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Florian Vogt, Die »Anleitung zur musikalischen Setzkunst« von Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749). Edition und Kommentar, Neu- münster: von Bockel 2018 Schlagworte/Keywords: counterpoint; Gottfried Heinrich Stölzel; historical models of composition; historische Satzlehre; Johann Joseph Fux; Kontrapunkt; trias harmonica Die zunehmende Erschließung barocker Traktate der Stölzel’schen Anleitung deutlich: »[Bei durch Übersetzungen, Kommentare und Einord- Stölzel] überlagern sich zwei Denkweisen: [Er] nung trägt maßgeblich zu einem tieferen Ver- übernimmt und akzeptiert zum einen das sen- ständnis der musiktheoretischen Strömungen im sualistische Erklärungsmodell, welches allge- 17. und 18. Jahrhundert bei. 1 Durch das Aufzei- mein bewährte und geschätzte Klangverbin- gen von Entwicklungslinien musiktheoretischen dungen als ›richtig‹ einschätzt; zugleich denkt Denkens und ihren Querverbindungen werden er es aber mit den Kategorien des Kontrapunkts Quellen nicht nur zugänglich, sondern auch in und der trias harmonica zusammen.« 5 Die ihren Auswirkungen verständlich gemacht. Flo- Untersuchung von Stölzels musiktheoretischem rian Vogt fügt den bisherigen Schriften mit Stöl- Denken in der Anleitung und dessen Verortung zels Anleitung zur musikalischen Setzkunst eine in den zugehörigen Strömungen machen den Quelle aus der Umbruchszeit des frühen 18. Jahr- Kern von Vogts Fragestellung aus; daran an- hunderts hinzu, deren Entstehung ca. 1735–38 2 schließend wird die Berechtigung des tradier- zeitlich benachbart ist zu Rameaus Traité (1722) ten, eher abschätzigen Urteils 6 über Stölzels und Génération harmonique (1732), Fux’ Gra- von den Zeitgenossen durchaus geschätzte dus ad Parnassum (1725) – auf den sich Stölzel musiktheoretische Werke diskutiert (vgl. 25ff.). eng bezieht –, Heinichens Der Generalbaß in Der zweite Punkt ist zwar schnell zugunsten der Composition (1728) und Sorges Vorgemach von Stölzel geklärt, aber insofern von Belang, der musicalischen Composition (1745). 3 als er beispielhaft ist für die durch die Fokussie- Schon Vogts Vortrag zu Stölzels Fux- rung auf Rameau bedingte und bis vor Kurzem Rezeption beim Essener Kongress der GMTH andauernde Vernachlässigung der deutschen 2012 4 machte das Potenzial einer Erschließung Trias-harmonica-Lehre des 17. Jahrhunderts als 1 Aus den letzten Jahren wären hier u. a. folgende Schriften zu nennen: Nathalie Meidhof (2016), Alexandre Étienne Chorons Akkordlehre. Kon- 5 Ebd., 122. zepte, Quellen, Verbreitung, Hildesheim: Olms; Holtmeier 2017; Stephan Zirwes (2018), Von 6 Stölzel hat nach der Anleitung für die Miz- Ton zu Ton. Die Ausweichung in den musik- ler’sche Societät eine umfangreiche »[Abhand- theoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts, lung vom Recitativ]« geschrieben. Sie muss Kassel: Bärenreiter; Heffter i.V.; außerdem die nach seinem Beitritt zur Societät 1739 entstan- äußerst hilfreiche Erschließung zahlreicher ba- den sein, wurde allerdings nach seinem Tod rocker Quellen in Ullrich Scheideler und Felix nicht – wie ursprünglich vorgesehen – von Wörner (Hg.) (2017), Musiktheorie von der Anti- Mizler veröffentlicht (vgl. Steger 1962, 23ff.). ke bis zur Gegenwart, Lexikon Schriften über Lange Zeit wurde