Nachrichten für Filmschaffende - Berufsverband Kinematografie

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Nachrichten für Filmschaffende - Berufsverband Kinematografie
427 | 19. Juli 2018

 Nachrichten für Filmschaffende

herausgegeben von Peter Hartig, Oliver Zenglein und Vincent Lutz
Nachrichten für Filmschaffende - Berufsverband Kinematografie
427 | 19. Juli 2018                                                                                        Kamerafrauen | 2

Drei Kamerafrauen, drei Generationen, drei Bereiche – und doch haben Caroline Rosenau, Ulla Barthold und Julia Schlingmann (von links)

sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Mit ihrem Seminar wollen sie mit Vorurteilen aufräumen und mehr Frauen für die Filmarbeit an der

Kamera begeistern.

Frauen hinter der Kamera
Wenn über Gleichberechtigung im Film gesprochen wird, geht es meist um Regie, Drehbuch oder
Schauspiel. Noch schwerer wird es allerdings den Kamerafrauen gemacht. Drei von Ihnen
versuchen nun, mit Seminaren, die Probleme ins Bewusstsein zu bringen und Lösungen zu fi nden.

Text Peter Hartig

Titel: Julia Schlingmann | Foto: Alex Böhle
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Frau Rosenau, »Frauen haben es in unserem              temberg ziehen etliche Kamerafrauen nach Ber-
Berufsfeld schwer«, hat der Berufsverband Ki-          lin, Köln oder München – weil dort schon mehr
nematografi e (BVK) noch vor zwei Jahren er-           möglich ist, oder sie ziehen sich unter Umstän-
klärt. Rund 300 Directors of Photography zählte        den ganz zurück.
der Verband damals zu seinen Mitgliedern, ge-          Das wollen Sie nun ändern?
rade mal 18 davon waren Frauen. Inzwischen ist         Caroline Rosenau: Wir sind drei Kamerafrauen
die Diskussion um Quoten lauter geworden –             und drei Generationen aus drei verschiedenen
hat sich etwas geändert?                               Bereichen, die dennoch sehr ähnliche Erfahrun-
Caroline Rosenau: Leider nicht wirklich . Es ar-       gen gemacht haben – und bis heute machen.
beiten immer noch zu wenige Frauen an der Ka-          Ulla Barthold ist seit mehr als 30 Jahren freibe-
mera.                                                  rufliche Kamerafrau und Dozentin. Julia Schling-
Vor zehn Jahren schienen es aber noch weniger.         mann hat an der Filmakademie Baden-Würt-
Caroline Rosenau: Das stimmt. Bis zu den Posi-         temberg Bildgestaltung studiert und arbeitet als
tionen Kameraassistenz und 2. Kamera geht es           Kamarafrau. Sie ist seit diesem Jahr im Vorstand
inzwischen einigermaßen. Aber ganz oben wird           des BVK. Ich selbst arbeite seit 2001 als freiberuf-
die Luft sehr dünn. Die Branche ist eh schon ein       liche Kamerafrau und Filmeditorin und unter-
hart umkämpfter Markt, gerade wenn es um die           richte. Wir möchten die Frauen im »techni-
gut budgetierten Projekte geht. Da ist es für          schen« Bereich sichtbarer werden lassen.
Frauen noch mal doppelt so schwer, einen Fuß           Werden Sie schon gesehen?
in die Türe zu bekommen. Die meisten Kamera-           Ulla Barthold: Wir stehen ja noch am Anfang.
frauen drehen Dokumentarfilm oder man be-              Ende vorigen Jahres hatten wir auf der Setup Me-
gegnet ihnen all zu oft im Low-Budget-Bereich.         dia im Rahmen der Filmschau Baden-Württem-
Bei den großen Spielfilmen finden Sie sie nur sel-     berg unser Seminar »Frauen hinter der Kamera –
ten.                                                   Ein Minority Report« zum ersten Mal gehalten.
Und dann meist, wenn die Regie auch eine Frau          Darin räumen wir mit Vorurteilen auf, klären auf
führt …                                                und analysieren die momentane Situation von
Ulla Barthold: Ja, aber das wollen wir eben nicht.     Frauen, die in den männerdominierten Gewer-
Die Anfrage »Wir hätten da einen ›Frauendreh‹«         ken tätig sind.
oder »Jetzt bräuchten wir mal eine Kamerafrau«         Caroline Rosenau: Das Seminar besteht aus drei
zum Beispiel für Sendeanstalten oder Produk-           Teilen: Ich eröffne mit Zahlen und Fakten. Julia
tionsfirmen ist nicht unüblich ...Was immer das        Schlingmann schildert die Berufssituation erst
heißen soll – der Begriff fällt leider immer noch zu   allgemein und geht dann auf die Besonderheiten
oft, und verrät eine unbewußte Einstellung. Es         für Frauen ein, etwa die Vereinbarkeit von Fami-
wird zwar viel über Quoten gesprochen, aber            lie und Beruf. Und Ulla Barthold steuert auch
wenn es um die Besetzung der Bildgestaltung            ihre eigenen Erfahrungen aus den 1980er Jahren
geht, sind Kamerafrauen oft nicht auf dem Radar.       bei (damals gab es schon den Verband der Film-
Immer noch?                                            arbeiterinnen) und spannt den Bogen zur Jetzt-
Julia Schlingmann: Es hat sich nicht so viel ver-      zeit.
ändert seit den 1980er-Jahren, das sehen wir in        Ulla Barthold: Spätestens an diesem Punkt wur-
unserem unmittelbaren Umfeld. In Baden-Würt-           de in der anschließenden Diskussion mit jungen
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                                                »Im Wesentlichen hat sich nicht sehr viel geändert.« Ursula

                                                Barthold arbeitet seit den 1980er-Jahren als Bildgestalterin von

                                                Dokumentar-, Experimentalfi lmen und Videokunst. Seit 30 Jahren

                                                gibt sie ihr Wissen als Dozentin an Hochschulen weiter und ist

                                                Honorarprofessorin am Institut für Musik und Medien der Robert-

                                                Schumann-Hochschule Düsseldorf.

