L - E LAA N Magazin für Lehramtsanwär ter/-innen und Referendare/-innen - VBE NRW
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Hallo liebe Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter, liebe Junglehrerinnen und Junglehrer, Aus dem Inhalt 2 3 Hallo All inclusive ?! 8 Interviews mit Lehrkräften 13 Interviews mit weiteren Professionen diese Ausgabe der E[LAA]N beschäftigt sich mit dem Thema „Inklusion“. Als Zeitschrift für angehende und junge Lehrkräfte liegt der Fokus 19 Interview Kita hier natürlich auf dem schulischen Bereich und seinen Baustellen. 20 Interviews Schüler Inklusion ist jedoch grundsätzlich viel weiter zu fassen. Aus soziolo- gischer Sicht geht es darum, alle Menschen in ihrer Vielfalt in die 22 Interviewpartner Gesellschaft einzubeziehen, sie „mitzudenken“ oder besser noch sie Besonderheiten der Pandemie selbst mitdenken und machen – sprich teilhaben – zu lassen. Dies 26 Netzwerk Schule 2021 – Fortbildungstag betrifft unterschiedliche Geschlechter, Hautfarben, die Herkunft der 28 Berichte aus dem JVBE-Landesvorstand Menschen, sexuelle Orientierung, Religionen, Handicaps, Altersgrup- pen und vieles mehr. Inklusion ist dabei nicht bloß eine Theorie oder 30 Ansprechpartner JVBE gar auf den schulischen Bereich beschränkt. 31 Rezensionen Wir haben zahlreiche Beteiligte unterschiedlicher Professionen, aber auch Betroffene interviewt, um einen Einblick in die Umsetzung der Inklusion in anderen Schulformen oder Professionen zu geben. Natür- lich gibt es noch zahlreiche weitere wichtige Akteure wie Eltern, MPTs, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, Schulbeglei- terinnen und Schulbegleiter etc. die beim Thema Inklusion, auch an Impressum E[LAA]N Schulen beteiligt sind. Insgesamt ist das Thema so groß und umfas- Zeitschrift für Lehramtsanwärter/-innen und Referendare/-innen der Arbeitsgemeinschaft der Junglehrer/-innen (Junger VBE) im send, dass es innerhalb dieser E[LAA]N nur ausschnitthaft beleuchtet Verband Bildung und Erziehung e. V. (VBE) erscheint viermal im Jahr im VBE Verlag NRW GmbH, Westfalendamm 247, 44141 Dortmund Telefon (0231) 420061, Fax (0231) 433864 werden kann. Sie soll aber dazu beitragen, das Interesse anzuregen, Internet: www.vbe-verlag.de, E-Mail: info@vbe-verlag.de sich mit Vielfalt auseinanderzusetzen und in die Diskussion um eine Herausgeber: Junger VBE im Verband Bildung und Erziehung e. V. (VBE) gemeinsame Zukunft aktiv einzusteigen. Gerne auch als aktives Mit- Landesverband Nordrhein-Westfalen Westfalendamm 247, 44141 Dortmund glied im (Jungen) VBE. Telefon (0231) 425757-0, Fax (0231) 425757-10 Internet: www.vbe-nrw.de Wie immer könnt ihr in unserer Ausgabe auch wieder nachlesen, was Schriftleitung: S. Gänsel (V. i. S. d. P.), M. Kürten, I. Rosenberg beim Jungen VBE unterwegs passiert ist, und wir haben wieder tolle, Redaktion: Y. Dickmeis, S. Gänsel (V. i. S. d. P.), J. von Hoegen, S. Hörstrup, M. Kürten, N. Meinholz, M. Mohr, S. Rausch, zum Titelthema passende Rezensionen für euch abgedruckt. I. Rosenberg, V. Schmidt Layout: my-server.de -GmbH in Zusammenarbeit mit Kirsch Kürmann Design, Dortmund Gehirngrafik Titel, S. 3: © Katrina Lee / shutterstock.com Druck: L.N. Schaffrath GmbH & Co. KG Druckmedien, Viel Spaß beim Lesen, Marktweg 42–50, 47608 Geldern Verlag: DBB Verlag GmbH, Friedrichstraße 165, 10117 Berlin, Telefon (030) 7261917-0, Fax (030) 7261917-40, Suna Rausch, Erasmus Mehlmann Internet: www.dbbverlag.de, E-Mail: kontakt@dbbverlag.de Jahresabonnement: 25,20 Euro zzgl. 4,75 Euro Versandkosten inkl. MwSt.; Mindestlaufzeit 1 Jahr. Einzelheft: 8,40 Euro zzgl. 1,40 Euro Versandkosten, inkl. MwSt. Abonnementkündigungen müssen bis zum 1. Dezember in Textform beim DBB Verlag eingegangen sein, ansonsten verlängert sich der Bezug um ein weiteres Kalenderjahr. Anzeigen: DBB Verlag GmbH, Mediacenter, Dechenstr. 15 A, 40878 Ratingen Telefon (02102) 74023-0, Fax (02102) 74023-99, E-Mail: mediacenter@dbbverlag.de Anzeigenleitung: Petra Opitz-Hannen, Telefon (02102) 74023-715 Anzeigenverkauf: Andrea Franzen, Telefon (02102) 74023-714 Anzeigenverwaltung: Britta Urbanski, Telefon (02102) 74023-712 Preisliste 15, gültig ab 1. Oktober 2020 Sonja Gänsel Iris Rosenberg Die Artikel werden nach bestem Wissen veröffentlicht und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Rechtsansprüche können aus den (Landessprecherin Junger VBE NRW) (Redaktion ELAAN) Informationen nicht hergeleitet werden. Die Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck, ganz oder teilweise, ist nur mit der Genehmigung der Redaktion, die wir gern er- teilen, zu gezeichneten Beiträgen mit der des Verfassers, bei Zu sendung eines Belegexemplars gestattet. Die Redaktion freut sich über Beiträge in Form von Unterrichtsentwürfen, Arbeitsblättern, Berichten, Leserbriefen, Karikaturen, Fotos etc. zwecks Abdruck in E[LAA]N. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernehmen wir keine Ge- währ. Die Einsender erklären sich mit einer redaktionellen Prüfung und In eigener Sache: Bearbeitung der Vorlage einverstanden. Die Rücksendung erfolgt nur, wenn ausreichendes Rückporto beiliegt. Junger VBE NRW jetzt bei Facebook Die Besprechung ohne Aufforderung zugesandter Bücher bleibt der Redaktion vorbehalten. Die namentlich gekennzeichneten Artikel geben die Ansicht der Verfas- facebook.com/jungervbe.nrw ser wieder und entsprechen nicht in jedem Fall der Redaktionsmeinung. Alle in den vorliegenden Texten verwendeten Personenbezeichnungen – weiblicher oder männlicher Form – meinen stets auch das jeweils andere Geschlecht. 2 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. ISSN-Nr.: 1860-7403
all in c l u s i v L e D Von Suna Rausch und Erasmus Mehlmann In Artikel 24 wird festgelegt, dass Menschen mit Behinderung nicht er Begriff Inklusion ist heute in allen Schulformen bekannt, wenngleich er unterschiedlich umge- aufgrund ihrer Behinderung vom setzt wird. Doch der Weg dorthin war ein weiter. allgemeinen Bildungssystem ausge Auf die Anfänge der Sonderpädagogik und die schlossen werden dürfen und dass Einrichtung erster Hilfs- oder Sonderschulen seit sie gleichberechtigten Zugang zum Beginn des 19. Jahrhunderts können wir an dieser Stelle natürlich nicht eingehen. Unterricht an Grundschulen und Stattdessen möchten wir einen kurzen Überblick über die weiterführenden Schulen haben. Entwicklung der Inklusion in den letzten Jahrzehnten geben. Im Juni 1994 trafen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 92 Regierungen und 25 internationalen Organisationen in gab es natürlich ebenfalls Bestrebungen, Menschen mit Salamanca, Spanien, um das Ziel „Bildung für alle“ zu unter- Behinderung im Schulsystem zu integrieren. Nicht wenige stützen. In dieser von der spanischen Regierung und der Kindergärten und Grundschulen haben Kinder mit unter- UNESCO organisierten Konferenz wurden grundlegende schiedlichen Behinderungen aufgenommen. Was hier und politische Änderungen besprochen, die zur Förderung einer dort im Sinne von Integration geschah, wurde nun zu einem integrativen Pädagogik zwingend notwendig waren. 