NATO-Osterweiterung Zwischen Fakten und Perzeptionen - Bundeswehr

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NATO-Osterweiterung Zwischen Fakten und Perzeptionen - Bundeswehr
SICHERHEITSPOLITIK

 NATO-Osterweiterung
 Zwischen Fakten und Perzeptionen

 Die Klage, die NATO-Osterweiterung sei entgegen früherer westlicher
 Zusagen erfolgt, Moskau mithin getäuscht und über den Tisch gezogen
 worden, ist seit Jahren fester Bestandteil der russischen Politik. Sie spielt
 eine Schlüsselrolle in Wladimir Putins Erklärung vom 24. Februar 2022,
 mit der er die »militärische Spezialoperation« Russlands in der Ukraine
 begründete.

 Von Tim Geiger

                                                                                                                IMAGO/ITAR-TASS

            KPdSU-Generalsekretär
        Gorbatschow empfängt den
     amerikanischen Außenminister
        Baker am 9. Februar 1990 in
    Moskau zu Gesprächen über die
    deutsche Einheit. Das Treffen ist
  ein zentraler Referenzpunkt in der
    geschichtspolitischen Erzählung
  vom (angeblichen) Wortbruch des
  Westens bezüglich einer Nichter-
                weiterung der NATO.

                                                                1
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Militärgeschichte | Dossier

