Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien

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Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
N° 2/2021

   Momentum
       Das österreichische Journal für positive Suchttherapie
            Herausgegeben vom Anton Proksch Institut

Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln

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Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
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Editorial
          Liebe Leserin, lieber Leser!
          Ich hoffe, diese Ausgabe von „Momentum“ erreicht Sie in einem für Sie persönlich entspannten
          Sommer. Die Corona-Pandemie, die uns auf vielen Ebenen fordert, wird uns weiterhin beglei-
          ten: Delta-Variante, Impfraten und die Frage der Impflicht beschäftigen uns aktuell besonders.
                  Zahlreich und folgenschwer sind die Auswirkungen der Pandemie auch für die
          Behandlung chronisch Suchtkranker. Seit 2020 tauscht sich das Anton Proksch Institut
                                       daher mit anderen Einrichtungen für chronisch Suchtkranke
                                       in (Ost-)Österreich in regelmäßigen Skype-Calls unter dem
                                       Motto #gemeinsamsindwirmehr aus. Es geht u.a. darum, wie

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  Psychotherapie mit                   wir – trotz unterschiedlicher Aufgabenstellungen – sicherstellen
  Suchtkranken: Ein                    können, dass chronisch Suchtkranke ambulant und stationär
  störungsspezifischer                 COVID-tauglich und trotzdem adäquat betreut und behandelt
  Ansatz                               werden können. Wir überlegen, wie wir gemeinsam Wege der
	Birgit Köchl, Michael                Kommunikation und des notwendigen Austausches für uns
  Schmalhofer                          aufrechterhalten können und thematisieren dabei auch die
                                       ersten wahrnehmbaren Veränderungen für und Anforderungen
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  Therapeutische
  Gemeinschaft und
  Suchterkrankung
                                       an unser Klientel durch die Corona-Pandemie. An dieser Stelle
                                       ein herzliches Danke an die Geschäftsführungskollegin und
	Human-Friedrich                      -kollegen des Vereins Dialog, des Grünen Kreis, des Vereins
  Unterrainer                          Pass und des Schweizer Haus Hadersdorf!
                                               In diesem Heft schreibt jede dieser Einrichtungen über

12„Kleiner Leuchtturm“
  für Kinder aus sucht-
  belasteten Familien
                                       etwas, das ihr besonders wichtig ist. Wir alle mögen unsere
                                       eigenen Zugänge und Schwerpunkte haben; doch uns eint die
                                       Wertschätzung für unsere Klientinnen und Klienten, Patien-
  Nadja Springer
                                       tinnen und Patienten und der Fokus auf deren bestmögliche

16„Die Leute fangen
  nicht mehr bei Null an“
	Wolfgang Preinsperger
                                       Behandlung und Betreuung. Diese wird im Nachgang der
                                       Pandemie wichtiger denn je! Wir sehen, dass Menschen, die
                                       schon davor psychosozial besonders gefordert waren, nicht
  im Interview                         nur vermehrt (wieder) Suchtmittel konsumieren, sondern auch

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	Gender und Sucht-
  erkrankungen: Sind
  Frauen anders süchtig?
                                       Familien und Arbeitsumfelder erhöht belastet sind.
                                               2021 ist für das Anton Proksch Institut ein Umbruch-
                                       jahr. Seit Jahresbeginn ist Prim. Dr. Wolfgang Preinsperger
  Barbara Gegenhuber                   ärztlicher Direktor des Hauses. Über seine Haltung und Pläne

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	Ende einer Ära:
  Ein Fest für Michael
  Musalek
                                       lesen Sie auf den Seiten 16-19. Ende Juli haben wir unseren
                                       langjährigen ärztlichen Direktor Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek
                                       verabschiedet – mit der Präsentation einer Festschrift, einer
  Michael Robausch                     Podiumsdiskussion und einer Überraschung aus dem Gesund-
                                       heitsministerium (Seiten 26-27).

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               Viel Freude beim Lesen!
               DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS
               Geschäftsführerin

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Foto: Getty Images
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Psychotherapie mit
Suchtkranken: Ein
störungsspezifischer
Ansatz
Der 1992 gegründete Verein p.a.s.s. setzt auf ein ambulantes,
multiprofessionelles, methodenvielfältiges und störungsspezifisches
Behandlungskonzept. Der Suchtbegriff ist dabei weit gefasst.
Zusammenhänge zwischen Bindung und Sucht werden als
essentieller Bestandteil der umfassenden, oft längerfristigen
psychotherapeutischen Arbeit berücksichtigt.
BIRGIT KÖCHL UND MICHAEL SCHMALHOFER

Ä
         tiologie, Genese und Dynamik sowie phar-             und andererseits als Ausdruck unterschiedlicher
         makologische, somatische, soziale und psy-           psychischer Grundstörungen jeglicher Art (diverse
         chische Wirkfaktoren greifen ineinander und          psychische und Verhaltensstörungen; oft Persön-
interagieren. Dementsprechend sollte jedes ganz-              lichkeitsstörungen, affektive Störungen, ...), bzw. als
heitliche Verständnis von Sucht notwendigerweise              Symptom dieser zu verstehen. Lediglich Ersteres
interdisziplinär und störungsspezifisch angelegt              wird im Diagnoseklassifikationssystem (ICD-10,
sein. Sucht ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter         Internationale statistische Klassifikation der Krank-
sind komplexe Thematiken wie „Konfliktpathologie,             heiten und verwandter Gesundheitsprobleme)
Psychotraumatologie und strukturelle Störungen“               betont (World Health Organisation [WHO], 1993).
zu behandeln (Bilitza, 2009): Es ist erwiesen, dass
Suchterkrankungen im Rahmen eines „komorbiden“                Nachhaltiger Behandlungsansatz
Problems bei bestimmten Traumafolgestörungen,                 Es wird großer Wert auf eine umfassende und
wie etwa der Posttraumatischen Belastungsstörung,             ganzheitliche Behandlung mit Nachhaltigkeit ge-
auftreten. Sie können aber durchaus auch zu den               legt, sodass oftmals neben psychischen und medi-
direkten Traumafolgestörungen gezählt werden                  zinischen Aspekten auch das soziale Umfeld einge-
(Möller et al., 2003): Untersuchungen zeigen, dass            bunden wird. Ein wichtiger Fokus im Verein p.a.s.s.
die Lebensgeschichten vieler Suchtkranker durch               liegt auf einer fundierten klinisch-psychologischen
Gewalterfahrungen, sexualisierte Übergriffe und/              und psychiatrischen Diagnostik. Darauf aufbauend
oder einen umfassenden, oft chronischen, Vertrau-             wird eine psychotherapeutische Behandlung (meist
ensmissbrauch gekennzeichnet sind.                            mittel- oder längerfristig), bzw. auch eine passende      MAG. DR. BIRGIT
        Sucht ist kein Schichtproblem und betrifft alle       medikamentöse Einstellung (sofern aus fachärztli-         KÖCHL ist Klinische
                                                                                                                        und Gesundheits-
gesellschaftlichen Milieus – beispielsweise stellen           cher Sicht indiziert) etabliert. Regelmäßige Sozial-
                                                                                                                        psychologin, Psycho-
auch „Wohlstandsverwahrlosung“ oder ein „gren-                arbeit findet begleitend statt. In der Suchtbehand-
                                                                                                                        therapeutin und
zenloses Zuviel an Aufmerksamkeit“ Risikofaktoren             lung ist anfänglich viel an Motivationsarbeit nötig,      Lehrende; in freier
dar. Es ist ein Grundproblem der Diagnostik, die              um eine entsprechende Basis bzw. Compliance               Praxis sowie beim
Suchterkrankung einerseits als Störung sui generis            herzustellen. Stabilisierungsarbeit ist ein zentrales     Verein p.a.s.s. tätig.