1 allgemeinen Recht. Der entscheidende Schritt in Richtung Inklusion war dann Am 01.12.2010 verabschiedete der nordrhein-westfälische die 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Landtag den Antrag „UN-Konvention zur Inklusion in der Nationen (UN) verabschiedete UN-Behindertenrechtskon- Schule umsetzen“. 3, 4 vention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. 2 Es wurde eine „Projektgruppe Inklusion“ eingerichtet, de- Diese trat 2008 in Kraft und wurde von Deutschland 2009 ren Aufgabe die Entwicklung eines Inklusionsplans und die ratifiziert. In ihr wird das Recht auf gleichberechtigte Teil- Vorbereitung einer Schulgesetznovelle war. Dazu wurden habe von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbe- mit dem Gutachten „Auf dem Weg zur schulischen Inklu reichen als Menschenrecht festgelegt. Dies betrifft auch sion in Nordrhein-Westfalen“ (Klemm/Preuss-Lausitz 2011) den Bereich Bildung und Schule. wissenschaftliche Expertise eingeholt. Am 3. Juli 2012 trat der daraus folgende Aktionsplan zur konkreten Umsetzung der Inklusion in Kraft. 3 1 vgl. https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1994_salamanca-erklaerung.pdf 2 vgl. https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf 3 vgl. http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/12388.pdf 4 vgl. https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/121115_endfassung_nrw-inklusiv.pdf VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 3
Im Bereich Bildung wurden fünf Handlungsfelder definiert. Hier heißt es: 1. Inklusion fängt in den Köpfen an Durch öffentliche Veranstaltungen und Fachvorträge sollte „Die Schule fördert die vorurteilsfreie die Akzeptanz für inklusive Bildung gesteigert werden. Es wurden auch 53 Inklusionskoordinatoren/-innen bei den Begegnung von Menschen mit und ohne Schulämtern eingestellt. Behinderung. In der Schule werden sie 2. Verankerung des Rechtsanspruchs auf inklusive Bildung in der Regel gemeinsam unterrichtet und Das gemeinsame Lernen von Schülern/-innen mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wird zum erzogen (inklusive Bildung). Schülerinnen gesetzlichen Regelfall. Einen Antrag auf Feststellung eines und Schüler, die auf sonderpädagogische sonderpädagogischen Förderbedarfs sollen, bis auf Aus- nahmefälle, nur die Eltern stellen dürfen. Unterstützung angewiesen sind, werden nach ihrem individuellen Bedarf beson 3. Inklusion braucht Qualität Dies umfasst Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung von ders gefördert, um ihnen ein möglichst Lehrkräften und auch einen Ausbau der Studienkapazitäten für das grundständige sonderpädagogische Studium. hohes Maß an schulischer und beruf licher Eingliederung, gesellschaftlicher 4. Inklusion braucht regionale Verantwortung und planvolle Schritte Teilhabe und selbstständiger Lebens Das inklusive Schulsystem soll auf Grundlage regionaler gestaltung zu ermöglichen.“ 5 Inklusionspläne ausgebaut werden. 5. Inklusion braucht einen verlässlichen flexiblen Unterstützungsrahmen Mit Zustimmung des Schulträgers kann an allgemeinen Das Ministerium für Schule und Weiterbildung hat 2011 Schulen das Angebot des Gemeinsamen Lernens eingerich- einen Inklusionsfonds eingerichtet, aus welchem die regio- tet werden. nalen Bildungsbüros Mittel abrufen können. Die Schulträger können auch Schwerpunktschulen bilden, Im Gutachten von Klemm/Preuss-Lausitz wird die Schlie- in denen Kinder mit und ohne sonderpädagogischen För- ßung der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten derbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Sollte ein Lernen, Emotionale und Soziale Entwicklung und Sprache Schulträger seine Förderschulen in den Bereichen Lernen, gefordert. Der Aktionsplan hingegen geht von einer Weiter Emotionale und Soziale Entwicklung und Sprache aufgelöst führung aller Förderschwerpunkte aus und erweitert dies haben, ist die allgemeine Schule Ort der sonderpädago- auch für den Bereich der beruflichen Bildung. Für die Um- gischen Förderung. 5 setzung der Inklusion in der beruflichen Bildung holte NRW drei Gutachten ein, welche 2015 vorgestellt wurden. Demnach sind den Eltern der in den Eingangsklassen der Grundschule und der weiterführenden Schulen anzumel- Der nordrhein-westfälische Landtag verabschiedete am 16. denden Kinder mit Bedarf an sonderpädagogischer Unter- Oktober 2013 das „Erste Gesetz zur Umsetzung der VN-Be- stützung mit Zustimmung des Schulträgers mindestens hindertenrechtskonvention“, auch Neuntes Schulrechtsän- eine allgemeine Schule mit dem Angebot des Gemein- 5, in welchem auch der Begriff der derungsgesetz genannt samen Lernens vorzuschlagen. inklusiven Bildung Eingang fand. Dieses trat zum Schuljahr 2014/15 in Kraft. 5 vgl. https://www.schulministerium.nrw/sites/default/files/documents/NeuntesSchulrechtsaenderungsgesetz.pdf 4 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
2018 folgte der Runderlass des ßenverordnung von Förderschulen 7 geschlossenen oder zusammengelegten Förderschulen nun wieder eröffnet Ministeriums für Schule und Bildung bzw. die Teilstandorte werden wieder eigenständige För- des Landes NRW „Neuausrichtung der derschulen. Inklusion in den öffentlichen allgemein Es besteht weiterhin ein hoher Bedarf an sonderpädago- bildenden weiterführenden Schulen“. 