keine Tagesstruktur haben. Es ist ge- basaler, ein mächtiger Wirkfaktor, auf dem sich plant, dafür heuer von 36 auf 48 Behandlungs- alles andere aufbaut. Die möchte ich wieder mehr plätze aufzustocken. Da gibt uns der Neubau gute in den Fokus stellen und Behandlungsschwer- zusätzliche Möglichkeiten. punkte auf den einzelnen Stationen schaffen. Hier planen wir Schwerpunkte für junge Erwachsene und ältere Jugendliche, für ältere Suchtkranke, für stoffungebundene Suchtformen, einen Schwerpunkt für die Behandlung traumatisierter Frauen bzw. Schwangerer sowie für männerspezifische Therapie oder Medikamentenabhängigkeit und Schmerz. Im Bereich illegale Substanzen bereiten wir einen Foto: Getty Images 19
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