Florian Vogt, Die "Anleitung zur musikalischen Setzkunst" von Gottfried Heinrich Stölzel (1690-1749). Edition und Kommentar, Neu-münster: von ...

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Florian Vogt, Die »Anleitung zur musikalischen
Setzkunst« von Gottfried Heinrich Stölzel
(1690–1749). Edition und Kommentar, Neu-
münster: von Bockel 2018
Schlagworte/Keywords: counterpoint; Gottfried Heinrich Stölzel; historical models of composition;
historische Satzlehre; Johann Joseph Fux; Kontrapunkt; trias harmonica

Die zunehmende Erschließung barocker Traktate           der Stölzel’schen Anleitung deutlich: »[Bei
durch Übersetzungen, Kommentare und Einord-             Stölzel] überlagern sich zwei Denkweisen: [Er]
nung trägt maßgeblich zu einem tieferen Ver-            übernimmt und akzeptiert zum einen das sen-
ständnis der musiktheoretischen Strömungen im           sualistische Erklärungsmodell, welches allge-
17. und 18. Jahrhundert bei. 1 Durch das Aufzei-        mein bewährte und geschätzte Klangverbin-
gen von Entwicklungslinien musiktheoretischen           dungen als ›richtig‹ einschätzt; zugleich denkt
Denkens und ihren Querverbindungen werden               er es aber mit den Kategorien des Kontrapunkts
Quellen nicht nur zugänglich, sondern auch in           und der trias harmonica zusammen.« 5 Die
ihren Auswirkungen verständlich gemacht. Flo-           Untersuchung von Stölzels musiktheoretischem
rian Vogt fügt den bisherigen Schriften mit Stöl-       Denken in der Anleitung und dessen Verortung
zels Anleitung zur musikalischen Setzkunst eine         in den zugehörigen Strömungen machen den
Quelle aus der Umbruchszeit des frühen 18. Jahr-        Kern von Vogts Fragestellung aus; daran an-
hunderts hinzu, deren Entstehung ca. 1735–38 2          schließend wird die Berechtigung des tradier-
zeitlich benachbart ist zu Rameaus Traité (1722)        ten, eher abschätzigen Urteils 6 über Stölzels
und Génération harmonique (1732), Fux’ Gra-             von den Zeitgenossen durchaus geschätzte
dus ad Parnassum (1725) – auf den sich Stölzel          musiktheoretische Werke diskutiert (vgl. 25ff.).
eng bezieht –, Heinichens Der Generalbaß in             Der zweite Punkt ist zwar schnell zugunsten
der Composition (1728) und Sorges Vorgemach             von Stölzel geklärt, aber insofern von Belang,
der musicalischen Composition (1745). 3                 als er beispielhaft ist für die durch die Fokussie-
    Schon Vogts Vortrag zu Stölzels Fux-                rung auf Rameau bedingte und bis vor Kurzem
Rezeption beim Essener Kongress der GMTH                andauernde Vernachlässigung der deutschen
2012 4 machte das Potenzial einer Erschließung          Trias-harmonica-Lehre des 17. Jahrhunderts als

1    Aus den letzten Jahren wären hier u. a. folgende
     Schriften zu nennen: Nathalie Meidhof (2016),
     Alexandre Étienne Chorons Akkordlehre. Kon-
                                                        5    Ebd., 122.
     zepte, Quellen, Verbreitung, Hildesheim: Olms;
     Holtmeier 2017; Stephan Zirwes (2018), Von         6    Stölzel hat nach der Anleitung für die Miz-
     Ton zu Ton. Die Ausweichung in den musik-               ler’sche Societät eine umfangreiche »[Abhand-
     theoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts,           lung vom Recitativ]« geschrieben. Sie muss
     Kassel: Bärenreiter; Heffter i.V.; außerdem die         nach seinem Beitritt zur Societät 1739 entstan-
     äußerst hilfreiche Erschließung zahlreicher ba-         den sein, wurde allerdings nach seinem Tod
     rocker Quellen in Ullrich Scheideler und Felix          nicht – wie ursprünglich vorgesehen – von
     Wörner (Hg.) (2017), Musiktheorie von der Anti-         Mizler veröffentlicht (vgl. Steger 1962, 23ff.).
     ke bis zur Gegenwart, Lexikon Schriften über            Lange Zeit wurde hauptsächlich dieser Rezita-
     Musik Bd. 1, Kassel: Bärenreiter.                       tivtraktat wahrgenommen, daneben allenfalls
                                                             noch der Kanontraktat (Practischer Beweiß,
2    Vgl. Vogts Datierung der Quelle, 39ff.
                                                             1725); Stölzels andere Schriften wurden als
3    Zum Einfluss Stölzels auf Sorge – und damit auf         uneigenständig und epigonenhaft beschrieben:
     die deutsche Musiktheorie des 18. Jahrhunderts          eine auffällige Diskrepanz zwischen der hohen
     insgesamt – vgl. Holtmeier 2017, 194–199.               Wertschätzung für die Rezitativlehre und der
4    Vgl. Vogt 2015.                                         Geringachtung der anderen Texte (ebd., 22f).

