Getrennt durch die Zukunft? - Österreichische Stakeholder(innen) beurteilen "Neue Pflanzenzüchtungsverfahren" - Universität Wien
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115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 115 RESEARCH 115 Getrennt durch die Zukunft? Österreichische Stakeholder(innen) beurteilen „Neue Pflanzenzüchtungsverfahren“ Der Einsatz neuartiger Verfahren in der Pflanzenzüchtung wird kontrovers diskutiert. Eine Befragung österreichischer Expert(inn)en macht deutlich, dass eine für alle zufriedenstellende Zukunftsvorstellung kaum möglich ist, doch könnten künftige Entscheidungen für oder gegen die neuen Verfahren abgefedert werden, wenn die Kritikpunkte des jeweils anderen „Lagers“ Berücksichtigung fänden. Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm Separated by the future? Austrian stakeholders assess Revolution der Züchtung? “New Plant Breeding Techniques” GAIA 29/2 (2020): 115 – 122 Sogenannte Neue Züchtungsverfahren (New Plant Breeding Tech- niques) rund um Genome Editing sind dabei, die Pflanzenzüch- Abstract tung zu revolutionieren (Doudna and Charpentier 2014, Baltes This article presents the results of an ethical Delphi among 19 Austrian and Voytas 2015, Brinegar et al. 2017, Dürnberger et al. 2019) stakeholders on the topic of “New Plant Breeding Techniques”. Among (Box 1, S. 116). Wenn Technik stets Erwartungen generiert, so the topic’s opponents, a broad consensus was shown on core goals könnten diese Erwartungen hinsichtlich der Neuen Züchtungs- (e. g., the yield security of Austrian agriculture in view of the climate verfahren jedoch unterschiedlicher kaum sein. Während die ei- crisis through the use of regionally adapted plant varieties, and a more nen vor den Risiken warnen, gelten sie anderen als notwendige environmentally friendly agriculture deserving of the description “rural”). Schlüsseltechnologien unseres Jahrhunderts. Mit Blick auf die Dissent was also evident, especially concerning these questions: to what Regulierung stellt sich vor allem die Frage, inwieweit Genom-edi- extent can the new methods contribute to the achievement of these tierte Organismen als gentechnisch verändert zu verstehen sind objectives? Is an entirely different form of agriculture needed? The study (Dederer 2019, Eriksson 2018, Laaninen 2016). Im Juli 2018 ent- developed desirable future scenarios from both the opponents’ and schied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass alle mit Ge- proponents’ points of view and discussed them with regard to potential nome-Editing-Verfahren erzeugten Pflanzen unter die geltenden “compensatory measures”: if these techniques are (not) promoted, Gentechnikgesetze fallen. Ihre Verwendung, aber auch jede Frei- which points of criticism in particular should be addressed to increase setzung in die Umwelt müssen genehmigt werden, daraus her- the respective opponents’ acceptance of such a decision? gestellte Lebens- und Futtermittel sind kennzeichnungspflichtig. Trotz dieses Urteils ist nicht zu erwarten, dass hiermit ein End- Keywords punkt der Debatte erreicht worden ist, im Gegenteil: Was bedeu- environmental ethics, ethical Delphi, genome editing tet das Urteil für die praktische Umsetzung? Wie sind ähnliche Verfahren zu regulieren, auch und im Besonderen Verfahren, die erst in Zukunft entwickelt werden? Braucht es eine grundsätzli- Dr. Christian Dürnberger | +43 664 602572657 | che Überarbeitung des Gentechnikgesetzes? christian.duernberger@vetmeduni.ac.at Expert(inn)en gehen davon aus, dass die gesellschaftspolitische https://orcid.org/0000-0002-1946-2905 Debatte über die Neuen Pflanzenzüchtungsverfahren jener über Prof. Dr. Herwig Grimm | herwig.grimm@vetmeduni.ac.at die Grüne Gentechnik gleicht und ähnlich kontrovers, emotional beide: Veterinärmedizinische Universität Wien | Messerli Forschungsinstitut | und ohne Aussicht auf Kompromisse ablaufen wird (Bechtold et Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung | Veterinärplatz 1 | 1210 Wien | al. 2018). Wie aber lassen sich die höchst unterschiedlichen Be- Österreich urteilungen dieser Verfahren verstehen? Und inwieweit ist ein Prof. Dr. Angela Kallhoff | Universität Wien | Institut für Philosophie | Kompromiss möglich? Das österreichische Bundesministerium Wien | Österreich | angela.kallhoff@univie.ac.at https://orcid.org/0000-0001-6154-1298 für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz för- derte eine Studie, die die zur