A
       usgangspunkt      dieser   »Täu-     schon wegen der besorgten europäi-         verworfen hatte. Ende März stellte Bun-
       schungserzählung« ist die für die    schen Nachbarn solle ein vereintes         deskanzler Kohl gegenüber Genscher
       deutsche Einigung so zentrale        Deutschland fest in die europäischen       klar, dessen Plädoyer für gesamteuropäi-
Phase des Frühjahrs 1990, in der ent-       Strukturen integriert bleiben. Daher       sche Sicherheitsstrukturen, in denen die
scheidende Weichenstellungen erfolg-        müsse die Bundesrepublik nach einer        Militärbündnisse NATO und War-
ten. Während die Perspektive auf eine       Vereinigung in der NATO bleiben, aller-    schauer Pakt perspektivisch aufgehen
deutsche Einheit in Ost- wie Westeuro-      dings solle die NATO-Militärstruktur       sollten, würde nicht der Politik der Bun-
pa zunächst bestenfalls auf verhaltene      nicht nach Osten ausgedehnt werden.        desregierung entsprechen, was natür-
Zustimmung stieß, hatten sich die USA       Genscher ließ sich dabei sogar zu der      lich auch Moskau wiederum registrierte.
klar hinter eine deutsche Wiederverei-      Aussage hinreißen:                         Damit waren binnen kurzem die Aussa-
nigung gestellt, allerdings den Verbleib                                               gen der beiden Außenminister überholt
Gesamtdeutschlands in der NATO zur                                                     – zumal es bereits zu diesem Zeitpunkt
zwingenden Vorbedingung gemacht.                »Was im Übrigen                        Signale aus der sowjeti­schen Führung
Der UdSSR konnte solch eine Über-                                                      gab, dass Moskau eine NATO-Mitglied-
nahme ihres verlässlichsten Verbün-           die Nichtausdehnung                      schaft Gesamtdeutschlands am Ende
deten DDR durch die Bundesrepublik,           der NATO anbetreffe,                     durchaus akzeptieren könne – bei ent-
den bisherigen Gegner im Kalten Krieg,                                                 sprechenden westlichen Abrüstungs-
schwerlich gefallen. Dem Kreml, der               so gelte dieses                      und Sicherheitsgarantien sowie finanzi-
bislang die deutsche Einheit ganz abge-          ganz generell.«                       ellen Zusagen.
lehnt hatte, wäre ein neutrales Gesamt-                                                  Wie kaum ein anderes zeithistorisches
deutschland, wie es DDR-Ministerpräsi-            Genscher zu Schewardnadse,           Ereignis ist der Prozess der deutschen
dent Hans Modrow propagierte, lieber                   10. Februar 1990                Einigung inzwischen durch zahllose in-
gewesen.                                                                               ternationale Akteneditionen durch-
                                                                                       leuchtet. All diese Quellen zeigen, dass
»Not one inch eastward«                       Dass die NATO territorial nicht näher    in den verschiedenen bi- und multilate-
                                            an die sowjetische Grenze heranrücken      ralen Gesprächen und Verhandlungen
Der amerikanische Außenminister             dürfe, äußerte Genscher in den Februar-    ausschließlich um die NATO-Mitglied-
James A. Baker versuchte die sowjetische    Wochen 1990 auch gegenüber mehreren        schaft des DDR-Territoriums gerungen
Führung am 9. Februar 1990 dennoch          westlichen Gesprächspartnern.              wurde – das war schwierig und kontro-
für den westlichen Lösungsansatz zu ge-       Genschers Aussagen wirken zunächst       vers genug. Eine darüber hinausgehende
winnen, indem er den Generalsekretär        wie ein Beleg für die russischen An-       NATO-Osterweiterung weiterer Staaten
der Kommunistischen Partei der Sow-         schuldigungen, der Westen habe frühere     lag 1990 schlicht jenseits der Realitäts-
jetunion (KPdSU) Michail Gorbatschow        Zusagen gebrochen. Allerdings darf man     vorstellungen aller Beteiligter. Offiziell
die rhetorische Frage stellte, welches      sie nicht verabsolutieren und aus ihrem    existierte zudem noch der Warschauer
Deutschland für Russland und Europa         zeitlichen Entstehungskontext reißen,      Vertrag, auch wenn allen Verantwortli-
langfristig besser wäre: ein ungebunden     denn letztlich zeigen diese Äußerungen     chen in Ost wie West seit Frühjahr 1990
vagabundierendes Deutschland ohne           des westdeutschen Außenministers nur,      klar war, dass das östliche Militärbünd-
(kontrollierende) US-Truppen oder ein       wie weit das Bonner Auswärtige Amt im      nis faktisch bereits zu diesem Zeitpunkt
in die NATO eingebundenes, »with as-        Frühjahr 1990 dem sowjetischen Si­         tot war. Selbst wenn vereinzelte Stim-
surances that NATO’s jurisdiction would     cherheitsbedürfnis entgegenkommen          men, etwa aus Ungarn, bereits 1990 über
not shift one inch eastward from its pre-   wollte, um eine Lösung der deutschen       eine künftige NATO-Mitgliedschaft sin-
sent position?«                             Frage zu erzielen. Operative Politik der   nierten, blieb allein schon der NATO-
  Gorbatschow blieb eine Antwort zu-        Bundesrepublik oder gar des gesamten       Beitritt der DDR eine Herkulesaufgabe,
nächst schuldig, signalisierte aber an-     Westens wurde dieser Gedanke nämlich       deren Gelingen zunächst alles andere als
derntags dem ebenfalls nach Moskau          nie, da er mit den KSZE-Prinzipien         gesichert war.
angereisten Bundeskanzler Helmut            (Selbstbestimmungsrecht und freie
Kohl, dass sich die UdSSR einer deut-       Bündniswahl) nicht in Übereinstim-         Wandel der NATO
schen Einigung nicht widersetzen            mung zu bringen gewesen wäre. Für
werde, wenn man sich über die nötigen       diese Grundprinzipien setzte sich die      Seit ihrer Gründung 1949 war die NATO
internationalen Rahmenbedingungen           Bundesregierung ja selbst stets ener-      für die Sowjetunion das dämonisierte
einige. Im Parallelgespräch der Außen-      gisch ein.                                 Feindbild gewesen. 1990 indes streckte
minister erörterte Hans-Dietrich Gen-         Schon im Frühjahr 1990 entging der       die NATO beim NATO-Gipfel in London
scher seinem sowjetischen Kollegen          sowjetischen Seite keineswegs, dass Prä-   dem Warschauer Vertrag symbolisch
Eduard Schewardnadse, »ein Neutralis-       sident Bush noch im Februar Bakers         »die Hand zur Freundschaft« entgegen,
mus Gesamtdeutschlands sei falsch«,         Moskauer Formel als nicht praktikabel      nachdem im Dezember 1989 mit Au-