Fotos: Ursula Barthold [2] | Caroline Rosenau
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Kamerafrauen klar, dass sich im wesentlichen           sich schon allein wegen der körperlichen Unter-
nicht sehr viel geändert hat.                          schiede doch eher für einen Mann bei der Beset-
Julia Schlingmann: Voriges Jahr haben sich Ka-         zung des Kamerapostens entscheiden … Er
merafrauen aus den deutschsprachigen Ländern           meinte es gar nicht böse – die alten Denkstruktu-
zu einem großen Netzwerk der Cinematogra-              ren dauern weiter. Der Kollege war Mitte/Ende
phinnen zusammengeschlossen. Die Initiative            30. Das ist ein sehr plakatives Beispiel, ist aber ei-
dazu kam von Birgit Gudjonsdottir. Es sind sofort      nes von vielen Vorurteilen um die Frau hinter der
sehr viele Kamerafrauen aktiv geworden. Die            Kamera.
Zeit dafür war wirklich reif. Wir sind ebenfalls da-   Julia Schlingmann: Es geht um das Berufsbild
bei und unterstützen unsere Anliegen gegensei-         selbst, welches extrem männlich konnotiert ist.
tig.                                                   Die Attribute, die einem Kameramann zuge-
Ausschließlich für den Bereich Kamera?                 schrieben werden, sind in der stereotypischen
Ulla Barthold: Das ist unser Erfahrungsbereich.        Wahrnehmung sehr viel positiver besetzt als die
Aber wir wollen im Prinzip Frauen in allen Ge-         der Kamerafrau. Ein guter Kameramann gilt als-
werken erreichen und tun das auch. Zusammen            verantwortungsvoll, fokussiert, stark und tech-
mit unseren Kolleginnen und Kollegen suchen            nisch versiert. Diese Attribute werden einer Ka-
wir nach Möglichkeiten, die berufliche Situation       merafrau sehr viel weniger zugesprochen bis hin
von Frauen hinter der Kamera mittel- und lang-         zur umgekehrten Wahrnehmung.
fristig zu verbessern. Darum soll das auch keine       Caroline Rosenau: Es hat schon ziemlich lange
einmalige Sache bleiben. Wir entwickeln die ein-       gedauert, bis der Begriff »Kamerafrau« ange-
zelnen Module weiter – insbesondere auch in            nommen wurde. Bei einem Dreh für den ORF
Richtung Coaching und Verhandlungstraining.            wurde ich zum Beispiel den ganzen Dreh durch
Auf der nächsten Setup Media im Dezember               »Kameramännin« genannt. Andere haben erlebt,
wird unsere Kollegin Julia Schlingmann als DoP         dass der Regisseur seine Anweisungen lieber an
zusammen mit ihrer Kollegin Selena Dolderer als        ihren männlichen Assistenten gibt …
Master of Science in Arbeits- und Organisations-       Ulla Barthold: Und nehmen wir die Zeitschrift
psychologie erstmals ein Anti-Bias-Seminar hal-        Film & TV Kamera: Der »Kameramann« im Titel
ten.                                                   ist erst seit der Dezemberausgabe 2017 vom Ti-
Darin geht es um die unbewußten Vorurteile?            telblatt verschwunden.
Julia Schlingmann: Ganz recht. Und eben dar-           Noch ein Vorurteil: Film ist Krieg, Frauen liegt
um, diese bewusst zu machen.                           die harte Nummer nicht so.
Also dass Frauen für den Kameraberuf nicht ge-         Caroline Rosenau: Ja, es ist schon ein Hauen und
eignet seien, weil doch die Ausrüstung so              Stechen da draußen, und wir treten da vielleicht
schwer ist?                                            anders auf, aber wir können auch hart verhan-
Caroline Rosenau: Zum Beispiel. Erst neulich           deln. Ich habe auch mit ziemlich toughen Regis-
meinte ein Kollege, bei Einstellungen vom Stativ       seurinnen und Redakteurinnen gearbeitet. Und
oder Dolly bestehe kein Zweifel, ob man hierfür        ich kenne auch weiche männliche Kollegen.
eine Kamerafrau einsetzt. Sobald aber Aufnah-              Wenn man aber als Frau am Drehort an-
men mit einem Gimbalsystem, Steadicam oder             kommt, ist mir leider schon die Aussage unterge-
gar ein Schulterdreh im Raum stehen, würde er          kommen »Da ist ja das Hasi!«. Das war sicherlich
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»Die Frauenquote löst Kontroversen aus.

Es gibt auch Kamerafrauen, die sagen,

ich möchte nicht durch eine Quote Erfolg

haben, sondern durch Qualität. Dennoch

muss man anerkennen, dass es keine

Chancengleichheit gibt. Die Quote ist

eine Möglichkeit, alle Wettstreiter an die

gleiche Startlinie zu stellen.« Julia

Schlingmann kam 2002 zum Film. Nach

dem Studium an der Filmakademie

Baden-Württemberg arbeitet sie seit fünf

Jahren als Kamerafrau. Seit diesem Jahr

ist sie im Vorstand des Berufsverbands

Kinematografi e (BVK).

Fotos: Julia Schlingmann
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nicht böse gemeint, aber so wirklich gut finde ich   lichkeit, quasi alle Wettstreiter sofort an die glei-
das nicht. Man bekommt da einfach den Ein-           che Startlinie zu stellen. Das wäre ein traumhaf-
druck, dass man als Kamerafrau oft einfach nicht     tes Szenario auch für mich. Etwas, das flächen-
für voll genommen wird.                              deckende Anti-Bias-Trainings erst in vielen Jah-
   Du musst dich beweisen, das muss jeder, aber      ren schaffen würden.
als Frau steht man da einfach noch mehr auf          Caroline Rosenau: Erst im Juni hat es Belinde
dem Prüfstand, als das eh schon der Fall ist. Da-    Ruth Stieve in ihrem Blog [Link am Ende des Ar-
bei finde ich nicht, dass Frauen besser sein müs-    tikels, Red.] vorgezählt: Von bislang 21 Tatorten in
sen.                                                 diesem Jahr hatten vier eine Regisseurin …
Drittes Vorurteil: Frauen machen andere Bilder       … immerhin fast die 20 Prozent, die oft als er-
als Männer.                                          stes Zwischenziel auf dem weg zur Chancen-
Caroline Rosenau: Welche Frau und welchen            gleichheit angegeben werden.
Mann meinen Sie? Man glaubt gerne, dass Frau-        Caroline Rosenau: Aber keiner davon hatte eine
en anders drehen als Männer – ich zumindest          Frau an der Kamera. Das gilt übrigens auch für
könnte einem Film nicht ansehen, ob den eine         den Ton, und an den Drehbüchern schrieben
Frau fotografiert hat oder ein Mann. Doch das        auch nur zu 7 Prozent Frauen.
Vorurteil ist da: Frauen machen einfühlsamere        Beim Studium von Regie und Drehbuch ist das
Bilder, sind also gut für »Frauenthemen«. Man        Verhältnis zwischen den Geschlechtern aller-
traut ihnen zum Beispiel äußerst selten eine         dings auch etwas ausgeglichener. Bei der Bild-
Werbung zu – ich kenne nur wenige Kolleginnen        gestaltung ist nur ein Viertel der Absolventen
in diesem Feld. Und so finden wir etwa beim Ki-      weiblich. Bei den unbewegten Bildern, also der
nospielfilm nur die paar bekannten Namen, bei        Fotografi e, haben Frauen nicht solche Berüh-
den Fernsehfilmen aber schon kaum mehr.              rungsängste.
Obwohl seither ausführlich über Chancen-             Caroline Rosenau: Wenn es um Redakteurs-
gleichheit in der Branche diskutiert wurde und       posten geht, auch nicht. Sobald wir aber zu den
sich Sender und Förderer vollmundig für eine         sogenannten technischen Berufen kommen, än-
Frauenquote stark machen?                            dert sich das Bild. Zeitgleich zu unserem Semi-
Julia Schlingmann: Die Frauenquote löst Kontro-      nar auf der Filmschau Baden Württemberg in
versen aus. Sie hat mindestens so viele Gegner       Stuttgart wurde ein Seminar und Diskussionspa-
wie Befürworter. Es bestehen Ängste, dass Kame-      nel für Postproduktionsschaffende, also VFXler,
ramännern ein Job aberkannt wird und der Quo-        Colorgrader und so weiter, in München gehalten
te zum Opfer fällt. In dieser Vorstellung wird der   – da ist der Frauenanteil bei etwa einem Viertel.
Kameramann durch eine x-beliebige Kamera-            Ähnlich bei der Montage, wo ich eigentlich ande-
frau ersetzt. Zudem kann die künstlerische Frei-     res erwartet hätte. An der Filmakademie Baden-
heit nicht gewahrt werden. Es gibt auch Kamera-      Württemberg etwa ist der Frauenanteil im Ka-
frauen, die sagen, ich möchte nicht durch eine       merastudium ziemlich dürftig. Das beginnt aber
Frauenquote erfolgreich werden, sondern durch        schon bei den Bewerbungen, und niemand kann
Qualität. All diese Ängste sind nachvollziehbar.     wirklich sagen, woran das liegt. Auch wir nicht.
Dennoch muss man anerkennen, dass es keine           Wir können nur vermuten: Es gibt kaum Vorbil-
Chancengleichheit gibt. Die Quote ist eine Mög-      der.
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»Der Frauenanteil im Kamera-

studium ist noch ziemlich dürftig.

Das beginnt schon bei den

Bewerbungen, und niemand kann

wirklich sagen, woran das liegt.