Verhandlung stehenden Positionen, ©2020 C. Dürnberger et al.; licensee oekom verlag. This Open Access article is published under the terms of the Creative Commons Attribution License CC BY 4.0 Argumente und Werte erheben und dabei den Versuch unterneh- (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0). men sollte, den Dissens wie auch den etwaigen Konsens zwischen https://doi.org/10.14512/gaia.29.2.9 Submitted May 4, 2019; revised version accepted Februray 14, 2020 (double-blind peer review). relevanten Stakeholder(inne)n klarer herauszuarbeiten. > GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 116 116 RESEARCH Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm wünschenswerten oder unerwünschten Zukunftsszenarios rund BOX 1: Begriffsklärungen um die Neuen Züchtungsverfahren verbunden. Methodisch steht Grüne Gentechnik: Oberbegriff für gentechnische Verfahren in der dies in der Tradition von „Szenario-Workshops“, die explorativ Pflanzenzüchtung. Mithilfe bestimmter Techniken werden einzelne divergierende Zukunftsbilder zum Thema machen, um die viel- Gene oder Genkonstrukte gezielt in das Genom der Pflanze transfe- schichtigen Aspekte einer Debatte zu identifizieren und die Kon- riert. Das Genmaterial, das hierfür genutzt werden kann, ist nicht auf sens- wie Dissensbestimmung zu vertiefen (Gaßner und Kosow die kreuzbare Art beschränkt. 2010). Neue Züchtungsverfahren (New Breeding Techniques, NTB): Ober- Das konkrete Forschungsdesign des vorliegenden Delphis begriff für die neuen Entwicklungen beispielhaft rund um CRISPR/ Cas in der Züchtung. lässt sich wie folgt näher beschreiben: Die durchgeführte Befra- gung fand online in zwei zeitlich versetzten Wellen statt (Novem- Genome Editing: neue molekularbiologische Verfahren (CRISPR/ Cas, TALEN), die es ermöglichen, DNA gezielt zu durchschneiden ber/Dezember 2018, Januar/Februar 2019). Im Fokus standen, und sie genau an dieser Stelle zu verändern. So werden einzelne so die bewusst offen gehaltene Formulierung der Umfrage, „die DNA-Bausteine umgeschrieben oder „editiert“. neuen Pflanzenzüchtungsverfahren rund um ‚Genome Editing‘“. Gene Drive: Methode, die gezielt das Vorhandensein oder den Ver- Runde 1 bestand aus sieben offenen und 14 geschlossenen Frage- lust eines oder mehrerer Gene in einer Population beeinflusst und stellungen, Runde 2 aus einer offenen Frage und zwölf geschlos- dabei die klassischen Vererbungsregeln ausschaltet. Die induzierten senen Fragestellungen. Die geschlossenen Fragestellungen wa- Veränderungen werden an alle Nachkommen weitergegeben. ren Statements mit der Bitte um Zustimmung oder Ablehnung Gentechnisch veränderter Organismus (GVO): Organismus, dessen auf einer vorgegebenen sechsteiligen Likert-Skala und wiesen die genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie un- Möglichkeit eines Kommentars auf. In Runde 1 waren die State- ter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekom- ments aus der Literatur zur Debatte gewonnen, in Runde 2 waren bination nicht vorkommt, siehe etwa Artikel 2 der europäischen Frei- setzungsrichtlinie (2001/18/EG). Im Einzelfall kann dies strittig sein. sie Zitate und verdichtete Argumentationen aus Runde 1 durch Der Umgang mit GVO ist gesetzlich eingeschränkt. die Teilnehmenden selbst. Die Studie fokussierte auf die Auswer- Transgene Organismen: Organismus, in den ein artfremdes Gen tung der offenen Fragestellungen. Diese orientierte sich an der qua- eingebracht wurde. Grüne Gentechnik wird vielfach als Synonym für litativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Ziel einer solchen die Hervorbringung transgener Pflanzen verwendet. zusammenfassenden Analyse ist es, das gegebene Textmaterial WEITERE INFORMATIONEN: transgen.de, pflanzen-forschung-ethik.de systematisch zu analysieren, indem es die Texte schrittweise mit einem am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet, sodass am Ende ein überschaubarer Corpus steht, der ein Abbild Expert(inn)enbefragung mittels „Ethical Delphi“ des Ausgangsmaterials darstellt. Kuckartz (2012, S. 78) nennt – in Orientierung an Mayring (2015) – folgende konkrete Schritte Die Methode des „Ethical Delphi“ ist ein vor allem im englisch- des Verfahrens der qualitativen Inhaltsanalyse: 1. Einer initiieren- sprachigen Raum eingeführtes Verfahren, um die ethischen Di- den Textarbeit als ersten Durchgang mit Markierung wichtiger mensionen einer Streitfrage aus Sicht opponierender Stakeholder Textstellen folgt 2. die Entwicklung von thematischen Hauptkate- abzubilden (vergleiche Millar et al. 2006): Es handelt sich dabei gorien. Ein erster Probedurchlauf prüft und erweitert beziehungs- um eine schriftliche, mehrstufige Befragung, die auf der Überzeu- weise verfeinert das gewonnene Kategoriensystem, bevor 3. eine gung basiert, dass ein Kreis von Stakeholdern beziehungsweise Codierung des vorhandenen Materials anhand dieser Kategorien Expert(inn)en ein komplexes Themenfeld adäquater strukturie- erfolgt. 