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Element im ersten Stadium der multiprofessionel-          Psychotherapeutisches Angebot im Verein p.a.s.s
                         len Arbeit unserer Einrichtung. Auch das Herstellen       Im Verein p.a.s.s. werden sehr häufig psychisch
                         einer guten Vertrauensbasis zwischen TherapeutIn          schwer kranke Personen in einem ambulanten
                         und KlientIn ist ein essentieller Bestandteil eines       Rahmen hauptsächlich im Einzelsetting betreut.
                         erfolgreichen, tragfähigen Arbeitsbündnisses. Um          Neben speziellen fachlichen und persönlichen
                         Nachhaltigkeit in der Behandlung garantieren zu           Kompetenzen des gesamten Teams ist das bereits
                         können, liegt der Fokus, unabhängig von den psy-          aufgegriffene umfassende klinisch-psychologische,
                         chotherapeutischen Methoden der klinisch sehr er-         psychotherapeutische bzw. psychiatrische Know-
                         fahrenen PsychotherapeutInnen, auf der störungs-          how erforderlich, um zudem die häufig bestehen-
                         spezifischen Suchtbehandlung. Das Ziel ist stets          den Komorbidiäten entsprechend erkennen und
                         eine Langzeitstabilisierung und eine essentielle          behandeln zu können. Die störungsspezifischen He-
                         Verbesserung der Beziehungs- und Bindungsfähig-           rausforderungen implizieren in vielen Fällen einen
                         keit, weshalb evidenzbasierte Interventionen, wie         sehr nachgehenden Ansatz (z.B. Unterstützung
                         im folgenden Abschnitt beschrieben, zur Anwen-            durch Erinnerungsnachrichten vor dem Termin bei
                         dung kommen.                                              strukturellen Störungen, aktive Kontaktaufnahme
                                                                                   mit KlientInnen, bspw. nach einem auf Grund eines
                         Besonderheiten in der Suchttherapie                       Rückfalls nicht stornierten Termin, …).
                         Im Folgenden werden nun Besonderheiten in der                     Ein Spezifikum der Einrichtung ist, dass die
                         Suchttherapie an sich angeführt, die im Verein            behandelnden PsychotherapeutInnen fallführend
                         p.a.s.s. immer wieder Thema und durch die unter-          sind. Je nach Kostenträger findet erst ein sozial-
                         schiedlichen psychotherapeutischen Richtungen             arbeiterisches Erstgespräch statt (nicht bei Behand-
                         repräsentiert sind. Da das Verwenden aller Konno-         lungen, die über die ÖGK finanziert werden) und
                         tationen der 23 in Österreich anerkannten Metho-          immer eine Abklärung notwendiger medizinischer
                         den diesen Rahmen sprengen würde, werden die              bzw. psychologisch-diagnostischer Maßnahmen.
                         Besonderheiten der Psychotherapie exemplarisch            Anschließend übernehmen die Psychotherapeu-
                         durch die Verwendung tiefenpsychologischer Litera-        tInnen die fallführende Betreuung und sind für alle
                         tur angeführt:                                            weiteren Behandlungsschritte verantwortlich. Die
                                                                                   KlientInnen werden nach der Abklärung (Clearing)
                         • K  ontinuierliche Arbeit am Setting und                im Rahmen der wöchentlichen Fallbesprechungen
                             Arbeitsbündnis,                                       vorgestellt und dem/der fachlich für die/den
                         • Notwendigkeit, sich als Selbstobjekt zur              KlientIn bestpassendste(en) TherapeutIn zuge-
                             Verfügung zu stellen (Kohut, 2002),                   ordnet. Diese Betreuung findet zu einem großen
                         • ein wohlwollendes Zur-Verfügung-Stellen von            Teil in Gemeinschaftspraxen der Psychotherapeu-
                             Hilfs-Ich-Funktionen,                                 tInnen statt, die in verschiedenen Bezirken Wiens
                         • Fähigkeit zum „Containing“ (Bion, 1992) und            lokalisiert sind. Es gibt eine enge Kooperation im
                             zum „Holding“ (Winnicott, 2006),                      Rahmen der Fallbesprechungen mit den anderen
                         • primär haltend und nährend zugleich, vorsichtig        Fachbereichen innerhalb der Einrichtung. Die Fall-
                             aufdeckend,                                           besprechungsgruppen stellen einen wesentlichen
                         • unterstützende Klarheit als neue emotionale            Qualitätsfaktor dar. Die nun seit Jahren wertvolle
                             Interaktionserfahrung, die neue innere                Arbeit auf hohem Niveau soll dadurch erhalten und
                             Strukturen wachsen lässt,                             weitergeführt werden.
                         • Fähigkeit zur Förderung der Strukturfähigkeit                  Die drei Grundeinstellungen der verbalen
                             der Klientinnen und Klienten; Arbeit an der           und nonverbalen Präsenz, des Respekts und der Ak-
                             Triangulierungsfähigkeit,                             zeptanz der individuellen Lebensgeschichte sowie
                         • Auseinandersetzung mit der Inszenierung                die affektive Annahme bzw. das Mitgefühl gegen-
                            grundlegender, sehr früher Triebwünsche,               über dem/der PatientIn in der Behandlung sind uns
                         • Bereitschaft für das Aufsuchen der verborgenen,        in der Suchttherapie besonders wichtig. Bedingt
                             frühen Scham- und Schuldkonflikte,                    durch den psychotherapeutischen Schwerpunkt der
                         • A ffektmarkierungen und Affektetikettierungen,         Einrichtung stehen vor allem die Aufrechterhaltung
                         • unreife Symbolisierungsfähigkeit bei                   eines geregelten Lebens, sowie die Entwicklung
                             strukturellen Störungen (Klein, 1972),                von Selbstmotivation, Selbstbestimmung und
                         • aktivere Interventionen, wenn indiziert                Selbstkontrolle im Vordergrund. Psychosoziale
DSA MICHAEL                  (Krisenintervention bei großer Haltlosigkeit,         Hindernisse dafür, auch über die Suchtproblematik
SCHMALHOFER                  Orientierungslosigkeit, Indikation einer              hinausgehend, sollen im Rahmen der Behandlung
ist Diplomierter             stationären Aufnahme, ...),                           überwunden werden.
Sozialarbeiter,
                         • große Kraft der Dynamik des Unbewussten und                    Durch ein aktiv von den TherapeutInnen
Personzentrierter
                             des Agierens (regelmäßige Supervision!)               ausgehendes Beziehungsangebot wird eine
Psychotherapeut,
Supervisor und           • Beziehungsdynamik der Herkunftsfamilie/                vertrauensvolle, tragfähige und wertschätzende
Therapeutischer Leiter       innerfamiliäre Beziehungsstörungen                    Beziehung hergestellt. Durch diese Form der Be-
im Verein p.a.s.s.           (Horst-Eberhart Richter, 1975)                        treuung können regelmäßige Kontakte mit dieser

