Nach(t)- schicht - Camerata Bern

 
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Nach(t)- schicht - Camerata Bern
Nach(t)—
schicht
 CAMERATA BERN
 Reto Bieri — Gastgeber, Klarinetten,
 Leitung, Konzept
 Lara Stanic — Audio-Design, Tonspur,
 Radio Nachtschicht
 Markus Güdel — Licht-Design

 Sa 07.05.2022 — 19.30 Uhr
 Theatersaal National, Bern
 Werke von Adams, Golijov,
 Beethoven und Weiteren
                                        1
Nach(t)- schicht - Camerata Bern
Nach(t)schicht
                                                                              7. Abokonzert
                                                                              Reto Bieri – Gastgeber, Klarinetten,          Franz Schubert (1797–1828)
                                                                              Leitung, Konzept                              Nacht und Träume für Zuspielband und
                                                                                                                            stummen Sänger (arrangiert)
                                                                              Lara Stanic – Audio-Design, Tonspur,
                                                                              Radio Nachtschicht
                                                                                                                            Osvaldo Golijov
                                                                              Markus Güdel – Licht-Design                   The Dreams and Prayers of Isaac the Blind
                                                                                                                            für Klarinette und Streichorchester
                                                                              Special Guest: Dieter Thomas Heck –           II Graceful, densely slow – Molto transci­
                                                                              deutscher Hitparade-Moderator                 nato – Raucous

                                                                                                                            John Adams (*1947)
                                                                              George Shearing (1919–2011)                   Hymning Slews aus Shaker Loops
                                                                              Lullaby of Birdland                           für Streichorchester
                                                                              Feierabendstück für Klarinette und
                                                                              ­Streicher arrangiert von Reto Bieri           Heinz Holliger (*1939)
                                                                                                                             Cardiophonie für Klarinette und drei
                                                                              Hildegard von Bingen (1098–1179)              ­Magnetophone (1971)
                                                        CAMERATA BERN
                                                                              O ignis spiritus paracliti für Streicher in
                                                             © Julia Wesely   Paarung arrangiert von Reto Bieri             Osvaldo Golijov
                                                                                                                            The Dreams and Prayers of Isaac the Blind
                                                                              Reto Bieri (*1975)                            für Klarinette und Streichorchester
                                                                              Wiegenlied für Spieldose und Streicher        III K’vakarat – Andante comodo, Allegro
                                                                                                                            pesante; lV Postlude – Lento, liberamente
                                                                              Osvaldo Golijov (*1960)
                                                                              The Dreams and Prayers of Isaac the Blind     Hildegard von Bingen
                                                                              für Klarinette und Streichorchester           O ignis spiritus paracliti
                                                                              I Prelude – Calmo, sospeso/Agitato            Fragment, Klarinette solo

                                                                              Iannis Xenakis (1922–2001)                    Ludwig van Beethoven (1770–1827)
                                                                              Diamorphoses (Ausschnitt) für Tonband         Heiliger Dankgesang eines Genesenen
                                                                              und Lautsprecher                              an die Gottheit, 3. Satz aus dem Streich-
Anstelle der Konzerteinführung vor Ort bieten wir auf                                                                       quartett a-Moll op. 132, Fassung für
unserer Website einen Podcast mit SRF-Musikredaktor                           Reto Bieri                                    Streichorchester
Benjamin Herzog an – auch zum Nachhören.                                      Atemlos, ein Helene-Fischer-Fragment
                                                                              für Streicher in respiratio und Hitparade-    plus AUDIO-EINSPIELUNGEN
Programm ohne Pause.                                                          Moderator, arrangiert von Reto Bieri          passages de nuit