4. Anschließend werden alle Textstellen, die mit der glei- ren und beurteilen kann, als eine Einzelexpertise dazu imstande chen Hauptkategorie codiert wurden, zusammengestellt. 5. Durch wäre. Fragen zu Chancen und Risiken von Technologien sind ent- Arbeit am Material werden induktiv Subkategorien gewonnen. 6. sprechend ein prädestiniertes Anwendungsgebiet. Ein methodi- Hiernach kommt es zur Codierung des gesamten Materials mit sches Charakteristikum ist die Integration der Ergebnisse der vor- dem ausdifferenzierten Kategoriensystem und schließlich 7. zur angegangenen in die nächste Fragerunde. Der so gewährleistete kategorienbasierten Auswertung. Auch wenn der Fokus der Stu- Feedbackprozess soll einem gesteigerten Reflexionsgrad dienen die ein qualitativer war, erhob sie auch Daten zu geschlossenen und die oftmals unterschiedlichen Einschätzungen wie Perspek- Fragestellungen. Dies diente der Identifikation von Tendenzen in tiven in einen Diskussionsprozess miteinander bringen. Da Del- Hinsicht auf einen Dissens beziehungsweise Konsens. phi-Methoden allgemein auf Fragen fokussieren, über die unsi- Die gesamte Auswertung geschah anonymisiert. Die Identifi- cheres beziehungsweise unvollständiges Wissen existiert (Häder kation für das Thema relevanter österreichischer Stakeholder(in- und Häder 1995, S.12), werden sie insbesondere eingesetzt, „wenn nen) erfolgte im Anschluss an eine Diskussionsveranstaltung zu langfristige Entwicklungen bewertet werden sollen“ (Cuhls 2009, den Neuen Züchtungsverfahren im September 2018, durchge- S. 213). Cuhls (2009) verortet die Delphi-Methode daher auch ex- führt durch das österreichische Umweltbundesamt im Auftrag plizit im Kontext der Zukunftsforschung. Vor diesem Hintergrund des Ministeriums. Zu dieser Veranstaltung waren Expert(inn)en setzte das vorliegende Delphi einen spezifischen Schwerpunkt: aus ganz Österreich eingeladen, die sich in den vergangenen Jah- Die Erhebung zentraler Werte und ihrer Rolle für die unterschied- ren mit Pflanzenzüchtungsverfahren beschäftigten und an ent- liche Beurteilung der Verfahren wurde mit der Erarbeitung von sprechenden gesellschaftspolitischen Diskursen partizipierten. GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 117 Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm RESEARCH 117 TABELLE 1: Begründungen der Pro- und Contra-Standpunkte zu den Neuen Züchtungsverfahren. BEGRÜNDUNG PRO-STANDPUNKT BEGRÜNDUNG CONTRA-STANDPUNKT schnellere, einfachere und präzisere Züchtungsmöglichkeiten Risiken und Folgen unbekannt Klimawandel als entscheidende Herausforderung zu einfache Vorstellung der DNA Vielzahl an Herausforderungen für Landwirtschaft negative Effekte: Ökologie, Gesundheit, Sozioökonomie Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft zu tiefer Eingriff in die Natur Chance für kleine und mittlere Züchtungsunternehmen bloße Symptombehandlung von Problemen Förderung der Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft keine „natürlichen“ Mutationen keine transgenen Organsimen fehlende Nachweismöglichkeit Vorbild der neuen Verfahren: Natur (hergestellte Mutationen zu leichter Zugang zu Verfahren können auch „natürlich“ entstehen) Fehlen eines breiten gesellschaftlichen Diskurses mehr Grundlagenwissen über Pflanzen (ohne direkte Anwendung) Insgesamt erging die Einladung zur Teilnahme am Delphi an 28 damit sie sich nicht zusammenhangslos im empiristischen Di- Institutionen. 