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der eigentlichen historischen Quelle des mo-          ›trias deficiens‹ bzw. ›superflua‹ definiert und
dernen stufentheoretischen Systems. 7                 als eigenständige Dreiklänge integriert. 13 Seine
    Während Johannes Lippius’ Idee der ›trias         Anleitung bettet diese modernen Phänomene in
harmonica‹ 8 von vielen deutschen Theoretikern        die Traditionen des praktischen ›stile antico‹-
hauptsächlich als theoretisches Konzept aufge-        Kontrapunkts und der theoretischen ›trias har-
fasst wird und keinen Eingang in ihre prakti-         monica‹ ein. 14 Dabei treten in Stölzels skalen-
schen Lehren findet, 9 ist sie bei Wolfgang Cas-      basierter Dreiklangsordnung die Kategorien
par Printz 10 bereits Erklärungsmodell der meis-      von Konsonanz und Dissonanz hinter die Ein-
ten musiktheoretischen Phänomene, wobei er            bettung in die ›trias‹ zurück:
eher die ausübenden Musiker als eine theoreti-
                                                           Diese Dinge scheinen zwar Neuigkeiten zu
sche Kontemplation im Blick hat. 11 Stölzel, als           seyn; allein in der That verhält es sich also,
Komponist für seine kontrapunktische Fertig-               wie wir hernach sehen werden, und erschei-
keit, Vielseitigkeit und Innovation geschätzt,             net hieraus, nebst der Unersättlichkeit des
denkt die Trias-harmonica-Lehre weiter und                 menschlichen Gehörs, auch der große Ein-
verknüpft sie mit praktischen satztechnischen              druck, welchen die 5te perfecta und 3tie ma-
Unterweisungen. Umkehrungsdenken und                       jor, als solche Consonanzen, die, wie wir
Terzschichtung sind bereits in seinem Practi-              oben gehört haben, propriæ und per se aus
                                                           der Zertheilung der Octave entspringen,
schen Beweiß 12 von 1725 Grundlage des
                                                           indemselben machen, also daß fast alles was
Dreiklangsverständnisses, und der verminderte
                                                           nur den Namen von der 5te und 3tie führet, ih-
und der übermäßige Dreiklang werden als                    re Stelle in Concentu vertreten, und zum
                                                           Grunde vieler, sonderlich heut zu Tage ge-
                                                           bräuchlichen Harmonien dienen muß. (247)
7    Eine umfassende Perspektiven-Korrektur in
     diesem Zusammenhang hat Ludwig Holtmeier         Stölzels Traktat scheint konkret als Lehrbuch
     mit seiner Dissertation vorgenommen (Holt-       konzipiert, wobei allerdings weniger bestimmte
     meier 2017).                                     satztechnische oder stilistische Anleitungen im
8    In Lippius’ Synopsis Musicae Novae (1612) ist    Fokus stehen, als vielmehr die Entwicklung
     die ›trias harmonica‹ Ausgangspunkt seines       eines analytischen Blicks und eines kritischen
     ganzen Systems und gleichzeitig musikalische
                                                      Verständnisses des Tonsystems, wodurch der
     Erscheinungsform der göttlichen Trinität (Syn-
                                                      Komponist imstande sein soll, »[…] auf schöp-
     opsis, f. F4). Sprick betont, dass durch seine
     Lehre von der ›trias harmonica‹ »[…] Lippius –   ferische Art und Weise und nichtsdestotrotz
     und nicht etwa Zarlino oder Rameau – zum         traditionsbewusst Neues zu erfinden« (177). So
     Begründer der modernen Akkordlehre wurde«        zeichnet den Traktat eine enge Verzahnung
     (Sprick 2009, 376).                              von hoch differenzierter Musik- und Komposi-
9    Heinichen geht – mit im Grunde sensualisti-      tionspraxis und musiktheoretischer Reflexion in
     schen Erklärungsmustern – allein vom Gene-       pythagoreischer Tradition aus. Gleichzeitig
     ralbass und der Oktavregel aus, die mathemati-   stellt Stölzel damit alte katholische Kontra-
     sche Trias-harmonica-Tradition wird gar nicht,   punktpraxis und neuere, die modernen Dur-
     Kontrapunkt kaum integriert. Fux wiederum        Moll-Tonarten integrierende und mit harmoni-
     gibt »als Theoretiker keinerlei Hinweise […],
                                                      scher Theoriebildung eng verknüpfte protestan-
     wie sich […] modernes harmonisches Denken
                                                      tische Kantionalsatzpraxis einander gegenüber
     in Dur- und Molltonarten mit den alten Syste-
     men des stile antico sowie der trias harmonica   (173). Dabei kann die Einführung von Drei-
     vereinbaren bzw. zusammendenken lässt«           klangstypen im Zwischenbereich zwischen
     (Vogt 2015, 116).                                konsonant und dissonant »als der eigentliche
10   Phrynis Mitilenæus, Dresden 1696.                Ursprung einer (deutschen) Stufentheorie mit
                                                      einer voll integrierten 7. Stufe gelten« (170).
11   Vgl. Sprick 2009, 390f.
12   Der Practische Beweiß legt im Wesentlichen
     dar, wie durch Umkehrung, metrische Verschie-
     bung, Änderung von Einsatzreihenfolge, Stimm-
     anordnung etc. aus einem vierstimmigen ›Canon
     perpetuus‹ in der Quinte und Oktave zahlreiche
     weitere gewonnen werden können; die Drei-        13    Stölzel, Practischer Beweiß, § 4ff.
     klangslehre wird hier nicht weiter ausgeführt.   14    Vgl. Vogt 2015, 116.

