Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre - Susan Pollock an der FU-Berlin
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Herausgeber*innenkollektiv, eds. 2021. Pearls, Politics and Pistachios. Essays in Anthropology and Memories on the Occasion of Susan Pollock’s 65th Birthday: 533–45. DOI: 10.11588/propylaeum.837.c10765. Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre – Susan Pollock an der FU-Berlin Georg Cyrus* & Philipp Tollkühn ** Die Forderung einer Entdisziplinierung der auch etwas mit einer schleichenden Änderung Archäologie (Haber 2012) hat sich für uns nie der etablierten Fächerstruktur zu tun. so konkret gestellt wie im Zusammenhang der Neuzeitarchäologie in Berlin. Denn hier Eine solche Entdisziplinierung wurde aber gruben in Tempelhof beispielsweise prähisto- nicht nur durch politisches Interesse voran- rische Archäolog*innen auf einer Grabung des getrieben, sondern entsprang auch Tendenzen Institutes für Vorderasiatische Archäologie aus der Lehre selbst. Wir wurden während in einem in die Nazizeit datierenden Kon- unseres Bachelorstudiums immer wieder dazu text aus (Trenner und Collins 2014; Trenner angeregt, auch Kurse der anderen archäologi- 2015). Diese Zusammenarbeit war sicherlich schen Disziplinen zu besuchen und es wurden nicht immer einfach, da Grenzen verschie- sogar gemeinsame Formate angeboten. Auch dener archäologischer Disziplinen nicht nur Student*innengruppen versuchten aktiv, die imaginiert, sondern tatsächlich auch in den verschiedenen Fachschaftsinitiativen (FSIn) praktischen Methoden verankert sind. Vor der Archäologie zusammenzubringen und zu- allem in persönlichen Gesprächen wurden wir mindest auf dem Niveau der archäologischen häufiger gefragt, wieso denn das Institut für Fächer gemeinsam zu agieren. Ein Beispiel Vorderasiatische Archäologie eine solche Gra- für eine mittlerweile etablierte Organisation bung organisiere. Die disziplinäre Aufteilung dieser Art ist der Dachverband archäologi- der Archäologie war also bei einigen fest in scher Studierendenvertretungen (DASV) e.V. den Denkmustern verankert. Entscheidend Es gibt also viele Bereiche, in denen Fächer- für die Mitarbeit an Grabungen im Kontext grenzen durch die engagierten Arbeiten von des 20. Jhd. war für uns aber nie ein diszi Einzelnen oder auch Gruppen keine nennens- plinäres Interesse, sondern eine ethische und werte Rolle spielen. politische Einstellung sowie ein Bewusstsein für historische Verantwortung. Als einige Ein solcher Prozess lässt sich theoretisch Jahre später eine weitere zeitgeschichtliche über das Konzept der agency fassen, das in Grabung an der Harnackstraße in Berlin der archäologischen Theorie schon lange ge- Dahlem durchgeführt wurde, bei der wieder nutzt wird. Wir verstehen hier unter agency prähistorische und vorderasiatische Archäo- das Handlungspotenzial von Individuen oder log*innen gemeinsam arbeiteten, stellte sich Kollektiven, das in Wechselwirkung mit die Frage nach den Disziplinen nicht mehr in gesellschaftlichen Strukturen steht. Die Re- demselben Maße. Möglicherweise hatte die konstruktion von Handlungspotenzialen spielt Grabung nicht die gleiche Reichweite, da sie eine große Rolle bei der Interpretation alter- kleiner angelegt war. Vielleicht hatte es aber tumswissenschaftlicher Befunde (Robb 2010), * Institut für Vorderasiatische Archäologie, Freie Universität Berlin, Berlin (Deutschland) ** Institut für Prähistorische Archäologie, Freie Universität Berlin, Berlin (Deutschland)
Georg Cyrus & Philipp Tollkühn kann aber ebenso für eine Analyse gegen Multitude unterscheidet sie von Institutionen, wärtiger Machtverhältnisse nützlich sein. die auf langfristigen alltäglichen Handlungen Giddens’ Arbeit über die Konstitution beruhen. Mitunter können Multituden als von Gesell schaften stellt einen geeigneten Gegenmacht eine beträchtliche Gefahr für Rahmen dar, um Prozesse wie die eingangs Institutionen darstellen. beschriebenen zu untersuchen (Giddens 1986). Wir wollen in diesem Artikel drei verschiedene Giddens’ Kernthese lautet, dass Institutionen Fallbeispiele einer solchen Dynamik zwischen aus Alltagshandlungen entstehen, die fortlau- institutionalisierter Struktur und einzelnen fend wiederholt werden. Diese Institutionen Akteur*innen betrachten, die alle direkt oder können dabei durchaus ein Eigenleben ent- indirekt mit Susan Pollocks Aktivi täten an wickeln und beginnen, Handlungen zu der Freien Universität Berlin (FU Berlin) zu regulieren, sogar zu diktieren und auf diese tun haben. Unser erstes Beispiel bezieht sich Weise auch erheb liche Macht auszuüben. auf die Grabungen an der Harnack straße Wichtig ist jedoch, dass die Institutionen in den Jahren 2014 bis 2016, wobei es hier ohne die Handlungen der beteiligten Indivi- nicht um die archäologischen