19 Expert(inn)en aus relevanten österreichischen ckicht verlieren“. Institutionen nahmen an der Umfrage teil. Diese Institutionen waren Saatgut Austria, Spar Österreich, Ökosoziales Forum, Saat- Begründung der Beurteilung bau Linz, Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), ARGE Gen- Am „Ethical Delphi“ nahmen Stakeholder(innen) teil, die den technik-frei, Umweltbundesamt, Technische Universität Graz, neuen Verfahren – bei aller notwendigen Differenzierung – (eher) Österreichische Agentur für Ernährungssicherheit (AGES), Bun- positiv gegenüberstehen, wie auch solche, die diese Verfahren desministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumen- (eher) negativ beurteilen: 5,5 Prozent der Teilnehmer(innen) ga- tenschutz, Landwirtschaftskammer, Arche Noah, Bioverband Aus- ben an, die neuen Verfahren „vollständig positiv“ zu beurteilen, tria, Austrian Institute of Technology, Arbeiterkammer Wien, 50 Prozent „positiv“, 5,5 Prozent „eher positiv“, 11,2 Prozent „eher Global 2000 und Bauernbund. negativ“, 27,8 Prozent „negativ“ und kein Teilnehmender „voll- ständig negativ“ (n=18).1 Diese Zahlen dürfen nicht als repräsen- tativ missinterpretiert werden. Sie zeigen aber – und dies ist für Ergebnisse das Gesamtvorhaben der Studie entscheidend – dass die teilneh- menden Stakeholder(innen) durchaus unterschiedliche Anschau- Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Studie präsentiert. ungen und Meinungen zum diskutierten Thema vertreten. In der Nach einem Blick auf die jeweiligen Begründungen der Beurtei- anschließenden Begründung der Beurteilung (offene Fragestel- lung der neuen Verfahren wird der Dissens beziehungsweise Kon- lung: „Bitte begründen Sie Ihre Angabe ausführlich: Warum be- sens angesichts vorgegebener Statements dargestellt. Nach Best- urteilen Sie die neuen Züchtungsverfahren wie soeben angege- Case- wie auch Worst-Case-Szenarios rund um die Neuen Pflan- ben?“) traten dabei verschiedene Argumente zutage, die in Tabel- zenzüchtungsverfahren aus Sicht der Teilnehmer(innen) wird le 1 in der notwendigen Kürze nur schlagwortartig zusammen- schließlich nach einer wünschenswerten Zukunft gefragt: Wie gefasst werden können. soll es um die Neuen Züchtungsverfahren in Österreich im Jahr 2025 bestellt sein? Hierbei wird unter anderem von „Kritiker(in- Tendenzen eines Konsenses beziehungsweise Dissenses ne)n“ und „Befürworter(inne)n“ die Rede sein. Diese Kategorisie- Das „Ethical Delphi“ fragte auch nach dem Grad der Zustimmung rung basiert zum einen auf einer Selbsteinschätzung durch die der Teilnehmer(innen) zu vorgegebenen Statements. Wie gesagt Teilnehmenden, die darum gebeten wurden, anzugeben, wie sie dürfen diese Resultate nicht als repräsentativ missinterpretiert wer- den Neuen Züchtungsverfahren – bei aller notwendigen Differen- den. Für eine solche Interpretation ist die Teilnehmerzahl der Stu- zierung zwischen den einzelnen Methoden und bestimmten An- die weit zu gering. Interessant sind im vorliegenden Kontext da- wendungsszenarios – grundsätzlich gegenüberstehen. Zum an- her weniger die absoluten Zahlen als vielmehr die Frage, bei wel- deren wurden Argumente, die pro oder contra hinsichtlich eines chen Aussagen sich vergleichsweise Dissens beziehungsweise Einsatzes der Verfahren zugeordnet werden konnten, in dieser Konsens zeigt. Die Teilnehmer(innen) hatten die Möglichkeit, die Kategorisierung verortet. Entsprechend ist die vorgenommene Statements zu kommentieren. Die Anzahl der Teilnehmenden, Einteilung in „Kritiker(innen)“ und „Befürworter(innen)“ ideal- die von dieser Möglichkeit pro Statement Gebrauch machten, typisch zu verstehen. Bei derartigen Abstraktionen werden wesent- ist in den folgenden Darstellungen unter „K“ angegeben. > liche inhaltsprägende Aspekte überhöht, um Modelle zu erarbei- ten, die die Komplexität der Empirie ordnen und heuristisch er- schließen. Idealtypen bringen demnach auf den Punkt, was in 1 Frage im Wortlaut: „Die neuen Pflanzenzüchtungsverfahren rund um ‚Genome Editing‘ werden zurzeit intensiv diskutiert. Auch wenn eine Realtypen tendenziell angelegt ist. Gill (2006, S. 35) spricht hier- allgemeine Positionierung schwierig ist, bitten wir Sie darum, Ihre bei von der Funktion von Idealtypen, „die gefundenen Realtypen Einstellung anzugeben. Wie stehen Sie diesen Verfahren grundsätzlich […] in die theoretische Diskussion perspektivisch einzubinden, gegenüber?“ GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 118 118 RESEARCH Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm Die Tendenz eines Konsenses, so die Interpretation des vorliegen- Begriffe „sicher“ und „lange Anwendung“, die bei dem EuGH-Ur- den Artikels, ließ sich vor allem bei zwei Statements (S) identifi- teil genannt worden sind, wurden darüber hinaus seitens der Euro- zieren: eine kleinstrukturierte „bäuerliche“ Landwirtschaft zu er- päischen Kommission beziehungsweise seitens des EuGH geklärt. halten (S1) und der Anspruch an die Pflanzenforschung, Antwor- Die Gesetzgebung ist nun endlich auf Höhe der wissenschaftlichen ten auf den Klimawandel zu finden (S2) (Tabelle 2). Bei fünf State- Erkenntnisse. Die Anwendung des Sortenschutzrechts ist im Zuge ments ließ sich, so die Interpretation des vorliegenden Artikels, der gesetzlichen Änderung mitbedacht worden. Es gibt keine Paten- hingegen die Tendenz eines Dissenses identifizieren (Tabelle 3): in te mehr für Kulturpflanzen (die als Nicht-GVO eingestuft sind). Dies der Einschätzung, ob Neue Züchtungsverfahren und bäuerliche sorgt für Rechtssicherheit für Pflanzenzüchter(innen) und Landwir- (S4) oder ökologische Landwirtschaft (S5) kompatibel sind und t(inn)e(n). Die neuen Techniken unterliegen demnach keiner lang- über die rechtlichen Rahmenbedingungen (S6, S7). Bei S3, so wierigen Einzelgenehmigung, die österreichische Unternehmen fi- machte die Analyse der Kommentare deutlich, votierten Befür- nanziell kaum durchstehen können. Die neuen Verfahren können worter(innen) eher dafür, die neuen Techniken „nicht über einen daher auch von den kleinen und mittelständischen Pflanzenzüch- Kamm zu scheren“, also eine fallspezifische Diskussion zu forcie- tungsunternehmen in der EU und Österreich angewendet werden. ren, während Gegner(innen) zwar auch auf die fallspezifischen Wenn gesellschaftlich noch immer gewollt, gibt es eine entsprechende Differenzen hinwiesen, dabei aber doch die Gemeinsamkeit der Kennzeichnung der Produkte zum Zweck der Entscheidungsfreiheit neuen Techniken betonten, nämlich: dass sie gentechnische Verfah- der Konsument(inn)en. Diese Kennzeichnung kann erfolgen, da Ver- ren sind und daher Risiken bergen. fahren für die technische Nachweisbarkeit existieren. Grundsätzlich sind die neuen Verfahren inzwischen in der Praxis angekommen. Je Best-Case- und Worst-Case-Szenarios nach Anforderung und Fragestellung werden diese Verfahren – als ein Alle Studienteilnehmenden wurden aufgefordert, ein Best-Case- mögliches Werkzeug der Züchtung – verwendet. Parallel findet eine wie auch ein Worst-Case-Szenario rund um die Neuen Züchtungs- Forschung zur Weiterentwicklung der Verfahren wie auch eine un- verfahren zu beschreiben.2 Tabelle 4 (S. 120) fasst die Antworten abhängige und sorgfältige Risikobewertung statt. Die neuen Verfah- in abstrahierender Form zusammen. Die Szenarios können da- ren helfen dabei, den großen Herausforderungen der Landwirtschaft nach unterschieden werden, ob sie den Fokus auf konkrete An- adäquat zu begegnen. wendungen (Best Case: 1 bis 11, Worst Case: 1 bis 6) oder auf Rah- menbedingungen (Best Case: 12 bis 14, Worst Case 7 bis 11) le- Im Unterschied dazu verdichtet die folgende Beschreibung zen- gen. In der Analyse zeigte sich unter anderem: Während Befürwor- trale Aspekte der wünschenswerten Zukunftsvorstellungen der ter(innen) sehr konkrete Best-Case-Fallbeispiele schilderten, nann- Gegner(innen): ten Gegner(innen) eher bestimmte Rahmenbedingungen, die ihres Erachtens hierfür erfüllt sein müssen.3 Die neuen gentechnischen Züchtungsverfahren unterliegen im Jahr 2025 noch immer dem GVO-Gesetz. Die Debatte zum rechtlichen Wünschenswerte Zukunft Status der auf diesem Wege gezüchteten Pflanzen ist dabei über- Die Teilnehmenden wurden gebeten, ein aus ihrer Sicht wün- wunden, das heißt, es ist allgemeiner Konsens, dass diese Pflanzen schenswertes (und weitgehend realistisches) Zukunftsbild rund als gentechnisch hergestellt zu beurteilen sind. Es ist daher nicht zu um die Neuen Züchtungsverfahren mit Blick auf Österreich im erwarten, dass diese Regulierung noch mal „aufgeschnürt“ wird. Jahr 2025 zu beschreiben. Die Autoren und die Autorin der Studie Pflanzen, die mit den neuen gentechnischen Züchtungstechniken unternahmen den Versuch, auf Basis einer qualitativen Auswer- hergestellt wurden, werden entsprechend weiterhin als GVO gekenn- tung die Antworten zu einer typischen, beispielhaften Erzählung zeichnet. Die Zulassung von neuen Pflanzenzüchtungsverfahren ist zusammenzufassen. Die folgende Beschreibung verdichtet zen- europaweit einheitlich geregelt. Es existieren eine sorgfältige Risiko- trale Aspekte der wünschenswerten Zukunftsvorstellungen der abschätzung, eine Gewährleistung der vollständigen Rückverfolg- Befürworter(innen): barkeit innerhalb der Produktionskette, Kontrollen bei der Einfuhr und eine klare Kennzeichnung entsprechender Produkte. Die Bürge- Das EU-Gentechnik-Recht wurde im Jahr 2025 komplett überarbei- r(innen) sind auf Basis der Transparenz gut informiert und können tet