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 Symbol des Untergangs einer
 Supermacht: Am Weihnachts-
 abend 1991 wird über dem
 Kreml die rote Hammer-und-
 Sichel-Flagge der Sowjetunion
 eingeholt und stattdessen die
 weiß-blau-rote Trikolore Russ-

                                                                                                                                   picture alliance/ASSOCIATED PRESS|Alexander Zemlianichenko
 lands aufgezogen. Die UdSSR
 ist Geschichte.

 ßenminister Schewardnadse erstmals           ber 1991 in Brüssel fiel pikanterweise mit   konflikten und Autonomiebestrebungen.
 ein hochrangiger politischer Vertreter       dem offiziellen Ende der Sowjetunion         Der Westen förderte dieses Ende nicht,
 des Ostens die NATO in Brüssel besucht       zusammen: Der bisherige sowjetische          sondern bemühte sich im Gegenteil
 hatte. Um die proklamierte »Entfein-         Botschafter gab in der Sitzung bekannt,      lange, die Moskauer Zentralgewalt gegen
 dung« zu realisieren, war neben Abrüs-       nunmehr ausschließlich Russland zu           die zentrifugalen Kräfte zu stärken. We-
 tungsschritten auch ein Wandel der At-       vertreten. Dessen Präsident Jelzin ließ      nige Wochen vor dem August-Putsch
 lantischen Allianz selbst unumgänglich.      gleich noch in der Sitzung schriftlich       1991 warb US-Präsident Bush noch in
 Bereits im Mai 1990 setzte die NATO          mitteilen, Ziel Moskaus sei perspekti-       Kiew öffentlich für den Erhalt der Sowje-
 ihre jahrzehntelange Maßgabe aus,            visch eine NATO-Mitgliedschaft Russ-         tunion. Vor allem stellte der Westen, ins-
 drei Prozent des Bruttosozialprodukts        lands.                                       besondere Deutschland, zig Milliarden
 für die nationale Verteidigungshaus-                                                      an Hilfsgeldern, Krediten und prakti-
 halte aufzubringen. Der NATO-Gipfel          »Geopolitische Katastrophe«                  schen Hilfen, bis hin zu Lebensmitteln,
 in Rom verabschiedete im November                                                         zur Verfügung, um ein Abgleiten ins
 1991 ein neues Strategisches Konzept,        Wie zuvor die mittel- und osteuropäi-        Chaos zu verhindern.
 das die bisherige Strategie der Flexible     schen Staaten, Russland und die 1991           Das Auseinanderbrechen der Sowjet-
 Response ablöste. Diese war vom Osten        unabhängig gewordenen Baltischen             union in 15 selbstständige, teils rivalisie-
 wegen der darin enthaltenen Möglich-         Staaten wurden sämtliche Nachfol-            rende und in Grenzstreitigkeiten ver-
 keit eines nuklearen Ersteinsatzes durch     gestaaten der UdSSR zur Mitarbeit im         strickte Staaten hatte dramatische
 die NATO stets als besonders bedrohlich      NAKR eingeladen; selbst Albanien trat        Fol­gen: Zerrissen wurden nicht nur zu-
 wahrgenommen worden (siehe Beitrag           1992 diesem Kooperations- und Dialog-        vor eng verflochtene Wirtschaftsräume,
 Abschreckung).                               forum bei.                                   sondern selbst Familien, die auf einmal
   Als weiterer Baustein dieser Politik der     Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin     unterschiedliche Staatsangehörigkeiten
 Freundschaftshand wurde auf deutsch-         später als »die größte geopolitische Kata-   besaßen. Während der Westen die
 amerikanisches Betreiben 1991 der            strophe des 20. Jahrhunderts« bezeich-       1990er Jahre als befreienden demokrati-
 Nord­a tlantische Kooperationsrat            net, erfolgte in erster Linie aufgrund in-   schen Aufbruch empfand, erlebte sie der
 (NAKR) gegründet. Diesem Dialog- und         nerer Widersprüche und Defizite wie          postsowjetische Raum als Dekade des
 Kooperationsforum gehörten neben den         fehlender Demokratie, der ineffektiven       Niedergangs, der Demütigung und der
 NATO-Staaten gleichberechtigt die eins-      Planwirtschaft, mangelnder Innovati-         Gesetzlosigkeit. Die schockartige Trans-
 tigen Warschauer-Pakt-Staaten an. Die        onskraft, technologischer Rückständig-       formation der Plan- in eine Marktwirt-
 konstituierende Sitzung am 20. Dezem-        keit sowie ungelösten Nationalitäten-        schaft, ohne soziale Abfederung, mit