Erkenntnisse duen oder Kollektive nicht aufrechterhalten dieser Grabung gehen soll, sondern eher werden können. Daher sieht Giddens (1986, um die Beziehung zwischen Universität und 25–28) eine wesentliche Macht in den Ent- Öffentlichkeit. Unser zweites Beispiel handelt scheidungen individueller Akteur*innen. Zu vom Konflikt zwischen FSIn der Archäo Recht wurde die Interpretation dieser Theorie logie und den institutionalisierten Disziplinen in der postprozessualen Archäologie als neo- im Streit um Anstellungsverhältnisse. Hier liberal kritisiert (Patterson 2005), spielt der ist es w ichtig, die Strukturen detailliert dar- Individualismus doch eine große Rolle. Aber zustellen, um das Handlungspotential der die ursprüngliche Theorie Giddens’ liest sich Student*innen richtig einzuschätzen. Unser eher als ein Weiter denken des Marx‘schen drittes Beispiel behandelt den Einfluss, den Gedankenguts. Giddens’ Theoriegebäude ver Lehrende durch die Wahl ihrer Lehrinhalte sucht vor allem, Marx’ Ansicht g erecht zu auf die Struktur haben können. Insbesondere werden, dass Menschen eben selbst ihre theoretische Aspekte der Archäologie haben Geschichte machen, sich aber häufig darüber das Potential, Fächergrenzen durchlässig zu nicht im Klaren sind oder sie nicht frei machen oder gar aufzulösen. Wir hoffen mit gestalten können (Giddens 1986, xxi). In diesen drei Beispielen aufzuzeigen, wie Susan diesem Artikel soll es aber w eniger um den Pollocks Wirken an der FU Berlin direkt und individualistischen, sondern eher um den indirekt die Strukturen und unsere eigenen widerständigen und streitlustigen Charakter Handlungen beeinflusst hat. gehen. Während einige Akteur*innen in den folgenden Beispielen Individuen sind, handelt Die Wirkung der Grabung es sich bei anderen um Kollektive oder sogar an der Harnackstraße um etwas, was Hardt und Negri (2003; 2004) als M ultitude bezeichnen. Eine Multitude ist Die Ausgrabung in der Archäologie der Nazi eine Gruppe von Subjekten, deren Interessen zeit ist ein Akt des Sichtbarmachens, der die sich in einem bestimmten Aspekt über politische oder ethische Forderungen die schneiden und die daher gemeinsam agieren. Verbrechen der Nazizeit nie zu vergessen, unter- Dieser Zusammenschluss ist aber selten von mauert und legitimiert (Bernbeck und Pollock Dauer und verschwindet somit schnell wieder, 2018; McGuire 2008). Schon die Aufarbeitung wenn ein gemeinsames Ziel erreicht wurde der Funde kann mit ethischen Fragestellungen oder die Subjekte aufhören, sich in ihm zu be- der Totenruhe verbunden sein und historische tätigen. Der überaus spontane Charakter einer Synthesen werden in unserer Erfahrung sehr 534
Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre – Susan Pollock an der FU-Berlin viel häufiger auf ethische und politische Posi Anders stellten sich die Geschehnisse um die tionen geprüft als die Interpretationen anderer Knochenfunde an der Harnackstraße an der FU Epochen. Daher spielen hier die M otivationen in Berlin dar. Am 1. Juli 2014 wurde bei Rohr- Einzelner oft eine offensichtlichere Rolle als arbeiten an der Universitäts bibliothek eine bei anderen Zweigen der Archäologie. Es Grube mit Menschen knochen g eschnitten, sind keine Institutionen, die hier objektiv woraufhin Beteiligte zunächst die Polizei und ohne Agenda ausgraben, sondern moti- riefen (Kühne 2015a; Wilde 2018, 138–41). Zwei vierte Subjekte, die sich zusammenschließen, Tage später, am 3. Juli, gab die Polizei offiziell um ihren Teil zur Geschichtsschreibung des bekannt, dass sie die K nochen geborgen und 20. Jhd. beizutragen. Wir wollen diese politi- für eine einige Wochen andauernde Analyse in schen Dimensionen anhand der Grabung der die Gerichtsmedizin verbracht habe (campus. Harnackstraße vorstellen. Dabei geht es uns leben 2014a). Sofort kam der Verdacht auf, es nicht so sehr um eine Präsentation der Funde handle sich um Überreste von Präparaten aus und Ergebnisse (siehe dafür Pollock und Cyrus dem ehemaligen „Kaiser- Wilhelm-Institut 2018), sondern eher um den allgemeinen Um- für Anthropologie, menschliche Erblehre gang mit zeitgeschichtlichen Grabungen und und Eugenik“ (KWIA), das sich in unmit- der Motivation verschiedener Akteur*innen. telbarer Nachbarschaft zu den Funden im Gebäude des heutigen „ Otto-Suhr-Institutes“ Beziehungen zwischen individuellen befand. Dort hatte auch Josef Mengele als Akteur*innen und etablierten Institutionen Gastwissenschaftler mit Leichenteilen aus sind nicht immer harmonisch, vor allem, Konzentrationslagern gearbeitet, womit die wenn es um ethische und politische Werte Funde mit einem Menschen in Verbindung geht. Die früheste explizit an der Nazi- gebracht wurden, der geradezu als Symbol zeit interessierte Grabung in Deutschland, für ein Verbrechen gegen die Menschlich- die uns bekannt ist, wurde nicht von keit seitens der W issenschaft gilt (Deutsche Archäolog*innen durchgeführt, sondern von Presse- Agentur / Berlin und B randenburg interessierten Laien. 