6 gischen Lehrkräften in allen Schulformen. Hinzu kommt, dass mit der Neuausrichtung der Inklusion In diesem Erlass wurde neben den notwendigen Rahmen- jährlich für je einen weiteren Jahrgang an den Regelschulen bedingungen für die Einrichtung des Gemeinsamen Ler- des Gemeinsamen Lernens, bis auf die Förderschwerpunkte nens auch festgelegt, dass an Regelschulen, an denen pro Hören und Kommunikation (HK) sowie Sehen (SE), in der Re- Eingangsklasse drei Schüler/-innen mit sonderpädago- gel keine Abordnungen mehr von den Förderschulen erfol- gischer Unterstützung aufgenommen werden, je eine hal- gen und die Regelschulen ihren Bedarf durch eigene Einstel- be zusätzliche Stelle aus dem Bereich der Lehrkräfte für lungen von Sonderpädagogen/-innen decken müssen. (Ab sonderpädagogische Unterstützung, aber auch Stellen an- diesem Schuljahr werden in NRW rein rechnerisch z. B. von derer Lehrämter oder Stellen für multiprofessionelle Teams Förderschulen nur Sonderpädagogen/-innen für den Bedarf zugewiesen werden. ab Klasse 8 abgeordnet.) Lediglich an den Regelschulen, die nicht Schulen des Gemeinsamen Lernens sind, wie es bei Wurden vorher Sonderpädagogen/-innen von den Förder- den meisten Gymnasien der Fall ist, erfolgen weiterhin Ab- schulen an die Regelschulen abgeordnet, um dort Kinder ordnungen von den Förderschulen. mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen, konnten nun auch die Regelschulen, wie bereits die Grund- Dem bestehenden Bedarf an Sonderpädagogen/-innen wird schulen vorher, eigene Stellen für Sonderpädagogen/-innen langfristig durch die Erhöhung der Studienkapazitäten für oder anteilig auch Stellen für Multiprofessionelle Teams das grundlegende Studium der Sonderpädagogik und der (MPT) ausschreiben. Möglichkeit der berufsbegleitenden VOBASOF-Ausbildung Rechnung getragen. Kurzfristig wird der Bedarf auch durch Da die Anzahl der zur Verfügung stehenden Sonderpäda die Einstellung von Vertretungslehrkräften, die häufig noch gogen/-innen nicht gleichzeitig mit dem Bedarf an ihnen im Studium sind, andere Lehrämter innehaben oder auch gestiegen ist, führte und führt dies dazu, dass zahlreiche kein Lehramt innehaben, gedeckt. Diese Lehrkräfte können Stellen für Sonderpädagogen/-innen an den Regelschulen dann natürlich nicht alle Aufgaben einer sonderpädago- (aber auch an Förderschulen in ländlichen Randbereichen) gischen Lehrkraft erfüllen und auch nicht an die Regelschu- unbesetzt bleiben. Dies kann an Regelschulen etwas durch len abgeordnet werden. Dies führt auch zu einer Erhöhung die MPT-Stellen ausgeglichen werden, wenngleich natürlich der Arbeitsbelastung der Sonderpädagogen/-innen an den nicht alle Aufgaben einer sonderpädagogischen Lehrkraft Förderschulen und dazu, dass, paradoxerweise, die sonder- übertragbar sind. Gleichzeitig konnten und haben sich viele pädagogische Förderung an den Förderschulen nicht immer sonderpädagogische Lehrkräfte die vorher an Regelschulen durch Sonderpädagogen/-innen erfolgt. Der Mangel an Lehr- nur abgeordnet waren, von der Förderschule an die Regel- kräften an allen Schulen und die seit vielen Jahren übliche schule versetzen lassen. Die Bereitschaft dazu wird maß- Einstellung von Vertretungslehrkräften führt zunehmend geblich auch von den vor Ort vorhandenen Konzepten der dazu, dass diese einen Anspruch auf Entfristung haben und sonderpädagogischen Förderung beeinflusst. somit dauerhaft auf Lehrerstellen eingestellt werden, ohne tatsächlich das Lehramt innezuhaben. Diese gesamte Ent- Da die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbe- wicklung muss man sicherlich aus politischer und gewerk- darf nicht den prognostizierten sinkenden Schüler/-innen- schaftlicher Sicht sehr kritisch betrachten, da hier neben den zahlen gefolgt ist, wurden teilweise die aufgrund der 2013 Fragen bezüglich der fachlichen Qualifikation, auch stati- verabschiedeten und der 2018 angepassten Mindestgrö- stisch der Lehrkräftemangel verdeckt wird. 6 vgl. https://www.schulministerium.nrw/eckpunkte-zur-neuausrichtung-der-inklusion-der-schule https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/ministerin-gebauer-inklusion-umsteuern-durch-eindeutige-qualitaetskriterien-und 7 vgl. https://www.schulministerium.nrw/mindestgroessenverordnung-fuer-die-foerderschulen VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 5
Die in dieser Zeitschrift aufgenommenen Interviews bilden, Auffällig ist, dass in den Förderschwerpunkten Geistige Ent- wie bereits erwähnt, nur einen kleinen Teil der aktuellen wicklung (GG), Sehen (SE), Hören und Kommunikation (HK) Situation ab. Sie sind, wie man es von Interviews erwartet, sowie Körperliche und Motorische Entwicklung (KM) ein subjektiv gefärbt. Nichtsdestotrotz lassen sie erkennen, überdurchschnittlicher Anteil der Schüler/-innen nicht im dass sich im Schul- und Bildungssystem von der Kita bis zur Gemeinsamen Lernen, sondern an den Förderschulen unter- Uni und dem ZfsL viel getan hat. Aber auch die Baustellen richtet wird. Im Jahr 2020 besuchten in den Förderschwer- treten deutlich zutage. Das beginnt schon bei strukturellen punkten SE und HK rund zwei Drittel, in KM etwas weniger Dingen wie, dass der ÖPNV immer noch nicht durchgängig als zwei Drittel und in GG rund fünf Sechstel eine Förder- Menschen mit Behinderung berücksichtigt, wie es Julia schule 11 . Die Gründe, warum sich bei einzelnen Förder- Fertig in ihrem Interview beschreibt, und führt weiter zu schwerpunkten immer noch große Teile der Eltern für die räumlichen bzw. baulichen Voraussetzungen an Schulen. jeweilige Förderschule entscheiden, gehen aus den Statis Ganz deutlich tritt zutage, dass die Aus- und Fortbildungs- tiken nicht hervor. situation in Bezug auf Inklusion oft als unzureichend be- schrieben wird. Es endet bei nahezu allen Interviewpartnern darin, dass sie eine ausreichende personelle Ausstattung Vor diesem Hintergrund erscheint es vermissen, die aber von den meisten als essenziell angese- hen wird. Hier lässt sich als Beispiel die gerade vom VBE sinnvoll, den Eltern weiterhin eine durchgeführte Umfrage anlässlich des DKLK 2021 anführen.8 Wahlmöglichkeit zwischen Gemeinsamem Diese offenbart eine dramatische Personalunterdeckung in den Kitas, die sich natürlich auch auf die Inklusionsbe Lernen und Förderschule zu geben. mühungen in diesem Bereich auswirkt. Ebenso muss das System des Gemeinsamen Lernens weiter IT.NRW bescheinigt NRW für das Schuljahr 2019/2020 eine durch bauliche und personelle Maßnahmen gestärkt und Inklusionsquote von 43,9 % sprich 43,9 % aller Schüler/-innen durch gute Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten flankiert mit diagnostiziertem Förderbedarf besuchten eine allge- werden. Als dringend geboten erscheint es, statistische meine Schule. Noch im Jahr 2010/2011 lag diese erst bei 9 Fragen zu klären. So müssen die Gründe für den enormen 16,5 %. Hält man allerdings die Zahlen der KMK 10 von 2009 Anstieg der diagnostizierten Förderschwerpunkte ebenso bis 2018 sowie die Zahlen aus dem Schuljahr 2019/2020 für gefunden wie auch die Gründe der Eltern eruiert werden, NRW 11 daneben, so ergibt sich ein anderes Bild. Die Anzahl ihre Kinder in über 50 % der Fälle nicht dem allgemeinen an Schüler/-innen mit Förderschwerpunkt lag in NRW im Schulsystem anzuvertrauen. Der Schweregrad einer Behin- Jahr 2009 bei rund 117.000. Im Jahr 2020 hatten rund derung hat sicherlich auch Einfluss darauf, ob einem Kind 151.000 Schülern/-innen einen diagnostizierten Förderbe- weiterhin das Recht zugestanden wird, eine Förderschule darf. Die einzige Förderschulform, die nachhaltig Schüler/ besuchen zu dürfen. Inklusion bedeutet das Recht auf -innen in die inklusive Beschulung abgegeben hat, ist die gleichberechtigte Teilhabe, unabhängig vom Förderort. Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Wobei Daher kommt dem Elternwahlrecht eine große Bedeutung auch hier die Anzahl der Schüler/-innen die eine Förder- zu. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass es auch weiter- schule besuchen, langsam wieder steigt. Alle Förderschulen hin eine Auswahlmöglichkeit gibt, und daher haben auch der anderen Förderschwerpunkte haben ihre Schüler/-innen- die Förderschulen in der Inklusion einen nicht ersetzbaren zahlen weitestgehend gehalten oder diese sind gestiegen. Anteil und müssen fortbestehen. Hier darf die UN-Behin- Ebenso sind aber auch die Zahlen der Schüler/-innen mit dertenrechtskonvention nicht, wie zeitweise geschehen, Förderschwerpunkt an den allgemeinen Schulen gestiegen. fälschlich dahingehend ausgelegt werden, dass die Förder- schulen geschlossen werden müssen. 8 vgl. https://www.deutscher-kitaleitungskongress.de/assets/documents/pressemitteilungen/dklk/DKLK_Studie_2021.pdf 9 vgl. www.it.nrw/inklusionsquote-im-schuljahr-2019-20-allgemeinbildenden-schulen-nrw-auf-439-prozent-gestiegen-99971 10 vgl. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok223_SoPae_2018.pdf 11 vgl. https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/quantita_2020.pdf 6 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
Um es bildlich zu beschreiben: Die ersten Kilometer des Weges sind wir als Gesellschaft und als Teile des Bildungs- Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche systems gegangen. Auch haben wir schon einige Höhen- Aufgabe auf vielen Ebenen, die sich nicht meter gemacht. Die Alpen haben wir aber noch lange nicht überquert. Das Gelingen der Inklusion hängt von vielen nur auf Menschen mit Behinderungen Faktoren ab. Dazu gehört neben der personellen und sach- lichen Ausstattung der Schulen auch die landesweite Qua- beschränken darf und der wir uns in lifizierung aller Lehrkräfte durch verpflichtende sonderpä- rechtlicher, materieller, geistiger und dagogische Inhalte in Aus- und Fortbildung. Alle Lehrkräfte müssen zur Zusammenarbeit untereinander und mit den philosophischer Weise stellen müssen. Eltern bereit sein. Suna Rausch, Erasmus Mehlmann, Sonderpädagogisches Referat VBE NRW, Sonderpädagogische Fraktion Sonderpädagogische Fraktion VBE Bezirk Köln VBE Bezirk Köln DBV, Motiv Lehrerin, mit FM-Siegel und dbb Störer, E(LAA)N, ET 27.04./04.10.2021 Anzeige Sie geben alles. Wir geben alles für Sie: mit der DBV Kranken- versicherung. Spezialist für den Öffentlichen Dienst. Besonders als Lehramtsanwärter /-in leisten Sie täglich viel im stressigen Schulalltag. Wir sichern Sie dabei von Anfang an ab mit den erstklassigen Leistungen der privaten DBV Krankenversicherung zur Beihilfe. Und das zu besonders günstigen Ausbildungskonditionen. Lassen Sie sich von Ihrem persönlichen Betreuer in Ihrer Nähe beraten oder informieren Sie sich unter dbv.de/beihilfe. VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 7
Interviews mit Lehrkräften Robert Dittrich Marcel Kremer Inga Häfker Sandra Rothe Hans-Werner Michelle 41 Jahre, 38 Jahre, 36 Jahre, 41 Jahre, Weber Vorberg Realschullehrer Quereinsteiger Oberstudienrätin Grundschullehrerin 64 Jahre, 27 Jahre, als Sonderpädagoge an einem Gymnasium, Sonderpädagoge, Gymnasiallehrerin und Sek.-I-Lehrer an unterrichtet ab Kl. 5 unterrichtet seit an einem Berufs einer Hauptschule bis einschl. der Quali 11 Jahren an einer kolleg fikationsphase Gesamtschule Inga Häfker, GY Hans-Werner Weber, GeS Inklusion bedeutet für mich, dass alle Kinder mit Eine Schule für alle, ohne Stempel und Schublade. und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ge- Ich habe an der Förderschule die Erfahrung gemacht, meinsam lernen und gleichzeitig gemeinsam von- dass sich die Schülerinnen und Schüler an der Schule stets einander lernen. Hierbei ist es mir wichtig, dass wohl fühlten, aber alle ausnahmslos ein Problem mit der Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbe- Stigmatisierung hatten: „Ich bin an einer Sonderschule darf selbstverständlich gleichwertige Klassen- und an keiner normalen Schule.“ mitglieder sind. Michelle Vorberg, BK Inklusion bedeutet für mich in erster Linie ein ganz wichtiges Sandra Rothe, GS Recht auf soziale Teilhabe, das Eine Schule/Lernort für Was bedeutet durch die UN-Konvention ab- alle Kinder, egal welche gesichert ist. Inklusion ist die Voraussetzungen sie mitbringen. für dich Anerkennung , dass jeder Mensch ungeachtet seiner Inklusion? individuellen Bedarfe ganz natürlich dazugehört. In der Schule bedeutet Inklusion für mich, dass jede Schülerin und jeder Schüler entsprechend der persönlichen Be- Marcel Kremer, HS darfe und Möglichkeiten indivi- Ganz allgemein bedeutet Inklusion für mich, das Andersar- duell gefördert wird. tige als etwas Natürliches/Normales wahrzunehmen und statt Probleme zu sehen lieber Wege zu finden, wie wir alle gemeinsam gut zusammenleben können. Konkret auf Robert Dittrich, RS die Schule bezogen bedeutet es aber auch eine große He- Inklusion ist für mich eine Top-down- rausforderung, getrieben von der richtigen Idee, aber teil- Vorgabe der Bildungspolitik an die Schul- weise sehr lückenhaft umgesetzt und somit noch einen praxis, mit der Aufforderung, die grund- langen Weg, bis wir für alle bestmögliche Bedingungen sätzlich richtige Idee des gemeinsamen an allen Schulen herstellen können. Lernens in allen Schulformen schnellst- möglich umzusetzen. 8 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
Inga Häfker, GY Hans-Werner Weber, GeS An meinem Gymnasium erle- Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf (aber auch viele andere, be ich schwerpunktmäßig den bei denen kein AO-SF zugrunde liegt) haben individuelle Befindlichkeiten, auf die in be- Umgang mit Kindern, die zwar sonderem Maße einzugehen ist. Für die meisten gilt: ankommen, anfangen, durchhalten, einen sonderpädagogischen För- bei Widerständen nicht aufgeben und eine Aufgabe zu Ende bringen. Dabei ist es zu- derbedarf haben, aber zielgleich nächst unerheblich, ob sie lesen, schreiben, rechnen oder malen. Der Unterricht an einer unterrichtet werden. Somit wer- allgemeinbildenden Schule ist jedoch sehr getaktet und fachorientiert, mit verschie- den wir an unserem Gymnasium denen Lehrkräften. Das heißt, auf individuelle Befindlichkeiten des Kindes oder Jugend- aktuell nicht vor die komplexe lichen kann gar nicht richtig eingegangen werden. Das Kind oder der Jugendliche ist Aufgabe der Inklusion zieldiffe- vielleicht durchaus in der Lage, die