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Auswüchsen eines ungezügelten Kapi-                                   Krisenherde in Osteuropa 1990 – 2022
talismus und häufig mafiösen Privatisie-
rungen vormaligen Staatseigentums                   2                                 1        Konflikte (Auswahl):
                                                                                                1 Untergang des russischen Atom-U-Boots Kursk 2000
brachten Preissteigerungen, Inflation
                                                                                                2 Russische Arktis-Expedition 2007 (Hissen der russ.
und den Bruch vieler Berufsbiografien.                                                            Flagge im Nordpolarmeer)
Während breite Bevölkerungsschichten                                                            3 Wilnaer Blutsonntag 13. Januar 1991
                                                                                                4 »Zerfall« Jugoslawiens 1990 – 2008
verarmten, häufte eine kleine Oligar-
                                                                                                5 Stiller Militärputsch in der Türkei, Rücktritt von
chenschicht skandalöse Reichtümer an.                                                             Ministerpräsident Erbakan 1997
                                             SCHWEDEN                                           6 Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan
Die Implosion staatlicher Strukturen                                                              (Nargorny-Karabach), 1988 – heute
fand ihren Ausdruck in einer unvollen-                                                          7 Konflikt zwischen PKK und türkischer Regierung
deten Demokratisierung, einer brüchi-                                                             1990 – heute
                                                             FINNLAND
                                                                                                8 Zweiter Golfkrieg: Aufstellung Allied Mobile Force Air 1991
gen Rechtsstaatlichkeit und teils bluti-                                                        9 Separatismuskonflikte seit 1992 (Abchasien, Süd-
gen Separatismusbestrebungen in den                                                               ossetien), 2008 Georgisch-Russischer Krieg
                                                                                               10 Bürgerkrieg und Seperatismus in der Ostukraine seit 2014
fragilen neuen Staaten. In Russland
                                                                ESTLAND                        11 Griechenland-Türkei-Konflikt 1955 – heute
löste Jelzin den eskalierenden Macht-                                                          12 Russische Annexion der Krim 2014
kampf zwischen Präsident und Parla-                                                            13 Seperatismus (Transnistrien) seit 1992
ment im Oktober 1993, indem er das                           LETTLAND                          14 Gewaltsame Unterdrückung der Opposition nach
                                                                                                  Wahlfälschung 2020
Duma-Gebäude mitten in Moskau mit              Ostsee          LTU    3
Panzern beschießen ließ.                                                         14                                                            KASACHSTAN
                                                          RUS
                                                                                                                RUSSLAND
                                                                          BELARUS
Natürliche Einflusssphäre?
                                                   POLEN