1985 wurden die Ruinen 2014). In den kommenden Monaten blieb es des sog. „Reichssicherheitshauptamtes zwar ruhig um die Knochenfunde, aber die (RSHA)“ von Mitgliedern und Freund*innen Assoziation mit Mengele stand im Raum. Erst des Vereins „Aktives Museum Faschismus Mitte Dezember, kurz vor Veröffentlichung und Widerstand in Berlin“ in einer un- der Ergebnisse der Gerichtsmedizin, griff die angemeldeten Aktion ausgegraben. Das Studierendenzeitschrift FUrios diese Asso- RSHA war die Schaltzentrale des national ziation wieder auf (Brozowski 2014). Die am sozialistischen Terrors und die Ruinen 19. Dezember veröffentlichten Ergebnisse der sollten wie eine Narbe mitten in Berlin sicht- Gerichtsmedizin untermauerten eine Inter- bar werden, sodass die Verbrechen der Täter pretation als Präparate im Zusammenhang niemals vergessen würden. Heute ist an mit dem KWIA weiter: Es handelte sich um dieser Stelle die „Topographie des Terrors“ Menschen knochen, die über m ehrere Jahr- lokalisiert (Bernbeck und Pollock 2007, 221– zehnte im Boden lagerten und bei denen 26). Diese Ereignisse zeigen d eutlich einen auch kleine Plättchen mit Beschriftungen Konflikt zwischen einer etablierten Institu- gefunden wurden (campus.leben 2014b). Nach tion, dem Berliner Senat, und einer Gruppe der Analyse wurden die Menschenknochen von Menschen mit gemeinsamem Interesse, im Krematorium Ruhleben eingeäschert dem Verein und ihren Unterstützer*innen. und anonym bestattet (Kühne 2015a; Wilde Mit der unangekündigten Grabung und der 2018). Kurz vor Ende des Jahres 2014 war Besetzung des Platzes kam es sogar zu einem also zusammenfassend folgendes passiert: Es Rechtsbruch, der aber im Nachhinein legiti- wurden Menschenknochen an der Harnack miert werden konnte. straße gefunden und fast unmittelbar mit 535
Georg Cyrus & Philipp Tollkühn den Experimenten Mengeles in Verbin- NS-Verbrechen zerstört w orden sei. Die Ver- dung gebracht. Dennoch wurden sie von der nichtung dieser Quelle käme daher einer Polizei regulär an die Gerichtsmedizin weiter Vertuschung gleich. Bernbeck hingegen machte gegeben, die sie Ende des Jahres anonym auf das Problem aufmerksam, die Knochen ein bestattete, nachdem sie nicht mit aktuellen weiteres Mal zu einem Forschungsgegenstand Verbrechen in Bezug gesetzt werden konnten. zu machen, hieße den wissenschaftlichen Um- Die Universitäts leitung selbst äußerte sich gang der Nazis zu reproduzieren. Er verurteilte das erste Mal nach der Bestattung zu einer die Einäscherung in erster Linie, weil sie der möglichen Herkunft der Knochen. Was 2015 jüdischen Vorstellung von Totenruhe wider- folgte, war eine Reihe von Schuldzuweisungen. spräche. Dieses ethische Dilemma ist letztlich nicht abschließend zu klären, sondern muss Im Januar und Februar 2015 wurden von immer wieder diskutiert werden. E thisches mehreren Zeitungen wie der Welt (Barthélémy Handeln besteht hier in erster Hinsicht darin, 2015), dem Tagesspiegel (Kühne 2015a) und diese Diskussion auch zu führen (Pollock 2016; der Berliner Zeitung (Aulich und Bischoff Pollock und Cyrus 2018). 2015) Vorwürfe gegenüber der FU und deren damaligem Präsidenten Peter-André Alt Die Gartenbauarbeiten rund um die Harnack erhoben, nicht angemessen mit dem Knochen- straße waren aber noch nicht zum Abschluss funden umgegangen zu sein. Die Universität gebracht worden und etliche Baumaßnahmen habe nicht ausreichend kommuniziert, dass standen noch bevor. Susan Pollock und es sich um Knochen aus einem Nazi-Kontext Reinhard Bernbeck überzeugten jedoch das gehandelt haben könnte und das Vorhaben, Präsidium der FU, nun jeden Bodeneingriff die Knochen pietätvoll zu bestatten, wurde als von Archäolog*innen begleiten zu lassen. Vertuschung ausgelegt. Präsident Alt wehrte So wurde hier ab 2015 eine Grabung unter sich gegen diese Vorwürfe und stellte den der Nummer 1679 im Landes denkmal amt Vorgang als ein Verfehlen der Behörden, nicht registriert und unterstützt. Gerade als es in aber der FU dar (Kühne 2015b; campus.leben der Öffentlichkeit ruhiger wurde, begannen 2015). die archäologischen Maßnahmen. Vom Juni 2015 wurde der Austausch einer defekten In diesem Klima, in dem sich zwei Institu Wasserleitung und im August 2015 der Bau tionen, die FU Berlin und die Charité, zu der Gartenanlage vor dem CeDis-Gebäude, der die Gerichtsmedizin gehört, gegenseitig der ehemaligen Direktorenvilla des KWIA, in beschuldigten, schwerwiegende Fehler ge- dem heute das Center für D igitale S ysteme der macht zu haben, war es p ersönliches FU untergebracht ist, begleitet. Diese zweite Engagement, das den Diskurs in eine Maßnahme war auch der erste