Es gibt vermutlich noch zu

wenige Vorbilder.« Caroline

Rosenau studierte an der

Hochschule für Gestaltung in

Karlsruhe. Sie arbeitet als

Kamerafrau und Editorin mit ihrer

eigenen Liquid Filmproduktion

und unterrichtet an mehreren

Hochschulen.
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In diesem Jahr war mit Rachel Morrison erst-          sichtigt werden. Männer stehen genauso vor
mals eine Kamerafrau für den »Oscar« nomi-            dem Problem der Kinderbetreuung wie ihre Kol-
niert.                                                leginnen und könnten ebenfalls von so einer Re-
Caroline Rosenau: Das ist gut. Ich hörte aber lei-    gelung profitieren.
der auch: »Wenn die den »Oscar« bekommt,              Würden die Filmförderungen das anerkennen?
dann auch nur, weil sie eine Frau ist.« So ähnlich,   Julia Schlingmann: Es müsste selbstverständli-
wie wir es bei der Sportmoderatorin Claudia           cher eingefordert werden. Zurzeit müssen sich
Neumann gerade bei der Fußball-Weltmeister-           die Kolleginnen größtenteils innerhalb ihrer Fa-
schaft erlebt haben. Ich finde es schade, dass sie    milien organisieren.
das WM-Finale nicht moderieren durfte. Da hat         Solche Probleme kennen aber auch Eltern in an-
meiner Ansicht nach das ZDF einfach ein fal-          deren Berufen. Ist das nicht erstmal Privatsache
sches Signal gesetzt.                                 zwischen zwei Partnern?
Was ist in Deutschland mit Judith Kaufmann, Da-       Ulla Barthold: Die Entscheidung ist nicht mehr
niela Knapp, Bella Halben, Jana Marsik, Sophie        frei, wenn es ums Geld geht, wer mehr verdient.
Maintignieux, Sonja Rom? Sind das keine Vor-          Frauen bekommen in der Branche weniger be-
bilder?                                               zahlt. Das kann schon mal bis zu 40 Prozent we-
Caroline Rosenau: Die große Masse aber macht          niger sein.
nicht die großen, vielbeachteten Filme. Viele der     Julia Schlingmann: Die Filmindustrie bringt pre-
Kolleginnen im BVK drehen Dokus und/oder un-          käre Arbeitsbedingungen mit sich. Auch extrem
terrichten an den Hochschulen. Viele Kamera-          lange Arbeitszeiten sind der Normalfall. Leider
frauen arbeiten um Nebenerwerbsbereich. Die           auch nach der letzten Tarifrunde von Verdi un-
Branche ist ja an sich schon schwierig.               verändert schlecht und obendrein noch legali-
Julia Schlingmann: Die Barrieren betreffen alle       siert. Eine normale Kinderbetreuung deckt bei
Filmschaffenden, wirken sich jedoch durch die         weitem nicht die Arbeitszeiten eines Filmschaf-
Geschlechterungleichstellung stärker auf die          fenden ab. Das sollte nicht nur Privatsache sein.
Frauen aus.                                           Frau Rosenau, sie sind Mitglied im Bundesver-
Also ist das Arbeitsumfeld gerade für Kamera-         band der Fernsehkameraleute (BVFK). Da soll-
frauen tatsächlich so »asozial«, wie der BVK be-      ten die Drehzeiten doch etwas überschaubarer
hauptet?                                              und planbarer sein?
Caroline Rosenau: Der Beruf lässt Familie eigent-     Caroline Rosenau: Nein. Ein Dreh zum Beispiel
lich nicht zu. Es gibt Lösungsansätze, an denen       für das Format Panorama, aber auch für andere
auch wir arbeiten – zum Beispiel eine Kinderbe-       TV-Dokumentationen und -Reportagen, kann
treuung, die je nach Bedarf am Drehort oder           auch schon mal 14 Stunden dauern. Für meine
auch am Set stattfinden kann. Eine Kollegin mit       Generation waren Arbeitszeiten/Vereinbarkeit
Kindern wurde für das Kleine Fernsehspiel des         von Familie und Beruf gar kein Thema. Da hieß
ZDF angefragt, und sie hatte das Glück, dass          es, wenn du Karriere machen willst, dann kannst
auch andere Kinder hatten.                            du halt keine Kinder haben.
Julia Schlingmann: Aber so etwas müsste gene-         Es spielte also keine Rolle, wie sich Beruf und
rell in den Förderanträgen als Standardposten         Privatleben vereinbaren lassen?
mit aufgenommen, in einer Kalkulation berück-
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Das Berufsbild selbst sei immer noch »extrem männlich konnotiert«, meint Julia Schlingmann, und da könnte sie recht haben. Vor vier Jahren

erst warb die spanische Filmschule EFTI mit einem Image-Spot so modern wie archaisch für den Beruf, dass er auch als Jeans-Reklame

durchgehen würde (oben). Die geballte urbane Hipsterness provozierte denn auch sogleich eine Parodie, die noch sehenswerter ist als das

Original (siehe unten rechts). Die Kamerafrauen wollen mit ihren Vorträgen auch auf die unbewussten Klischees und Vorurteile aufmerksam

machen.

                                                                                                Being a Cinematographer:

                                                                                                https://bit.ly/2LiIQ0l

                                                                                                Die Parodie:

                                                                                                https://bit.ly/2uEWd0g
Fotos: Screenshot | Tim Krämer
427 | 19. Juli 2018

Caroline Rosenau: Ich wollte Filme machen. Na-
türlich dachte ich da erst an Regie, aber nach ei-
nem Praktikum war mir klar: Ich will Kamerafrau
werden! Und ebenso natürlich kam gleich die
Frage: Bist du dir sicher? Das ist eine Männerdo-
mäne! Aber ich wollte Bilder machen, Geschich-
ten in Bildern erzählen und mit Licht arbeiten.
Das Berufsbild der Regisseurin war damals bei
mir recht schnell verflogen.
Ende der 90er war das ein noch größeres Wag-
nis als heute.
Caroline Rosenau: Schon im Studium Anfang
2000 war es schwierig, an Jobs zu kommen –
trotz Praktika bei Arri und im Kopierwerk des
SWR. Ich wurde zwar angefragt, aber meistens
bekamen die Jobs andere.
Woran lag das?
Caroline Rosenau: Es hat, vermute ich mal, mit
dem Selbstbewusstsein und Auftreten zu tun.
Frauen sind da wohl meist zu vorsichtig und zu
bescheiden. Wir können den jeweiligen Job
auch, zögern aber erstmal, und das wird oft als
Schwäche ausgelegt. Inzwischen versuche ich,
das in Verhandlungen umzudrehen und zu zei-
gen, dass die vermeintliche Schwäche eigentlich
eine Stärke ist.
Ein Mann hat also den Vorteil, dass er gleich
»Hier!« ruft, während Frau noch überlegt?
Caroline Rosenau: Tendenziell. Vor allem aber
finden sich Männer schon während des Studi-
ums und bilden Seilschaften, die oft durchs gan-
ze Berufsleben halten.
Dabei gelten doch gerade Kooperation und Un-
terstützung als typisch weibliche Stärke. Warum
schaffen Frauen das nicht auch?
Caroline Rosenau: Weil wir noch zu wenige sind.
Wir brauchen mehr Vorbilder. Als ich Anfang
2000 in Karlsruhe studierte, war ich die einzige
Frau im technisch- gestalterischen Bereich/ Ka-
mera. Auch als Dozentin im Bereich Produk-
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                                                     Das Equipment ist zu schwer für eine Frau?

                                                     Sieht nicht so aus … Der Berufsverband

                                                     Kinematografi e ist da schon weiter als manch

                                                     andere in der Branche. Der DoP Jost Vacano

                                                     (oben links) jedenfalls wirkte 2015 kein

                                                     bisschen überrascht, dass seine Kollegin ein

                                                     Stabilisierungssystem samt Kamera stemmen

                                                     konnte. Und dass das auch von einer

                                                     weiblichen Schulter geht, zeigt Julia

                                                     Schlingmann (links). Trotzdem sehen sich

                                                     Kamerafrauen immer wieder überkommenen

                                                     Vorurteilen gegenüber. Von den 20 einspiel-

                                                     stärksten Kinospielfi lmen des vorigen Jahres

                                                     hatte nur einer eine Kamerafrau: Hanni &

                                                     Nanni – Mehr als beste Freunde. Mal ganz

                                                     abgesehen davon, dass Männer beim Film

                                                     fast 50 Prozent mehr verdienen als Frauen,

                                                     wie gerade wieder mal eine Studie für Berlin

                                                     und Brandenburg festgestellt hat.