Diese Entwicklung wiederum jagte                                                                           10
                                                                                      UKRAINE                                                      Ka
Schockwellen durch die vormaligen                                                                                                                    sp
                                             CZE                                                                                                        isc
Warschauer-Pakt-Staaten in Mittel- und                                                                                                                     he
                                                    SVK                                   13                                                                  sM
Osteuropa. Diese fühlten sich durch                                              MDA                                                                              ee
                                                                                                                                                                    r
Russlands Rede vom »nahen Ausland«                 UNGARN                                                                              9
bedroht: Waren damit »nur« vormalige                                 RUMÄNIEN                              12
                                                                                                                              GEORGIEN                  AZE
                                              HRV
Republiken der UdSSR mit ihren oft                       4                                        Schwarzes Meer                                          6
                                                                                                                                             ARM
starken russischen Minderheiten ge-                BIH
                                                             SRB
meint oder der gesamte einstige sowjeti-                              BULGARIEN
                                                               XKX                                                              Incirlik
sche Einflussbereich? Trotz wirtschaftli-          MNE                                                                Diyarbakir               7                IRAN
                                                                MKD
cher Schwäche und augenscheinlichem                      ALB                                              5          Erhac
                                                                            11                                                     8
Bedeutungsverlust beharrte Russland                                                                           TÜRKEI
als Atom- und Vetomacht der Verein-                                                                                                            IRAK
                                                             GRIECHENLAND                                                   SYRIEN
ten Nationen auf einem Großmacht-, ja
Weltmacht-Status, dem sich das Prinzip
                                                    NATO-Nationen vor 1990                        Gewaltsamer Konflikt                     Abkürzungen der
der souveränen Gleichheit aller Staa-                                                                                                      Staatsnamen nach
                                                    NATO-Beitritt 1999
ten unterzuordnen habe. So sehr sich                                                              Krise                                    ISO 3136 Alpha 3
                                                    NATO-Beitritt 2004
Russland als genuiner Teil Europas be-              NATO-Beitritt 2009                            Militärputsch
greift, galt (und gilt) das Bestreben des           NATO-Beitritt 2017
Kremls, von den weiterhin unstrittig                NATO-Beitritt 2020
als Supermacht klassifizierten USA als              Kein NATO-Staat
                                                                                                                                                          © ZMSBw
gleichrangig anerkannt zu werden. So         Quelle: B. Lemke, Periphery or Contact Zone?, 2015, Nachsatz.                                                09253-02
blieben Phantomschmerzen über den
Verlust des Imperiums so virulent wie
die Neigung, das »nahe Ausland« un-
geachtet des völkerrechtlichen Nicht-       gen im 18. Jahrhundert, den Cordon sani­                      suchten vor allem Polen, Tschechen und
einmischungsgebots als »natürliche          taire der Zwischenkriegszeit, den                             Ungarn nun dauerhaft Sicherheit vor
Einflusssphäre« zu behandeln.               Hitler-Stalin-Pakt, die Zwangssowjetisie-                     dem instabilen, unberechenbaren russi-
  Daher drängten die mittel- und osteu-     rung und nach 1945 die Eingliederung in                       schen Nachbarn. Sie wollten nicht nur
ropäischen Staaten (MOE) früh auf ei-       den Ostblock, wo sie gewaltsam gehalten                       Kooperation, sondern die Mitgliedschaft
nen NATO-Beitritt. Schließlich hatten       worden waren (1956 Ungarn-Aufstand,                           in der NATO, um den Schutz des »mäch-
auch sie traumatische historische Erfah-    1968 »Prager Frühling«, 1980/81                               tigsten Verteidigungsbündnisses der
rungen gemacht: die polnischen Teilun-      »Solidarność«). Verständlicherweise                           Welt« zu erhalten.