Anforderungen des Unterrichtes zu bewältigen, aber renter Kinder gestellt. nicht unbedingt in der vorgegebenen Taktung des Stundenplans, der zu schreibenden Klassen- und Vergleichsarbeiten. Da ist die Förderschule viel flexibler und kann sich nach dem richten, was das Kind oder der Jugendliche gerade braucht. Mit anderen Sandra Rothe, GS Worten: das auf Bildungsabschlüsse streng curricular ausgerichtete allgemeine Schul- In den Grundschulen erlebe ich, system ist für die individuellen Anforderungen des Kindes mit Förderbedarf zu unbe- dass wir viele besondere Kinder in weglich. Am System Gesamtschule, und das gilt m. E. für alle allgemeinbildenden den Klassen haben. Sie kommen mit Schulen, sind daher die Gelingensbedin- verschiedenen Vorerfahrungen, Ent- gungen der Inklusion schwierig. wicklungsstufen, familiären Hinter- Michelle Vorberg, BK gründen, Migrationshintergründen etc. Hierfür ist es wichtig, die Struktur Diese Vielfalt ist Realität und bereichert des Berufskollegs zu verstehen. Das den Schulalltag in vielen Bereichen. Es Berufskolleg ist ein stark ausdifferen- gehört für mich unbedingt dazu, dass Wie ziertes System, in welchem je nach jeder akzeptiert wird, wie er ist, und in Schwerpunkt eher die praxisorientierte seinen Besonderheiten unterstützt wird. Dies ist leider nicht immer möglich und erlebst du Ausbildung oder eher eine theoretische Ausbildung mit dem Erwerb eines höher- besonders die Kinder mit Förderschwer- punkten wie Lernen oder emotional-so- Inklusion wertigen Abschlusses möglich ist. Jede Schülerin und jeder Schüler führt vorab ein ziale Entwicklung erhalten aufgrund von sehr viel Bürokratie und fehlendem im Schulalltag? persönliches Beratungsgespräch, um daraus den besten Bildungsgang zu ermitteln und Fachpersonal erst viel zu spät oder zu ggf. benötigte Unterstützungsmaßnahmen wenig Unterstützung, sodass manch- mit den Inklusionsbeauftragten zu bespre- mal ein Schulwechsel an eine För- chen. Bei Bedarf können auch zeitliche, tech- derschule unvermeidlich ist. nische, räumliche oder personelle Nachteils- ausgleiche gewährt werden. Robert Dittrich, RS Marcel Kremer, HS Da diese Umsetzung ohne vorherige Aus- oder Im Rahmen meiner unterschiedlichen Ausbil- Weiterbildung der betroffenen Lehrkräfte in unserer Schule dungen und Tätigkeiten konnte ich einen brei- erfolgte, wird die Inklusion bislang immer im Modus der Im- ten Eindruck verschiedenster Inklusionsmodel- provisation umgesetzt. An der Improvisationsinklusion hat le kennenlernen. Diese reichten von „so gut sich bis heute nicht viel geändert, obwohl mittlerweile Sonder- wie nicht vorhanden“ bis zu „individuelle Kon- pädagoginnen und -pädagogen an unsere Schule gekommen zepte passgenau für alle Schülerinnen und sind, um die Umsetzung zu professionalisieren. Allerdings kom- Schüler“. Im Endeffekt steht und fällt die In- men diese von Förderschulen und müssen das Regelschulsystem klusion aber genau wie jeder Unterricht mit erst kennenlernen. Das führt dazu, dass es streng genommen kei- dem Engagement der Lehrkraft. Diese wei- nen echten Experten dafür gibt, Inklusion in der Regelschule umzu- terhin zu unterstützen und fortzubilden, setzen. Denn auch die Sonderpädagoginnen und -pädagogen müs- sehe ich als elementar für Inklusion an. sen Schritt für Schritt Neuland betreten. VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 9
Interviews mit Lehrkräften Inga Häfker, GY Hans-Werner Weber, GeS Während meiner Ausbildungszeit war ich überwiegend Im Studium gab es erste Ansätze von Integration im an einer Gesamtschule tätig und konnte einen Einblick in Schulleben. Die integrativ beschulten Kinder und Ju- das zieldifferente Unterrichten bekommen. Meine Aus- gendlichen waren aber so etwas wie eine geschlos- bildungslehrerinnen und Ausbildungslehrer haben sene Gruppe im allgemeinen Schulsystem. mich dabei gut unterstützt, sowohl hinsichtlich der Differenzierung der Unterrichtsmaterialien als auch bei der Umsetzung im unterrichtlichen Kontext. Konntest du dich Sandra Rothe, GS bereits in deiner Ausbildung Nein. mit dem Thema auseinandersetzen? Michelle Vorberg, BK Wenn ja, wie? Da ich als Gymnasiallehrerin ausgebildet wurde, war mein Studium eher fachwissenschaft- lich ausgerichtet, sodass Inklusi- on ein Randthema darstellte. Erst im Verlauf des Referendariats ge- Marcel Kremer, HS Robert Dittrich, RS wann das Thema Inklusion für Inklusion ist inzwischen Mit 25 Jahren habe ich, nach mich an Relevanz, da ich in einer auch im Referendariat für einer Ausbildung zum Indus- Inklusionsklasse mit zwei Schülern Regelschulkräfte ein wich- triekaufmann, angefangen, auf mit den Förderschwerpunkten tiger Teilbereich und für ange- Lehramt für Haupt-, Real- und Geistige Entwicklung und Lernen hende Sonderpädagoginnen Gesamtschulen zu studieren. Deutsch unterrichtete. Vor allem und Sonderpädagogen logi- Von Inklusion war damals nicht zu Beginn des Referendariats stell- scherweise sowieso. In der Pla- die Rede, eher von Kompetenz- te die Berücksichtigung der doch nung der Unterrichtsstunden orientierung. sehr verschiedenen Bedarfe eine hat Inklusion einen hohen Stel- Herausforderung dar. Es gelang lenwer t. Neue Eindrücke und mir jedoch zunehmend, die Vor- Ideen sammelt man durch Hospi- stellung meiner Stundenvarian- tationen und externe Lehrveran- te zugunsten der Individualität staltungen etwa an Förder- oder zu verändern. Projektschulen sowie anderen sozialen Einrichtungen. 10 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
Interviews mit Lehrkräften Inga Häfker, GY Hans-Werner Weber, GeS Ich würde mir wünschen, dass es während Ich wünsche mir eine besondere sonderpädagogische Sicht- der Ausbildung für alle Schulformen die Mög- weise. Ich meine damit eine pädagogische Haltung, dass ein lichkeit gibt, einen Einblick in die verschie- Kind mit Förderbedarf nicht einfach nur langsam ist und ein denen sonderpädagogischen Förderschwer- bisschen Unterstützung oder Förderunterricht benötigt, punkte zu bekommen. Hierbei wäre es hilfreich, sondern die Einsicht, dass es bestimmte Dinge einfach wenn es Fortbildungs- bzw. Weiterbildungsan- nicht kann und andere als standardisierte Bildungs- und gebote für Lehrerkräfte gäbe, in denen auch Unterrichtsangebote benötigt. konkrete Unterrichtssituationen dargestellt werden und die sich am Bedarf der Schulen orientieren. Folglich hätten die Lehrer innen und Lehrer eine andere Chance, auf die spezifischen Bedürfnisse der Michelle Vorberg, BK Kinder einzugehen und sich gleich- Offenheit gegenüber in- zeitig nicht mehr überfordert zu fühlen, welches an der einen Was würdest klusiven Konzepten bei al- len Lehrenden. Ärzte wis- oder anderen