Arbeitsschritt, konstruktivere Richtung lenkte. Reinhard bei dem wir, die Autoren dieses Artikels, dabei Bernbeck, der im Akademischen Senat saß, waren. Wir hatten Mittel zu Verfügung gestellt initiierte gemeinsam mit Susan Pollock und bekommen, die von der Polizei ausgehobene Student*innen am 27. Januar, zum Tag der Grube nachzugraben. Auch 2016 wurde die Befreiung von A uschwitz, eine Kranznieder- archäologische Untersuchung fortgesetzt. Im legung am Ort der Knochen funde (Kühne Februar 2016 begleiteten wir den Umbau eines 2015a; K üppers 2015). Ein weiterer Diskurs, Notausganges aus der Universitätsbibliothek, der dieses Frühjahr angeschnitten wurde, in dem wir weitere Menschenknochen aus der war die Stellungnahme des Historikers Götz sekundär verlagerten Verfüllung von 2014 Aly (2015) und die Gegenposition Reinhard bargen. Im April 2016 wurden weitere Gar- Bernbecks (2015). Aly ver urteilte die Ein tenarbeiten im Garten des CeDis-Gebäudes äscherung der Knochenfunde insbesondere von unserer/archäologischer Seite beauf- deshalb, weil hierdurch Zeugenschaft für sichtigt. Wir waren uns mittlerweile durch 536
Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre – Susan Pollock an der FU-Berlin die Informationen aus den begleitenden immer wieder Gedenkveranstaltungen beim Maßnahmen sicher, dass der 2014 geöffnete Fundort der Knochengrube in der Nähe der Leitungsgraben zumindest zum Teil mit dem Universtitätsbibliothek statt, zuletzt am 27. Abraum verfüllt wurde, in dem sich immer Januar 2020 mit großer Beteiligung. Die noch etliche K nochen befanden. Mit diesem Sensibilität mit potentiellen Knochen funden Argument konnten wir schließlich im Juli und ist bei der Bauabteilung der FU-Berlin August 2016 den gesamten G raben erneut mittlerweile wesentlich höher als noch 2014. öffnen und den sekundär verfüllten Abraum So wurde auch bei einer Reihe von kleineren komplett sieben. Hierbei fanden wir auch Bodeneingriffen um das Otto-Suhr-Institut eine zweite, 2014 zwar geschnittene, aber im Jahre 2020 eine archäologische Begleitung nicht erkannte, Knochengrube, in der wir nicht nur ermöglicht, sondern geradezu weitere Funde machten, die wiederum auf eine vorausgesetzt. Sammlung schließen ließen. Ab 2016 wurden universitätsintern über campus.leben regel- Hier zeigt sich, wie die Reaktion auf den mäßig von den Grabungen und ihren Funden Fund der Knochengrube zunächst innerhalb berichtet (campus.leben 2016a; 2016b; 2016c). eines vorgefassten Rahmens ablief, denn die beteiligten Autoritäten führten etablierte Die Sichtbarmachung der Geschichte des Handlungen durch, als sie die Polizei riefen Kaiser-Wilhelm-Institutes erfolgte durch oder die Knochen anonym bestatteten. die Funde an der Harnackstraße nach dem Schnell gab es aber Empörung aus der Abschluss der Grabung erneut. Nachdem Öffentlichkeit, die letztendlich zu zunächst am 01.09.2016 der vorerst letzte Bericht weniger etablierten Aktivitäten, wie einer auf campus.leben erschien, kam es in den Grabung oder einer Gedenkveranstaltung, folgenden Tagen noch einmal zu einem führte. Demgegenüber sind Handlungen in g roßen Medienecho, das sogar über die der Hochschulpolitik w esentlich engeren Grenzen Berlins hinausreichte (Deutsche Grenzen gesetzt. Doch auch hier gibt es die Presse-Agentur/ Berlin und Brandeburg Möglichkeit, Druck außerhalb der etablierten 2016a; Israel Nachrichten 2016; n-tv 2016; Strukturen auszuüben und Entscheidungen 24 Panorama vom rbb 2016; Stadtrand innerhalb der Struktur zu beeinflussen. Nachrichten 2016; taz 2016; Rising 2016; Strauß 2016; Welt 2016; Beer 2016; Der Die Wirkung der Fachschaftsinitiativen Standard 2016; Deutsche Presse- Agentur / auf Angestelltenverhältnisse Berlin und Brandenburg 2016b; Neues Deutschland 2016; Neuendorff 2016). Für die Institution „FU Berlin“, also unsere Universität, ist unter anderem das Hoch- Die Arbeiten sind jedoch noch nicht abge- schulrahmengesetz (HRG) struktur gebend. schlossen. Im Zuge der Grabung an der Insbesondere die von der Verfassung Harnackstraße richtete die Max-Plank-geschützte Freiheit der „Kunst und Wissen- Gesellschaft eine Stelle für die Aufarbeitung schaft, Forschung und Lehre“ (Grundgesetz, ihres Archives ein und eine studentische Artikel 5 Abs. 3 Satz 1) muss dabei B eachtung Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der Hinter- finden. Der FU Berlin wird demnach eine gründe der Knochenfunde fand sich zusammen Selbstverwaltung zugesprochen, allerdings (Wilde 2018). Nichtinvasive Analysen an den mit Vorgaben und Leitlinien, die entweder geborgenen Knochen wurden nach Absprache direkt in diesem Gesetz oder in Landes mit potentiellen Opferverbänden begonnen, gesetzen festgeschrieben sind. Da der Bereich waren aber bis zum Schreiben dieses Artikels Bildung und Forschung laut Grundgesetz noch nicht publiziert. Darüber hinaus finden nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt, 537