                                                                      4
                    (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
SICHERHEITSPOLITIK

   Der Beitrittswusch der MOE-Staaten                      Fortführung der (nuklearen) Abrüs-                              maßgeschneiderte Kooperation, deren
 entsprach dem KSZE-Prinzip der freien                     tungspolitik wichtiger, die nur gemein-                         Intensität und Schwerpunkte jeweils
 Bündniswahl, das sowohl die UdSSR als                     sam mit Russland möglich war, das nicht                         individuell vereinbart wurden. Partner-
 auch Russland anerkannt hatten. Arti-                     durch eine als unnötig betrachtete                              ship for Peace bedeutete zusätzliche mi-
 kel 10 des NATO-Vertrags vom 4. April                     NATO-Osterweiterung vergrault werden                            litärische Nähe, aber keine Beistands-
 1949 ermöglicht die Aufnahme eines                        sollte.                                                         pflicht nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.
 europäischen Staates, »der in der Lage                                                                                    Strittig blieb insofern, ob PfP Vorberei-
 ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu för-               Zwischenlösung und                                              tung oder Ersatz für eine spätere NATO-
 dern und zur Sicherheit des nordatlanti-                  Kompensation                                                    Mitgliedschaft sein sollte. In der Admi-
 schen Gebietes beizutragen«, wenn alle                                                                                    nistration des neuen US-Präsidenten
 Mitgliedstaaten zustimmen. Doch würde                     Die MOE-Staaten drängten jedoch wei-                            Bill Clinton neigte das Pentagon zu letz-
 nun eine Aufnahme einstiger War-                          ter. Im August 1993 gelang dem polni-                           terem, einflussreiche Kräfte im State De­
 schauer-Pakt-Staaten nicht zwangsläufig                   schen Präsidenten Lech Wałęsa, dem                              partment dagegen zu ersterem. In der
 Russland brüskieren, da Moskau diesen                     russischen Präsidenten Jelzin bei einem                         Bundesrepublik verliefen die regie-
 Schritt eigentlich nur als latente Miss-                  Warschau-Besuch kurzzeitig Zustim-                              rungsinternen Fronten umgekehrt: Ei-
 trauensbekundung, mithin als Rückfall                     mung zum polnischen NATO-Mitglied-                              nem zögerlichen Auswärtigen Amt
 in alte konfrontative Denkmuster oder                     schaftswunsch zu entlocken. Dennoch                             stand Verteidigungsminister Volker
 schlimmer noch: als neue Bedrohung                        bestand an der konstanten russischen                            Rühe als engagierter Befürworter der
 empfinden konnte? Würden nicht da-                        Ablehnung einer NATO-Osterweite-                                NATO-Osterweiterung gegenüber. Ihm
 durch neue trennende Gräben aufgeris-                     rung kein Zweifel.                                              zufolge läge es im deutschen Interesse,
 sen, wo die alten des Ost-West-Konflikts                    Als Ausweg aus diesem Dilemma ent-                            fortan nur noch von Verbündeten um-
 gerade erst überwunden waren?                             stand 1994 die Partnership for Peace                            geben zu sein, statt dauerhaft die über-
   Entsprechend skeptisch standen daher                    (PfP) der NATO. Eine Teilnahme war al-                          kommenen Frontlinien des Kalten Krie-
 zunächst etwa Frankreich und die Bun-                     len NAKR-Staaten, also auch Russland,                           ges zu konservieren.
 desrepublik der Idee einer NATO-Ost­                      möglich, aber ebenso neutralen Staaten                            Ein Wendepunkt war 1994 erreicht, als
 erwei­  terung gegenüber, ebenso die                      wie Österreich, Finnland und Schwe-                             Clinton verkündete, neue NATO-Mit-
 Bush-Ad­mi­nistration. Für sie war die                    den. Das Programm ermöglichte eine                              glieder seien keine Frage des Ob, son-