Stelle immer wieder anklingt. du dir für sen am besten, was ihre Klienten brauchen. Deshalb die Ausbildung/ wäre es hilfreich, wenn be- reits ärztliche Atteste oder Sandra Rothe, GS Von Anfang an wäre es Fortbildung Diagnosen mit entspre- chenden Möglichkeiten hilfreich, auch als norma- zum Nachteilsausgleich le Lehrkraft mehr Wissen von Lehrkräften zur Verfügung ge- und Input zu bekommen. stellt würden. Eine Art Grundbildung viel- (und/oder anderen leicht. Man ist nach der Aus- bildung nicht darauf vorberei- tet, mit Kindern umzugehen, die Professionen) über Tische und Bänke gehen, autistisch sind oder Ähnliches. Al- in Bezug auf das leine zu erkennen, was das Kind hat und braucht, ist besonders Thema wünschen? für Berufseinsteiger schwierig. Und man ist de facto die meiste Zeit alleine im Klassenraum. Die Unsicherheit ist da oft groß. Die Einstellung von Sozialpädago- Robert Dittrich, RS gen für die Schuleingangs- Marcel Kremer, HS Ich würde mir wünschen, dass phase ist da sicherlich ein Ich würde mir wünschen, dass Räu- Sonderpädagoginnen und -päda- Schritt in die richtige Rich- me und Möglichkeiten geschaffen gogen in geringem Maße den Re- tung, um Unterstützung werden, gute Ideen und Konzepte gelschulunterricht als Lehrkraft zu erfahren. auch umzusetzen. Hier sehe ich die Po- kennenlernen und nicht nur in be- litik in der Pflicht. Aber auch regelmäßige gleitender Funktion die Inklusion Auffrischung, Evaluation und Weiterent- vorantreiben. Sie geraten manch- wicklung mit dem gesamten Kollegium mal in eine defensive Position, an Fortbildungstagen. wenn sie nur „mitlaufen“. VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 11
Interviews mit Lehrkräften Inga Häfker, GY Hans-Werner Weber, GeS An den Gymnasien in NRW werden die Kinder Die Chancen sehe ich darin, dass die allermeisten Lehrkräfte hoch zukünftig hinsichtlich der sonderpädagogischen engagiert und bereit sind, sich einer veränderten Schülerschaft zu Förderung zielgleich unterrichtet. Das Gymnasi- stellen. Es bilden sich mehr und mehr individuelle Unterrichts- um kann durch die Schulkonferenz der Schul- formen heraus, die den Kindern und Jugendlichen mit Förderbe- aufsichtsbehörde das Angebot unterbreiten darf zunehmend gerechter werden. Ausreichendes Personal auch zieldifferentes Gemeinsames Lernen anzubie- anderer Professionen (z. B. aus dem Bereich Musik, Kunst, Hand- ten. Dabei ist es wichtig, dass optimale Rah- werk, Sport, Heilpädagogik) ist nötig, welches unterstützen oder menbedingungen, beispielsweise hinsichtlich Angebote über den reinen Unterricht hinaus anbietet. Die gerade der Personalausstattung, der Berufsorientie- neu eingestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im multi- rung, der Dauer der Beschulungsjahre, ge- professionellen Team sind hierbei ein guter Ansatz, aber nur der schaffen werden, um eine bestmögliche Schul- berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Oft fehlen die räum- ausbildung gewährleisten zu können. lichen und personellen Ressourcen leider. Sandra Rothe, GS Ich empfinde es oft als sehr berei- chernd, Inklusionskinder in der Klas- se zu haben. Oft birgt der Umgang Welche Chancen Robert Dittrich, RS mit diesen Kindern große Chancen für das soziale Lernen der ganzen Klasse. und Grenzen Ich sehe die Chance, dass Inklusion an un- Toleranz, menschliche Vielfalt, Stärken serer Schule immer bes- hervorheben, Rücksicht nehmen, Grenzen siehst du ser umgesetzt wird. Aller- zeigen, Empathie und vieles mehr wird so dings nur eine Inklusion automatisch gelernt und ist so, so wichtig für uns alle. Die Grenzen liegen für mich im Bezug auf „light“ mit ausgewählten Förderschwerpunkten, die vor allem in den Ressourcen. Fehlendes Fachpersonal ist da die Hauptschwierig- die inklusive am besten zielgleich unter- richtet werden. Wir haben keit. Ohne besondere Unterstützung, auch durch entsprechende Räumlich- Beschulung an nicht die Infrastruktur und auch nicht das Personal keiten etc., ist es als Grundschullehrerin und -lehrer sehr schwer, guten inklusiven deiner Schulform? für alle Förderbedarfe. Unterricht zu bewerkstelligen und alle Kinder in ihren Möglichkeiten zu för- dern und zu unterstützen. Marcel Kremer, HS Michelle Vorberg, BK Durch die Schließung und Zusammenlegung vieler Als Chance sehe ich, dass es einen Fokus auf individu- Förderschulen sind viele Hauptschulen zu inoffiziellen elle Förderung gibt, von dem alle Schülerinnen und neuen Förderschulen geworden. Mit den vorhandenen Schüler profitieren können. Ferner zeigt sich, dass die Lehrkräften, Mitteln und Räumen ist eine ähnlich effek- Schülerinnen und Schüler basierend auf ihren eigenen tive Förderung aber kaum zu schaffen. So besteht an Re- Mitwirkungspflichten selbstständig werden können. Au- gelschulen zwar die große Chance einer deutlich einfache- ßerdem erleben die Lernenden Inklusion als gelebte ren und schnelleren Aufhebung des Förderschwerpunktes, Selbstverständlichkeit. Einige Behinderungsbilder, wie z. B. gleichzeitig bleibt aber genau abzuwägen, für welche eine Autismus-Spektrum-Störung, erfordern jedoch ein Schüler*innen ein klassisches Förderschulkonzept nicht besonderes Augenmerk sowie eine Beratung, z. B. bei der der bessere Weg für die individuelle Entwicklung ist. Wahl des Praktikums. 12 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
Interviews mit weiteren Professionen Was würdest du dir für die Ausbildung/ Jana Bresch, 26 Jahre, Fortbildung von Lehrkräften (und/oder LAA Grundschule anderen Professionen) in Bezug auf das Thema wünschen? Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Austausch statt- findet – auch berufsfeldübergreifend und auch mit Eltern. Was bedeutet für dich Inklusion? Ich kenne viele, die Inklusion zwar gut finden, aber Angst Für mich bedeutet Inklusion, dass die Vielfalt aller Menschen haben, etwas falsch zu machen oder einfach nicht wissen, wertgeschätzt und gefördert wird. Viele Definitionen spre- wie man das eigentlich macht. Auch kleinere Klassen und chen davon, behinderte Menschen gleichzustellen und nicht Doppelbesetzungen können dazu führen, dass viel besser zu benachteiligen. Aber allein die Unterscheidung in behin- auf Schülerinnen und Schüler eingegangen werden kann dert und nicht behindert widerspricht dem Gedanken der und somit Inklusion besser funktionieren kann. Inklusion. Jeder Mensch ist einzigartig, hat Schwächen und Stärken. ALLE jedoch zu akzeptieren, respektieren und wert- zuschätzen ist Inklusion. Welche Chancen und Grenzen siehst du in Bezug auf die inklusive Beschulung an deiner Schulform? Wie erlebst du Inklusion im Schulalltag? Ich bin der Meinung, dass Grundschule eine sehr gute Aus- Inklusion