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herausfordernden KlientInnengruppe bestmöglich              Thematiken (Trauma, affektive Symptomatiken,
umgesetzt werden und es wird eine unterstützende            Persönlichkeitsstörungen, …): Es werden Strategien
Struktur geschaffen, die Kontinuität bietet und die         und Verhaltensmaßnahmen vermittelt, um den
Eigenverantwortung fördert. Das konkrete Ziel in            Umgang mit konsumierenden bzw. nicht mehr
der jeweiligen Psychotherapie wird in der gemein-           konsumierenden Personen besser gestalten zu
samen Arbeit zwischen der KlientIn und TherapeutIn          können. Co-Abhängigkeit ist ein wichtiger Fokus bei
bestimmt und in einem dynamischen Prozess regel-            den Vortragstätigkeiten.
mäßig überprüft.                                                  Selbstverständlich wurden und werden auf
        Neben den Einzelpsychotherapien spielen             Grund der anhaltenden Corona-Pandemie auch ver-
auch andere Schwerpunkte eine wichtige und
ergänzende Rolle. Zentral ist, im Rahmen der
Kinder- und Jugendlichentherapie die Kommunika-
tion bzw. Settingwahl je nach Alter der KlientInnen
                                                            Kindern soll kindgerecht
(Familiengespräche vs. separate Elterngespräche,            die Wahrheit kommuniziert
Kontakte mit dem Amt für Jugend und Familie
durch therapeutische Leitung, …) ausreichend                werden.
zu reflektieren und zu gestalten. Hierbei ist auch
besonders wichtig, dass die Psychotherapie in den
jeweiligen privaten Kinderpsychotherapiepraxen              mehrt Online-Behandlungsangebote etabliert (z.B.
stattfindet, um die Minderjährigen nicht zu stark in        Videotelefonie), die ebenfalls – wie alle angeführten
eine Suchtbehandlungseinrichtung zu involvieren.            Interventionen – durch die Kostenübernahme ver-
Während die Kinder und Jugendlichen in einer                schiedener Kostenträger ermöglicht werden. Auch
möglichst gesunden Entwicklung gefördert werden             dieses Angebot wurde von vielen KlientInnen gut
sollen und die Integration in Kindergarten, Schule          und gerne angenommen und zeigt sich hinsichtlich
bzw. Ausbildung gestützt wird, zielt die Elternarbeit       bestimmter Störungsbilder als die Behandlung
auf eine Erhöhung der Erziehungskompetenz, eine             besonders unterstützend und ermöglichend.
Verbesserung des Einfühlungsvermögens gegen-                       Die Behandlung im Verein p.a.s.s. ist für die
über dem Kind und einer Stärkung der Eltern-Kind-           KlientInnen in der Regel kostenlos.                 
Bindung (sichere Bindung) ab. Weites ist die häufige
Schwierigkeit beim adäquaten Grenzen-Setzen
ein sehr wichtiger Arbeitsinhalt mit den Familien.
Kindern soll kindgerecht die Wahrheit kommuniziert
werden. Das Fernhalten negativer Inhalte hinter-
lässt bei Kindern und Jugendlichen einen Mangel              Der Verein p.a.s.s. in Zahlen
an Vertrauen, was sich in Folge negativ auf die
Beziehungs- und Bindungsqualität auswirkt und                985 Patientinnen und Patienten (582 , 403 )
wiederum die Vulnerabilität für die Entwicklung von                Justiz (gerichtliche Auflage): 91 (74 , 17 )
Sucht und anderen psychiatrischen Erkrankungen                     Sozialversicherungsträger: 195 (138 , 57 )
begünstigt. Neben der Vermeidung der Ausbildung                    Sucht- und Drogenkoordination Wien – illegale Substanzen
bzw. der Verringerung von Symptomen bei den                         (SDW): 141 (86 , 55 )
Kindern liegt der Fokus auch auf der Behandlung                     Alkohol. Leben können.: 558 (284 , 274 )
der Kindeseltern, da es den Kindern meist nur
so gut gehen kann, wie den Kindeseltern selbst.              Das Team
Mentalisierungsfähigkeit und Empathie sollen im                    1 Fachärztin für Psychiatrie, 1 Allgemeinmedizinerin,
gesamten Familiensystem durch die therapeutische                    3 Sozialarbeiterinnen, 4 Psychologinnen und Psychologen
Arbeit gefördert werden.                                            92 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (32 , 60 )
        Gruppenpsychotherapie wie auch paar- oder                    mit einer umfassenden Palette methodischer Ansätze
familientherapeutische Settings spielen ergänzend
zu den Einzeltherapien bei einigen KlientInnen               Zusätzliche Angebote
eine wichtige Rolle. Die „Kraft der Gruppe“ wird                   Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Elternarbeit,
genutzt, damit vor allem Stigmatisierung und Scham                  Angehörigenberatung, Paartherapie, Gruppentherapien;
der chronischen Erkrankung besprochen werden                        Psychoedukative Workshops zu laufenden Themen wie An-
können („auch andere sind von Sucht betroffen und                   gehörigenberatung, Co-Abhängigkeit, Rückfallsprophylaxe,
wollen etwas ändern, ...“).                                         Komorbiditäten etc.
        Austausch, Information, Diskussion und
Prävention finden im Rahmen von Workshops                    Qualitätssicherung
statt, die zu einem besseren Selbstverständnis der                 Regelmäßige Durchführung von Teamsitzungen, Fall-
Betroffenen führen sollen. Alkohol- und Drogen-                     besprechungen und (internen bzw. externen) Vernetzungen,
krankheiten werden psychoedukativ näher erläutert,                  Helferinnen- und Helferkonferenzen, Weiterbildungs-
auch verschiedenste Komorbiditäten sind zentrale                    angebote, Supervision, Intervision

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Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
Therapeutische
                          Gemeinschaft und
                          Suchterkrankung
                          Als größter Anbieter stationärer Langzeitdrogentherapie sieht sich
                          der Verein Grüner Kreis seit seiner Gründung der Therapeutischen
                          Gemeinschaft (TG) verpflichtet. Diese versteht sich als therapeut-
                          isches Lernfeld, in welchem sich jedes Mitglied der Gruppe mit allen
                          seinen Talenten und auch mit seinen Defiziten einbringen kann.
                          HUMAN-FRIEDRICH UNTERRAINER

                          D
                                  er Verein Grüner Kreis wurde 1983 nach              auch durch eine eigene Studie bestätigt werden.
                                  einem Konzept von Primar Dr. Günter                 Mit Hilfe einer neurowissenschaftlich informierten
                                  Pernhaupt gegründet. Die erste stationä-            Bindungsforschung können Veränderungsprozesse
                          re Sozialhilfeeinrichtung „Treinthof“ konnte dann           im Erleben der KlientInnen abgebildet und die TG
                          1985 in der Buckligen Welt in Niederösterreich              als evidenzbasierter Behandlungsansatz weiter ge-
                          eröffnet werden. Die Basis der Behandlung bildet            stärkt werden.
                          seit damals das Konzept der Therapeutischen                        Im vorliegenden Beitrag sollen historische
                          Gemeinschaft (TG): Basierend auf dem Grundkon-              Aspekte, allgemeine konzeptuelle Grundlagen,
                          zept der TG und dem bio-psycho-sozialen Modell              empirische Befunde zur Behandlung in der TG und
PRIV.DOZ. DR. DR.         findet die Behandlung im Verein Grüner Kreis                die TG im Kontext neuerer bindungstheoretischer
HUMAN-FRIEDRICH           mittels eines 4-Säulen-Behandlungsmodells statt:            Konzepte dargestellt werden.
UNTERRAINER               Dabei bildet die erste Säule den Bereich „Medizi-
ist Klinischer und
                          nische Betreuung, Behandlung und Rehabilitation“            1. Historisches
Gesundheitspsycho-
                          ab, die zweite Säule den Bereich „Klinische/Ge-             Obgleich Süchte die Menschheit seit Anbeginn
loge, Psychotherapeut,
Lehrtherapeut;            sundheitspsychologische Behandlung und Psycho-              begleiten, ist der Begriff der „Therapeutischen
Wissenschaftlicher        therapie“, die dritte Säule den Bereich „Arbeits-           Gemeinschaft“ (TG) ein recht junger. Erstmals traten
Leiter des Zentrums       und Soziotherapie bzw. Aus- und Weiterbildung“              TG im eigentlichen Sinne in Großbritannien wäh-
für Integrative           und die vierte Säule den Bereich „Aktive Freizeit,          rend der 1940er Jahre auf. Dabei entstanden TG
Suchtforschung im         Sport, Kunst und Kreativität“. Die TG kann als Alter-       in psychiatrischen Kliniken etwa 15 Jahre vor der
Verein Grüner Kreis;
                          native zur klassischen psychiatrischen Klinik gese-         Entwicklung der TG für Suchterkrankungen – dies
Privatdozent an den
Unis Graz (KFU, MUG)
                          hen werden, wobei es auch zu einer Relativierung            kann als revolutionärer Schritt in der psychiatri-
und der Uni Wien.         des Verhältnisses zwischen KlientIn und Thera-              schen Behandlung gewertet werden (De Leon,
Forschungsschwer-         peutIn kommt. Das Leben in der Gemeinschaft                 2000; De Leon & Unterrainer, 2020; bzw. auch
punkte: Neurowissen-      kann korrigierend auf kränkende bzw. traumati-              Jones, 1956): Die Entwicklung der TG speziell für
schaftliche Methoden      sierende Beziehungserfahrungen wirken. Es soll              Suchterkrankungen begann in den USA. In Nord-
in der Psychotherapie,
                          den KlientInnen die Möglichkeit gegeben werden,             amerika gründete Charles Dederich als ehemaliger
Suchterkrankungen,
                          durch die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ihre             Alkoholabhängiger und Mitglied der „Anonymen
Bindung und Persön-
lichkeit, Spiritualität   Abhängigkeitserkrankung hin zu einem autono-                Alkoholiker“ im Jahr 1958 erste Selbsthilfegruppen
und psychische            men Leben zu überwinden. Die Effektivität der TG            für Drogensüchtige und erschuf eine Gemeinschaft
Gesundheit.               konnte in einigen Überblicksarbeiten gezeigt bzw.           namens „Synanon“ (Janzen, 2001): Angeregt wurde