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REZENSION: FLORIAN VOGT, DIE »ANLEITUNG ZUR MUSIKALISCHEN SETZKUNST«

INHALT                                                  kussion der neuen Tonarten Dur und Moll
                                                        nebst Ausweichungstönen, wobei in Moll alle
Stölzels Anleitung gliedert sich in Proportions-        Dreiklänge als »leitereigen« inbegriffen sind,
lehre (10 Kapitel), Moduslehre (3), Klausellehre        die sich aus dem Ambitu modorum mit den
(1), Intervalllehre (5), Trias-harmonica-Lehre          doppelten Stufen 6 und 7 ableiten lassen
(1), Fuxʼsche Hauptregeln (1), Kontrapunktlehre         (82ff.). Viel Raum nimmt aufgrund ihres Inno-
(Gattungen) (7), Rezitativlehre (1) und Imitati-        vationspotenzials die Dreiklangslehre ein, ins-
onslehre (5) (45). Vogt geht im Kommentar               besondere die Emanzipation der »sonderlich
nicht auf alle Inhalte gleichermaßen ein, son-          heut zu Tage gebräuchlichen Harmonien«,
dern fokussiert diejenigen, die die konzeptio-          wozu nicht nur verminderter und übermäßiger
nellen Neuerungen und damit den Stellenwert             Dreiklang zählen: »[…] es findet sich auch
von Stölzels Traktat begründen. Dies ist bereits        wohl noch eine deficiens, welche aus einer
im Aufbau der Anleitung angelegt, die derjeni-          Quinte deficiente und Tertia deficienti zugleich
gen von Fux’ Gradus ähnelt, aber an entschei-           bestehet, […] [und] man trift auch Syzygias an,
denden Stellen Kapitel zu zeitgenössischen              die auf eine Triade deficienti beruhen, so aus
Ausprägungen als direkte Gegenüberstellung              der Quinte deficienti und tertia majori bestehet
zum alten Stil enthält: So folgt u. a. dem XXIII.       […]« (247). 16 In das Kapitel eingeschoben ist
Kapitel »Vom Contrapuncto simplici« (258)               ein Exkurs zur Vorgeschichte der Kategorisie-
eines »De Contrapuncto simplici moderno«                rung von vermindertem und übermäßigem
(268). Der zentrale Teil des Kommentars wid-            Dreiklang in der Trias-harmonica-Lehre des
met sich entsprechend den vier Themen Inter-            17. Jahrhunderts. Neben der Integration eines
valllehre, Tonartenlehre, Dreiklangslehre sowie         modernen Tonartenverständnisses und der
Contrapunctus-simplex-Lehre. Vorangestellt ist          »Rechtfertigung« der oben genannten neuen
eine Aufarbeitung der Stölzel-Rezeption, die            Klangtypen im modernen Contrapunctus sim-
genaue Beschreibung der einzigen bekannten              plex (156ff.) ist die satztechnische Herange-
Quelle aus der Sammlung Poelchau und die                hensweise Stölzels bezeichnend, der – anders