Fotos: Jens Best, CC BY-SA 4.0 | Julia Schlingmann
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tion/Postproduktion werde ich meist als einzige      Ulla Barthold: Zuerst mit unserem Seminar auf
Frau vorgestellt, bis heute noch. Anfangs fand       der Setup Media, dieses Jahr das Anti-Bias Trai-
ich das noch toll, so als Exotin. Inzwischen nervt   ning mit Julia Schlingmann und Selena Dolderer.
es mich.                                             Branchentreffs und Festivals streben wir an, um
Julia Schlingmann: Das ist aber kein reines Män-     mehr Aufmerksamkeit für die Problematik zu be-
ner-Frauen-Ding. Frauen diskriminieren sich          kommen. Wir sprechen zurzeit auch mit den
auch gegenseitig. »Jetzt haben wir für das Projekt   Filmhochschulen. Wir wollen natürlich an die
schon eine Regisseurin, da können wir nicht          Ausbildungsstätten, um auf die Probleme auf-
auch noch eine Kamerafrau dazunehmen«, hö-           merksam zu machen. Dafür müssen wir beim
ren wir oft genug auch von Redakteurinnen.           Nachwuchs anfangen.
Wenn zwei Männer in diesen Positionen zusam-         Womit wir wieder bei den Seilschaften wären –
menarbeiten, geht das. Bei einem Mann und ei-        oder dem »Bandenbilden«, das die Filmemache-
ner Frau, zum Beispiel Regisseur/Kamerafrau,         rin Jutta Brückner ihren Kolleginnen empfi ehlt.
besteht die Gefahr, dass uns etwas angedichtet       Wie sind sie selber vernetzt?
werden könnte.                                       Caroline Rosenau: Ulla Barthold ist Verdi-Mit-
Der BVK scheint diesen Problemen gegenüber           glied, Julia Schlingmann im Vorstand des BVK
doch aufgeschlossen?                                 und Mitglied im Filmverband Südwest. Ich selbst
Julia Schlingmann: Der BVK hat eine klare Hal-       beim BVFK. Wir sind Ansprechpartner des Ka-
tung und bestärkt zum Beispiel die 2017 entstan-     merafrauennetzwerks in BW und bahnen den
dene Vereinigung der Cinematographinnen. Zu-         Kontakt mit Pro Quote Film und mit dem Frau-
dem gibt es neuerdings Beauftragte aus dem Vor-      enfilmfest in Köln/Dortmund an. Ab August wer-
stand, zu denen ich selber gehöre, die sich          den wir mit unseren Erweiterungen so weit sein,
Mitgliedern beratend zur Seite stellen, die stark    dass wir voranpreschen können.                
unter Sexismus, also Diskriminierung auf Grund
des Geschlechts, leiden. Die Aufgabe beinhaltet      www.frauenhinterderkamera.de
auch die grundsätzliche Thematisierung der Ge-
schlechtergleichstellung. Die Wichtigkeit des        Belinde Ruth Stieves Tatort-Berechnungen fi nden Sie hier:

Themas nimmt zu. Das zeigte auch die Bereit-         https://bit.ly/2uIs0gX
schaft der BVK-Mitglieder, einen paritätischeren
Vorstand zu wählen.
Caroline Rosenau: Doch darum allein geht es
uns nicht, sondern um das viel tiefere und wei-
terreichende Problem der Strukturen. Da ist man
noch nicht richtig durchgedrungen. Das ist kein
böser Wille: Wenn wir etwa anführen, dass die
meisten Kamerafrauen die schlechter finanzier-
ten Dokumentarfilme oder Low-Budget-Spielfil-
me drehen, merken wir: Das ist den Kollegen bis-
her schlicht nicht aufgefallen!
Wie wollen Sie das ins Bewusstsein bringen?
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samtverbrauch kombiniert (l/100 km): 6,0 - 3,7; CO2-Emissionenn kombinier
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427 | 19. Juli 2018                                             Hans Weingartner | 16

Politisch wie die Liebe
 Jan glaubt nur an das Schlechte im Menschen, Jule an das Gegenteil.
 Da haben sie einiges zu bereden auf ihrer Fahrt in den Süden.
 Hans Weingartner zelebriert in 303 die langsame Annäherung zweier Seelen.

 Hans Weingartner

  freut sich, wenn er

 neue Wörter erfi nden

 kann. Auch wenn ihm

 dann nur sowas wie

 »Vereinzelungsstrategie«

 einfällt.

Foto: Kahuuna Films
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Herr Weingartner, was war Ihre Ausgangsidee für       schine sitzen. Der Bus ist quasi eine Raumkapsel
303?                                                  und eine Zeitmaschine, mit der sie durch das Jahr
Ich wollte den Film schon immer machen, weil          2018 fahren.
ich gedankliche Auseinandersetzungen und              Welche Themen stehen für Sie in 303 im Mittel-
Theorien über alles liebe. Wie funktioniert die       punkt?
Welt? Die Neugier war immer schon meine trei-         Es geht um Liebe und Beziehung, und warum wir
bende Kraft. Ich war Wissenschaftler, bevor ich       nach 300 Jahre alten Beziehungsmodellen leben.
Filmemacher geworden bin, und 303 ist für mich        Ich meine, 90 Prozent des Unglücks dieser Erde
der ideale Weg, beides miteinander zu kombinie-       gehen auf gebrochene Herzen zurück. Das ist die
ren. Inspiriert hat mich natürlich Before Sunrise     Wurzel allen Übels. Zudem geht es um das Sy-
von Richard Linklater. Bei den Dreharbeiten in        stem, und wie es sich mit der Natur des Menschen
Wien habe ich damals als kleiner Produktionsas-       verträgt. Sind wir kooperative, soziale Wesen?
sistent mitgearbeitet. Da bekam ich auch das Ori-     Oder bekämpfen wir uns lieber alle gegenseitig,
ginaldrehbuch in die Hände, das mich komplett         sind also kompetitiv? Das ist die alles entschei-
fasziniert hat. Und Slacker von Linklater war da-     dende Frage, von der das Überleben dieses Plane-
mals mein Lieblingsfilm. Darin laufen Leute           ten jetzt abhängt. Diese eine Frage entscheidet al-
durch Austin, Texas, und geben Theorien und           les! Sind wir Cro-Magnon-Menschen oder Nean-
skurrile Fakten von sich. Ich hab mir den Film        dertaler?
achtmal im Kino angesehen. Neue Assoziationen         Ist 303 auch ein politischer Film?
und Zusammenhänge interessieren mich einfach          Es gibt nichts, was politischer ist als die Liebe, und
brennend. Außerdem wurde ich ja in Wien sozia-        nichts Radikaleres, als sich hundertprozentig auf
lisiert, der Stadt der Philosophie – da wird in der   einen anderen Menschen einzulassen. Aber wenn
jeder WG-Küche sowie im Kaffeehaus stunden-           ich ehrlich bin, ging es mir ja nicht darum, einen
lang mit Hingabe diskutiert.                          Liebesfilm zu machen. Das, was Jan und Jule re-
In Berlin und anderswo auch!                          den, das wollte ich verbreiten, und das ist natür-
Nein, nein, nein! Als ich nach Deutschland kam,       lich hochpolitisch. Was man nebenher macht, ge-
habe ich sofort gemerkt, dass hier ein anderes Kli-   lingt ja immer besser, weil es aus der Absichtslo-
ma herrscht. Hier wird gemacht. Das ist das Land      sigkeit entsteht, daher nicht-intentional – ich
der Praxis. Die Leute hier haben alle Projekte. Die   wollte keinen Liebesfilm machen, vielleicht ist es
ziehen sie durch. Selbst unter Hausbesetzern war      deswegen ein ganz guter geworden. Kunst muss
das so. In Wien jedoch, meinem Wien jedenfalls,       passieren, dieser Ansatz aus den 70ern stimmt
wurde nächtelang im Kaffeehaus gesessen und           wahrscheinlich immer noch.
philosophiert und dann gescheitert. Die Lust am       Deshalb haben Sie die beiden in einem Bus »on
Untergang. Verstehst du? Wenn du auf dem Zen-         the road« geschickt?
tralfriedhof liegst, dann bist du ganz oben. In       Die erste Idee zu diesem Film hatte ich bei den
Deutschland hingegen musst du Erfolg haben.           Dreharbeiten zu Das weiße Rauschen. Am Ende
Da passen Jule und Jan aber nicht ins Schema.         fährt die Hauptfigur Lukas, gespielt von Daniel
Völlig richtig. Die sind old school. Das würde ja     Brühl, mit einer Gruppe von Hippies in alten Bus-
auch zu dem Wohnmobil passen, diesem Bus aus          sen nach Spanien. Bei den Dreharbeiten bin ich
dem Jahr 1980, in dem sie wie in einer Zeitma-        selber nachts bei einer Hippie-Rasta-Frau mitge-
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»Im Bus meint Jule zu Jan, der Bus basiere auf einem Mercedes-303-Transporter. Der heißt in Wahrheit
308, aber ich fand, 303 klingt besser. In meiner Hausbesetzerzeit sind wir mal alle zusammen mit einem
303-Reisebus (den gibt es wirklich) nach St. Petersburg zu einer Techno-Party gefahren. Vielleicht deswe-
gen der Titel, eine Reminiszenz an diese schöne und freie Zeit. Man soll das Gefühl haben, selbst mit den
beiden auf die Reise zu gehen, im Bus mitfahren. Deshalb nimmt die Kamera nur Positionen ein, die
auch ein natürlicher Beobachter einnehmen könnte.« (Regiekommentar von Hans Weingartner).