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Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
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Momentum - Viele Zugänge, ein Ziel: Sucht bestmöglich behandeln - N 2/2021 - Stiftung Anton Proksch Institute Wien
er hierbei unter anderem von den Werken des                 spracherecht und größere persönliche Freiheit der
   Schriftstellers und Philosophen R. W. Emerson und           Bewohnerinnen und Bewohner charakterisiert ist.
   einer religiösen Organisation namens „The Oxford-           Beide Modelle haben prinzipiell dieselben Ziele
   Group“ [Die Oxford-Gruppe], gegründet von Frank             und überschneiden sich in der klinischen Praxis
   Buchman, die sich als moralischer Gegenpol zur              (Kennard & Haigh, 2012).
   internationalen Kriegsaufrüstung verstand. Auch
   beeinflussten ihn die „Anonymen Alkoholiker“ (AA)           3. Empirische Studien zur Wirksamkeit der
   und ihre „Zwölf-Schritte“-Methode zur Behandlung            Therapeutischen Gemeinschaft
   von Alkoholabhängigkeit. Es entwickelten sich               Es finden sich in der Literatur einige randomi-
   sogenannte „Synanon“-Häuser und „Synanon“-Dör-              siert-kontrollierte Studien, welche die Effizienz
   fer, in welchen sich abstinent lebende Suchtkranke          der Behandlung in den TG dokumentieren. Eine
   durch gemeinsames Leben und Arbeiten an Werten              Überblicksarbeit dazu wurde von Vanderplasschen
   wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit (Authentizität)          et al. (2013) publiziert. Hier konnten insgesamt 16
   orientierten. Im Unterschied zum „Zwölf-Schrit-             Evaluationsstudien betrachtet werden. Es zeigten
   te“-Programm der AA bestand die therapeutische              sich in zwei von drei Studien deutlich verbesserte
   Grundidee von „Synanon“ allerdings nicht in der             Ergebnisse hinsichtlich eines verminderten Subs-
   Hinwendung zu einer spirituellen Dimension (höhe-           tanzkonsums bzw. auch delinquenten Verhaltens
   re Macht), sondern in der Entwicklung eines stabilen        für die Behandlung in der TG. Fünf weitere Studien
   Selbstwerts (Petzold, 1974): Die Idee der heilenden         berichteten ein höheres Ausmaß an Werktätigkeit
                                                               bzw. ein verbessertes psychologisches Wohlbefin-
                                                               den nach dem Aufenthalt in der TG. Die Länge des
                                                               Aufenthalts und die Teilnahme an Nachbetreuungs-
     Süchte begleiten die                                      programmen ergaben sich als hoch positive Korrela-
                                                               te des Behandlungserfolgs. Die AutorInnen ver-
Menschheit seit Anbeginn.                                      weisen abschließend auf ein deutlich verbessertes
                                                               Behandlungsergebnis für den TG-Ansatz hinsichtlich
                                                               zahlreicher Parameter. In einer weiteren Überblicks-
   Kraft der Gemeinschaft findet sich aber sowohl in           arbeit von Malivert et al. (2012) zeigte sich, dass vor
   Grundkonzepten der TG als auch der AA verankert             allem die reguläre Beendigung der Behandlung als
   (Vanderplasschen et al., 2014; Yablonsky, 1990):            stärkster Prädiktor für eine anhaltende Abstinenz
   Nach dem Niedergang von „Synanon“ Anfang der                gelten durfte. Das Auftreten einer oder mehrerer
   1990er Jahre finden sich bis heute Ableger in den           zusätzlicher psychiatrischer Erkrankungen (Komorbi-
   USA als auch in Europa.                                     dität) spielte in dieser Studie keine signifikante Rolle
                                                               – hier finden sich in der Literatur aber durchaus
   2. Allgemeine Grundlagen                                    widersprüchliche Ergebnisse. Ähnliche Ergebnisse
   Das Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft                berichten Magor-Blatch et al. (2014): So wird der
   (TG) begründet sich unter anderem auf der Idee              TG-Ansatz als therapeutische Intervention im Allge-
   einer individuellen Nachreifung der Persönlich-             meinen als effektiv ausgewiesen. Auch detaillierter
   keit im geschützten Rahmen. Damit soll vermittelt           betrachtet, findet man die Resultate der anderen
   durch alternative Beziehungserfahrungen ein                 Übersichtsarbeiten als bestätigt: So zeigte sich nach
   Überwinden der Drogenabhängigkeit ermöglicht                erfolgreicher Behandlung ein reduzierter Subs-
   werden. Der Abbau von Beziehungsängsten steht               tanzgebrauch bzw. eine verminderte Delinquenz,
   dabei im Vordergrund – ein In-Kontakt-treten mit            auch berichteten die befragten Personen über eine
   dem Gegenüber im „Hier und Jetzt“ kann dadurch              verbesserte psychische Gesundheit und zeigten ein
   passieren. Die Förderung des Wachstumsprozes-               höheres soziales Engagement.
   ses des Individuums in der Gemeinschaft gilt dabei                   Des Weiteren konnten in einer eigens im
   als ein zentrales Anliegen und stellt gleichzeitig          Rahmen einer Diplomarbeit (Kirschner, 2018) durch-
   auch die größte Herausforderung dar. Somit ist              geführten Studie im Sinne eines systematischen
   die TG ein auf den Menschen in seiner Gesamt-               Überblicks 14 randomisiert-kontrollierte Studien
   heit (holistisches Menschenbild) fokussierendes             gefunden werden, welche auf eine Evaluation des
   Behandlungsverfahren, wobei Personen mit einer              Behandlungserfolgs in den TG fokussierten. Die von
   vergleichbaren Erkrankung über einen längeren               Vanderplaschen berichteten Ergebnisse konnten
   Zeitraum zusammenleben (De Leon, 2000): Etwas               bestätigt werden (2013; vgl. auch Vanderplasschen
   differenzierter lässt sich zwischen zwei Behand-            et al., 2014). Auch hier wurden die Behandlungs-
   lungsmodellen der TG unterscheiden: Einerseits              ergebnisse der TG mit den Ergebnissen anderer
   gibt es TG für Suchterkrankungen, welche auch als           Ansätze verglichen. Nach Entfernen der Duplikate,
   hierarchisch aufgebaute, konzept-basierte Gemein-           Analyse von Titel und Zusammenfassung sowie
   schaft beschrieben werden können. Andererseits              einem Volltextscreening konnten schlussendlich
   findet sich die TG für allgemein-psychiatrische             14 Arbeiten in die systematische Übersichtsarbeit
   Erkrankungen, welche durch ein verstärktes Mit-             eingeschlossen werden. Bezüglich der Kategorie