Einordnung in Stölzels Schriften insgesamt 15           als beim »alten« Contrapunctus simplex – den
sowie eine Übersicht über Aufbau und Inhalt             modernen zweistimmigen Contrapunctus sim-
im Vergleich zu Fux.                                    plex direkt als Außenstimmensatz konzipiert
    Mit Rückblick auf Stölzels Vorläufer von            (121). Dieser Abschnitt wird ergänzt durch
den Griechen bis zu Zarlino, Galilei, Lippius           einen Exkurs zu Stölzels Choralharmonisie-
und Baryphonus analysiert Vogt, wie Stölzel             rungslehre (s.u.).
die Intervalle nicht nur nach Einfachheit der               In einem stringent zusammenfassenden Ka-
Proportion, sondern auch in Bezug auf die               pitel benennt Vogt schließlich »Traditionsbe-
›trias harmonica‹ kategorisiert (53f.); dabei           wusstsein und historische Kontinuität« (165),
arbeitet er auch die Widersprüche in der teils          »Innovation« (170) und »Kompilation« (171) als
inkonsistenten Argumentation Stölzels zur Klas-         die wesentlichen Merkmale der in der Anleitung
sifizierung von Konsonanzen heraus (60). Auf            ausgeprägten Stölzel’schen Musiktheorie.
eine Analyse der »von zugrunde liegenden
Trias-Strukturen« (62) geprägten Perspektive
Stölzels auf Modi und Klauseln folgt eine Dis-
                                                        16   Stölzel geht an dieser Stelle nicht auf typische
                                                             Formen (wie etwa im Falle des doppelt ver-
15   Neben dem Practischen Beweiß (Druck und                 minderten Dreiklangs auf die Verwendung als
     Abschriften) und der Anleitung sind eine »Ab-           übermäßiger Sextakkord) ein. Er bringt aber
     handlung über die Composition« (Konvolut aus            später im Kapitel zum »modernen« Contra-
     Rezitativlehre und einer Satzlehre) sowie zwei          punctus simplex ein vierstimmiges Beispiel mit
     weitere zusammengebundene Traktate (»Kur-               übermäßigem Sextakkord und kommentiert:
     zer und gründlicher Unterricht« (s.u.), und             »Obwohl man ehemals folgenden Satz für un-
     »Von dem ordentlichen und natürlichen Ge-               zuläßig gehalten, so wird er doch heut zu Tage
     brauch der Dissonanzen in Ligatura«) als Ma-            öfters gebraucht, und bestehet darinnen daß
     nuskript erhalten. Der Rezitativtraktat liegt in        seine Basis der Medius Triadis deficientis cum
     Edition und Kommentar von Werner Steger vor             Tertia deficienti ist, als wovon Cap. XX. §. 8 ge-
     (Steger 1962).                                          sagt worden« (271f.).