                                                                                                                                                                        3
Nach(t)- schicht - Camerata Bern
Zum Programm                                                                                                                                       durch unseren inneren Weltraum, erle-
                                                                                                                                                       ben die völlige Absurdität heutiger Pop-
                                                                                                                                                       musik – mit Reto Bieri als Hitparadenmo-
                                                                                                                                                       derator – und ganz am Schluss performt
                                                                                                                                                       die CAMERATA BERN mit Heinz Holligers
                                                                                                                                                       Cardiophonie sogar eine offene Operation
    «Aus dem Foyer des Hotel National sind noch fremde Stim-                                             Nach(t)schicht                                am Herz. Diese nimmt durch den Tod des
    men, klirrende Gläser, ein paar heitere Melodien, letzte Tänze                                       Zum Titel kommen wir später. Zuerst sei       Patienten ein tragisches Ende.
    zu vernehmen. Im verlassenen Theatersaal ein Wiegenlied.                                             festgehalten, dass das siebte Abokon-
    Aus der Ferne hört man ein Gebet, stille Schatten, Grillen,                                          zert der Saison ein ganzheitliches Erleb-     Doch mit dem Morgen kommt die Hoff-
    Herum­geflatter. Dann eine allerletzte Meldung aus dem Radio.                                        nis wird – nicht einfach ein Konzert, nein,   nung, hier in Form von Golijovs drittem
    ­Flackernde Fernsehbilder. Der Glockenschlag vom Münster?                                            ein Hörstück.                                 Satz und dem Postlude, die der Auf-
     Ein Herzschlag? Es schweifen die Gedanken. Und schon ist                                                                                          erstehung gewidmet sind. Mit den auf-
     sie da: die Nacht, die in uns alles werden lässt – Tonschicht für                                   Es beginnt bereits im Foyer, auch wenn        steigenden Tetrachorden aus Beetho-
     Tonschicht. Sie kreist uns ein, erzählt im Traum mit Musiken:                                       das Publikum dies möglicherweise nicht        vens feierlichem dritten Satz seines
     von Freuden und Ängsten, biblischen Gestalten, verlorenen                                           bemerken wird. Von dort aus begeben wir       15. Streichquartetts – seiner berühmten
     Weiten, gar bedrohlichen Cardiophonien aus Langenthal.                                              uns auf eine Reise. Sie beginnt bei Feier-    Danksagung an die Gottheit – erscheint
                                                                                                         abend, diesem erlösenden Moment des           am Ende des Abends auch die Morgen-
    Dieser Musikabend widmet sich dem dunklen Bereich unse-                                              Innehaltens nach einem arbeitsreichen         sonne wieder.
    res Lebens: Erscheinungen, Übertretungen, Verwandlungen.                                             Tag. Die Vögel zwitschern und die Trams
    Denn in der Nacht lebt sich aus, was mit dem Verstand nicht                                          fahren noch. Die Bar ist nicht nur im Ein-    Bei dieser Reise ist nicht alles erklärbar,
    zu fassen ist.»                                                                                      gang, sondern auch auf der Bühne.             nicht alles logisch dem Intellekt ent-
                                                                                                                                                       sprungen. Wenn ein Mönch den Abend mit
    Reto Bieri                                                                                           Danach sinken wir in absteigenden Tetra-      Weihrauch segnet, das Ensemble sonnen-
                                                                                                         chorden nach unten, in die Nacht. Die Bar     bebrillt und atemlos durch die Nacht tanzt
                                                                                                         wird zur Kirche und die Kirche zur inneren    oder in weissen Kitteln zum Ärzt:innen-
                                                                                                         Welt, so intim, dass sie sogar Resonanz-      team wird, handelt es sich durchaus auch
                                                                                                         raum für ein Wiegenlied aus der Musik-        um ein bisschen Klamauk. Dieses lautma-
                                                                                                         dose bildet.                                  lerische Wort, dessen Klang seinen Sinn
                                                                                                                                                       besser erklärt als jegliche Umschreibung.
                                                                                                         Hier sind wir im Reich der Erscheinun-
                                                                                                         gen, Übertretungen und Verwandlungen.         Fortsetzung Seite 6  