im Schulalltag findet bei jeder Differenzierung, in gangslage für Inklusion hat, da Schülerinnen und Schüler jedem Unterricht und in jedem Gespräch statt. Es gibt wun- in diesem Alter noch viel offener und toleranter sein kön- dervolle Menschen, die sehr viel dafür tun, dass die Beson- nen. Gleichzeitig müssen jedoch das System und die Er- derheiten jeder Person wertgeschätzt werden. Und doch wachsenen genau dies unterstützen und nicht aufgrund gibt es ebenso noch sehr viel Potenzial nach oben. Verschie- von Personalmangel, Vorschriften, Ängsten oder anderen dene Perspektiven zu entdecken und in einen Austausch zu Schwierigkeiten Selektion und Gleichheit fördern, sondern kommen, ist dabei meiner Meinung nach sehr wichtig und Individualität, Toleranz und Respekt für alle. das kommt noch viel zu kurz. Kannst du dich in deiner Ausbildung (Studium/ZfsL) mit dem Thema auseinandersetzen? Wenn ja, wie? Es gibt sehr viele Berührungspunkte mit dem Thema Inklu- sion in Schule, Uni und ZfsL und viele Beteiligte geben sich große Mühe. Dennoch ist das Wissen oft nur angelesen, aus zweiter Hand oder nicht erprobt, da Inklusion in Schule nur selten 100%ig gelebt wird. Von der Erfahrung anderer zu profitieren ist hier meiner Meinung nach richtig, und die Entwicklung dahingehend, das Thema Inklusion zu vermit- teln, ist richtig, wichtig und auf einem guten Weg. VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 13
Interviews mit weiteren Professionen Jana Simon, 24 Jahre, Studentin im 8. Semester, Was würdest du dir für Lehramt für Haupt-, Real- und das Studium in Bezug auf das Thema Gesamtschulen schulische Inklusion wünschen? Generell würde ich mir wünschen, dass auch im Bachelorstu- dium schon das Thema Inklusion für jeden verpflichtend ist. Was bedeutet für dich Inklusion? Mindestens eine Veranstaltung pro Studienfach wäre ange- messen, um uns wenigstens ein bisschen auf das Thema Inklusion bedeutet für mich, dass jede/-er individuell ver- vorzubereiten und uns zu sensibilisieren. Darüber hinaus schieden sein darf und dass niemand ausgeschlossen wird. wäre es wichtig, dass in jedem Fach das Thema Inklusion Es bedeutet für mich, dass auf jedes Kind individuell ge- bezogen auf Inhalte und Methoden Berücksichtigung findet. schaut wird und gemeinsam beobachtet wird, wie man das Neben dem Orientierungspraktikum gibt es noch das Be- Kind bestmöglich fordern und fördern kann. Inklusion rufsfeldpraktikum. Eines davon müsste an einem Ort absol- bringt uns alle ein Stückchen näher. viert werden, an dem inklusiv gearbeitet wird. Erlebst du Inklusion im Alltag Hast du im Studium praktische an der Uni? Erfahrungen (Praktikum oder ähnliches) Im Alltag an der Uni habe ich das Gefühl, dass immer mehr mit dem Thema machen können? Inklusion stattfindet und die Menschen dafür auch sensibi- Ich durfte mein Orientierungspraktikum an einer GL-Schule lisiert werden. Im Bereich bauliche Maßnahmen wie Bar absolvieren und bin für diese Erfahrung sehr dankbar. Ich rierefreiheit gelingt es der Uni schon, eine inklusive Atmos fand es sehr schön zu beobachten, dass es zwischen den phäre zu schaffen. An der Universität, an der ich studiere, Kindern keine Unterschiede gab. Die Kinder haben sich un- gibt es auch eine Beratung und Unterstützung für Men- tereinander so respektiert und angenommen, wie sie sind. schen mit Behinderung und chronischen Krankheiten. Hier Diese Schule hatte aber auch ausreichende personelle und finde ich es sehr gut, dass auch auf Menschen mit psychi- sachliche Ausstattung. schen Krankheiten geachtet wird. Oft werden diese Krank- Ich habe lange einen Jungen mit Downsyndrom begleiten heiten nicht berücksichtigt und unterschätzt. dürfen. Er fühlte sich sehr wohl in einem inklusiven Kinder- garten. Als es dann zur Schulauswahl kam, haben sich die Eltern schließlich doch für eine Förderschule entschieden. Wie wird das Thema der Dort fühlte er sich sehr wohl, hatte viele Freunde gefunden schulischen Inklusion im und Spaß am Unterricht. An einer GL-Schule mit ausrei- Lehramtsstudium aufgegriffen? chender personeller und sachlicher Ausstattung wäre dies vermutlich auch möglich gewesen. Oft fehlt es aber genau In meinem Bachelorstudiengang kommt das Thema Inklu- daran und daher sind GL-Schulen nicht immer für alle Kin- sion zu kurz. Es gibt immer mal wieder einzelne Kurse, die der geeignet. man zu dem Thema besuchen kann, wovon aber keiner verpflichtend ist. Im Masterstudiengang wird das Thema Inklusion ein bisschen konkretisiert und es werden dazu auch Kurse angeboten. Generell muss man sich die Veran- staltungen zum Thema Inklusion eher selbst heraussuchen und aus eigenem Interesse teilnehmen, da es keinen festen Platz im Studienverlaufsplan hat. 14 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
Interviews mit weiteren Professionen Nicole Böddeker, konkret wählen. Das Arbeitsfeld Inklusion in der Schule 45 Jahre, wurde hier nicht speziell behandelt bzw. thematisiert. Hier seit 2005 Diplom-Sozialpädagogin sollte noch dringend im Bereich der Sozialen Arbeit und in der Schuleingangsphase auch im Lehramtsstudium nachgebessert werden. Was sind deine Aufgaben an Schule Was bedeutet für dich Inklusion? in Bezug auf das Thema Inklusion? Inklusion bedeutet für mich, dass jeder Mensch mit seinen Um die Ressourcen zu bündeln, haben wir ein pädago- individuellen Stärken und Schwächen angenommen wird. Es gisches Team verschiedener Professionen gebildet und eine ist ganz normal verschieden zu sein. Alle haben das gleiche pädagogische Fachkonferenz ins Leben gerufen. Recht auf aktive Teilhabe in Schule und Gesellschaft. Schulen Die Schulleitung, die Sonderpädagoginnen und -pädagogen müssen personell und materiell so ausgestattet sein, dass und ich sind für den Übergang vom Kindergarten zur Schu- Kinder mit besonderen Bedarfen gemeinsam mit anderen le zuständig. Ich habe ein gut funktionierendes Netzwerk gut lernen können. Für mich ist ein Teilziel der Inklusion er- und führe gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen reicht, wenn jeder akzeptiert wird, wie er ist und wir vom die Elterngespräche. Wir stellen gemeinsam die Klassen defizitären Blick zunehmend zum kompetenzorientierten zusammen. Ich lerne die Kinder kennen und unterstütze die Blick kommen. Eine bunte Gesellschaft ist richtig und wichtig! Kinder und Kolleginnen/Kollegen in den ersten und zwei- ten Klassen. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Förderung basaler Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder Wie erlebst du Inklusion im Schullalltag? und deren sozial-emotionale Förderung und Unterstützung im Unterricht. Wir arbeiten bei uns an der Schule größtenteils auf Augen- höhe mit allen anderen Professionen zusammen. Das erlebe ich als sehr bereichernd. Für mich ist es wichtig, professions- Was würdest du dir für die spezifisch und nicht nur als Feuerwehr eingesetzt zu werden. Ausbildung/Fortbildung in Bezug Leider sind die Klassen häufig viel zu groß und Lehrerkräfte, auf das Thema wünschen? Sonderpädagoginnen/Sonderpädagogen, Diplom-Sozialpä- dagoginnen/Diplom-Sozialpädagogen in der Schuleingangs- Ich würde mir wünschen, dass das Thema fest verankert wird phase, MPTs und Schulsozialarbeiterinnen/Schulsozialarbei- in allen Ausbildungen bzw. im Studium. Einen Einblick/Über- ter sind leider Mangelware. Das führt dazu, dass man den blick zu den einzelnen Förderschwerpunkten wäre auch hilf- Kindern häufig nicht gerecht werden kann, die wenigen Son- reich gewesen. Die einzelnen Akteure benötigen auch eine derpädagoginnen und Sonderpädagogen oft an mehreren Fachberatung im Schulamt. Gerade wenn man viele neue Schulen eingesetzt werden müssen und die Klassenlehr Kolleginnen und Kollegen einstellt, sollten die Bezirksregie- kräfte irgendwann mit den Kräften am Ende sind. Dieser rungen entsprechende Fortbildungen anbieten. Zustand muss sich dringend ändern. Welche Chancen und Grenzen siehst du Konntest du dich bereits in deiner im Bezug auf die inklusive Beschulung Ausbildung mit dem Thema an deiner Schulform? auseinandersetzen? Wenn ja, wie? Die große Chance sehe ich darin, dass die Kinder voneinan- Inklusion ist Mehrwert und insgesamt richtig wichtig. Un- der und miteinander Lernen. sere Ausbildung zeichnet aus, dass im Studium die Grund- Grenzen finden sich bei der personellen und materiellen haltung gegenüber dem Thema Inklusion gelegt worden Ausstattung und im pädagogischen Bereich, wenn es um ist. Diese innere Haltung ist ein wichtiges Fundament Selbst- und Fremdgefährdung geht oder wenn es im Be- meines beruflichen Handelns. Was etwas zu kurz kam, ist reich Lernen für das Kind schwierig wird. Auch wenn Kinder ehrlich gesagt die konkrete Ausgestaltung des Themas. Es das Gefühl haben oder bekommen, dass sie das an der Re- gab eine Vertiefung zum Thema Heilpädagogik und Behin- gelschule nicht schaffen, muss man gemeinsam gut über- derungen im Studium, aber das musste man dann schon legen, was für das Kind die beste Lösung ist. VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021 15
Interviews mit weiteren Professionen Astrid Petry, 53 Jahre, Welche besonderen Herausforderungen Sonderpädagogin, sehen Sie? Dezernentin Realschulen In der Primarstufe haben wir große Herausforderungen beim Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwick- lung durch die teilweise sehr hohe Impulsivität der Schüle- Was bedeutet für Sie Inklusion? rinnen und Schüler. In der weiterführenden Schule gibt es noch Fragen, auf die uns noch Antworten fehlen im Förder- Schulische Inklusion bedeutet für mich, dass alle am Schul- schwerpunkt GG. Als Schlaglichter seien hier die Peergroup- leben Beteiligten möglichst barrierefrei am Schulleben teil- Problematik und die Vereinzelung genannt. Im Förder- nehmen können. Dies gilt für alle gesellschaftliche Themen schwerpunkt Lernen sind die Realschulen vor besondere wie z. B. „Bildung“, „Gender/Diversität“ und „Sprache“ glei- Herausforderungen gestellt, wenn z. B. Regelschülerinnen chermaßen. Es geht hierbei aber nicht um ein „Gleichset- und Regelschüler, die die Ziele der Erprobungsstufe nicht zen“ sondern darum, dem Individuum bezogen auf seine erreichen, an eine Hauptschule gehen, die zieldifferent ge- legitimen Bedarfe gerecht zu werden und die passenden förderten Schülerinnen und Schüler aber im System bleiben. Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Einer meiner Leit- Das Prinzip des Anspruchs auf eine gewisse Leistungshomo- sprüche im Kontext Inklusion heißt: „Zielgleich heißt nicht genität, dass durch die Versetzungsordnung geschaffen wegegleich und zieldifferent heißt nicht ziellos“. wird, wird durch die Beschulung im Bildungsgang „Lernen“ erst einmal irritiert. Eine weitere Herausforderung ist, dass die Eltern oft die sogenannte Behinderungsverarbeitung Wie beurteilen Sie die Entwicklung nicht so intensiv erleben, da die Zäsur beispielsweise beim der inklusiven Beschulung in den Bildungsgangwechsel gar nicht so deutlich wird. Des Weite- verschiedenen Schulformen? ren herrschen auch viele Sprachbarrieren zwischen Eltern und Schule. Die Schule ist für Eltern oft eine Blackbox und Ich glaube, wir sind nach der „Zeit der Abwehr“ und des sie erhalten die meisten Informationen durch ihr Kind. „Durchschreitens des Tals der Tränen“ (vergleiche Phasen des Changemanagements) in allen Schulformen auf einem Wenn das Kind nun eine andere Wahrnehmung als die Lehr- guten Weg zu einem neuen Selbstverständnis. Die meisten kraft hat, was eigentlich in der Natur der Sache liegt, bei Schulen haben sich schon lange auf den Weg gemacht. Die Schülerinnen und Schülern mit Wahrnehmungsstörungen Grundschulen wurden beispielsweise viel früher in den GL- aber selbstverständlich verstärkt zutage tritt, kommt es Status versetzt als die Realschulen. Und des Weiteren muss fast zwangsläufig zu Missverständnissen. Hinzu kommen festgehalten werden, dass, wie es in der Inklusion halt ist, auch immer öfter Sprachbarrieren, die kulturell bedingt, nicht jede Schulform die gleichen Bedarfe hat. Auch hier aber auch abhängig von den Lebensumständen sind. Eltern muss es heißen, „zielgleich heißt nicht wegegleich“. Die erwarten einen individuellen Blick auf das eigene Kind. Sie Gesamtschule beispielsweise scheint durch das Angebot führen sich nicht vor Augen, dass eine Fachlehrkraft an ei- der vielen Bildungsgänge und dem Primat der Versetzung ner weiterführenden Schule mit ca. 120 Schülerinnen und – was bedeutet, dass jede Schülerin und jeder Schüler bis Schülern täglich im Unterrichtskontakt ist. Bei Lehrkräften zur 9. Klasse unabhängig von den Leistungen zu versetzen mit Fächern, die nur einstündig unterrichtet werden, steigt ist – vermeintlich perfekte Voraussetzung zu haben. Aller- die Zahl auch auf bis zu 180 Schülerinnen und Schüler. Des- dings sind diese Schulen meist sehr groß und stehen damit halb ist der gemeinsame Blick der Lehrerinnen und Lehrer vor anderen Herausforderungen als Haupt- oder Realschu- und die gemeinsame Förderplanung aller, die mit dem Kind len, wo oft noch ein familiärer Umgang miteinander arbeiten, von so enormer Bedeutung. Hier sind wir bei der herrscht und jede Einzelne und jeder Einzelne auch von der nächsten Herausforderung. Schulleitung besser gesehen werden kann. 16 VBE – E[LAA]N Nr. 77/2021
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