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Drogenkonsum konnten 54% (7 von 13 Studien) der             wirkt sich in weiterer Folge im Sinne eines „circulus
diese Outcome-Kategorie untersuchenden Arbeiten             vitiosus“ wiederum negativ auf die Bindungsfähig-
ein signifikant besseres Ergebnis für die stationäre        keit aus (Schindler, 2013): Eine sichere Bindung
TG im Vergleich zur jeweiligen Kontrollgruppe,              hingegen senkt laut metaanalytischen Befunden von
welche einer anderen Behandlungsmethode oder                Jordan und Sack (2009) das Risiko für Substanzmiss-
einer ambulanten Form der TG entsprochen hatte,
nachweisen. Auch hinsichtlich der Kriminalitätsrate
(56%; 5 von 9 Studien), Arbeit und Bildung (56%;
5 von 9 Studien) und der psychischen beziehungs-            Das Bindungssystem wird
weise physischen Gesundheit (67%; 6 von 9 Studien)
der Betroffenen konnte ein Vorteil für die TG in den
                                                            durch das frühe familiäre
Verlaufskontrollen bestätigt werden.                        Umfeld geprägt.
4. Bindungstheoretische Konzepte in der
Therapeutischen Gemeinschaft
Die Bindungstheorie geht auf die Arbeiten von               brauch um etwa ein Drittel. Darüber hinaus steht der
John Bowlby und Mary Ainsworth (Bowlby, 1988;               Bindungsstil auch in Verbindung mit individuellen
vgl. auch Unterrainer et al., 2017 oder auch La-            Unterschieden in der Kooperationsbereitschaft, der
housen et al., 2019) zurück, wobei unter dem                Suche nach neuen Erfahrungen und der Abhängig-
Bindungssystem ein biologisch und evolutionär               keit von Belohnung (Chotai, Jonasson, Hägglöf &
verankertes Motivations- und Verhaltenssystem               Adolfsson, 2005): Suchtkranke weisen im Allgemei-
verstanden werden kann, welches „…über die                  nen ein vermindertes Ausmaß an sicherer Bindung
Interaktion mit den Bindungsfiguren (meist den              („insecure attachment“) auf (De Rick et al., 2007;
Eltern) vermittelt wird und sich seinerseits auf            Kassel et al., 2007) bzw. zeigen sie eine verstärkte
Affektregulation, Beziehungsgestaltung und deren            Bindung an süchtig machende Substanzen (Burkett
neurobiologische Korrelate auswirkt.“ (Schindler et         et al., 2012; Insel, 2003; Orford, 2001): Heroin
al., 2012, S. 45): Demnach wird das Bindungssys-            wurde dabei als Beispiel einer möglichen Form der
tem durch das frühe familiäre Umfeld geprägt und            (dysfunktionalen) Kompensation untersucht
im Laufe unseres Lebens immer wieder in unter-              (Schindler et al., 2009).                           
schiedlichsten Situationen aktiviert (Bowlby, 1988;
Milch & Sahhar, 2010): Eine sichere Bindung schafft
eine „sichere Basis“ für die Erkundung der Außen-
welt sowie einen „sicheren Hafen“, in den bei Angst
oder Stress zurückgekehrt werden kann. Steht
diese Sicherheit nur eingeschränkt zur Verfügung,
kann dies die Entstehung psychischer Erkrankun-
gen begünstigen (Sheinbaum et al., 2015): So kann
Bindung als Einflussgröße im Rahmen eines multi-
dimensionalen Modells der Suchtentwicklung be-
schrieben werden, in welchem neurobiologische,
soziale sowie psychologische Faktoren berücksich-
tigt werden (Schindler et al., 2012).
        Der Zusammenhang zwischen unsicherer                 Abschließende Betrachtungen
Bindung und Substanzabhängigkeit ist theoretisch
gut beschrieben (Flores, 2004): Demnach darf                 Die TG stellt auch 80 Jahre nach Ihrem Entstehen eine wichtige
davon ausgegangen werden, dass Beziehungser-                 Konstante vor allem für die Drogenlangzeittherapie dar. Auf der
fahrungen in der Kindheit, die keine ausreichende            Basis eines bio-psycho-sozialen Modells von Gesundheit und
Sicherheit bieten, dazu führen, dass das Kind Angst          Krankheit spielen Bindung und Beziehung im therapeutischen
und andere Affekte nicht oder nur unzureichend               Miteinander eine zentrale Rolle (vgl. Griffiths, 2005): Dies betrifft im
mit Hilfe seiner Bindungsfiguren zu regulieren lernt         Besonderen die stationäre Langzeittherapie, wirkt sich aber auch
(vgl. auch Fonagy, Gergely & Target, 2007): Im Laufe         auf die therapeutische Haltung im ambulanten Bereich aus. Ein
des Lebens werden diese negativen Beziehungser-              neurowissenschaftlich informierter bindungsbasierter Forschungs-
fahrungen internalisiert und es kommt zur Bildung            ansatz kann in Zukunft dazu beitragen, die Effektivität der TG mittels
negativer „innerer Arbeitsmodelle“ in Bezug auf das          empirischer Daten zu untermauern (vgl. dazu Lewis, Unterrainer,
Selbst und andere Menschen, was wiederum eine                Galbally & Schindler, 2021 oder auch Panksepp et al., 2002): Auf
Verringerung der positiven Qualität von Bindungser-          die Notwendigkeit der vermehrten Durchführung von randomisiert-
fahrungen bewirkt (Schindler, 2013): Der Substanz-           kontrollierten Versuchsreihen und auch des kombinierten Einsatzes
konsum dient in diesem Zusammenhang als „Selbst-             von qualitativen und quantitativen Forschungsdesigns (Mixed Me-
medikation“ bzw. „chemische Affektregulation“                thods) darf abschließend mit Nachdruck verwiesen werden.
(Khantzian, 1997): Der Substanzmissbrauch selbst

                                                       11
12
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„Kleiner Leuchtturm“
für Kinder aus
suchtbelasteten
Familien
Das psychoedukativ-stützende Gruppenangebot, vom Verein Dialog
in Kooperation mit dem Institut für Erziehungshilfe konzipiert,
möchte den Kindern eine altersgemäße Aufklärung über die Sucht-
erkrankung ihrer leiblichen Eltern geben und darüber hinaus
einen Rahmen für die Bewältigung des Alltags bieten. Auch die
Bezugspersonen der Kinder werden adressiert.
NADJA SPRINGER

D
        ie psychische Gesundheit bzw. Resilienz               Drogenkonsum von der Außenwelt isolieren und
        der Kinder aus suchtbelasteten Familien               Fremdeinflüsse von ihren Kindern abschirmen (Wel-
        erhält in Wissenschaft, Forschung und                 lisch & Steinberg, 1980). Nair et al. untersuchten
Praxis in den letzten Jahren verstärkt Aufmerk-               1997 die Beziehungsgeschichten der Kleinkinder
samkeit. Aufgezeigt werden mögliche Zusammen-                 von 152 drogenabhängigen Müttern. In dieser
hänge zwischen Bindungsmustern und Sucht, die                 Untersuchung erlebten 43,3% der Kinder bis zu
sich in den Ergebnissen der Bindungsforschung                 ihrem 18. Lebensmonat einen Wechsel der Haupt-
im Kindes- und Jugendalter zeigen. Forschungs-                bezugspersonen. Laut Klein (2005) hat sich die         MAG. NADJA
                                                                                                                     SPRINGER,
ergebnisse bezüglich transgenerationaler Vermitt-             Arbeit mit den Kindern von Suchtkranken als wichtig
                                                                                                                     Klinische- und Ge-
lung von Bindungsmustern sowie eingeschränkte                 und wirksam erwiesen. Begleitende Angebote für
                                                                                                                     sundheitspsychologin,
„Elternkompetenz“ bei alkohol- und/oder drogen-               Eltern bzw. obsorgeberechtigte Personen verstärken     Psychotherapeutin
abhängigen Eltern lassen eine Häufung unsicher                die Wirksamkeit der Angebote.                          in freier Praxis; Mit-
gebundener Kinder in diesem Zusammenhang ver-                        Aus den Ergebnissen der großen ENCARE           arbeiterin im Verein
muten (Fonagy, 2006). Laut Zweyer (2008) haben                Studie zum Thema „Häusliche Gewalt und Miss-           Dialog am Standort
Kinder drogen- und alkoholabhängiger Eltern ein               handlungen bei Jugendlichen aus alkoholbelas-          Suchtprävention und
                                                                                                                     Früherkennung mit
höheres Risiko, eine unsichere Bindung zu entwi-              teten Familien“ (Velleman & Reuber, 2007) geht
                                                                                                                     den Schwerpunkten:
ckeln, die dann selbst wiederum einen Risikofaktor            hervor, dass viele Jugendliche gerne in der Ver-       Kinder aus sucht-
bei der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten             gangenheit mit jemandem außerhalb der Familie          belasteten Familien,
und süchtigem Verhalten darstellt. Therapeutische             gesprochen hätten: „Mit jemanden, der das wirklich     wissenschaftliches
Interventionen können das Risiko senken.                      versteht und nicht so tut, als ob es normal wäre.”     Arbeiten, schulische
        Bisher bekannte, Erfolg versprechende An-             Viele Jugendliche berichteten auch, dass sie gerne     Suchtprävention;
                                                                                                                     Teammitglied der
sätze stellen Interventionen dar, die eine feinfühlige        mit jemandem gesprochen hätten, „um besser
                                                                                                                     Lehrgangsleitung des
Interaktion zwischen Müttern und Kleinkindern in              verstehen zu können, warum Mama trinkt und so
                                                                                                                     Weiterbildungslehr-
Hochrisikogruppen fördern (Liebermann & Zeanah,               traurig ist.“ Schulze (2014) betont, dass „nicht nur   gangs „Suchtberatung
1999). Studien berichten, dass sich drogenabhän-              die Eltern, sondern auch ihre Kinder belastet sind,    und Prävention“ an
gige Mütter mehr als Mütter ohne problematischen              wenn ein Elternteil psychisch krank ist. Die Kinder    der FH St.Pölten