                                                                                                         Tief in uns ist es aber nicht nur weich,
                 Du fragst mich: was hör’ ich da?                                                        schön und erhaben wie bei Hildegard von
                 Ich sage Dir: es ist die Nacht! – Shut your eyes and hear.*                             ­Bingen, sondern auch wild und surreal:
                                                                                                          Wir lauschen in The Dreams and Prayers
                 *«Shut your eyes and SEE», lässt James Joyce im Ulysses Stephen Dedalus denken, bevor
                                                                                                          of Isaac the Blind Osvaldo Golijovs Aus-
                 dieser die Dunkelheit als ideale Umgebung eines selbstvergewissernden Sehens erkennt:    einandersetzung mit Gott (dazu kommen
                 «I am getting on nicely in the dark.»                                                    wir später), driften mit Iannis Xenakis
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                                                                                                                                                                                                 5
Nach(t)- schicht - Camerata Bern
Es ist nicht zu übersehen, nicht zu über-                                                  kulieren kann. Die Bilder sind latent noch
hören: Reto Bieri, der Gastgeber dieses                                                    da, in Fetzen und Ausschnitten, und auch
besonderen Abends, mag Klamauk. Er                                                         einige Gefühle bleiben haften. Aber es ist
sprudelt vor Ideen, die er mit detail-       Zuerst sei die Frage erlaubt: Weshalb         nicht mehr möglich, den Handlungsstrang      Einerseits ist hier Golijov, dessen Streich-
reichen Beschreibungen und glänzen-          denn Nachtschicht? Steht dieser Aus-          zu rekonstruieren.                           quartett mit Klarinette The Dreams and
den Augen in den Saal hinein entwirft.       druck nicht für das genaue Gegenteil des                                                   Prayers of Isaac the Blind – von anderen
Die Zuschauer:innen werden hier Teil         Traumes, nämlich für Arbeit? «Ja, aber ein    In diesem Sinne ist das heutige Konzert,     Stücken, Klängen und Ideen unterbro-
des Bühnenbildes, und die Musiker:in-        Traum kann doch auch Arbeit sein», erwi-      als Nachtschicht gelesen, die Perfor-        chen, unterwandert und unterstützt – uns
nen spielen auch mal vom Balkon aus.         dert Bieri und erzählt von seinem gestri-     mance eines Traumes. Die verschiede-         durch den Abend begleitet. Golijov selbst
Zugrunde liegt dem Ganzen eine Partitur,     gen Traum, der unendlich anstrengend, ja      nen Musikstücke bilden die Fetzen und        meint dazu: I wanted Dreams and Prayers
die ihresgleichen sucht, mit wunderbaren     gar verängstigend gewesen sei. «Nacht-        Ausschnitte der zu verarbeitenden Ein-       to achieve a certain resignation, and I just
Zeichnungen, detailreichen Erklärungen       schicht ist Traumarbeit, wie Freud bereits    drücke und entziehen sich dadurch der        wasn’t able to do it. What was supposed to
und den entsprechenden Stimmungsbil-         gesagt hat, weil wir doch auch im Traum       üblichen konzertanten Ordnung. Die Logik     be beautiful and static came out stormy.
dern. Aber mehr noch als seine lebhafte      arbeiten müssen.»                             entsteht, dem Traum gleich, durch asso-      But you have to be who you are, and part of
Imagination beeindruckt die Begeisterung                                                   ziative Zusammenhänge und einzelne           being Jewish is arguing with God.
für seine Programme. Bieri redet mit der     Tatsächlich, wie die Psychotherapeutin        Gedankenstränge, wie mehrere Fäden, die
Freude eines Kindes und der Genialität       Dunja Voos geschrieben hat: Traumarbeit       sich ineinander verflechten und erst beim    (Ich wollte mit Dreams and Prayers eine
eines Meisters, und dies ist die beste       ist nach Sigmund Freud das, was der Schlä­    Erwachen ein greifbares Bild ergeben. Der    gewisse Resignation erreichen, aber ich
aller Kombinationen für einen einzigarti-    fer im Schlaf aus seinen unbewussten          latente Traum wird Stück für Stück zum       schaffte es nicht. Was schön und statisch
gen Abend. Glauben Sie mir: Das wollen       Wünschen, Ängsten, Konflikten, Erinnerun­     manifesten Konzert, die Verarbeitung des     hätte sein sollen, kam stürmisch heraus.
Sie sich nicht entgehen lassen!              gen, Sinneseindrücken, Empfindungen und       Schlafenden passiert vor unseren Augen.      Aber du musst der sein, der du bist, und
                                             Gefühlen macht: einen Traum. Sogenannte       Der Frust über die Unfähigkeit, die laten-   jüdisch sein bedeutet unter anderem auch,
Nachtschicht                                 «latente Traumgedanken», also unbewus­        ten Traumgedanken in einen manifesten        mit Gott zu diskutieren.)
Nun zum Titel dieses Konzertabends, oder     ste Gedanken, werden in einen «manifes­       Traum überführen zu können, bleibt uns
zumindest zur einen Lesart.                  ten Traum» übersetzt, den man später          für diese Performance der Nacht glück-       Der Komponist diskutiert also mit Gott
                                             auch erzählen kann. Die Umwandlung der        licherweise erspart: Als wache Zuhörende     und beruft sich dabei auf Isaak den Blin-
Dieses Konzert ist eine Huldigung der        latenten Traumgedanken in einen manifes­      werden wir alle viel von der Nachtschicht    den, der im 13. Jahrhundert als jüdischer
Nacht in ihrer ganzen Länge und in all       ten Traum ist die «Traumarbeit».              erzählen können.                             Gelehrter in der Provence wirkte. Während
ihren Facetten, Lärm und Ruhe, Euphorie                                                                                                 Golijov in seinem Stück dieser Blindheit
und Entspannung, Angst und Geborgen-         Traumarbeit ist also nicht nur Verarbei-      Im Kern                                      einen künstlerischen Wert gibt, weil die
heit. Der wichtigste Teil des Abends –       tung, sondern auch Artikulation des Verar-    Aber natürlich sind diese Show, die Stim-    besten Streichquartette sich seiner Mei-
gewissermassen nach Feierabend und vor       beiteten, sie ist dieser schwierige, zweite   mung, die Bilder und das Theater wunder-     nung nach im übertragenen Sinne durch