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BEMERKENSWERTE ASPEKTE IN EDITION                      Bewegungsrichtung und Klauselbildung in
                                                       Abhängigkeit von Textbetonung und Interpunk-
UND KOMMENTAR
                                                       tion erläutert und demonstriert werden – han-
                                                       delt es sich insgesamt um einen sehr wenig
Stölzels Traktat in der kommentierten Edition          redseligen, knappen und kompakten Traktat.
                                                       Häufig sind es gelungene Beispiele 18, die Sach-
Stölzel orientiert sich viel stärker als Fux an der
                                                       verhalte oder satztechnische Entscheidungen
(historischen und gegenwärtigen) Praxis. Es be-
                                                       verdeutlichen, sodass der Text mitunter auf ein
darf weniger der Begründung durch axiomati-
                                                       eher nachahmendes als abstrahierendes Lernen
sche Grundsätze, vielmehr zählt, was in Kompo-
                                                       zielt. 19 Angaben, auf welche Schriften oder
sitionen auftritt und »gut klingt«. 17 Er verlässt
                                                       Theoretiker Stölzel sich bezieht, fehlen, sodass
sich aber nicht allein auf Gewohnheit und
                                                       (referiertes) Tradiertes und (eigenes) Neues
Geschmack, sondern bemüht sich um einen
                                                       nicht auf den ersten Blick voneinander zu un-
modernen Theorie-Anspruch, der sich nicht mit
                                                       terscheiden sind. Sehr hilfreich sind daher
dem Nebeneinander von ›musica theorica‹ und
                                                       Vogts Anmerkungen, die zum einen offen le-
›musica practica‹ zufrieden gibt, sondern das
                                                       gen, wo Stölzel Fux’ Beispiele übernimmt oder
eine aus dem anderen zu begründen sucht.
                                                       variiert 20 und wo er sich auf andere Autoren
Gerade Stölzels Versuche der Analogiebildung
                                                       bezieht, zum anderen Schreibfehler und un-
zwischen alten und neuen Prinzipien wirken
                                                       vollständige Erläuterungen aufklären und auch
jedoch zuweilen etwas bemüht. So bestehe
                                                       Anhaltspunkte für mögliche Vorbilder und
etwa die »Verwandtschaft« zwischen den alten
                                                       Prinzipien hinter den Beispielen geben.
und modernen »Modis« darin, dass beider
Charakteristika jeweils auf die harmonische
und arithmetische Teilung zurückzuführen
seien: Die alten Modi unterscheiden sich durch
die jeweilige Teilung der Oktave (authentisch
vs. plagal), die neuen aber durch die der Quin-        18   Eine besonders schöne Sammlung solcher
te (Dur vs. Moll) (216f.). Auch sonst ist seine             Beispiele findet sich im Kapitel »Von den
Argumentation mitunter gewagt: So untersucht                dreystimmigen Fugen« (334ff.). Hier erweitert
er Beispiele, die für ihn zur Gattung Contra-               Stölzel die knappen Beispiele zur »erdichteten
punctus simplex zählen, und leitet daraus ab,               Clausul« in der Fux’schen Vorlage (Fux/Mizler
dass die dort auftretenden Klänge als konsonant             1742, 131f., Tab. XXIVf.) auf fünf Paragraphen
                                                            zur Kadenzflucht: »Hier kann man auch die
zu betrachten seien (158). Folglich kann sogar
                                                            Cadenzen zierlich ausfliehen, und also wird
der übermäßige Sextakkord als Konsonanz
                                                            nöthig seyn, von dieser Sache […] etwas weit-
gebraucht werden, wodurch wiederum die                      läuftiger zu reden« (ebd., 335). Es folgen zahl-
›trias deficiens cum tertia deficienti‹ aufgewer-           reiche vierstimmige(!) Beispiele für Modulatio-
tet wird (160).                                             nen, Ausweichungen sowie zwischendomi-
    Seine enge Anknüpfung an die kompositori-               nantische und trugschlüssige Wendungen, be-
sche Praxis zeigt sich sowohl in ›aktuellen‹                vor das erste Exempel zur dreistimmigen Fuge
Abschnitten wie dem Rezitativ-Kapitel als auch              unvermittelt zum Fuxʼschen Vorbild zurück-
in der Ähnlichkeit seiner Lehrbeispiele zu eige-            kehrt (ebd., 341).
nen Kompositionen. Obwohl Stölzel gelegent-            19   So bringt Stölzel etwa zur »Brechung« der
lich Vorgehensweisen detailliert erklärt – etwa             gebundenen Dissonanzen im ›Contrapunctus
im Kapitel »Vom Recitativ« (308ff.), in dem                 floridus‹ (298) eine Sammlung typischer Aus-
                                                            zierungsfloskeln, ohne jedoch darauf hinzu-
systematisch metrisch-rhythmische Gestaltung,
                                                            weisen, dass sie in der hier vorgestellten se-
                                                            quenzierenden Anlage stilistisch eher dem Ba-
17   Im Zusammenhang mit Sorges Intervallbegriff            rock als dem 16. Jahrhundert zuzuordnen sind.
     beschreibt auch Holtmeier diese neue Domi-        20   Stölzel überträgt im dreistimmigen Contrapunc-
     nanz der Hörerfahrung und die zu Beginn des            tus simplex die Fuxʼschen Beispiele ohne jegli-
     18. Jahrhunderts in Italien und Deutschland            che Änderung; beim vierstimmigen Contra-
     aus ihr entspringende sensualistische Kritik an        punctus simplex hingegen wird lediglich der
     tradierten musiktheoretischen Kategorien. Vgl.         Cantus firmus übernommen, die anderen drei
     Holtmeier 2017, 191.                                   Stimmen aber neu hinzugefügt.