hauptsächlich dieser Rezita- Musik Bd. 1, Kassel: Bärenreiter. tivtraktat wahrgenommen, daneben allenfalls noch der Kanontraktat (Practischer Beweiß, 2 Vgl. Vogts Datierung der Quelle, 39ff. 1725); Stölzels andere Schriften wurden als 3 Zum Einfluss Stölzels auf Sorge – und damit auf uneigenständig und epigonenhaft beschrieben: die deutsche Musiktheorie des 18. Jahrhunderts eine auffällige Diskrepanz zwischen der hohen insgesamt – vgl. Holtmeier 2017, 194–199. Wertschätzung für die Rezitativlehre und der 4 Vgl. Vogt 2015. Geringachtung der anderen Texte (ebd., 22f). ZGMTH 16/1 (2019) | 137
ALMUT GATZ der eigentlichen historischen Quelle des mo- ›trias deficiens‹ bzw. ›superflua‹ definiert und dernen stufentheoretischen Systems. 7 als eigenständige Dreiklänge integriert. 13 Seine Während Johannes Lippius’ Idee der ›trias Anleitung bettet diese modernen Phänomene in harmonica‹ 8 von vielen deutschen Theoretikern die Traditionen des praktischen ›stile antico‹- hauptsächlich als theoretisches Konzept aufge- Kontrapunkts und der theoretischen ›trias har- fasst wird und keinen Eingang in ihre prakti- monica‹ ein. 14 Dabei treten in Stölzels skalen- schen Lehren findet, 9 ist sie bei Wolfgang Cas- basierter Dreiklangsordnung die Kategorien par Printz 10 bereits Erklärungsmodell der meis- von Konsonanz und Dissonanz hinter die Ein- ten musiktheoretischen Phänomene, wobei er bettung in die ›trias‹ zurück: eher die ausübenden Musiker als eine theoreti- Diese Dinge scheinen zwar Neuigkeiten zu sche Kontemplation im Blick hat. 11 Stölzel, als seyn; allein in der That verhält es sich also, Komponist für seine kontrapunktische Fertig- wie wir hernach sehen werden, und erschei- keit, Vielseitigkeit und Innovation geschätzt, net hieraus, nebst der Unersättlichkeit des denkt die Trias-harmonica-Lehre weiter und menschlichen Gehörs, auch der große Ein- verknüpft sie mit praktischen satztechnischen druck, welchen die 5te perfecta und 3tie ma- Unterweisungen. Umkehrungsdenken und jor, als solche Consonanzen, die, wie wir Terzschichtung sind bereits in seinem Practi- oben gehört haben, propriæ und per se aus der Zertheilung der Octave entspringen, schen Beweiß 12 von 1725 Grundlage des indemselben machen, also daß fast alles was Dreiklangsverständnisses, und der verminderte nur den Namen von der 5te und 3tie führet, ih- und der übermäßige Dreiklang werden als re Stelle in Concentu vertreten, und zum Grunde vieler, sonderlich heut zu Tage ge- bräuchlichen Harmonien dienen muß. (247) 7 Eine umfassende Perspektiven-Korrektur in diesem Zusammenhang hat Ludwig Holtmeier Stölzels Traktat scheint konkret als Lehrbuch mit seiner Dissertation vorgenommen (Holt- konzipiert, wobei allerdings weniger bestimmte meier 2017). satztechnische oder stilistische Anleitungen im 8 In Lippius’ Synopsis Musicae Novae (1612) ist Fokus stehen, als vielmehr die Entwicklung die ›trias harmonica‹ Ausgangspunkt seines eines analytischen Blicks und eines kritischen ganzen Systems und gleichzeitig musikalische Verständnisses des Tonsystems, wodurch der Erscheinungsform der göttlichen Trinität (Syn- Komponist imstande sein soll, »[…] auf schöp- opsis, f. F4). Sprick betont, dass durch seine Lehre von der ›trias harmonica‹ »[…] Lippius – ferische Art und Weise und nichtsdestotrotz und nicht