Georg Cyrus & Philipp Tollkühn ist dieser nach dem Föderalismusprinzip der angesprochenen Trend der „starken Hoch- Bundes republik Deutschland vornehmlich schulleitung“ und das bereits seit 1998. In Ländersache (Grundgesetz, Artikel 30). diesem Jahr wurde die sogenannte „Teil- grundordnung“ erlassen, die auf einer Im HRG werden allerdings u. a. „allgemeine „Erprobungsklausel“ des Gesetzes über Grundsätze der Mitwirkung“ der Hoch- die Hochschulen im Land Berlin (Berliner schulmitglieder festgelegt (HRG, Artikel Hochschulgesetz - BerlHG) basiert. Diese 37). Demnach hat jedes Mitglied das Recht Klausel soll das Erproben von Modellen und die Pflicht, sich an der Selbstverwal- ermöglichen, die eine „Vereinfachung der tung zu beteiligen, aber Art und Umfang Entscheidungs prozesse und einer Ver besserung der Mitwirkung der „Mitgliedsgruppen“ der Wirtschaftlichkeit, insbesondere der Er- wird durch „Qualifikation, Funktion, Ver- zielung eigener Ein nahmen der Hochschule“ antwortung und Betroffenheit“ bestimmt. (BerlHG, Artikel 7a Satz 1) mit sich b ringen. Es werden also vier Mitgliedsgruppen gebil- Die FU erprobt nun seit dem 01.01.1999 det – Hochschul lehrer*innen, akademische immer wieder für vier Jahre das in der Teil- Mitarbeiter*innen, Studierende und sonstige grundordnung fest gehaltene Modell und Mitarbeiter*innen – und deren Stimmberech- verlängert diesen Zustand jedes Mal erneut tigung in Gremien zugesichert. Allerdings mit einer positiv bewerteten Evaluierung sollen Hochschullehrer*innen „bei der Ent- einer eigens eingesetzten Arbeitsgruppe scheidung in Angelegenheiten, die die Lehre mit bezogen auf die Ziele aus Artikel 7a des Ausnahme der Bewertung der Lehre betreffen, BerlHG (Teilgrundordnung FU, Artikel 19 mindestens über die Hälfte der Stimmen, in An- Absatz 5). Strukturell wird dabei vor allem gelegenheiten, die die Forschung, künstlerische das Präsidium als zentrale Organisations Entwicklungs vorhaben oder die Berufung von einheit, Stichwort „effizientes Management“, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern mit der Übertragung wichtiger K ompetenzen unmittelbar betreffen, über die Mehrheit der gestärkt. Stimmen“ verfügen (HRG, Artikel 37 Absatz 1 Satz 5). Es bleibt also festzuhalten, dass individuellen Gestaltungsspielräumen an der FU Berlin, Diese ungleiche Stellung der Hochschul- aber prinzipiell auch an anderen deutschen mitglieder basiert auf einem Gerichtsurteil Hochschulen, strukturelle Grenzen bzw., aus des Bundesverfassungsgerichts von 1973 einem anderen (studentischen) Blickwinkel (Wiarda 2017). Es schrieb die sogenannte betrachtet, Hindernisse entgegengesetzt „Professorenmehrheit“ verfassungsrechtlich werden, die im Grunde von der Mitglieder- vor und zerschlug damit die paritätischen gruppe der Hochschul lehrer*innen dieser Strukturen der sogenannten „Gruppen Institution vorgegeben werden. Diese Gruppe universitäten“, die seit 1967 entstanden waren. ist zwar in Bezug auf ihre Ansichten eine Tatsächlich scheint die Kernlogik darin zu heterogene Masse, besitzt aber strukturell bestehen, dass Hochschullehrer*innen die durch ihr Anstellungsverhältnis die größte Hauptträger*innen der im Grundgesetz Unabhängigkeit sowie Handlungs macht. zugesicherten Freiheit der Wissenschaft seien, Die w issenschaftlichen und sonstigen wie auch im Artikel von Wiarda zu lesen Mit arbeiter*innen sowie S tudierende mit ist, denn eine wirkliche Mitgestaltung der Hilfskraftstellen stehen in einem jobbeding- anderen Mitgliedsgruppen ist mit dieser ge- ten Abhängigkeitsverhältnis. Studierende setzlichen Regelung quasi unmöglich. generell sind bezüglich der weiteren Karriere auf Bewertungen von Hochschullehrer*innen Speziell an der FU folgt man zusätzlich angewiesen und deren Wohlwollen bei noch dem ebenfalls im Zeit-Artikel Bewerbungs verfahren, beispielsweise in 538
Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre – Susan Pollock an der FU-Berlin puncto „Benennung von Hochschullehrer* Deswegen mag es auch nicht verwunderlich innen“ (siehe oben: HRG Artikel 37 Absatz 1 sein, dass bestimmte Personalentscheidungen Satz 5). Die Existenz einer tatsächlich erfolg- auch fachübergreifende Prozesse anstoßen. reichen Opposition zur Mehrheitseinstellung Speziell das drohende Ende der befristeten der Hochschul lehrer*innen ist auch auf- Anstellung der Professor*innen Susan grund der Abhängigkeit von Stimmen aus Pollock und Reinhard Bernbeck in der Vorder allen anderen Mitgliedergruppen zwar nicht asiatischen Archäologie im Jahr 2013 erregte ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich. großes Aufsehen, denn sie waren damals wie heute vor allem für eine generell kritische Vermutlich begnügen