140 | ZGMTH 16/1 (2019)
REZENSION: FLORIAN VOGT, DIE »ANLEITUNG ZUR MUSIKALISCHEN SETZKUNST«

Kommentar                                               keiten in der Bezifferung zu einer kreativen
                                                        Konzeption der Mittelstimmen anregt.
Da der Kommentar sich auf die »Modernisie-
rungs-Felder« konzentriert, werden andere Teile         ZUSAMMENFASSUNG
(wie etwa Kap. XXVI »De Contrapuncto ligato«)
zwar innerhalb der Edition kommentiert, aber            Vogt hat durch seine sorgfältige editorische
kaum in einen größeren Zusammenhang ein-                Arbeit an Stölzels Traktat ein durchweg über-
geordnet, sodass Verknüpfung und Vergleich              zeugendes Buch vorgelegt. Im bestens struktu-
etwa mit zeitgenössischen Generalbasslehren             rierten Kommentar arbeitet er plastisch die
von den Leser*innen selbst geleistet werden             wesentlichen Neuerungen und Eigenheiten von
müssen. Sehr nützlich sind dafür die Aufschlüs-         Stölzels Theorie einschließlich der zugehörigen
selungen verwandter Begriffe, wie etwa der fast         Begrifflichkeit heraus. Mitunter könnte der
bedeutungsgleichen Termini ›Syzygia‹, ›Con-             Kommentar etwas kompakter sein, einzelne
junctio‹, ›Concentus‹ und ›Harmonie‹ im Ver-            Punkte wirken überausführlich erklärt und
hältnis zum Begriff Akkord (68f). Eine große            manche Wiederholungen und Abbildungen
Bereicherung stellen die Exkurse zur Trias-             wären durchaus entbehrlich. Andererseits soll
harmonica-Lehre des 17. Jahrhunderts und zu             der Text ja auch Leser*innen dienen, die ledig-
Stölzels (Choral-)Harmonisierungslehre aus dem          lich eine Kontextualisierung einzelner Passagen
Manuskript »Kurzer und gründlicher Unterricht           des Traktats suchen. Die gelegentlich auftre-
[…]« 21 dar (36, 126). Letztere ergänzt den ei-         tenden Redundanzen haben also ihre Begrün-
gentlich essentiellen, am wenigsten mechani-            dung in der Zielsetzung des Buches. Ein um-
schen Teils der Harmonisierung, wie man näm-            fangreicher Apparat von Anmerkungen und
lich überhaupt »ordentlicher u. natürlicher wei-        Verweisen bindet die Untersuchung in den
ße« (134) zu einem einfachen, wohlklingenden            aktuellen Kontext der Forschung zur barocken
und harmonisch gedachten Außenstimmensatz               Musiktheorie ein und eröffnet so – bei aller
kommt. Die Veranschaulichung Stölzel’scher              Stringenz und Fokussierung auf den Traktat und
Prinzipien durch die Analyse eines Chorals aus          seinen unmittelbaren Kontext – eine weite
der Brockes-Passion 22 zeigt zugleich, dass die         Perspektive. Vogts treffender und flüssiger
empfohlenen Arbeitsschritte nicht als lediglich         Schreibstil, die klare Verständlichkeit und nicht
propädeutische Übungen zu verstehen sind,               zuletzt ein gutes Lektorat machen das Buch
sondern zu ästhetisch vollgültigen Kompositio-          angenehm zu lesen.
nen führen können (126ff.). Ebenso erhellend
                                                        Almut Gatz
sind detaillierte Untersuchungen einzelner Bei-
spiele, z. B. des nur zweistimmig ausgeführten
»General Bass Exempel« zur Veranschaulichung
der gebundenen Dissonanzen (289). Drei Vor-
schläge Vogts zur drei- und vierstimmigen Aus-
setzung zeigen, wie Stölzel durch Mehrdeutig-