etwa Zarlino oder Rameau – zum traditionsbewusst Neues zu erfinden« (177). So Begründer der modernen Akkordlehre wurde« zeichnet den Traktat eine enge Verzahnung (Sprick 2009, 376). von hoch differenzierter Musik- und Komposi- 9 Heinichen geht – mit im Grunde sensualisti- tionspraxis und musiktheoretischer Reflexion in schen Erklärungsmustern – allein vom Gene- pythagoreischer Tradition aus. Gleichzeitig ralbass und der Oktavregel aus, die mathemati- stellt Stölzel damit alte katholische Kontra- sche Trias-harmonica-Tradition wird gar nicht, punktpraxis und neuere, die modernen Dur- Kontrapunkt kaum integriert. Fux wiederum Moll-Tonarten integrierende und mit harmoni- gibt »als Theoretiker keinerlei Hinweise […], scher Theoriebildung eng verknüpfte protestan- wie sich […] modernes harmonisches Denken tische Kantionalsatzpraxis einander gegenüber in Dur- und Molltonarten mit den alten Syste- men des stile antico sowie der trias harmonica (173). Dabei kann die Einführung von Drei- vereinbaren bzw. zusammendenken lässt« klangstypen im Zwischenbereich zwischen (Vogt 2015, 116). konsonant und dissonant »als der eigentliche 10 Phrynis Mitilenæus, Dresden 1696. Ursprung einer (deutschen) Stufentheorie mit einer voll integrierten 7. Stufe gelten« (170). 11 Vgl. Sprick 2009, 390f. 12 Der Practische Beweiß legt im Wesentlichen dar, wie durch Umkehrung, metrische Verschie- bung, Änderung von Einsatzreihenfolge, Stimm- anordnung etc. aus einem vierstimmigen ›Canon perpetuus‹ in der Quinte und Oktave zahlreiche weitere gewonnen werden können; die Drei- 13 Stölzel, Practischer Beweiß, § 4ff. klangslehre wird hier nicht weiter ausgeführt. 14 Vgl. Vogt 2015, 116. 138 | ZGMTH 16/1 (2019)
REZENSION: FLORIAN VOGT, DIE »ANLEITUNG ZUR MUSIKALISCHEN SETZKUNST« INHALT kussion der neuen Tonarten Dur und Moll nebst Ausweichungstönen, wobei in Moll alle Stölzels Anleitung gliedert sich in Proportions- Dreiklänge als »leitereigen« inbegriffen sind, lehre (10 Kapitel), Moduslehre (3), Klausellehre die sich aus dem Ambitu modorum mit den (1), Intervalllehre (5), Trias-harmonica-Lehre doppelten Stufen 6 und 7 ableiten lassen (1), Fuxʼsche Hauptregeln (1), Kontrapunktlehre (82ff.). Viel Raum nimmt aufgrund ihres Inno- (Gattungen) (7), Rezitativlehre (1) und Imitati- vationspotenzials die Dreiklangslehre ein, ins- onslehre (5) (45). Vogt geht im Kommentar besondere die Emanzipation der »sonderlich nicht auf alle Inhalte gleichermaßen ein, son- heut zu Tage gebräuchlichen Harmonien«, dern fokussiert diejenigen, die die konzeptio- wozu nicht nur verminderter und übermäßiger nellen Neuerungen und damit den Stellenwert Dreiklang zählen: »[…] es findet sich auch von Stölzels Traktat begründen. Dies ist bereits wohl noch eine deficiens, welche aus einer im Aufbau der Anleitung angelegt, die derjeni- Quinte deficiente und Tertia deficienti zugleich gen von Fux’ Gradus ähnelt, aber an entschei- bestehet, […] [und] man trift auch Syzygias an, denden Stellen Kapitel zu zeitgenössischen die auf eine Triade deficienti beruhen, so aus Ausprägungen als direkte Gegenüberstellung der Quinte deficienti und tertia majori bestehet zum alten Stil enthält: So folgt u. a. dem XXIII. […]« (247). 