sich deswegen viele und theoriebasierte Herangehensweise in hochschulpolitisch engagierte Studierende der archäologischen Forschung bekannt. Für der FU vorwiegend mit den vorhandenen einen großen Teil der Studierendenschaft der Strukturen der studentischen Selbstverwal- archäologischen Fächer der FU Berlin hätte tung wie dem Studierendenparlament (StuPa), der Weggang dieser beiden Lehrenden einen dem Allgemeine Studierendenausschuss Verlust von Lehrthemen bedeutet und zudem (AStA) und den bereits erwähnten FSIn der den Abgang zweier Vertreter*innen aus der einzelnen akademischen Fächer. Allerdings Gruppe der Hochschullehrer*innen, die ihre ist auch hier die direkte Einflussnahme gesetzlich zugesicherte Handlungsmacht auf universitäre Strukturen eher unwahr- nicht selten auch im Sinne studentischer scheinlich. Eine der vorhandenen indirekten Interessen nutzten (und nach wie vor nutzen). Möglichkeiten der Einflussnahme, die direkte Aus diesem Grund wurde innerhalb der Auswirkungen mit sich bringen kann, besteht FSI der Vorderasiatischen Archäologie eine in der r einen Personenanzahl, da Studierende Unterschriftenaktion initiiert, mit dem Ziel, an den U niversitäten in der Regel die größte beide Professor*innen am Institut zu halten. Gruppe bilden. Unterstützt wurde dieses Vorhaben nicht nur von weiteren FSIn und Studierenden Innerhalb dieses strukturellen Rahmens, der Altertumswissenschaften, sondern auch allerdings ohne das heutige Wissen darüber, von etablierten Personen aus der Forschung. traten wir in unserem dritten Studien Erstaunlicherweise regte sich der größte semester der FSI Prähistorische Archäologie Widerstand innerhalb des Fach bereichs bei. Wir organisierten u. a. Fahrten zu Geschichts-und Kulturwissenschaften der FU, fachrelevanten Orten sowie Instituts also dem Entscheidungsbereich direkt über feiern, versuchten aber ebenso studentische dem der einzelnen universitären Fächer bzw. Interessen gegenüber den professoralen Institute oder Fächerverbünde, die an der FU Entscheidungsträger*innen durchzusetzen, als Wissenschaftliche Einrichtungen (WE) meist verbunden mit einem studentischen bezeichnet werden. Augenscheinlich erreichte Austausch, der auch über das eigene Fach das kollektive Engagement in Form einer bzw. die eigene Universität hinausg ing. Es Unterschriftenliste und der Übergabe an das ist wohl unnötig zu erwähnen, dass d ieser Präsidium der FU Berlin letztlich den Verbleib Versuch selten von Erfolg gekrönt war, von Susan Pollock und Reinhard Bernbeck doch immerhin nahmen wir aktiv an den am Institut für Vorderasiatische Archäologie. (politischen) Prozessen teil und o rganisierten Welche Rolle diese Unterschriftenaktion beim unser Studium vorwiegend selbstbestimmt. Ergebnis spielte, ist im Nachhinein nicht fest- Dazu gehörten auch V eranstaltungen zustellen und Unterschriften sind sicherlich, in anderen (archäologischen) Fächern wie oben erwähnt, nur ein i ndirektes und die Verbindung zu fachfremden Mittel der Einflussnahme in unserer Gesell- Wissenschaftler*innen. schaft. Allerdings erfolgten teilweise heftige 539
Georg Cyrus & Philipp Tollkühn persönliche Reaktionen auf diese Liste, die in der Archäologie“ (WiSe 2009/10) sowie mögliche negative Folgen für die gesamte „Eine Archäologie der Sinne“ (SoSe 2011), WE 03 Altertumswissenschaften beschworen. „Borders and Walls“ (WiSe 2017/18) oder Das scheint zumindest ein Hinweis zu sein, „Gender in Archae ology“ (WiSe 2018/19). dass die Aktion für einiges Aufsehen sorgte. Aller dings war auch bei neun weiteren Kursen, die vordergründig einen Schwer- Grundsätzlich zählte für die beteiligten punkt auf bestimmte südwest asiatische Studierenden am Ende des Streits um die Zeitabschnitte oder Regionen besaßen, Weiterbeschäftigung von Susan Pollock und meist mindestens ein theoretischer Aspekt Reinhard Bernbeck nur das Ergebnis: Beide mit eingebunden, beispielsweise Theo rien bekamen feste Stellen und blieben somit zur Staatsentwicklung/ Urbanisierung in als wichtige Impulsgebende in Forschung „Die Ubaid-Tradition“ (WiSe 2009/10), und Lehre am Institut für Vorderasiatische u. a. T heorien zur Sesshaftwerdung in „Die Archäo logie der FU Berlin. Diese Impulse Archäologie Luristans“ (SoSe 2010) oder sind zum Beispiel am Engagement zur chronologische und forschungsgeschicht- Etablierung bzw. Verstetigung der Zeit liche Fragestellungen in „Das Land hinter genössischen Archäologie in Deutschland in Baghdad – Das Diyala-Gebiet im 3. und 2. Form von Ausgrabungs- und Auswertungs Jtsd. v. u. Z.