Morgengrauen – gilt aber nicht der Nacht     Schritt. Wie frustrierend es doch ist, wenn   bare Nebensachen, um die Hauptattrak-        die Musik blind miteinander und dem
selbst, sondern ihrem wichtigsten Kom-       man am Morgen aufwacht und weiss, dass        tion des Abends zu umrahmen: die Musik.      Publikum verständigen können, werden
plizen: dem Traum. Er wird hier assozia-     man im Traum mindestens drei Mal um die       Und der Kern dieser Hauptattraktion liegt    wir heute daran erinnert, dass auch wir im
tiv dargestellt, überlappend, in Schichten   Welt gereist ist, die grössten Siege und      in zwei wunderschönen Werken, in denen       Schlaf blind sind und nur uns selbst beim
eben, aber hierzu später mehr.               tragischsten Niederlagen erlebt hat, vor      sich beide Komponisten auf unterschied-      Fantasieren zusehen können.
                                             Spannung geladen und mit Wonne erfüllt,       liche Art mit dem Spirituellen auseinan-
                                             aber all diese Erlebnisse nicht mehr arti-    dersetzen.                                   Fortsetzung Seite 8  
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                                                                                                                                                                                   7
Nach(t)- schicht - Camerata Bern
der Oberfläche, und die Klarinette wird                                                   Quartetts erklingt das Anfangsthema
                                              stellenweise nochmals laut und leiden-                                                    erneut, diesmal mit innigster Empfindung
                                              schaftlich. Sie erhält von den Streichern                                                 vorgetragen. Damit ist die Nacht definitiv
Golijov erkennt in seinem Werk drei Spra-     aber keine Hilfe mehr. Ihre Melodien wer-    Vielleicht dachte Golijov an dieses          dem neuen Tage gewichen.
chen, die die jüdische Gemeinschaft in        den dadurch immer melancholischer, ein-      Streichquartett, als er von statischer
ihrer Geschichte gesprochen hat: das          samer, nachdenklicher. Am Ende bleiben       Musik sprach. Zumindest sind es die ers-     Nachschicht
Prélude und der erste Teil in Aramäisch,      die langgezogenen Töne der Streicher         ten Töne der Danksagung, die, wegen der      Wer diesem Text bis hierhin gefolgt ist,
der zweite Teil in Jiddisch und der dritte    wieder alleine stehen.                       lydischen Tonart an einen Choral erin-       wird jetzt nochmals belohnt: Denn wir
Teil und Postlude in Hebräisch. In feinen                                                  nernd, tatsächlich eine statische Erha-      kommen zum Schluss nochmals zum
Zwischentönen wird dabei immer wie-           Wo Golijov aufhört, beginnt bald das         benheit erzeugen. Minutenlang bilden die     Titel, oder besser gesagt zu seiner zwei-
der spürbar, dass Golijov eben nicht nur      zweite Kernstück des heutigen Abends,        Streichinstrumente bei gleichbleibendem      ten Lesart.
jüdischer Abstammung ist, sondern auch        das zugleich sein Ende darstellt. Auch       Rhythmus eine perfekte harmonische
in Argentinien aufwuchs, und damit der        dieses entsteht aus einer spirituellen       Einheit, nur die Intensität variiert.        Dieser wird ohne Klammer zur Nach-
Tango unweigerlich Teil seines musikali-      Auseinandersetzung des Komponisten                                                        schicht. Ein Stück ‹nach Schichten›, mit
schen Denkens wurde.                          mit dem Übersinnlichen. Beethoven, der        Doch dann, nach vier Minuten des Stau-      einer Schicht auf, neben, unter, zwischen
                                              sich im Mai 1825 wegen seinen diver-          nens und Sinnierens, kommt der Durch-       der anderen. Unter dem Spassigen, Lau-
Durch diese vielseitigen Einflüsse ent-       sen wiederkehrenden gesundheitlichen          bruch, von Beethoven mit neue Kraft         ten und Surrealen, unter all dem Klamauk
stand also dieses Werk, offenbar weder        Beschwerden in Baden bei Wien zur Kur         ­fühlend überschrieben, und der Genesene    treten also andere Schichten hervor. Reto
statisch noch schön, sondern vor allem        befindet, weiss, wie schlecht es um ihn        springt frohlockend von seinem Kranken-    Bieri wird hier nochmals nachdrücklich
stormy. Wir hören der Klarinette zu, die      gestanden hat. Als es ihm wieder bes-          bett auf und tanzt noch im Spitalhemd      und emotional, diesmal nicht aus Freude
uns Geschichten erzählt von wilden Lei-       ser geht, widmet er seinem Doktor nicht        durch die Morgensonne. Leider wurde        an der künstlerischen Gestaltung, son-
denschaften und langen, durchtanzten          nur einen Kanon mit den Worten «Doktor         Beethoven schon während des Kompo-         dern, weil er auch andere Gedanken, Ideen
Nächten; sie tritt in Dialog mit der Geige,   sperrt das Thor dem Todt, Note hilft auch      nierens in Baden von diversen Beschwer-    und Anliegen in diesem Abendprogramm
die sich durch schräge, schnelle Tonab-       aus der Not». Er komponiert auch den           den wieder eingeholt. Vielleicht kommt     verarbeitet hat. Sein inniger Wunsch ist,
folgen schrammt, um immer wieder neue         dritten Satz seines 15. Streichquartetts       es daher, dass bei diesem Stück jedes      dass sich am Schluss des Abends das
Momente der musikalischen Ekstase zu          und versieht diesen mit dem Zusatz: Hei­       Mal bei Euphorie die Melancholie nicht     Publikum nicht nur gut unterhalten hat,
erzeugen. Während von Statik also tat-        liger Dank­gesang eines Genesenen an die       weit weg ist, ein Wechselbad der Gefühle   sondern dieses Gefühl entsteht: Doch,
sächlich nicht die Rede sein kann, sind       Gottheit, in der lydischen Tonart. Er ver-     von atemberaubender musikalischer          was hier dargestellt wurde, das bewegt
andere Teile des Werks so schön, dass es      arbeitet also musikalisch die Erleichte-     ­Schönheit.                                  etwas in mir, worüber ich nachdenken
wehtut. Gerade, wenn die Klarinette dem       rung, nochmals mit dem Leben davonge-                                                     möchte. Der heutige Abend geht auch
Ton im zweiten Teil genug Platz einräumt,     kommen zu sein.                              Egal ob Euphorie oder Melancholie: Im        mich etwas an.
um auch dem Schmerz eine Gestalt zu                                                        heutigen Konzert markiert das Stück
geben, ist es genau diese Leidenschaft                                                     unüberhörbar das Ende der Nacht. Beet-       Fortsetzung Seite 10  