16 In das Kapitel eingeschoben ist Kapitel »Vom Contrapuncto simplici« (258) ein Exkurs zur Vorgeschichte der Kategorisie- eines »De Contrapuncto simplici moderno« rung von vermindertem und übermäßigem (268). Der zentrale Teil des Kommentars wid- Dreiklang in der Trias-harmonica-Lehre des met sich entsprechend den vier Themen Inter- 17. Jahrhunderts. Neben der Integration eines valllehre, Tonartenlehre, Dreiklangslehre sowie modernen Tonartenverständnisses und der Contrapunctus-simplex-Lehre. Vorangestellt ist »Rechtfertigung« der oben genannten neuen eine Aufarbeitung der Stölzel-Rezeption, die Klangtypen im modernen Contrapunctus sim- genaue Beschreibung der einzigen bekannten plex (156ff.) ist die satztechnische Herange- Quelle aus der Sammlung Poelchau und die hensweise Stölzels bezeichnend, der – anders Einordnung in Stölzels Schriften insgesamt 15 als beim »alten« Contrapunctus simplex – den sowie eine Übersicht über Aufbau und Inhalt modernen zweistimmigen Contrapunctus sim- im Vergleich zu Fux. plex direkt als Außenstimmensatz konzipiert Mit Rückblick auf Stölzels Vorläufer von (121). Dieser Abschnitt wird ergänzt durch den Griechen bis zu Zarlino, Galilei, Lippius einen Exkurs zu Stölzels Choralharmonisie- und Baryphonus analysiert Vogt, wie Stölzel rungslehre (s.u.). die Intervalle nicht nur nach Einfachheit der In einem stringent zusammenfassenden Ka- Proportion, sondern auch in Bezug auf die pitel benennt Vogt schließlich »Traditionsbe- ›trias harmonica‹ kategorisiert (53f.); dabei wusstsein und historische Kontinuität« (165), arbeitet er auch die Widersprüche in der teils »Innovation« (170) und »Kompilation« (171) als inkonsistenten Argumentation Stölzels zur Klas- die wesentlichen Merkmale der in der Anleitung sifizierung von Konsonanzen heraus (60). Auf ausgeprägten Stölzel’schen Musiktheorie. eine Analyse der »von zugrunde liegenden Trias-Strukturen« (62) geprägten Perspektive Stölzels auf Modi und Klauseln folgt eine Dis- 16 Stölzel geht an dieser Stelle nicht auf typische Formen (wie etwa im Falle des doppelt ver- 15 Neben dem Practischen Beweiß (Druck und minderten Dreiklangs auf die Verwendung als Abschriften) und der Anleitung sind eine »Ab- übermäßiger Sextakkord) ein. Er bringt aber handlung über die Composition« (Konvolut aus später im Kapitel zum »modernen« Contra- Rezitativlehre und einer Satzlehre) sowie zwei punctus simplex ein vierstimmiges Beispiel mit weitere zusammengebundene Traktate (»Kur- übermäßigem Sextakkord und kommentiert: zer und gründlicher Unterricht« (s.u.), und »Obwohl man ehemals folgenden Satz für un- »Von dem ordentlichen und natürlichen Ge- zuläßig gehalten, so wird er doch heut zu Tage brauch der Dissonanzen in Ligatura«) als Ma- öfters gebraucht, und bestehet darinnen daß nuskript erhalten. Der Rezitativtraktat liegt in seine Basis der Medius Triadis deficientis cum Edition und Kommentar von Werner Steger vor Tertia deficienti ist, als wovon Cap. XX. §. 8 ge- (Steger 1962). sagt worden« (271f.). ZGMTH 16/1 (2019) | 139