und den neuesten Erkenntnissen aus der Wissenschaft angepasst. frei entscheiden, welche Produkte sie erwerben wollen. Die volle Nach- Unter das GVO-Regime fallen nur mehr transgene Pflanzen. Die weisbarkeit für alle Produkte ist gewährleistet, da die Hersteller der 2 Frage im Wortlaut: „Unter ‚Neuen Pflanzenzüchtungsverfahren‘ können verwendet werden, in Kulturpflanzen, die durch konventionelle Züchtung verschiedene Szenarien verstanden werden. (Szenario = Welche Technik hergestellt wurden, natürliche Punktmutationen aufzuspüren, die einen kommt zum Einsatz? + Welches Pflanzenzüchtungsziel soll erreicht positiven Effekt für die Landwirtschaft haben könnten. Diese natürlichen werden?) Was wäre für Sie ein ‚Best-Case-‘ bzw. ‚Worst-Case‘-Szenario, Punktmutationen sind aus meiner Sichtweise wesentlich weniger riskant bei dem ein neues Pflanzenzüchtungsverfahren in Österreich zukünftig und zudem stabiler im Genom fixiert, da sie sich bereits nach natürlicher zum Einsatz kommt?“ Selektion im Genom stabilisiert haben.“ Darüber hinaus kann infrage 3 Im Reviewprozess zeigte sich, dass insbesondere Best-Case-Szenario gestellt werden, inwieweit „Gene Drive“ (Worst-Case-Szenario Nr. 6) Nr. 8 erläuterungsbedürftig ist, daher hierzu ein (gekürztes) Zitat aus den im Kontext der Pflanzenzüchtung relevant ist. Es wurde hier dennoch auf- Antworten der Studie: „Neue Techniken wie CRISPR können auch dazu geführt, um zu dokumentieren, dass es in den Antworten genannt wurde. GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 119 Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm RESEARCH 119 TABELLE 2: Statements zu Neuen Züchtungsverfahren, die tendenziell konsensfähig scheinen. Zustimmung oder Ablehnung auf einer vorgegebenen sechsteiligen Likert-Skala. n = Zahl der Antworten, SD = Standardabweichung, K = Anzahl der Teilnehmer(innen), die das Statement kommentiert haben. STATEMENTS (S) 1 2 3 4 5 6 STIMME STIMME STIMME STIMME STIMME STIMME GANZ VOLL UND ZU EHER ZU EHER NICHT ZU UND GAR GANZ ZU NICHT ZU NICHT ZU S1: Es ist wünschenswert, dass in Österreich weiterhin 47,37 % 47,37 % 5,26 % 0% 0% 0% in vielen Regionen eine kleinstrukturierte Landwirtschaft existiert, die die Beschreibung „bäuerlich“ verdient. (n = 19; Mittelwert: 1,58; SD ± 0,59; K: 6) S2: Die Pflanzenforschung hat dringend Antworten auf 66,67 % 5,56 % 16,67 % 5,56 % 5,56 % 0% die Konsequenzen des Klimawandels hier in Österreich zu finden. (n = 18; Mittelwert: 1,77; SD ± 1,23; K: 6) TABELLE 3: Statements zu Neuen Züchtungsverfahren, bei denen sich die Tendenz eines Dissenses identifizieren ließ. Zustimmung oder Ablehnung auf einer vorgegebenen sechsteiligen Likert-Skala. n = Zahl der Antworten, SD = Standardabweichung, K = Anzahl der Teilnehmer(innen), die das Statement kommentiert haben. STATEMENTS (S) 1 2 3 4 5 6 STIMME STIMME STIMME STIMME STIMME STIMME GANZ VOLL UND ZU EHER ZU EHER NICHT ZU UND GAR GANZ ZU NICHT ZU NICHT ZU S3: Eine allgemeine Beurteilung der „Neuen Pflanzen- 21,05 % 36,84 % 0% 5,26 % 26,32 % 10,53 % züchtungstechnologien“ ist nicht möglich, es muss vielmehr eine fallspezifische Beurteilung eines konkreten Szenarios durchgeführt werden. (n = 19; Mittelwert: 3,11; SD ± 1,80; K: 5) S4: Die neuen Pflanzenzüchtungsverfahren gefährden 22,22 % 5,56 % 22,22 % 11,11 % 22,22 % 16,67 % die kleinstrukturierte, „bäuerliche“ Landwirtschaft in Österreich nicht. (n = 18; Mittelwert: 3,55; SD ± 1,77; K: 9) S5: Die „Neuen Züchtungsverfahren“ und „Ökologische 31,85 % 10,53 % 5,26 % 26,32 % 10,53 % 15,79 % Landwirtschaft“ sind grundsätzlich nicht miteinander kompatibel. (n = 19M Mittelwert: 3,21; SD ± 1,85; K: 6) S6: Die „Neuen Pflanzenzüchtungsverfahren“ sollten 10,53 % 26,32 % 15,79 % 0% 10,53 % 36,84 % meines Erachtens nicht unter das Gentechnikgesetz fallen. (n = 19; Mittelwert: 3,84; SD ± 1,93; K: 9) S7: Es braucht eine vollständige Überarbeitung 25 % 8,33 % 25 % 8,33 % 8,33 % 25 % des europäischen Gentechnikgesetzes. (n = 12; Mittelwert: 3,42; SD ± 1,98; K: 3) Produkte aus den Verfahren der „Neuen Gentechnik“ entsprechende dass auch Lebensmittelexporteure aus Ländern, in denen die „Neue Methoden zur Nachweisbarkeit zur Verfügung gestellt haben. Mehr Gentechnik“ zum Einsatz kommt, über internationale Vereinba- noch: Die Zulassungsbedingungen erfordern die Bereitstellung von rungen dazu verpflichtet sind, bei allen Exporten nach Europa die Nachweismethoden seitens der Saatgutfirmen. In Österreich wer- dort geltenden Regelungen