»Ich fuhr diese gesamte Strecke
zur Vorbereitung und Recher-
che zwei Jahre vor dem Dreh
selbst mit dem gleichen Bus ab.
Der Bus gehört mir privat und
ich gehe damit auch selbst
manchmal auf die Reise.«
(Regiekommentar von Hans
Weingartner).
Fotos: Alamode
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Impressum                                                          fahren. Wir haben uns stundenlang unterhalten.
cinearte – Nachrichten für Filmschaffende wird herausgegeben       Das war eines der besten Gespräche meines Le-
von Peter Hartig, Oliver Zenglein und Vincent Lutz und erscheint   bens. Ich habe mich gefragt, warum das so ist und
jeden zweiten Donnerstag mit 26 Ausgaben im Jahr.                  bin darauf gekommen, dass das mit auch daran
                                                                   liegt, dass man sich in so einem alten Wohnmobil
Redaktion: Peter Hartig (V.i.S.d.P.), Telefon 089-2024 4032,       außerhalb von Raum und Zeit bewegt. Vor allem,
p.hartig@crew-united.com. Ständige Mitarbeiter: Karolina Wrobel,   wenn man nachts fährt, kann man irrsinnig gut
Elisabeth Nagy, Christoph Brandl.                                  über Gott und die Welt reden. Du siehst die Welt
Anzeigen: Andrea Düren, Telefon: 089-2024 4030,                    nicht mehr, sie ist verschwunden, und gleichzeitig
a.dueren@crew-united.com                                           fährst du in einer Gruppe, fühlst dich aufgehoben
Vertrieb und Abonnements: Crew United, Lutz und Zenglein           und sicher.
GbR, Fraunhoferstr. 6, 80469 München, Telefon                      Die Dialoge wirken spontan, fast improvisiert.
089-2024 4030.                                                     An diesen Dialogen schrieb ich seit 1997, fast wie
                                                                   eine Art Tagebuch. Ich habe eine etwa 300-seitige
Redaktionsschluß ist Dienstagmittag vor Erscheinen. Für unver-     Dialogsammlung auf meinem Computer. Theo-
langt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine       rien, die ich über Jahrzehnte aufgeschnappt habe,
Haftung. Namentlich gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht      in Dialogform. Dann musste ich die Passagen
unbedingt der Meinung der Redaktion. Nachdruck, auch               auswählen, und zusammen mit meiner Koautorin
auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Gerichts-         Silke Eggert schauen, wie man einen themati-
stand ist München.                                                 schen Bogen hinbekommt. Dann habe ich noch
                                                                   einmal recherchiert und viele Videointerviews ge-
Es gilt die Anzeigenpreisliste 13 vom Januar 2015. Anzeigen-       macht mit jungen Leuten, um das ein bisschen
schluß: Mittwochmittag.                                            inhaltlich upzudaten.
                                                                      Letztlich ist die letzte und wichtigste Stufe
Der Preis für das Jahresabonnement beträgt 39 Euro und             dann, mit den Schauspielern zu proben. Sie müs-
berechtigt zur Nutzung des Online-Archivs. Eine Kündigung des      sen diese Dialoge inhalieren, verinnerlichen. So
Abonnements muß spätestens einen Monat vor Ablauf des              eine intensive und lange Probezeit ist natürlich
Bezugsjahres erfolgen. Keine Haftung bei Störung durch höhere      ein Luxus, den ich aber von vornherein einge-
Gewalt. Premium Member von Crew United erhalten cinearte im        plant habe. Im Endeffekt wirken die Dialoge im-
Rahmen ihrer Mitgliedschaft.                                       provisiert (was mich sehr freut), aber es ist jedes
                                                                   Wort geschrieben und genau so geprobt. An den
                                                                   Dialogen ist rein gar nichts zufällig. Das geht nicht
                                                                   anders, solche Texte kann man nicht improvisie-
                                                                   ren. Das wird zu lang und ufert aus und ist zu
                                                                   sprunghaft.
Member of                           Partner of                     Welche Phase ist für Sie die kreativste?
                                                                   Es ist ein toller Glücksmoment, wenn du beim
                                                                   Dreh einen Take hast, der magisch ist. Wenn du
                                                                   das oder mehr als das bekommst, was du dir beim
                                                                   Schreiben ausgedacht hast. Diesen Schöpfungs-
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»Wir haben mit einer extrem kleinen Crew von nur acht Leuten (einmal Ton, dreimal Kameracrew, ein
Aufnahmeleiter, ein Regisseur, Regieassistentin, Köchin) gedreht, die auch alle selber im Zelt oder im
Wohnmobil schliefen. Wie bei einem Dokumentarfilm.« (Regiekommentar von Hans Weingartner).

»Zwischendurch wollte ich sogar auf Englisch umsteigen, weil ich die Schauspieler hier nicht fand. Aber
die deutsche Sprache eignet sich einfach tausendmal besser zum Philosophieren. Sie ist viel präziser und
eleganter. Du kannst fast jedes Wort mit einem anderen zu einem neuen Wort kombinieren. Dadurch
hast Du nicht nur einen Wortschatz von 50.000, wie im Englischen, sondern von potenziell einer Milli-
arde Worten. Das hab ich bei der Übersetzung gemerkt: Englisch ist viel umständlicher. Zum Beispiel
»Vereinzelungsstrategie«. Wie übersetzt man das? »Isolation Strategy of Capitalism«. Schrecklich! Steht
das Wort im Duden? Nein. Ich hab’s einfach erfunden! Ich liebe das. Einfach mal so ein neues Wort erfin-
den. Herrlich! Oder nimm mal Liebeskummer. Weltschmerz. Fernweh. Gibt es alles nicht im Englischen!
Deshalb hab ich das aufgegeben, obwohl ich dafür sogar Star-Schauspieler bekommen hätte (zum Bei-
spiel Emile Hirsch).« (Regiekommentar von Hans Weingartner).

Fotos: Alamode
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»Das Dogma, ein Film darf nur in Bildern erzählen, kriegt man jahrelang in der Filmschule eingeprü-
gelt sowie in jedem Drehbuchworkshop. Das breche ich bewusst. Diese Vorschriften sind mir zuwider.
Godard sagte: Ein Film ist alles, was in 24 Bildern pro Sekunde über die Leinwand läuft. Basta!« (Regie-
kommentar von Hans Weingartner).