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leiden unter Loyalitätskonflikten und können sich            gemeinsam konzipiert. So entstand ein semi-struk-
       meist nicht unbekümmert äußern. Sie haben häufig             turiertes Programm mit dem Titel „Kleiner Leucht-
       gelernt, dass sie die Erkrankung der Eltern nicht            turm“. Durch die Kooperation zweier im Bereich
       thematisieren dürfen“.                                       der Suchthilfe und im Bereich der Erziehungshilfe
              Laut Black (1981) lernen Kinder, die in einer         anerkannter Institutionen kommt es seither bei
       problembelasteten Familie aufwachsen, nicht offen            diesem Angebot zu einer optimalen Nutzung der
       zu sprechen. Stattdessen lernen sie zu minimieren,           vorhandenen Kompetenzen.
       zu verdrängen und zu rationalisieren. Die Kinder                     Konkret handelt es sich dabei um ein psycho-
       nehmen ihre familiäre Umgebung nicht als sicheren            edukativ-stützendes Angebot sowohl für die Kinder
                                                                    (7–12 Jahre) als auch für deren Bezugspersonen.
                                                                    Ziel dieser Gruppenintervention ist es, den Kindern
                                                                    eine altersgemäße Aufklärung über die Sucht-
  Kinder drogen- und alkohol-                                       erkrankung ihrer leiblichen Eltern zu geben und

  abhängiger Eltern haben ein                                       einen Rahmen zu schaffen, der es den Kindern und
                                                                    den Bezugspersonen ermöglicht, Alltagssituationen
höheres Risiko, eine unsichere                                      und daraus resultierende Affekte wahrzunehmen
                                                                    und unter professioneller Begleitung zu bearbeiten.
      Bindung zu entwickeln.                                                Zehn themenzentrierte Kinder-Einheiten mit
                                                                    psychodynamischem Schwerpunkt fokussieren zu
                                                                    Beginn auf die emotionale Erlebenswelt der Kinder.
       Ort wahr, an dem sie emotional ehrlich sein können.          Der Fokus wandert ab der 4. Einheit zu kognitiven
       Vielmehr herrscht die Prämisse: Fühle nicht! Rede            Inhalten, die emotionale Erlebenswelt der Kinder
       nicht! Traue niemandem!                                      zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch das
               Ein Großteil der Kinder, die mit substanz-           ganze Angebot. Das Programm wurde von uns aus
       missbrauchenden Eltern aufwachsen, übernehmen                dem Mentalization-Based Treatment for Children
       die Elternrolle für sich selbst, ihre Geschwister und        (MBT-C) von Midgley et al. (2017) entwickelt und an
       ihre Eltern. Diese Kinder, die oft gut erzogen und           die besonderen Bedürfnisse von Kindern aus sucht-
       scheinbar sehr kompetent sind, müssen unterstützt            belasteten Familien angepasst.
       werden. Es besteht sonst die Gefahr, dass sie erheb-                 Mentalisierungsbasierte Behandlungen
       liche psychologische und emotionale Schwierig-               (MBT) zur Verbesserung der psychischen Struktur
       keiten entwickeln, die sich bis ins Erwachsenenalter         wurden bereits vielerorts für verschiedene In-
       erstrecken können (Tedgard et al., 2019).                    dikationen wie emotional instabile Persönlichkeits-
                                                                    störungen, Drogenabhängigkeit und für Kinder mit
       Die Konzeptionierung des Angebots                            psychisch erkrankten Eltern entwickelt und erfolg-
       im Verein Dialog                                             reich umgesetzt (z.B. Bateman & Fonagy, 2008, Brus-
       Im Verein Dialog wurde im Rahmen der Jahrzehnte-             kas, 2008; Suchman, 2010). Sie zielen darauf ab, die
       langen Behandlung substituierter Schwangerer                 Fähigkeit des Einzelnen zu verbessern und über die
       und Eltern und der damit verbundenen Koopera-                eigenen und die Gefühle, Gedanken und Wünsche
       tion mit dem Jugendamt sowie anderen involvier-              anderer zu reflektieren. Bei der Anwendung dieses
       ten Institutionen der Bedarf an Unterstützung für            Konzepts für Kinder und deren Bezugspersonen
       diese Mütter und Kinder deutlich. Das Bedürfnis,             konzentriert sich die MBT auf die Unterbrechung
       entsprechende Aktivitäten zu setzen, wuchs sowohl            destruktiver gewohnheitsmäßiger Gefühls- und
       durch Erfahrungen in der Interaktion mit konsumie-           Handlungsweisen, um die Mentalisierungsfähigkeit,
       renden Eltern, wie auch durch konkrete Hilferufe             zusammen mit dem emotionalen Wohlbefinden des
       von Seiten verzweifelter SozialpädagogInnen aus              Individuums und dessen sozialen Kompetenzen, zu
       Wohngemeinschaften, die dringend spezielle                   verbessern (Mayes, 2012).
       Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder aus sucht-                    Bislang fehlten dennoch Interventionen,
       belasteten Familien suchten, die über das Angebot            die sich mit den Erfahrungen und Gefühlen der
       der bereits gut etablierten Mutter-Kind-Gruppe hi-           Kinder im Zusammenhang mit einer Fremdunter-
       nausgehen und sich älteren Kindern widmen. Auch              bringung befassen (Byrne, 2020). Auch wurden
       der Kontakt zu Pflegeeltern über Fortbildungsver-            mentalisierungsbasierte Interventionen noch nicht
       anstaltungen von Seiten des Standorts Suchtprä-              an die Bedürfnisse von Kindern aus suchtbelasteten
       vention und Früherkennung hat dazu beigetragen,              Familien und ihren Pflege- und/oder biologischen
       dass ein entsprechendes Angebot 2017 schluss-                Bezugspersonen angepasst, obwohl im Kontext von
       endlich konzipiert wurde.                                    Pflege und Adoption einige Fortschritte gemacht
               Um den hohen Ansprüchen und der notwen-              wurden, um das psychische Wohlbefinden und die
       digen Sensibilität in der therapeutischen Arbeit mit         gesunde Entwicklung von Jugendlichen zu fördern
       Kindern gerecht zu werden, wurde eine Kooperation            (Jacobson, Ha & Sharp, 2015).
       mit dem Institut für Erziehungshilfe (Child Guidance                 Neben dem Konzept der Mentalisierung
       Clinic) eingegangen und das Gruppenangebot                   wurden von uns folgende Theorien in der