und storminess, die das Werk zur perfek-                                                   hoven gelingt neben dieser eleganten
ten Gesamtkomposition macht.                                                               Form des Dankes ganz nebenbei auch
                                                                                           noch die perfekte Vertonung eines Son-
Mit einem ruhigen dritten Teil – dem Teil                                                  nenaufgangs, dieses Spektakel, das trotz
der Auferstehung – schliesst sich der                                                      des langsamen Tempos eine einzigartige
Kreis. Es brodelt zwar weiterhin unter                                                     Dramatik entwickelt. Am Ende dieses
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Biografien
                                              bestimmen kann, was ich machen will,            Reto Bieri – Gastgeber, Klarinetten,
                                              oder nur zu sehr kleinen Teilen. Die meis-      Leitung, Konzept
                                              ten Eindrücke und Informationen dringen
 Im Zentrum steht bei diesem Programm         auf mich ein, ohne dass ich darüber ent-        Der Schweizer Klarinettist und Improvi-
 also das Phänomen der Verschränkung:         scheiden kann.» Wer jetzt denkt, dass           sator Reto Bieri ist seit über 20 Jahren
 über Xenakis kommt Golijov kommen            dies eine typische Krankheit der Genera-        als Solist und Kammermusiker unter-
 Schubert und Beethoven, genauso, wie         tion Smartphone darstelle, dem sei ent-         wegs. Gegenwärtig sorgt er als ehemali-
 wir auch im Alltag immer gleichzeitig        gegengehalten, dass Bieri natürlich kei-        ger Intendant mit seinen ausgetüftelten
 und überlappend mit mehreren Schich-         nes hat. Vielleicht genau deswegen.             und poetischen Themenabenden «à la
 ten von Informationen, Ideen, Gedanken                                                       DAVOS FESTIVAL» in Kooperation mit ver-
 und Eindrücken konfrontiert sind. «Mich      Gleichzeitigkeit ist bei diesem Abend-          schiedenen Kammerorchestern und in
 fasziniert an der Musik, dass sie die ein-   programm also nicht nur im Inhalt zu fin-       Zusammenarbeit mit langjährigen Kam-
 zige Kunst ist, die diese Gleichzeitigkeit   den, in der Gleichzeitigkeit von Traum und      mermusikpartner:innen – allen voran mit
 darstellen kann. Durch die Augen sehen       ­Wirklichkeit, von Heiligkeit und Profanität,   der Violinistin Patricia K
                                                                                                                       ­ opatchinskaja –
 wir immer nur eines nach dem anderen.         von Witz und Wahnsinn oder in der Form,        für frischen Wind in der klassischen
                                                                                                                                                    Reto Bieri
 Und auch, wenn wir im Alltag glauben,         in der Gleichzeitigkeit von Pop, Klassik,      Musikszene. Reto Bieri ist als Musiker                © Marco Borggreve