»Es war extrem schwer diesen Film zu finanzieren. »Die reden zuviel.« Außer BKM und Medienboard
(revolvierende Mittel) lehnten alle Filmförderungen ab. Die beteiligten TV-Sender stiegen beim ersten
Versuch 2013 kurz vor Drehbeginn aus, der deshalb abgeblasen werden musste. Danach hatte ich keine
Lust mehr auf einen öffentlich-rechtlichen Sender. Letztlich wurde mit sehr viel privatem Risiko gedreht.
Das Budget war extrem gering. Es stimmt mich traurig, dass ich nach all den Jahren immer noch so um
meine Budgets kämpfen muss. Ich versuche halt immer etwas Neues zu machen und damit hat man bei
uns in Deutschland Probleme. Meine Stoffe sind nicht gremientauglich. Die langen Pausen zwischen
meinen Filmen kommen dadurch, dass ich so lange brauche, meine Projekte zu finanzieren.« (Regie-
kommentar von Hans Weingartner).
Fotos: Alamode
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akt, den vollenden die Schauspieler. Wo vorher           bringen. Im Taxi haben sie dann improvisiert zum
nichts war, ist plötzlich eine lebendige Figur. Es ist   Thema Monogamie versus Polygamie und sind
wie in der Quantenphysik: Wo eben noch leerer            gleich total abgegangen. Da war mir schon klar,
Raum war, ist plötzlich Energie, ein Teilchen. Der       dass es mit den beiden funktionieren könnte.
Tanz der Wu-Lin-Meister. Das ist Kreativität für         303 ist auch ein Film, der Europa feiert.
mich.                                                    Eher zufällig, aber ja, tut er schon. Jan und Jule
Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Regisseur?              klatschen sich ja auch an jeder Grenze ab. Sie
Erstens muss ich einen offenen Gestaltungsraum           müssen nie durch eine Grenzkontrolle. Diese
anbieten. Und dann muss ich den Schauspielern            dichte Vielfalt an Landschaften, Sprachen und
wie ein Zuschauer sagen können, was ich spüre.           Kulturen, die man in Europa grenzenlos bereisen
Das ist unglaublich schwer, weil man in diesem           kann, das ist einzigartig. Bei all dem Jammern und
Moment ganz offen sein und wirklich nur den              Klagen über die Kinderkrankheiten vergisst man
Film sehen muss. Man darf nicht daran denken,            das immer.
ob gleich das Licht weggeht, was mit dem Ton ist            Ich liebe die Idee, die hinter Europa steht. Die
und all die anderen tausend Sachen. Auch den             Freiheit, das Miteinander. Ein Vorbild für die gan-
ganzen Film vor und nach der Szene im Gefühl zu          ze Welt, dass so verschiedene Sprachen und Kul-
haben, und zu wissen, was die Szene für eine             turen sich friedlich vereinen können, ein Modell
Stimmung braucht, auch wenn es gar nicht zur ei-         für die Zukunft des Planeten. Denn: Das klingt
genen Stimmung in dem Moment passt – auch                vielleicht kitschig, aber stell dir mal vor, was für
das ist immer eine Herausforderung. Dieses stän-         eine wunderbare Welt das wäre, wenn es über-
dige Sich-Hinein-Versetzen: das kostet Kraft und         haupt gar keine Grenzen mehr gäbe, nirgendwo.
braucht viel Übung.                                      Ich denke seit 20 Jahren fast ununterbrochen dar-
Wie sind Sie auf Mala und Anton gekommen?                über nach, wie man die Welt retten könnte. Wir
Ich habe zwei Darsteller gesucht, die diese Dialo-       haben Plastik im Ozean, Erderwärmung, Atom-
ge so rüberbringen, dass sie natürlich klingen.          waffen, und du kommst eigentlich immer wieder
Und klar, ich wollte auch Menschen mit Charis-           an den Punkt: Die Menschheit muss diese Proble-
ma, die ich interessant und sympathisch finde.           me kooperativ lösen. Es gibt keinen anderen Weg!
Zwei Jahre lang suchten wir. Mitten drin habe ich        Wir brauchen eine Weltregierung, oder wenig-
mehrmals aufgegeben. Plötzlich ging es ganz              stens eine enge weltweite Zusammenarbeit über
schnell: Der Regisseur Sven Bohse hat mich auf           alle Grenzen hinweg, oder wir sind in 50 Jahren
Mala Emde hingewiesen. Ich habe ihr Demoband             tot. Wettbewerbsfähig – wenn ich das schon höre,
gesehen und wusste sofort, dass sie die Richtige         Mann! Wettbewerb darum, wer den Karren
sein könnte. Diese Kombination aus Verletzlich-          schneller in den Dreck fährt, oder was? Wir wer-
keit und Sensibilität, aber auch Durchsetzungs-          den gemeinsam überleben oder jeder für sich ins
kraft und Stärke. Auf Anton bin ich in einer Schau-      Gras beißen. Daran hat sich in 30.000 Jahren
spieler-Datenbank gestoßen. Wir haben uns in ei-         nichts geändert. Steht alles in der Höhle von Alta-
nem Café getroffen, zwei Stunden über Politik            mira an der Wand.                                 
gesprochen, und dann habe ich ihm vorgeschla-
gen, dass wir Mala, die an diesem Tag in den Ur-
laub fahren wollte, gemeinsam zum Flughafen              Hans Weingartners Roadtrip 303 startet heute im Kino.
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»Die schönsten Erinnerungen an meine Studentenzeit sind die nächtelangen Diskussionen in der WG-
Küche über Gott und die Welt. Man möchte meinen, das gäbe es nicht mehr, weil die Studenten alle so
gestresst sind. Aber das stimmt nicht. Vereinzelt gibt es sie noch.« (Regiekommentar von Hans Weingart-
ner).

                                                                      »Mein erster Versuch, den Film
                                                                      zu drehen, war 2003. Doch ich
                                                                      war noch nicht soweit. Meine
                                                                      Fähigkeiten reichten nicht aus.
                                                                      Diese Art Dialoge … dass die na-
                                                                      türlich klingen … das ist extrem
                                                                      schwierig. Das wird uns so
                                                                      schnell keiner nachmachen. Ich
                                                                      weiß, das klingt arrogant. Aber
                                                                      ich bin mir hundertprozentig
                                                                      sicher, dass es so ist. Ich bin ex-
                                                                      trem kritisch meinen eigenen
                                                                      Filmen und meiner Arbeit ge-
                                                                      genüber. Selbstkritik ist mein
                                                                      täglich Brot, schon morgens vor
                                                                      dem Kaffee. Aber auf diese Dia-
                                                                      loge bin ich sehr, sehr stolz.«
                                                                      (Regiekommentar von Hans
                                                                      Weingartner).
Fotos: Alamode
26.– 29. SEPTEMBER 2018
      N EU E T H E
                   MEN,
                                            & 8.– 11. MAI 2019 | KÖLN
     N EU E R T U
                  RNUS,
     N EU E R T E
                  RMIN!

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427 | 19. Juli 2018   Wochenschau | 25

Zukunftskino
Foto: Samsung
427 | 19. Juli 2018                                                               Wochenschau | 26