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Entwicklung des Angebots berücksichtigt: Risi-              und um den Bezugspersonen das Konzept der
ko- und Schutzfaktorenmodell; Bindungstheorien              Mentalisierung implizit vorzustellen, um diese in der
und Objekbeziehungstheorien in Bezug auf eine               Unterstützung der Kinder zu integrieren. Der zweite
Suchtentwicklung im Jugend-/Erwachsenenalter                Elternabend, der nach der Hälfte der Sitzungen für
sowie Theorien zur Resilienz.                               die Kinder angesetzt wird, dient der Reflexion der
       Von 2017 bis 2019 wurde das Angebot als              laufenden Intervention und ihrer Auswirkungen auf
Praxisprojekt durch die Gemeinsamen Gesund-                 das tägliche Leben der Kinder. Der abschließende
heitsziele aus dem Rahmen-Pharmavertrag finan-              Elternabend dient als Rückblick auf die Erfahrung
ziert und als Angebot für fremduntergebrachte               und als Vorschau auf zukünftige Interventionsmög-
Kinder geführt. Dank der Kostenübernahme durch              lichkeiten, falls diese indiziert sind.
die Sucht- und Drogenkoordination Wien ist die              Die Umsetzung des „Kleinen Leuchtturms“ ent-
Gruppenintervention seit 2020 ein fixer Bestandteil         spricht dem von Fonagy und Allison (2014) be-
der Angebote des Vereins Dialog in Kooperation              schriebenen Prozess wie folgt:
mit dem Institut für Erziehungshilfe; sie konnte                    1) Therapeutischer Kontext: Entwicklung
zusätzlich um eine Gruppe für nicht-fremdunter-             eines therapeutischen Kontextes, in dem sich die
gebrachte Kinder aus suchtbelasteten Familien               Kinder und Pflegepersonen verstanden fühlen,
erweitert werden. Den KlientInnen der Wiener                so dass ein Gefühl des epistemischen Vertrauens
Suchtberatungsstellen steht somit ein Angebot zur           aufgebaut werden kann.
Verfügung, das sich direkt an ihre Kinder richtet                   2) Mentalisierungsfähigkeit: Wiedererlan-
und sie unterstützen soll, ihrer Erkrankung auch            gung der Mentalisierungsfähigkeit. Mittels Aus-
in der Erziehung und in der Begegnung mit den               einandersetzung mit den Vorstellungen, Gefühlen
Kindern den notwendigen Raum zu geben.                      und Verbalisierungen des Gegenübers wie auch
                                                            mit den eigenen Vorstellungen über dessen Ge-
Beschreibung der Intervention                               fühle, aktuelle Befindlichkeiten, Einstellungen und
Jeder Behandlungszeitraum dauert 5 Monate, in
denen zehn Gruppensitzungen für die Kinder und
drei „Elternabende“ für die aktuellen Bezugsper-
sonen (Eltern, Pflegeeltern, BezugsbetreuerInnen)           Ziel ist es, den Kindern eine
von zwei PsychotherapeutInnen und Klinischen Psy-
chologInnen durchgeführt werden. Jede Sitzung
                                                            altersgemäße Aufklärung
dauert etwa 90 Minuten.                                     über die Suchterkrankung
        Die Gruppensitzungen für die Kinder folgen
einem ritualisierten Ablauf: Es gibt vordefinierte
                                                            ihrer Eltern zu geben.
Inhalte, wie z.B. Drogenabhängigkeit im Allgemei-
nen, die Situation der Kinder in der Fremdunterbrin-
gung oder zu Hause, ihre Gefühle gegenüber den              Wünsche, die dessen Verhalten zugrunde liegen,
leiblichen Eltern und ihren BezugsbetreuerInnen. Da         soll man die Fähigkeit erwerben, am Verhalten
die Gruppendynamik in den Sitzungen nie vorher-             des Anderen „ablesen zu können, was in dessen
sehbar ist, gibt es immer Zeit für „offene Themen“,         Kopf vorgeht“, wie auch die eigenen affektiven und
die von den Kindern eingebracht werden.                     mentalen Zustände zu verstehen und vom Verhal-
        Die Gruppensitzungen werden immer im                ten zu unterscheiden und sie dabei gleichzeitig als
selben Raum durchgeführt, der nicht zu viele ab-            deren Verursacher anzuerkennen.
lenkende Elemente enthält, aber groß genug ist, um                 3) Gruppe als Ort des Erfahrungsaustausches:
Spiele wie das Werfen und Fangen eines Balls oder           Sich als GruppenteilnehmerIn des Inhalts der
das Spiel „Emotions-Scharade“ zu ermöglichen,               psychoedukativen Arbeit der GruppenleiterInnen
bei dem die Kinder versuchen, sich gegenseitig              bewusst zu sein und sich dafür zu interessieren und
nonverbal eine vorher ausgewählte Emotion panto-            von der Gruppe als Ort des Erfahrungsaustausches
mimisch darzustellen. Das den Kindern zur Verfü-            zu profitieren.                                  
gung gestellte Material umfasst Mal-, Zeichen- und
Bastelwerkzeug. Die Kinder werden aufgefordert
zu sprechen oder ihre Gedanken und Gefühle mit
den zur Verfügung stehenden Materialien auszu-
drücken. Zeichnen kann besonders nützlich sein, da
es als weniger bedrohlich empfunden wird, als über
eigene Erfahrungen vor der Gruppe zu sprechen
(Gardner & Harper, 1999).
        Der erste Elternabend findet nach der ersten
Gruppensitzung der Kinder statt, um sich gegensei-
tig kennenzulernen, einen ersten Eindruck von der
Gruppe durch die GruppenleiterInnen zu erhalten

                                                       15
„Die Leute fangen
   nicht mehr bei
         Null an“

   Seit Anfang 2021 ist Prim. Dr. Wolfgang Preinsperger
          ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts.
 „Momentum“ sprach mit ihm über die DNA des Anton
       Proksch Instituts, seine Pläne und Schwerpunkte
  sowie über die Erfahrung, dass Veränderung möglich
           ist – auch wenn es dafür manchmal mehrere
                                        Anläufe braucht.
                                               INTERVIEW: ANDREA HEIGL

         Sie haben Ihr ganzes Berufsleben der Behandlung           Psychoanalytiker und Mitglied der Wiener psycho-
         Suchtkranker gewidmet und sind seit mehr als 30           analytischen Vereinigung. Dieses Wissen erachte
         Jahren im Anton Proksch Institut tätig. Was faszi-        ich für meine Tätigkeit im Anton Proksch Institut
         niert Sie an dieser Tätigkeit?                            als ganz wesentlich.
         Den Zugang zu dem Thema habe ich als junger
         Mensch gefunden durch persönliche Erfahrun-               Wenn Sie auf diese Zeitspanne zurückschauen:
         gen mit Alkoholsucht im weiteren Familienkreis.           Inwieweit hat sich das Bild von Suchtkranken im
         Außerdem habe ich mich der Psychiatrie immer              öffentlichen Diskurs verändert?
         auch von einer psychotherapeutischen Seite her            Ich glaube leider, dass Suchtkranke nicht viel
         genähert. Als ich studiert habe, ist die Psycho-          weniger stigmatisiert sind, als sie es früher waren
         somatik aufgekommen. Es gab Mitte der 1980er-             – ob das nun Alkohol- oder Drogenabhängige
         Jahre eine Gruppe von interessierten Studieren-           sind. Vielleicht ist die Stigmatisierung gesamtge-
         den rund um die beiden Uni-Professoren Erwin              sellschaftlich ein bisschen heruntergegangen, auch
         Ringel und Hans Strotzka, zu der ich auch gehört          durch die Medienarbeit, die unser Haus und viele
         habe. Im Suchtbereich geht es um wesentlich               andere leisten. Aber elementar ist die Veränderung
         mehr als um medikamentöse Behandlung oder                 nicht. Besonders bitter finde ich, dass auch im
         um akute Intervention. Das Psychotherapeutische           psychiatrischen System Suchtkranke in manchen
         und Sozialpsychiatrische ist in der Suchtbe-              Bereichen noch nicht als genau so wertgeschätzte
         handlung so elementar, dass es mich in diesen             Patientinnen und Patienten angekommen sind wie
         Bereich gezogen hat. Ich bin auch ausgebildeter           jene mit psychiatrischen Problemen.

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PRIM. DR.
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                                                                                                                                        SPERGER, MBA,
                                                                                                                                        ist seit 1986 mit
                                                                                                                                        kurzen Unterbre-
                                                                                                                                        chungen am Anton
                                                                                                                                        Proksch Institut tätig.
                                                                                                                                        2009 übernahm er
                                                                                                                                        das Primariat der
                                                                                                                                        Drogenabteilung.
                                                                                                                                        Er ist außerdem als
                                                                                                                                        niedergelassener
                                                                                                                                        Psychiater und
                                                                                                                                        Psychoanalytiker in
                                                                                                                                        Mödling tätig. Seit
                                                                                                                                        1. Jänner 2021 leitet
                                                                                                                                        er das Anton Proksch
                                                                                                                                        Institut.