ALMUT GATZ BEMERKENSWERTE ASPEKTE IN EDITION Bewegungsrichtung und Klauselbildung in Abhängigkeit von Textbetonung und Interpunk- UND KOMMENTAR tion erläutert und demonstriert werden – han- delt es sich insgesamt um einen sehr wenig Stölzels Traktat in der kommentierten Edition redseligen, knappen und kompakten Traktat. Häufig sind es gelungene Beispiele 18, die Sach- Stölzel orientiert sich viel stärker als Fux an der verhalte oder satztechnische Entscheidungen (historischen und gegenwärtigen) Praxis. Es be- verdeutlichen, sodass der Text mitunter auf ein darf weniger der Begründung durch axiomati- eher nachahmendes als abstrahierendes Lernen sche Grundsätze, vielmehr zählt, was in Kompo- zielt. 19 Angaben, auf welche Schriften oder sitionen auftritt und »gut klingt«. 17 Er verlässt Theoretiker Stölzel sich bezieht, fehlen, sodass sich aber nicht allein auf Gewohnheit und (referiertes) Tradiertes und (eigenes) Neues Geschmack, sondern bemüht sich um einen nicht auf den ersten Blick voneinander zu un- modernen Theorie-Anspruch, der sich nicht mit terscheiden sind. Sehr hilfreich sind daher dem Nebeneinander von ›musica theorica‹ und Vogts Anmerkungen, die zum einen offen le- ›musica practica‹ zufrieden gibt, sondern das gen, wo Stölzel Fux’ Beispiele übernimmt oder eine aus dem anderen zu begründen sucht. variiert 20 und wo er sich auf andere Autoren Gerade Stölzels Versuche der Analogiebildung bezieht, zum anderen Schreibfehler und un- zwischen alten und neuen Prinzipien wirken vollständige Erläuterungen aufklären und auch jedoch zuweilen etwas bemüht. So bestehe Anhaltspunkte für mögliche Vorbilder und etwa die »Verwandtschaft« zwischen den alten Prinzipien hinter den Beispielen geben. und modernen »Modis« darin, dass beider Charakteristika jeweils auf die harmonische und arithmetische Teilung zurückzuführen seien: Die alten Modi unterscheiden sich durch die jeweilige Teilung der Oktave (authentisch vs. plagal), die neuen aber durch die der Quin- 18 Eine besonders schöne Sammlung solcher te (Dur vs. Moll) (216f.). Auch sonst ist seine Beispiele findet sich im Kapitel »Von den Argumentation mitunter gewagt: So untersucht dreystimmigen Fugen« (334ff.). Hier erweitert er Beispiele, die für ihn zur Gattung Contra- Stölzel die knappen Beispiele zur »erdichteten punctus simplex zählen, und leitet daraus ab, Clausul« in der Fux’schen Vorlage (Fux/Mizler dass die dort auftretenden Klänge als konsonant 1742, 131f., Tab. XXIVf.) auf fünf Paragraphen zur Kadenzflucht: »Hier kann man auch die zu betrachten seien (158). Folglich kann sogar Cadenzen zierlich ausfliehen, und also wird der übermäßige Sextakkord als Konsonanz nöthig seyn, von dieser Sache […] etwas weit- gebraucht werden, wodurch wiederum die läuftiger zu reden« (ebd., 335). Es folgen zahl- ›trias deficiens cum tertia deficienti‹ aufgewer- reiche vierstimmige(!) Beispiele für Modulatio- tet wird (160). nen, Ausweichungen sowie zwischendomi- Seine enge Anknüpfung an die kompositori- nantische und trugschlüssige Wendungen, be- sche Praxis zeigt sich sowohl in ›aktuellen‹ vor das erste Exempel zur dreistimmigen Fuge Abschnitten wie dem Rezitativ-Kapitel als auch unvermittelt zum Fuxʼschen Vorbild zurück- in der Ähnlichkeit seiner Lehrbeispiele zu eige- kehrt (ebd., 341). nen Kompositionen. Obwohl Stölzel gelegent- 19 So bringt Stölzel etwa zur »Brechung« der lich Vorgehensweisen detailliert erklärt – etwa gebundenen Dissonanzen im ›Contrapunctus im Kapitel »Vom Recitativ« (308ff.), in dem floridus‹ (298) eine Sammlung typischer Aus- zierungsfloskeln, ohne jedoch darauf hinzu- systematisch metrisch-rhythmische Gestaltung, weisen, dass sie in der hier vorgestellten