 beim Multitasking mehrere Dinge gleich-       Klezmer und Choral. Sie widerspiegelt          regelmässig zu Gast bei renommierten
 zeitig erledigen zu können, konzentrieren     sich auch im Programm als Gesamtkom-           Orchestern, verschiedenen Festivals und
 wir uns neurologisch gesehen lediglich in     position, in der Gleichzeitigkeit von Kla-     bekannten Institutionen. Beim Münchener      Schriftsteller Gerhard Meier, dem Musiker
 schneller Abfolge auf eine Aufgabe nach       mauk und Tiefgang, von Leichtigkeit und        Kult-Label ECM erscheinen seine CD-Auf-      Eberhard Feltz und dem Clown Dimitri.
 der anderen. Klang aber kann sich über-       Schwermut, und vor allem auch in der           nahmen, zuletzt das hochgelobte Album
 lagern, Musik kann gleichzeitig stattfin-     Gleichzeitigkeit von Unterhaltung und          «quasi morendo» zusammen mit dem              Von 2013 bis 2018 war Reto Bieri In­ten­
 den», erklärt Bieri.                          berauschender musikalischer Ästhetik.          meta4 Streichquartett aus Finnland.          dant des DAVOS FESTIVAL – young artists
                                                                                                                                           in concert. Von 2012–2022 unterrichtete
 Diese Gleichzeitigkeit in Schichten bringt   Hannah Plüss                                    Aufgewachsen ist Reto Bieri mit Schwei-      er als Professor für Kammermusik an der
 aber auch mit sich, dass man sich im All-                                                    zer Volksmusik. Nach wichtigen Erfahrun-     Hochschule für Musik in Würzburg. 2022
 tag vieler Eindrücke nicht verwehren                                                         gen als Tanzmusiker in Wirtshäusern und      folgte dann der Ruf an die Hochschule
 kann. Das Radio in der Lobby, das Stim-                                                      einer Ausbildung zum Grundschullehrer        für Musik und Theater München, wo er
 mengewirr im oberen Stock, der Lärm der                                                      studierte er zunächst an den Musikhoch-      ­seitdem als Professor für Kammermusik
 Strasse, all diese Bruchstücke des Lebens                                                    schulen von Basel und Zürich, später          tätig ist. Er lebt mit seiner Familie abge-
 dringen zu uns allen durch, ob wir wollen                                                    dann an der berühmten Juilliard School of     schieden in den Schweizer Bergen im Ber-
 oder nicht. Bieri formuliert das so: «Man                                                    Music in New York. Wesentlich beeinflusst     ner Oberkand.
 wird für etwas interessiert», im Passiv.                                                     wurde er durch den Komponisten György
 «Ich finde das bedenklich, dass ich nicht                                                    Kurtág und die Begegnungen mit dem           Fortsetzung Seite 12  
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                                                                                                                                                                                      11
Lara Stanic – Audio-Design,
 Tonspur, Radio Nachtschicht