  Die Osterweiterung der NATO, 1990 – 2022                                                                                                 NATO-Nationen vor 1990
                                                                                                                                           NATO-Beitritt 1990
                                                                                          FINNLAND
   Abkürzungen der Staatsnamen                                                                                                             NATO-Beitritt 1999
   nach ISO 3136 Alpha 3                              NORWEGEN
                                                                       SCHWEDEN                                                            NATO-Beitritt 2004
                                                                                           ESTLAND
                                                                                                                                           NATO-Beitritt 2009
                                                                                                                                           NATO-Beitritt 2017
                                                                                                                  RUSSLAND                 NATO-Beitritt 2020
                                         N or dsee                                         LETTLAND                                        Beitrittskandidat
                              GROSS                  DÄNEMARK                                                                              Zu Beitrittsgesprächen eingeladen
               IRLAND                                                        Os ts ee      LITAUEN
                            BRITANNIEN                                                                                                     kein NATO-Staat
                                                                                          RU                                                                   KASACHSTAN
                                                                                                      BELARUS

                                             NLD
                                                               DDR                 POLEN
                                                BUNDES-
    AT L A N T I K                         BEL
                                                                                                                 UKRAINE
                                                 REPUBLIK                                                                                                          Ka
                                                                          CZE                                                                                           sp
                                                                                                                                                                             is
                                                       DEUTSCH-                     SVK                                                                            M              ch
                                                         LAND                                                  MDA                                                      ee             es
                                                                                                                                                                             r
                                 FRANKREICH                            AUT
                                                     CHE                        UNGARN
                                                                       SVN                          RUMÄNIEN                                               GIEN
                                                                             HRV                                                                      GEOR          AZE
                                                                                                                             Sc hwarz es
                                                                                                                                M eer                        ARM
                                                                                BIH       SRB
        AL

                                                                                   MNE               BULGARIEN
      UG

                                                               ITA                            XKX
                SPANIEN                                           LI                                                                                                              IRAN
    RT

                                                                     EN                        MKD
   PO

                                                                                        ALB
                                                                                                                                    TÜRKEI
                                                                                               GRIECHEN-
                                                                                                                                                               IRAK

                                         Mi ttel meer                                                                                             SYRIEN
                                                                                                    LAND
                                 DZA                                                                                                        LBN
                                                                                                                                                                        © ZMSBw
      MAR                                            TUN                                                                   ZYPERN                                       09254-02

                                                                                          5
                          (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier
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                                                                                                          Partner, nicht Gegner: Gut gelaunt winken der russische Prä-
                                                                                                          sident Boris Jelzin und NATO-Generalsekretär Javier Solana
                                                                                                          am 27. Mai 1997 im Pariser Élysée-Palast mit ihren Unter-
                                                                                                          zeichnungsurkunden der NATO-Russland-Grundakte. Diese
                                                                                                          sollte den Dialog und die Kooperation beider Seiten für eine
                                                                                                          gemeinsame Zukunft garantieren.