                    Woran liegt das Ihrer Wahrnehmung nach?                     Die Haltung, dass Veränderung möglich
                    Das liegt zumindest zum Teil an negativen Er-               ist, prägt ja insgesamt die Arbeit des Anton
                    fahrungen mit dieser Klientel. Jemand, der schwer           Proksch Instituts …
                    alkoholisiert und aggressiv ist und dann auf der            Ja, das ist ein wesentlicher Aspekt. Erfolg ist ja
                    Akutpsychiatrie landet – das ist natürlich unan-            nicht nur, wenn jemand nach seiner stationären
                    genehm für die Behandlerinnen und Behandler. Es             Behandlung ein Leben lang abstinent bleibt. Erfolg
                    ist nachvollziehbar, dass sich die Kolleginnen und          ist, wenn sich an den Lebensumständen etwas
                    Kollegen auf solche Situationen nicht freuen und            verändert und verbessert. Und wenn es dann
                    sich dann eher distanzieren. Wir im Anton Proksch           wieder bergab geht, kann sich ein Patient oder
                    Institut arbeiten ja mit Suchtkranken in einem frei-        eine Patientin bei uns wieder die Hilfe holen, die er
                    willigen, sub-akuten Kontext. Wir haben auch immer          oder sie braucht. Die intensive Behandlung, die wir
                    wieder schwierige Situationen, weil es zum Beispiel         anbieten, hat ja auch einen kumulativen Effekt. Die
                    Krankheits-Rezidive gibt. Aber wir arbeiten mit den         Leute, die zum zweiten oder dritten Mal kommen,
                    Patientinnen und Patienten in Phasen ihrer Erkran-          fangen nicht mehr bei Null an. Suchterkrankungen
                    kung, in denen sie etwas verändern wollen. Diese            sind chronische Erkrankungen. Manchen Patientin-
                    Erfahrung ist sehr wertvoll: Dass Veränderung und           nen und Patienten gelingt es, das mit einem Mal
                    Entwicklung möglich ist, dass sich Menschen mit             zu lösen, ganz vielen gelingt es aber nicht. Viele
                    Unterstützung von therapeutischen Einrichtungen             brauchen eben mehrere Anläufe und profitieren von
                    wie der unseren auch am eigenen Schopf aus ihrer            der Summe an therapeutischen Bemühungen. Es ist
                    Lage herausziehen können.                                   sehr schön, das zu erleben.
Foto: Theresa Wey

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Zur DNA des Anton Proksch Instituts gehört auch,                  Viele Schwesterorganisationen haben überhaupt zu-
dass wir zwar eine ärztlich geleitete Krankenanstalt              gesperrt. Wir haben uns sehr rasch dazu entschlossen,
sind, aber die Multidisziplinarität leben. Auch                   offen zu halten, auch in Rücksprache mit der Stadt
Berufsgruppen wie Psychologinnen und Psycho-                      Wien, um die Akutspitäler nicht zusätzlich zu belasten.
logen, Psycho-, Ergo- und Aktivtherapeutinnen                     Also haben wir niemanden entlassen, auch nicht in der
und -therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozial-                 ersten Schockphase. Binnen drei Wochen haben wir
arbeiter, Physio- und Sporttherapeutinnen und                     das ganze Haus umstrukturiert, eine Aufnahmestation
-therapeuten, Pflegerinnen und Pfleger spielen eine               etabliert, alle Abläufe komplett geändert, Testungen
enorm wichtige Rolle. Die arbeiten den Ärztinnen                  eingeführt. Nach diesen drei Wochen konnten wir
und Ärzten nicht bloß zu, sondern sind elementare                 dann auch wieder neue Patientinnen und Patienten
Bausteine in der Behandlung. Und letztlich sind wir               aufnehmen. In dieser Anstrengung haben verschie-
eine therapeutische Gemeinschaft, weil die Patien-                denste Berufsgruppen eine Rolle gespielt und ihre
tinnen und Patienten sehr lange bei uns sind. Wir                 Expertise eingebracht. Wir haben das auf eine breite
teilen den Alltag mit ihnen, wir leben im weitesten               Basis gestellt, auch mit dem Betriebsrat – das ist uns
Sinne mit ihnen zusammen.                                         gut gelungen.

Hat Sie dieses Zusammenwirken auch durch die                      Wie ist die Situation jetzt?
Pandemie getragen?                                                Wir haben noch immer Einschränkungen für die
Definitiv. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter identi-           Patientinnen und Patienten. Ausgänge sind weiter-
fizieren sich sehr mit dem Haus. Wir waren immer                  hin nur begleitend möglich, das versuchen wir zu
schon eine Modell-Institution, andere haben sich bei              forcieren. Gleichzeitig bereiten wir nun auch wieder
uns etwas abgeschaut. In der Corona-Krise war es im               unbegleitete Ausgänge für Patientinnen und Patien-
Grunde ähnlich: Es gab natürlich gesetzliche Vorga-               ten vor, die sehr lange bei uns sind. Der Ablauf des
ben, aber vieles haben wir für uns gestalten müssen,              therapeutischen Programms entspricht weitgehend
weil es in Österreich keine gleichartige Institution gibt.        wieder jenem vor Pandemiebeginn.

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Aufeinander
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                                                                                                 Teamarbeit ist der
                                                                                                 Schlüssel zu einer
                                                                                                 erfolgreichen
                                                                                                 Behandlung im
                                                                                                 Rahmen der
                                                                                                 therapeutischen
                                                                                                 Gemeinschaft.

                     Mit 1. Jänner 2021 haben Sie die Rolle des ärzt-           Behandlungsschwerpunkt für „Mischabhängige“
                     lichen Leiters des Anton Proksch Instituts übernom-        bzw. für Menschen mit einer vorwiegenden Kokain-
                     men. Wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte?                       oder Cannabisproblematik vor.
                     Wir sind in der Therapie in den letzten Jahren
                     zunehmend differenzierter und individualisierter           Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit war zuletzt die
                     vorgegangen. Gleichzeitig dürfen wir den Patienten         Ganztägig Ambulante Therapie, kurz GTAT. Wird
                     bzw. die Patientin nicht nur in bestimmten Prob-           diese weiter ausgebaut?
                     lembereichen betrachten – also etwa seiner oder            Dieses Angebot wird von den Patientinnen und
                     ihrer Depression, seiner oder ihrer Angststörung           Patienten unglaublich gut angenommen. Es
                     etc. –, sondern müssen immer auch den Menschen             ist eine sehr intensive Behandlung ohne einen
                     in seiner Gesamtheit sehen. Das gelingt meiner             stationären Aufenthalt. Die meisten Patientinnen
                     Erfahrung nach am besten mit einem intensiven              und Patienten machen das als Anschlusstherapie
                     Kontakt zum Bezugstherapeuten bzw. zur Bezugs-             nach einem stationären Aufenthalt, insbesondere,
                     therapeutin. Die therapeutische Beziehung ist ein          wenn sie keine Tagesstruktur haben. Es ist ge-
                     basaler, ein mächtiger Wirkfaktor, auf dem sich            plant, dafür heuer von 36 auf 48 Behandlungs-
                     alles andere aufbaut. Die möchte ich wieder mehr           plätze aufzustocken. Da gibt uns der Neubau gute
                     in den Fokus stellen und Behandlungsschwer-                zusätzliche Möglichkeiten.                      
                     punkte auf den einzelnen Stationen schaffen. Hier
                     planen wir Schwerpunkte für junge Erwachsene
                     und ältere Jugendliche, für ältere Suchtkranke, für
                     stoffungebundene Suchtformen, einen Schwerpunkt
                     für die Behandlung traumatisierter Frauen bzw.
                     Schwangerer sowie für männerspezifische Therapie
                     oder Medikamentenabhängigkeit und Schmerz.
                     Im Bereich illegale Substanzen bereiten wir einen
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