se- quenzierenden Anlage stilistisch eher dem Ba- 17 Im Zusammenhang mit Sorges Intervallbegriff rock als dem 16. Jahrhundert zuzuordnen sind. beschreibt auch Holtmeier diese neue Domi- 20 Stölzel überträgt im dreistimmigen Contrapunc- nanz der Hörerfahrung und die zu Beginn des tus simplex die Fuxʼschen Beispiele ohne jegli- 18. Jahrhunderts in Italien und Deutschland che Änderung; beim vierstimmigen Contra- aus ihr entspringende sensualistische Kritik an punctus simplex hingegen wird lediglich der tradierten musiktheoretischen Kategorien. Vgl. Cantus firmus übernommen, die anderen drei Holtmeier 2017, 191. Stimmen aber neu hinzugefügt. 140 | ZGMTH 16/1 (2019)
REZENSION: FLORIAN VOGT, DIE »ANLEITUNG ZUR MUSIKALISCHEN SETZKUNST« Kommentar keiten in der Bezifferung zu einer kreativen Konzeption der Mittelstimmen anregt. Da der Kommentar sich auf die »Modernisie- rungs-Felder« konzentriert, werden andere Teile ZUSAMMENFASSUNG (wie etwa Kap. XXVI »De Contrapuncto ligato«) zwar innerhalb der Edition kommentiert, aber Vogt hat durch seine sorgfältige editorische kaum in einen größeren Zusammenhang ein- Arbeit an Stölzels Traktat ein durchweg über- geordnet, sodass Verknüpfung und Vergleich zeugendes Buch vorgelegt. Im bestens struktu- etwa mit zeitgenössischen Generalbasslehren rierten Kommentar arbeitet er plastisch die von den Leser*innen selbst geleistet werden wesentlichen Neuerungen und Eigenheiten von müssen. Sehr nützlich sind dafür die Aufschlüs- Stölzels Theorie einschließlich der zugehörigen selungen verwandter Begriffe, wie etwa der fast Begrifflichkeit heraus. Mitunter könnte der bedeutungsgleichen Termini ›Syzygia‹, ›Con- Kommentar etwas kompakter sein, einzelne junctio‹, ›Concentus‹ und ›Harmonie‹ im Ver- Punkte wirken überausführlich erklärt und hältnis zum Begriff Akkord (68f). Eine große manche Wiederholungen und Abbildungen Bereicherung stellen die Exkurse zur Trias- wären durchaus entbehrlich. Andererseits soll harmonica-Lehre des 17. Jahrhunderts und zu der Text ja auch Leser*innen dienen, die ledig- Stölzels (Choral-)Harmonisierungslehre aus dem lich eine Kontextualisierung einzelner Passagen Manuskript »Kurzer und gründlicher Unterricht des Traktats suchen. Die gelegentlich auftre- […]« 21 dar (36, 126). Letztere ergänzt den ei- tenden Redundanzen haben also ihre Begrün- gentlich essentiellen, am wenigsten mechani- dung in der Zielsetzung des Buches. Ein um- schen Teils der Harmonisierung, wie man näm- fangreicher Apparat von Anmerkungen und lich überhaupt »ordentlicher u. natürlicher wei- Verweisen bindet die Untersuchung in den ße« (134) zu einem einfachen, wohlklingenden aktuellen Kontext der Forschung zur barocken und harmonisch gedachten Außenstimmensatz Musiktheorie ein und eröffnet so – bei aller kommt. Die Veranschaulichung Stölzel’scher Stringenz und Fokussierung auf den Traktat und Prinzipien durch die Analyse eines Chorals aus seinen unmittelbaren Kontext – eine weite der Brockes-Passion 22 zeigt zugleich, dass die Perspektive. Vogts treffender und flüssiger empfohlenen Arbeitsschritte nicht als lediglich Schreibstil, die klare Verständlichkeit und nicht propädeutische Übungen zu verstehen sind, zuletzt ein gutes Lektorat machen das Buch sondern zu ästhetisch vollgültigen Kompositio- angenehm zu lesen. nen