“ (SoSe 2018). tätigkeiten zu Zwangsarbeiterlagern und anderen B auten der Nazizeit (z. B. KZ In 10 Veranstaltungen wurde der heutige Columbia) auf dem ehemaligen Tempelhofer Iran bzw. Teile dessen betrachtet, bei- Flugfeld bzw. zu Hinterlassenschaften des spielsweise „Die Provinz Fars vom ehemaligen „Kaiser-Wilhelm-Instituts für späten Neolithikum bis zum Ende des Anthropologie, menschliche Erblehre und 3. Jahr tausends“ (SoSe 2009) oder „Das Eugenik“ erkennbar. Außerdem zeigen sich Chalko lithikum im Iran“ (WiSe 2017/18). diese Impulse auch in der außergewöhnlichen Dazu zählen auch Praktikums kurse zur Lehre, um die es im folgenden Abschnitt, Aufa rbeitung von (Alt-)Grabungen im fokussiert auf Susan Pollock, gehen soll. iranischen Gebiet, genauer Tepe Sohz (SoSe 2012 und 2013) und die Varamin- Die Wirkung der Lehre Ebene (SoSe 2019). Acht Veranstaltungen auf die Disziplinen waren um andere oder auch angrenzende Gebiete Südwestasiens aufgebaut, vier davon Susan Pollock hat vom Sommersemester bezogen sich auf das südliche M esopotamien (SoSe) 2009 bis zum Wintersemester (WiSe) (WiSe 09/10, 10/11, 11/12 und 14/15), eine auf 2019/20 insgesamt 62 Lehrveranstaltungen Mittelmesopotamien (SoSe 18) und eine auf angeboten, inklusive 12 „Kolloquien für Turkmenistan (SoSe 11). Der Rest v erwies auf Examens kandidat*innen“ und einer abge Mesopotamien als Ganzes (SoSe 13 und 19). sagten Veranstaltung.1 Davon besaßen 23 eine Sechs Veranstaltungen betrachteten sowohl direkt erkennbare theoretische Grundlage, den Iran als auch andere bzw. angrenzende die mit konkreten archäologischen Kontexten Gebiete Altvorderasiens, drei davon Iran oder dem Fach im Allgemeinen verbunden und Mesopotamien (SoSe 2009, WiSe 11/12, wurden, bspw. „Körperlichkeit und Reprä- SoSe 14), einer den östlichen Iran und das sentation in der Frühgeschichte Irans und südliche Turkmenistan (SoSe 2011) und zwei Mesopotamiens“ (SoSe 2009) oder „Theorien komplett Vorderasien (WiSe 09/10 und 10/11). 1 Alle Informationen zu Lehrveranstaltungen von Susan Pollock sind der Onlineversion des Vorlesungs verzeichnis der FU Berlin entnommen: SoSe 2018 bis WiSe 19/20 von https://www.fu-berlin.de/vv/de/fb und SoSe 2009 bis WiSe 2017/18 aus dem Archiv http://archiv.vv.fu-berlin.de/. 540
Neuzeitarchäologie, Unipolitik und die Macht der Lehre – Susan Pollock an der FU-Berlin Seit Beginn ihrer Lehrtätigkeit hat immer abstrakter und damit leichter auf Susan Pollock in jedem Winter semester, andere archäologische F allbeispiele übertrag- insgesamt 11 Mal, das schon vor ihrer bar ist als Methoden oder Materialkunde. Zeit eingerichtete „Internationale Modul (Berlin-Kopenhagen-Austausch)“ inhaltlich Schlussfolgerung gestaltet. Diese Veranstaltung findet in Kooperation mit dem „Carsten Niebuhr Wissenschaftliches Arbeiten ist immer in der Institute, U niversity of Copenhagen“ statt. Gesellschaft situiert. Damit ist aber nicht Es beinhaltet einen gegen seitigen Besuch, nur gemeint, dass Forschungsinteressen verbunden mit einem seminaristischen mit öffentlicheren Diskursen in Zusammen- Austausch zu jährlich w echselnden Themen. hang stehen. Wissenschaftspolitik ist klar an Die Unterrichtssprache ist dabei durchweg politische Interessen und ökonomische Mittel Englisch. Außerdem gab Susan Pollock gebunden. Hier wird beeinflusst, wie sich über ihre gesamte Lehrtätigkeit hinweg Wissenschaft entwickelt und dies nicht nur in sieben Einführungskurse im Rahmen des einem „objektiv“ wissenschaftlichen Rahmen. alle archäologischen Fächer umfassenden Daher haben wir anfangs Giddens’ agency- Bachelorstudiengangs „Altertumswissen- Konzepte aufgegriffen, die sich genauso schaften“ der FU Berlin. eignen, Wissenschaftspolitik zu beschreiben wie Alltagshandlungen. Wir haben dabei Alles in allem sind zwei Schwerpunkte in gezeigt, wie verschiedene Akteur*innen die der Lehre von Susan Pollock erkennbar, Wissenschaft und über diese auch die Öffent nämlich Theorien in der Archäologie und die lichkeit beeinflussen. Der Konflikt und die Archäologie des heutigen Iran. Der Bezug zu Schuldzuweisungen um die Funde an der Mesopotamien als Kerngebiet der südwest Harnack straße zeigen, wie ein zufälliges asiatischen Forschung wird dabei aber immer Ereignis und darauf a ufbauenden Reaktionen wieder hergestellt, sodass Studierende an Strukturen in Bedrängnis bringen. Der der FU Berlin sowohl mit klassischen als Konflikt zwischen den Fachschaftsinitiativen auch innovativeren Forschungs ansätzen und der Universitäts struktur verdeutlicht in Berührung kommen. Dieses Vor gehen den Einfluss, der auch von der Basis auf entspricht vollkommen dem Profil des hochschulpolitischen Entscheidungen in der Instituts für Vorderasiatische Archäologie in Universität ausgeübt werden kann. Z uletzt Berlin und darf dennoch nicht nur als rein zeigen die Auswahl und Gestaltung der institutionell vorgegeben verstanden werden. Lehrveranstaltungen von Susan Pollock, Die meisten Seminare, die Susan Pollock ab- dass eine etablierte Handlungsweise inner hielt, waren Literaturseminare, in denen halb der Struktur