 Lara Stanic ist Musikerin, Komponistin,   Lara Stanic ist als Komponistin und Per-
 Performance- und Medienkünstlerin.        formerin in den Bereichen zeitgenössi-
                                           sche Musik, Musiktheater, Klangkunst
 Sie studierte klassische Musik an der     und Performance Art tätig. Die Verbin-
 Musikhochschule Zürich und an der         dung von elektronischen und digitalen
 Hochschule Musik und Theater Bern/        Medien mit dem Körper des Musikers
 Biel. Anschliessend folgten das «Offene   sowie Konzert- und Interpretensitua-
 Musikdiplom» mit Schwerpunkt Neues        tionen sind häufige Themen ihrer perfor-
 Musiktheater sowie das Diplom in elek-    mativen Arbeiten. In den Experimenten
 tronischer Musik an der Hochschule der    mit Elektronik versucht sie, der Technik
 Künste in Bern.                           verspielte, poetische Wirkung abzuge-
                                           winnen. Ihre Arbeiten führt sie an Musik
                                           und Performance Art Festivals im In- und                                                          Markus Güdel
                                           Ausland auf.                                                                                      © Philippe Stutz

                                                                                      Markus Güdel – Licht-Design

                                                                                      Der Luzerner Markus Güdel (*1983) ist       2003 gründete er die Lichttechnikfirma
                                                                                      seit 2003 als gefragter freischaffender     light.vision Lichttechnik GmbH und ist
                                                                                      Lichtdesigner in der gesamten Schweiz       dort seither als Geschäftsführer und
                                                                                      tätig. Sein fundiertes Wissen über die      Projektleiter tätig. Neben seiner kultu-
                                                                                      Beleuchtung von komplexen Bühnenpro-        rellen Tätigkeit berät und vertritt er seit
                                                                                      jekten baut der geigenspielende Autodi-     Herbst 2015 als Rechtsanwalt unter dem
                                                                                      dakt in jahrelanger beruflicher Tätigkeit   Label kulturjurist.ch Kulturschaffende
                                                                                      immer weiter aus. Aus der Zusammen-         rund um Rechtsfragen im Kulturbereich.
                                                                                      arbeit mit zahlreichen Regisseuren und
                                                                                      Dramaturgen heraus verfestigte er sein
                                                                                      Wissen über die Möglichkeiten, mit Licht
                                                                                      Räume und Emotionen zu schaffen. Seine
                                                                                      künstlerische Tätigkeit findet Eingang in
                                                                                      die Lichtgestaltung und technische Lei-
 Lara Stanic
                                                                                      tung bei Musicals, Theater-, Konzert-
 © Kathrin Schulthess                                                                 und Crossover-Projekten.

                                                                                                                                                                            13
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CAMERATA BERN
     1. Violine                                 Viola
     Suyeon Kang (Leitung)                      Anna Puig Torné
     Simona Bonfiglioli                         Alejandro Mettler
     Lily Higson-Spence                         Friedemann Jähnig
     Mascha Wehrmeyer
                                                Cello
     2. Violine                                 Thomas Kaufmann
     Michael Brooks Reid                        Gabriel Wernly
     Christina Merblum Bollschweiler
     Vlad Popescu                               Kontrabass
     Simone Roggen                              Käthi Steuri

     Impressum

     Redaktion: CAMERATA BERN                                       CAMERATA BERN
     Lektorat: Seidel – Lektorat & Text, Bern                            © Julia Wesely

     Gestaltung: diff. Kommunikation AG, Bern
     Druck: Tanner Druck AG, Langnau

     Änderungen vorbehalten.

     Danke

                                                                                      15
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Nächstes Konzert
Wohin aber gehen wir

Samstag, 4. Juni 2022 — 17.00 Uhr
Bern, Zentrum Paul Klee
—
Suyeon Kang – Leitung und Violine

Gabrielle Brunner – Konzept und
Composer in Residence

Werke von Henze, Brunner, Schubert
und Weiteren

Weitere Informationen
finden Sie unter

cameratabern.ch
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