21   Gottfried Heinrich Stölzel (o.D.), Kurzer und
     gründlicher Unterricht, wie ein Liebhaber der
     Music, welcher die Intervalla Musica kennet,
     und durch die Noten aufzuschreiben weiß, in
     einer kurzen Zeit, einen Contrapunctum Sim-
     plicem, doch ohne Sexten, mit vier Stimmen zu
     sezen erlernen kan, Staatsbibliothek zu Berlin,
     Signatur: Mus.ms.theor. 839, f. 1–16v.
22   Die Harmonisierung der ersten Hälfte ent-
     spricht genau der im Lehrbuch vorgestellten,
     viel freier ist dagegen die zweite: mehr Sextak-
     korde, überraschende Nebenstufen, weniger
     eng am Sopran geführte Mittelstimmen (154).

                                                                            ZGMTH 16/1 (2019) | 141
ALMUT GATZ

Literatur
Fux, Johann Joseph (1742), Gradus ad Parnas-            Steger, Werner (1962), G. H. Stölzels »Abhand-
   sum oder Anführung zur regelmässigen mu-                lung vom Recitativ« [Edition und Kommen-
   sicalischen Composition, übers. von Lorenz              tar], Diss., Universität Heidelberg.
   Christoph Mizler von Kolof, Leipzig: Mizler-         Stölzel, Gottfried Heinrich (1725), Practischer
   scher Bücherverlag.                                     Beweiß, wie aus einem nach dem wahren
Heffter, Moritz (i.V.), Die Plejades Musicæ des            Fundamente solcher Noten-Künsteleyen ge-
  Henricus Baryphonus. Edition und Kom-                    setzten Canone perpetuo in hypo dia pente
  mentar, Hildesheim: Olms.                                quatuor vocum, viel und mancherley, Theils
Holtmeier, Ludwig (2017), Rameaus langer                   an Melodie, Theils auch nur an Harmonie,
  Schatten. Studien zur deutschen Musiktheo-               unterschiedene Canones perpetui à 4 zu ma-
  rie des 18. Jahrhunderts, Hildesheim: Olms.              chen seyn. Der Warheit, und einigen Music-
                                                           Freunden zu gefallen, dem Druck überlassen,
Printz, Wolfgang Caspar (1696), Phrynis Mitile-
                                                           von G. H. S., o.O.
   næus, oder Satyrischer Componist, Dresden:
   Miedt und Zimmermann.                                Vogt, Florian (2015), »Gottfried Heinrich Stöl-
                                                          zels Fux-Rezeption. Zur Rolle des ›alten‹
Sprick, Jan Philipp (2009), »Die ›trias harmo-
                                                          Kontrapunkts und der ›trias harmonica‹ in
   nica‹ in der deutschen Musiktheorie des
                                                          der Kompositionsausbildung zu Beginn des
   17. Jahrhunderts. Zwischen Theologie und
                                                          18. Jahrhunderts«, in: Musiktheorie und
   musikalischer Praxis«, in: Musik an ihren
                                                          Komposition. XII. Jahreskongress der Gesell-
   Grenzen: Neue und Alte Musik, hg. von
                                                          schaft für Musiktheorie Essen 2012, hg. von
   Angelika Moths, Markus Jans, John Mac-
                                                          Markus Roth und Matthias Schlothfeldt,
   Keown und Balz Trümpy, Bern: Lang, 369–
                                                          Hildesheim: Olms, 115–126.
   391.

Gatz, Almut (2019): Florian Vogt, Die »Anleitung zur musikalischen Setzkunst« von Gottfried Heinrich Stöl-
zel (1690–1749). Edition und Kommentar, Neumünster. von Bockel 2018. ZGMTH 16/1, 137–142.
https://doi.org/10.31751/1004

© 2019 Almut Gatz (almut.gatz@hfm-wuerzburg.de)
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer
Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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Creative Commons Attribution 4.0 International License.
eingereicht / submitted: 16/04/2019
angenommen / accepted: 11/05/2019
veröffentlicht / first published: 30/06/2019
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2019

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