Manchen Dingen wohnt ein Zauber inne, der so-        hell es im Saal selbst ist. Für kleinere Säle gibt es
gar länger anhält als die Dinge selbst. Das Kino     Modelle ab fünf Metern Breite.
lebt davon – nicht nur in seinen Geschichten,           Vor einem Jahr hatte Samsung das erste Mo-
sondern auch in der Technik, die zum Mythos          dell auf der Cinema Con in Las Vegas präsentiert,
gehört. Vom »Zelluloid« ist immer noch und oft       inzwischen hat man einen griffigen Namen für
die Rede, obwohl schon seit bald 70 Jahren schon     die Technik gefunden, die auch 3D-tauglich ist:
kein Rohfilm mehr aus dem gefährlichen Materi-       Onyx. Denn auf die punktgenaue Darstellung
al hergestellt wird. Und »Film« heißen die beweg-    echter Schwarztöne ohne Reflektionen ist man
ten Bilderzählungen immer noch, obwohl die           besonders stolz. Der »hohe Kontrastumfang und
schmalen Kunststoffstreifen weitestgehend            spezielle Graustufeneinstellungen« machen es
durch elektronische Signale von Scheibe oder         möglich.
Platte verdrängt wurden. Soviel vorab als Trost
für alle, die gleich um die Zukunft des Kinos ban-   Die Großversion ist laut Hersteller der erste Ki-
gen.                                                 nobildschirm mit DCI-Zertifizierung. Kinos, die
   Eben die wurde nämlich Anfang des Monats          auf ihn umgerüstet werden, sollen unter dem
in Esslingen vorgestellt. Im Kino »Traumpalast«      Markennamen »Samsung Onyx Theater« betrie-
wurde der erste Kinosaal mit Samsungs neuer          ben werden.
Cinema LED-Screen in der EU eröffnet – der un-          Zwei kleine Zusatzboni: Der Screen ermögli-
vermeidliche letzte Schritt in der Digitalisierung   che den Bau von steileren Sitzrängen, zudem
des Kinos. In Süd-Korea und Thailand erstrahl-       braucht es keinen Projektorraum mehr. Das
ten die Großbildschirme schon im vorigen Jahr,       schaffe Platz für zusätzliche Kinositze, verspricht
die Schweiz erlebte die Revolution Ende März in      Samsung. Außerdem ließen sich die Kinosäle
Zürich, die USA im April.                            nun auch ohne Umstände für andere Veranstal-
   Wer braucht beim heutigen Stand der Technik       tungen wie Vorträge oder Gaming-Events nut-
noch Leinwand und Projektor, mag sich der Her-       zen.
steller aus Süd-Korea gedacht haben, und stellte       Ganz billig ist die Technik freilich noch nicht.
gleich einen riesigen Fernseher in den Kinosaal.     Zwei Euro mehr kostet der Eintritt in den LED-
96 Kacheln sind fugenlos aneinandergesetzt und       Saal des »Traumpalasts«.                         
können bei Bedarf ausgetauscht werden. Zusam-
men ergeben sie eine Bildschirmfläche von 10,3
mal 5,4 Metern.
   26 Millionen Leuchtdioden in Rot, Blau und
Grün erzeugen knapp neun Millionen Bildpunk-
te, die eine 4K-Auflösung ergeben und zehnmal
stärker leuchten sollen als die meisten her-
kömmlichen Kinoprojektoren, deren Bild auf
dem Weg durch den Saal bis zur Leinwand an
Kraft verliert. Leuchtende Farben, tiefste
Schwärzen und knackige Schärfen sollen unge-
ahnte Seherlebnisse schaffen – ganz egal, wie
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ARD nimmt Dokumentarfilmer auf den Arm
Erst neulich hatte sich Volker Herres wieder für Dokumentationen stark gemacht. »Wir waren und
sind überzeugt, dass diese Filme auf einen Primetime-Platz gehören, abseits aller Quotenerwartun-
gen«, sagte der ARD-Programmdirektor Anfang Juni dem Hamburger Abendblatt. Damit meinte er die
Reihe von »aktuellen und relevanten Dokumentationen«, die im Frühjahr montags um 20.15 Uhr un-
ter dem Titel Was Deutschland bewegt gezeigt wurden.
   Was den großen, eigenständigen Dokumentarfilm angeht, sieht es weniger gut aus. Zum Kongress
beim Dokfest München hatte der Medienforscher Jörg Langer mal selber ins Programm geschaut: In
einer Woche im Januar hatte Das Erste 22 Stunden Sport ausgestrahlt, 21,5 Stunden Soaps, 14 Stunden
Krimi – aber nur 7 Stunden Dokumentationen. Dokumentarfilme waren nicht darunter (cinearte
422).
   Dabei gibt sich die ARD alle Mühe, jetzt gar zum siebten Mal: Bis zum 31. August sind TV-Produ-
zenten mit Sitz in Deutschland aufgerufen, »ihre exklusiven Konzepte und Ideen« einzureichen – »ge-
sucht wird ein kreatives und innovatives dokumentarisches TV-Highlight für einen Sendeplatz im Er-
sten« mit 70 bis 90 Minuten Länge. Erwartet werden »ein klarer Bezug zu Deutschland« und zugleich
»internationale Relevanz«, »tiefgründige Recherche, exklusive Zugänge und eine außergewöhnliche,
neuartige und kreative Handschrift.« Was geeignet ist für diese »Top of the Docs«, entscheidet eine
Jury aus Redakteuren der ARD-Sender unter der Leitung von Chefredakteur Rainald Becker. Das Ge-
Foto: Screenshot
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winner-Projekt soll von ihnen mit bis zu 250.000     chen Fernsehen kein Platz ist. Den Jurys gehör-
Euro finanziert werden. Mit einer Einschrän-         ten übrigens auch zwei der sechs ARD-Wettbe-
kung: »Vorschläge, die bereits einem oder meh-       werbs-Redakteure an.
reren ARD-Häusern zur Prüfung vorgelegen ha-            Allzu große Hoffnungen sollte sich die Doku-
ben, werden von diesem Wettbewerb ausge-             mentarfilmszene deshalb nicht machen. In einer
schlossen.«                                          Diskussionsrunde des Grimme-Instituts vorigen
                                                     Dezember in Berlin hatte Becker gesagt, es werde
Damit machen die versammelten Redakteure             nicht passieren, dass sein Sender demnächst 20
also nichts anderes als ihre tägliche Arbeit, nen-   lange Dokumentarfilme pro Jahr zeigen werde
nen es aber Wettbewerb: Schaut her, welche Mü-       (zum Nachrechnen: das wäre nicht mal ein Film
hen das Fernsehen auf sich nimmt, um den Do-         alle zwei Wochen). Und: »Der reguläre Platz für
kumentarfilm in die Primetime zu bekommen!           den 90-minütigen Dokumentarfilm ist um
   Denn offenbar ist das, was den ARD-Redaktio-      22:45 Uhr.«
nen sonst so vorgelegt wird, schlecht gemacht
und ohne Relevanz – anders lässt sich die Be-        In der Sprache der Sender wird das als »zweite
schreibung zum Wettbewerb wohl nicht verste-         Primetime« beschönigt, die an gleicher Stelle
hen. Das würde dann auch erklären, wieso so          auch die damalige ARD-Vorsitzende Karola Wille
wenige Dokumentarfilme im Fernsehen laufen:          verteidigt hatte: »Wir diskutieren zu viel analog.«
Es gibt keine; zumindest keine, die den strengen     Struktur und Verlässlichkeit seien wichtig im li-
Kriterien der ARD und ihres Wettbewerbs ge-          nearen Fernsehen. Für den Dokumentarfilm
recht würden.                                        gäbe es ja noch die Mediatheken – längere Abruf-
   Also zum Beispiel Filme, die »vom Leben im        zeiten vorausgesetzt.                            c
Krieg aus den Augen der Kinder« erzählen und
»mit außergewöhnlichen Bildern, kraftvollem          www.top-of-the-docs.de
Sounddesign und präziser Montage […] aus ei-
ner individuellen Geschichte eine universelle«
entwickeln. Filme, in denen sich »unterschiedli-
che Stilelemente am Ende zu einer Arbeit aus ei-
nem Guss verbinden«, die auf seltene Weise
»poetisch erzählen«, gar »Geschichten aus dem
Morgenland ins Abendland« tragen. Vielleicht
sogar »der Film, der uns nicht loslässt und mit-
unter verstört«, der »großes erzählerisches Talent
beweist und einer kühnen visuellen Vision folgt«,
»tiefgründig recherchiert« ist und »eine überzeu-
gende Feinfühligkeit im Umgang mit dem
Schnittmaterial« beweist …
   Diese Zitate stammen aus den Jurybegrün-
dungen zu den Preisträgern des diesjährigen
Münchner Dokfests, für die im öffentlich-rechtli-
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Keine Besserung
»Überwiegend enttäuscht« sind die Verbände             ten, »aber auch deren Verdichtung, führen zu un-
pro Tarif (VPT) vom Verhandlungsergebnis zwi-          erträglichen gesundheitlichen Belastungen und
schen der Produzentenallianz und der Gewerk-           Unfallrisiken. Die Vereinbarung von Filmschaf-
schaft Verdi (cinearte 424). Erfreulich sei zwar die   fen mit einem Privatleben ist kaum noch mög-
breitere Berücksichtigung der Altersvorsorge           lich. Auch die Zunahme der Nachtdrehs von
durch die Pensionskasse Rundfunk, doch das ist         Freitag auf Samstag beraubt Filmschaffende oft-
der einzige Lichtpunkt, den die Berufsverbände         mals eines arbeitsfreien Wochenendes zur Erho-
der Szenen- und Kostümbildner, Kameraleute,            lung oder zur Pflege sozialer Kontakte mit Fami-
Editoren, Location-Scouts und Regieassistenten         lie oder Freunden.«
und die IG Licht und Bühne München sehen.                  »Erhebliche Bedenken« haben die Verbände
   Zwar wurden weitere Berufsgruppen in den            auch bei dem geplanten Zusatztarifvertrag fur
Gagentarifvertrag aufgenommen, das stelle aber         Hochschul-Abschlussfilme und Debütfilme: Der
»nur für wenige eine Verbesserung dar, andere          soll ermöglichen, nur die halbe Tarifgage zu zah-
Berufsgruppen dagegen haben sich energisch             len, wenn das Budget als gering genug ausgewie-
gegen diese Aufnahme gewehrt«, schreibt VPT in         sen wird (VPT führt dafür 750.000 Euro an), mit-
einer Pressemitteilung. Zudem gerate das Ga-           unter sogar noch weniger. Die Produzentenalli-
gengefüge noch weiter aus dem Gleichgewicht            anz hatte diesen Zusatz als Verbesserung
und spiegele für einige Berufe nicht mehr die          vorgestellt, weil dies endlich ermögliche, diese
künstlerische Leistung oder die tatsächliche Ver-      Produktionen »aus einem informellen, nicht
antwortung wider. Das lasse »Unfrieden in der          dem Tarifgeschehen unterworfenen Produkti-
Filmproduktion erwarten«. Die vereinbarte Ga-          onsprozess herauszulösen und verbindlich zu
generhöhung selbst gleiche lediglich die zu er-        gestalten.« VPT befürchtet hingegen »starke An-
wartende Inflation über die nächsten drei Jahre        reize, diese Regelungen für kommerzielle Projek-
aus.                                                   te zu missbrauchen. Erst bei einem für Debütfil-
   Die tatsächlichen Probleme der Branche aber         me stolzen Budget von 1,3 Millionen Euro müs-
seien wieder nicht angegangen worden, schreibt         sen demnach tarifliche Mindeststandards
VPT: »Dem zunehmenden Raubbau an Körper                eingehalten werden.«
und Geist wird durch den Tarifabschluß nicht               Wenigstens hätten die Tarifparteien die For-
entgegengetreten.« Gemeint sind damit in erster        derungen aufgegriffen, den Tariftext so zu über-
Linie die Arbeitszeiten der Filmschaffenden. Ver-      arbeiten, dass er besser zu verstehen ist. Lieder
di hatte es nach jahrelangem vergeblichen Rin-         sei das erst im Nachgang geplant.              
gen nun endlich geschafft, diese auf zwölf Stun-
den am Tag zu begrenzen. Für die Verbände pro          www.verbände-pro-tarif.de
Tarif steht das aber nur auf dem »Etikett«. Solan-
ge nicht auch die Überstundenzuschläge »deut-
lich« erhöht würden, werde sich an den realen
Zuständen in der Branche nichts ändern. Die
»extremen«, »drastisch gestiegenen« Arbeitszei-
427 | 19. Juli 2018                                                         Fragebogen | 30