dennoch individuelle verschiedene Standpunkte hinterfragt und Spielräume bietet, die über kurz oder lang in Forschungsdiskussionen eingebettet wur- auch eine Veränderung dieser Struktur mit den. Dieses Format hat die Stärke, kritisches sich bringen können. Aus diesen Beispielen Denken zu fördern und auch alternative lassen sich einige abstraktere Schlussfolge- Ansätze vorzustellen. Verbunden mit Susan rungen ziehen. Pollocks freundlich-insistierenden Lehrstil kann hier von einer Bereicherung des Lehr- Wissenschaftliches Arbeiten steht immer angebots der Vorderasiatischen Archäologie, in einer Wechselbeziehung aus Subjekt auf aber auch der gesamten Wissenschaftlichen der einen und Struktur auf der anderen Einheit 03 der FU Berlin gesprochen werden. Seite. Die Subjekte sind mal stärker und Insbesondere der Schwerpunkt auf theo- mal weniger stark an die Vorgaben der retische Aspekte hat zudem das P otential, Strukturen gebunden. Es besteht aber fächerübergreifend zu wirken, da Theorie auch immer die Möglichkeit, dass sie den 541
Georg Cyrus & Philipp Tollkühn harakter einer Multitude annehmen, C nicht von selbst, sie ist an die Handlungen wie etwa die U nterschriftenliste der FSIn bestimmter Subjekte gebunden. zeigt. Der Ansicht, dass sich eineb Multi- tude institutionalisieren müsse (Hardt und Wir möchten mit diesem Artikel die lang Negri 2017) oder diese aus realpolitischen fristige Arbeit darstellen, die hinter einer Gründen zu einer Einheit gemacht werden solchen Veränderung steht, aber auch die solle (Mouffe 2018), schließen wir uns nicht Ereignisse aufzeigen, die immer wieder an. Wir h alten eine Institutionalisierung unerwartet die gewohnten Bahnen der von Multituden weder für möglich noch Struktur und der in ihr agierenden Subjekte für erstrebenswert, denn von ihnen gehen stören. Eine weitere wichtige Schlussfolge- wichtige Impulse auf die S truktur aus. rung aus Giddens’ agency-Theorie ist die Institutionalisierung, Populismus und Stell- Veränder barkeit von Institutionen. Häufig vertreterdemokratie auf der anderen Seite haben Institutionen länger Bestand als lenken die Menschen immer in gewisse individuelle Lebensläufe, was zu der falschen Bahnen und können so eher als Stabilisie- Vermutung führt, es gäbe Stagnation oder rungsversuche von bereits vorhandenen unsere Handlungsspielräume seien klar Institutionen verstanden werden. vorherbestimmt. In Wirklichkeit sind die Institutionen aber von den verschiedenen Neben solchen unvorhersehbaren, spontanen Subjekten abhängig und können schneller Ausbrüchen der Multitude gibt es auch verschwinden als angenommen. Noch Handlungen, die eher Lang zeitwirkung heute legitimiert sich die Hochschulpolitik besitzen und mit einem größeren (Planungs-) in Deutschland über B undes- und Landes Aufwand verbunden sind. Die Grabungen gesetze und wirkt dadurch starr. Sobald an der Harnackstraße und die Lehrentschei- aber genug Subjekte daran zweifeln und dungen an der FU Berlin fallen in diese einen neuen modus operandi finden, kann Kategorie des Handelns. Hier gilt es ausdau- d ieser Zustand geändert werden. Ein zu ernd zu sein und sich nicht entmutigen zu festes Vertrauen auf die Strukturen ist lassen, auch wenn es Rückschläge gibt. „Indi- unserer A nsicht nach nicht nützlich. Statt- vidual decisions taken in the context of specific dessen sollten wir selbst versuchen, die projects are not by themselves enough to change Strukturen zu beeinflussen, um die Teile the larger scale structures in which they are zu erhalten, die uns helfen eine bessere embedded. This is not an argument for fatalism Gesellschaft zu erschaffen, und die Teile but rather a sober recognition of the challenges abzuschaffen, die uns daran hindern. Dafür that confront us” (Pollock 2008, 363–64). müssen wir uns an diejenigen Personen Die Struktur unserer Fächer ändert sich halten, die dies mit uns tun werden. Literatur 24 Panorama, rbb. 2016. „Erneut menschliche Überreste auf dem FU-Gelände entdeckt.“ rbb|24 Panorama, 01.09.2016. https://www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2016/09/fu-berlin-archaeologen-finden-kno- chen.html. Abgerufen am 22.02.2020. Aly, Götz. 2015. „Mengele, die Knochen und die Unschuldigen.“ Berliner Zeitung, 02.09.2015.http://www. berliner-zeitung.de/meinung/kommentar-zum-knochenfund-an-der-fu-mengele--die-knochen-und-die- unschuldigen,10808020,29793312.html. Abgerufen am 15.04.2020. Aulich, Uwe, und Katrin Bischoff. 2015. „Debatte um Knochenfund an der FU Berlin Knochen stammen wahrscheinlich von Holocaust-Opfern.“ Berliner Zeitung, 25.02.2015. https://archiv.berliner-zeitung.de/ berlin/debatte-um-knochenfund-an-der-fu-berlin-knochen-stammen-wahrscheinlich-von-holocaust-op- fern-2547170. Abgerufen am 22.02.2020. 542
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