                                   dern nur noch des Wann. Clinton trie-       April 1999 beim NATO-Gipfel in Wa-          hene NATO-Russland-Rat konstituierte
                                   ben dabei auch innenpolitische Zwänge:      shington. Dort wurde zugleich der           sich 2002 bereits unter dem neuen rus-
                                   Die oppositionellen Republikaner, die       Membership Action Plan (MAP) verab-         sischen Präsidenten Wladimir Putin.
                                   bei den Kongresswahlen nach Jahrzehn-       schiedet, der weitere Beitrittskandida-     Dort erörterten die Beteiligten in den
                                   ten in beiden Kammern eine Mehrheit         ten durch praktische Unterstützung auf      Folgejahren ein breites Themenfeld ge-
                                   gewannen, hatten sich klar auf eine ra-     einen Allianzbeitritt vorbereiten sollte,   meinsamer Sicherheitsinteressen. Doch
                                   sche NATO-Osterweiterung festgelegt.        aber keinen Aufnahmeanspruch be-            all das verhinderte nicht den sich seit
                                   Außenpolitisch schien Rücksichtnahme        gründete.                                   der Jahrtausendwende abzeichnenden
                                   auf Russland nach dem Abschluss der                                                     Zerfall der bisherigen Sicherheitsarchi-
                                   Abrüstungsverträge und dem Rückzug          Gescheiterte Integrationsversuche           tektur. Parallel zu dem sich verschlech-
                                   der letzten russischen Truppen aus                                                      ternden Verhältnis mit dem Westen
                                   Deutschland und dem Baltikum weni-          Gleichsam als Ausgleich wurde Russ-         gewann in Russland das Narrativ an
                                   ger dringlich. Zudem wuchsen die Diffe-     land vorzeitig und ohne dafür bereits       Gewicht, in Sachen NATO-Erweiterung
                                   renzen im seit 1991 entflammten Jugos-      hinreichend qualifiziert zu sein in Gre-    betrogen worden zu sein. Hinter dieser
                                   lawienkonflikt, wo Russland sich            mien wie den Europarat (1996) oder den      Lesart steckt allerdings – heute mehr
                                   ungeachtet der serbischen Aggressions-      Kreis der führenden westlichen Indust-      denn je – zumeist weniger geschichts-
                                   politik stets aufseiten der orthodoxen      riestaaten aufgenommen (1998 Erwei-         wissenschaftliches Erkenntnisinteresse
                                   Glaubensbrüder positionierte. Moskaus       terung der G7 zur G8). Vor allem wurde      als vielmehr recht durchsichtige ge-
                                   Politik schien zunehmend ambivalent         auch die Allianzpolitik der ausgestreck-    schichtspolitische Interessen.
                                   angesichts seines brutalen Tschetsche-      ten Partnerhand vorangetrieben: In der
                                   nienkrieges (1994‑1996) und Jelzins la-     NATO-Russland-Grundakte vom Mai
                                   bilem Gesundheitszustand. Ende 1995         1997 verpflichteten sich beide Seiten         Dr. Tim Geiger ist wissenschaftlicher
                                   warnte Jelzin beim Budapester Gipfel        zur Vertiefung ihrer Sicherheitskoope-        Mitarbeiter des Instituts für Zeitge­
                                   der Organisation für Sicherheit und Zu-     ration, zur Stärkung der OSZE und zur         schichte München-Berlin in der
                                   sammenarbeit in Europa (OSZE, als           Neufassung des KSE-Vertrags, bei dem          Abteilung im Auswärtigen Amt. Zu
                                   Nachfolgeorganisation der KSZE) noch        an die Stelle der obsolet gewordenen          seinen Forschungsschwerpunkten
                                   davor, eine NATO-Osterweiterung             Blockstruktur nationale und territoriale      zählen Internationale Beziehungen
                                   werde Europa in einen »kalten Frieden«      Obergrenzen treten sollten. Die NATO          und Sicherheitspolitik.
                                   stürzen. Dies bewirkte jedoch nur noch,     sagte zu, im »gegenwärtigen und vor-
                                   dass die Erweiterungsverhandlungen          hersehbaren Sicherheitsumfeld« keine        Literaturtipps
                                   erst nach den russischen Präsident-         »substantiellen Kampftruppen dauer-         Mary Elise Sarotte, Not One Inch: America,
                                   schaftswahlen 1996 begannen.                haft« in den neuen NATO-Mitglieds-          Russia, and the Making of Post-Cold War
                                     Beim Madrider NATO-Gipfel im Juli         ländern zu stationieren, ebenso wenig       Stalemate, New Haven 2021.
                                   1997 wurden Ungarn, die Tschechische        Nuklearwaffen oder deren Logistik.          Oxana Schmies (ed.), NATO’s Enlargement
                                   Republik und Polen zu Beitrittsgesprä-      Der in der Grundakte als Gremium der        and Russia. A Strategic Challenge in the Past
                                   chen eingeladen; ihr Beitritt erfolgte im   Information und Kooperation vorgese-        and Future, Stuttgart 2021.

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                                                       (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
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