Was treibt die nächste Generation?
Die Umfrage von HFF München und cinearte auf dem Internationalen Festival der Filmhochschulen
München.

Justina Marie Jürgensen
Regie
Hochschule für Fernsehen und Film München

So habe ich mich ins Kino verliebt:
Als ich ins Theater ging.

Mein Traumprojekt in drei Sätzen:
Wird noch nicht verraten.

Ein Monat, eine einsame Insel und nur ein
Video*. Welches?
Finsterworld.

* Stromanschluß vorhanden

Fragebogen und Fotos: Sophie Averkamp, Tim Dünschede, Gudrun Gruber und Ozan Mermer
427 | 19. Juli 2018                                                    Filmemachen | 31

Filmemachen
»Im Endeffekt hat der Star deutlich mehr Macht als du. Er hat das letzte Wort.
 Wenn er irgendwann sagt, ich habe keine Lust mehr auf diesen Regisseur,
 dann fliegt nicht er raus, sondern du.«

Der Regisseur Edward Berger über seine Arbeit an der amerikanisch-britischen Miniserie Patrick
Melrose im Interview mit Der Freitag vom 28. Juni 2018.

Foto: ZDF, Christian Rieger
427 | 19. Juli 2018                                                           Nachlese | 32

Mediengalerie
Unsere Auswahl von Artikeln und Sendungen zum Nachlesen im Netz:

Filmemachen: »Das hat Größe«
Der Regisseur Edward Berger spricht im Interview über die amerikanische Lust aufs Neue und die Be-
häbigkeit deutscher Sender.
www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-hat-groesse

Arbeitsbedingungen: Macht, Gagen und Spielräume im modernen Theater
Die Machtfrage stellen Theater in der Regel jeden Abend. Seit drei Jahren wird sie aber auch intern
unablässig diskutiert. Ein Interview mit dem Ensemble-Netzwerk.
https://bit.ly/2uEWpg5

Nachruf: Mittendrin und außerhalb
Mit „Shoah“ ist Claude Lanzmann ein Einschnitt in die Filmgeschichte gelungen. Zum Tod des fran-
zösischen Filmemachers.
www.taz.de/!5515919/

Nachruft: Das Licht und die Menschen
Wie kaum ein anderer hat es Robby Müller in seinen Filmbildern verstanden, den Blick auf Men-
schen, und was zwischen ihnen entsteht, in Schwingungen zu versetzen. Zum Tod eines einzigartigen
Kameramanns.
https://bit.ly/2Lm17GN

Produktion: Auf Tauchgang mit schwitzenden Männern
Warum es bei Das Boot keine Zusammenarbeit von Sky und ARD gab
https://bit.ly/2NWcpTV

Video: Vertical Video Syndrome – A PSA
Filmemachen mit dem Smartphone ist
auch eine Option, die es sogar ins Kino
schaffen kann. Auf die Gefahren, die
drohen, wenn die Technik falsch
gehandhabt wird, wies unsere Lieb-
lingspuppenschau schon vor sechs
Jahren mit dieser öffentlichen Bekannt-
machung hin.
https://bit.ly/2upKJ1B

Foto: Screenshot
427 | 19. Juli 2018                                                                                              Nachlese | 33

Scheibenparade
Bekanntlich bietet die Blu-ray die bessere Sicht. Das glauben wir gerne und
stellen deshalb jede Woche ausgewählte Neuerscheinungen vor. Das Beste daran:
Sie können die Scheibe gewinnen. Dazu müssen Sie nur die Frage am Ende richtig
beantworten.

Die Schule ist doof, die Mitschüler blöd, und die Familie
nervt … Barbara (Madison Wolfe) geht in die fünfte Klas-
se, und die Pubertät hat schon voll angefangen. Viel lie-
ber spielt sie Dungeons & Dragons und hat immer ei-
nen Kriegshammer dabei. Denn bald wird auch die
richtige Welt von Riesen überrannt, ist sich Barbara
sicher. Und sie ist die einzige, die sie aufhalten
kann.
   Der Comicautor Joe Kelly hatte unter anderem
drei Jahre lang Deadpool betreut und noch etliche
weitere Superhelden, bis er sich vor zehn Jahren eine
Coming-of-Age-Geschichte ausdachte. Der Zeichner
J. M. Ken Niimura gestaltete die Fantasy im passenden
Manga-Stil, was dem Comic den »Gaiman Award« einbrachte.
Mit dem Preis werden in Japan alljährlich die besten ausländischen
Comics ausgezeichnet. Für die Leinwandadaption verpflichtete man den dänischen
Regisseur Anders Walter, der 2013 den »Oscar« für den besten Kurzspielfilm erhalten
hatte und hier nun sein Langfilmregiedebüt vorlegte. Reichlich Erfahrung mit bedroh-
lichen fremdartigen Wesen hatten nicht nur der Produzent Chris Columbus (Harry Pot-
ter und der Stein der Weisen), sondern auch die Darstellerin der Schulpsychologin, die
ahnt, dass hinter den Riesen ein viel größeres Problem steckt. Ihr Name?

I Kill Giants Coming-of-Age-Fantasy | USA/Großbritannien/Belgien 2017 | Koch Media | 106 Minuten | FSK 12

Schreiben Sie Ihre Antwort an info@cinearte.net und in die Betreffzeile Ihrer E-Mail »Scheibenparade 427«. Einsendeschluß

ist der 30. Juli 2018. Die Lösung verraten wir in der nächsten Ausgabe. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wonach wir in

der Ausgabe 423 an dieser Stelle gefragt hatten: Die unglaubliche Geschichte des Mister C.

Foto: Koch Media
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