führen können (126ff.). Ebenso erhellend Almut Gatz sind detaillierte Untersuchungen einzelner Bei- spiele, z. B. des nur zweistimmig ausgeführten »General Bass Exempel« zur Veranschaulichung der gebundenen Dissonanzen (289). Drei Vor- schläge Vogts zur drei- und vierstimmigen Aus- setzung zeigen, wie Stölzel durch Mehrdeutig- 21 Gottfried Heinrich Stölzel (o.D.), Kurzer und gründlicher Unterricht, wie ein Liebhaber der Music, welcher die Intervalla Musica kennet, und durch die Noten aufzuschreiben weiß, in einer kurzen Zeit, einen Contrapunctum Sim- plicem, doch ohne Sexten, mit vier Stimmen zu sezen erlernen kan, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Mus.ms.theor. 839, f. 1–16v. 22 Die Harmonisierung der ersten Hälfte ent- spricht genau der im Lehrbuch vorgestellten, viel freier ist dagegen die zweite: mehr Sextak- korde, überraschende Nebenstufen, weniger eng am Sopran geführte Mittelstimmen (154). ZGMTH 16/1 (2019) | 141
ALMUT GATZ Literatur Fux, Johann Joseph (1742), Gradus ad Parnas- Steger, Werner (1962), G. H. Stölzels »Abhand- sum oder Anführung zur regelmässigen mu- lung vom Recitativ« [Edition und Kommen- sicalischen Composition, übers. von Lorenz tar], Diss., Universität Heidelberg. Christoph Mizler von Kolof, Leipzig: Mizler- Stölzel, Gottfried Heinrich (1725), Practischer scher Bücherverlag. Beweiß, wie aus einem nach dem wahren Heffter, Moritz (i.V.), Die Plejades Musicæ des Fundamente solcher Noten-Künsteleyen ge- Henricus Baryphonus. Edition und Kom- setzten Canone perpetuo in hypo dia pente mentar, Hildesheim: Olms. quatuor vocum, viel und mancherley, Theils Holtmeier, Ludwig (2017), Rameaus langer an Melodie, Theils auch nur an Harmonie, Schatten. Studien zur deutschen Musiktheo- unterschiedene Canones perpetui à 4 zu ma- rie des 18. Jahrhunderts, Hildesheim: Olms. chen seyn. Der Warheit, und einigen Music- Freunden zu gefallen, dem Druck überlassen, Printz, Wolfgang Caspar (1696), Phrynis Mitile- von G. H. S., o.O. næus, oder Satyrischer Componist, Dresden: Miedt und Zimmermann. Vogt, Florian (2015), »Gottfried Heinrich Stöl- zels Fux-Rezeption. Zur Rolle des ›alten‹ Sprick, Jan Philipp (2009), »Die ›trias harmo- Kontrapunkts und der ›trias harmonica‹ in nica‹ in der deutschen Musiktheorie des der Kompositionsausbildung zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Zwischen Theologie und 18. Jahrhunderts«, in: Musiktheorie und musikalischer Praxis«, in: Musik an ihren Komposition. XII. Jahreskongress der Gesell- Grenzen: Neue und Alte Musik, hg. von schaft für Musiktheorie Essen 2012, hg. von Angelika Moths, Markus Jans, John Mac- Markus Roth und Matthias Schlothfeldt, Keown und Balz Trümpy, Bern: Lang, 369– Hildesheim: Olms, 115–126. 391. Gatz, Almut (2019): Florian Vogt, Die »Anleitung zur musikalischen Setzkunst« von Gottfried Heinrich Stöl- zel (1690–1749). Edition und Kommentar, Neumünster. von Bockel 2018. ZGMTH 16/1, 137–142. https://doi.org/10.31751/1004 © 2019 Almut Gatz (almut.gatz@hfm-wuerzburg.de) Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License. eingereicht / submitted: 16/04/2019 angenommen / accepted: 11/05/2019 veröffentlicht / first published: 30/06/2019 zuletzt geändert / last updated: 30/06/2019 142 | ZGMTH 16/1 (2019)
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