einzuhalten. Es existiert darüber hinaus den keine derartigen Pflanzen angebaut, da erkannt wurde: Es geht eine Datenbank, die Firmen listet, die mit den neuen Methoden auch ohne neue gentechnische Verfahren. Die klassische Züchtung arbeiten. Umsetzbar war dies auf UN-Ebene, im Zuge der CBD- genügt, ja liefert sogar bessere Ergebnisse. Entsprechend wird diese Konvention. Aus Sicht einer gentechnikfreien konventionellen und klassische Züchtung – mit besonderem Schwerpunkt auf die biologi- biologischen Landwirtschaft ist diese Datenbank äußerst sinnvoll. sche Landwirtschaft – gefördert.Vor diesem Hintergrund wird der Weg der Gentechnikfreiheit weiterhin intensiviert: Österreich gilt dabei international gesehen als Vorreiter. Dieser Weg – und das entspre- Diskussion chende Image – bedeuten auch wirtschaftliche Vorteile. Die neuen gentechnischen Verfahren werden in Österreich allenfalls in der Grund- Der qualitative Fokus der Studie bietet einen explorativen Einblick lagenforschung eingesetzt, um zu einem besseren Verständnis der in die Beurteilungen österreichischer Stakeholder(innen) der Neu- Pflanzengenetik beizutragen. Auf globaler Ebene ist gewährleistet, en Pflanzenzüchtungsverfahren. Das „Ethical Delphi“ schafft auf > GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 120 120 RESEARCH Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm TABELLE 4: Best-Case- und Worst-Case-Szenarios zum Einsatz Neuer Pflanzenzüchtungsverfahren in Österreich. BEST-CASE-SZENARIOS WORST-CASE-SZENARIOS 1 Sorten mit verbesserten Resistenzen 1 Züchtung fokussiert auf Pestizidresistenzen. 2 Kreuzungen von regional angepassten mit ertragreichen 2 Toxische Stoffe werden an die Umwelt abgegeben. internationalen Sorten 3 Nicht-Zielorganismen werden geschädigt. 3 stresstolerantere Pflanzen angesichts des Klimawandels 4 Freisetzung von infektiösen GM-(Pflanzen)Viren 4 Sorten mit besserem Ertrag, bei denen nur einzelne Gene 5 Produktion von Suchtmitteln ausgeschaltet werden 6 Gene-Drive-Techniken kommen zum Einsatz. 5 Veränderung von Inhaltsstoffen (zum Beispiel Fettsäure bei Soja) 7 kein klares, einheitliches Zulassungsverfahren, keine sorgfältige 6 Ausschalten von Allergenen Risikoabschätzung, keine Rückverfolgbarkeit und keine 7 Veränderung in nur einem einzigen Merkmal Kennzeichnung 8 Aufspüren von natürlichen Punktmutationen mithilfe der 8 einzelstaatliche Zulassung neuen Verfahren 9 zu geringe Berücksichtigung der konkreten ökologischen 9 Forschung für mehr Grundlagenwissen über Pflanzen Risiken am Standort des Anbaus 10 Sorten, die eine umweltschonendere Landwirtschaft ermöglichen 10 Patententierte Verfahren verhindern die weitere Züchtung. (zum Beispiel weniger „Spritzmittel“) 11 Die neuen Verfahren werden gegenüber der klassischen 11 grundsätzliche Beschleunigung der bisherigen Züchtung(sziele) Züchtung bevorzugt, es fließen damit weniger Ressourcen 12 nicht patentierbare Sorten, die jedem Züchter zur Verfügung stehen in die klassische Züchtung. 13 ein klares, einheitliches Zulassungsverfahren mit sorgfältiger Risikoabschätzung, Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung 14 Forschung und Züchtung, die in Österreich stattfindet diesem Wege eine Datenbasis, die neue Forschungsfragen er- strukturierte Landwirtschaft in Österreich nicht gefährden, ja im schließt, die Formulierung von weiterführenden Hypothesen er- Gegenteil: diese unterstützen soll. Gestritten wird – in anderen möglicht und anschließende repräsentative Studien eröffnet. Der Worten – nicht darum, welche Prinzipien (wie das Nichtschadens- vorliegende Artikel geht dabei – mit Blick auf die ähnlich gelager- prinzip), gesellschaftlichen Werte und Ziele (wie eine kleinstruk- ten gesellschaftlichen Kontroversen rund um die Grüne Gentech- turierte Landwirtschaft) oder „Stakeholder“ (wie Konsument[in- nik – davon aus, dass die dargestellten Ergebnisse auch hinsicht- n]en, Landwirt[inn]e[n] oder Ökosysteme) zu berücksichtigen sind, lich anderer Länder, wie etwa Deutschland, durchaus plausible sondern darüber, wie sich die neuen Verfahren auf Umwelt und Konklusionen zulassen. soziale Verhältnisse tatsächlich auswirken werden. Besonders die Die Debatte des durchgeführten Delphis kreiste, so die zu- Kritik weist hierbei auf das Nichtwissen über die neuen Verfah- sammenfassende Interpretation, im Besonderen um zwei zen- ren hin. Gemeint ist, so unsere Interpretation, nicht nur ein „Noch- trale Argumentationsfelder samt spezifischer Leitfragen:4 „Nut- Nicht-Wissen“ (vergleiche Merton 1987, S.10) als zu überwinden- zen“ und „Risiken“. Wenngleich die Teilnehmenden selbst die de Vorstufe zum Wissen, sondern auch und besonders Nichtwis- Begriffe „Nutzen“ und „Risiken“ nur bedingt verwenden, lassen sen als „eigenständiges und offenbar dauerhaftes soziales und wis- sich von einer Metaebene aus zahlreiche essenzielle Argumente senschaftliches Phänomen“ (Wehling 2001, S. 471), denn: Zwar diesen Aspekten zurechnen. In jenem Argumentationsfeld, das vermag Forschung Nichtwissen in Wissen umzuwandeln, aller- auf „Risiken“ fokussiert, wurde gefragt, inwieweit ein Einsatz der dings wird durch das Entdecken neuer Fragen- und Problemstel- Techniken Schäden für Umwelt und Gesundheit bedeutet und in- lungen und vorher noch unbekannter Zusammenhänge notwen- wieweit er soziale Konsequenzen zeitigt, die als negativ zu beur- digerweise erneut Nichtwissen produziert (vergleiche Wehling teilen sind. Im zweiten relevanten Feld wurde der potenzielle „Nut- 2002, S. 261, Stichweh 1994, S. 38). Beim Umgang mit Nichtwis- zen“ diskutiert, präziser: Inwieweit sind die Techniken nützlich, sen berufen sich beide Seiten auf das Vorsorgeprinzip, jedoch ist und wenn ja, für wen, beziehungsweise inwieweit ist ein Einsatz dessen adäquate Auslegung umstritten, und dieser Streit muss notwendig? durchaus als ein Streit um Normen und Werte verstanden wer- Argumentationsfeld „Risiken“ Mit Blick auf die „Risiken“ befindet sich der Dissens zwischen 4 Zwar lassen sich auf Basis des Delphis noch weitere Argumentationsfelder Befürworter(inne)n und Kritiker(inne)n, so die These im Anschluss innerhalb der Auseinandersetzung identifizieren, beispielsweise werden grundsätzliche Fragen nach der adäquaten Mensch-Natur-Beziehung an das Delphi, nicht nur oder nicht so sehr auf der Ebene, welche aufgeworfen; derartige Fragen nahmen im Rahmen des Delphis jedoch Werte, Prinzipien und Ziele leitend sein sollen, als auch und vor weit weniger Raum ein, als dies etwa in der gesellschaftlichen Auseinander- allem auf der Ebene der prognostizierten Technikfolgenabschät- setzung rund um die Grüne Gentechnik der Fall ist (vergleiche hierzu zung. So sind sich etwa sowohl Befürworter(innen) wie Gegne- Dürnberger 2019). Daraus ließe sich die These einer diesbezüglichen Differenz zwischen Expert(inn)en- und „Lai(inn)en“-Diskursen ableiten: r(innen) einig, dass die Technik keine negativen Konsequenzen Vorstellungen und Fragen rund um die Mensch-Natur-Beziehung spielen für Umwelt und Gesundheit haben soll; beide Seiten stimmen in einer gesellschaftlichen Debatte von Neuen Pflanzenzüchtungsverfahren darin überein, dass die Implementierung der Technik die klein- eine größere Rolle als in entsprechenden Expert(inn)endebatten. GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 121 Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm RESEARCH 121 den. Anders gefasst: Wann geht man mit Risiken zu sorglos um, dem Spiel steht, finden sich derartige Beschreibungen aufseiten weil man zu sehr auf die Chancen fokussiert? Wann sorgt man der Kritiker(innen) nicht. Entsprechend sehen Befürworter(innen) sich so sehr, dass man blind für den potenziellen Nutzen wird? in den neuen Verfahren keine bloße „Nice-to-have-Technologie“, In polemischer Zuspitzung ließe sich sagen, dass der Dis- sondern hochnotwendige Methoden. 4. Und schließlich zeigt sich sens rund um die Risiken der Techniken eher auf der Ebene der in der Debatte um den „Nutzen“ eine entscheidende Schwierig- Beschreibung denn auf der Ebene der Werte liegt. Eine solche keit: Befürworter(innen) sehen in den neuen Verfahren potenziel- Pointe darf dabei nicht ausblenden, dass die beiden Ebenen nicht le Werkzeuge, um einen Beitrag dazu zu leisten, die genannten trennscharf voneinander abzugrenzen sind – so fließen auch in Ziele besser erreichen zu können. Kritiker(innen) sehen in den- deskriptive Beschreibungen Annahmen ein, die Orientierung hin- selben Verfahren den Ausdruck einer „Symptombehandlung“ ei- sichtlich eines Umgangs mit dem Beschriebenen immer schon ner bestimmten Form der Landwirtschaft, die sie als Sackgasse mittransportieren. Köchy (2008, S.166) notiert hierzu allgemein: empfinden; sie stellen daher die Grundsatzfrage nach einer völlig „Immer sind (normative) Überlegungen des theoretischen Rah- anderen Art der Nahrungsmittelproduktion. Ob ein bestimmtes mens für die Konstituierung fachwissenschaftlicher Daten und „Züchtungswerkzeug“ dabei helfen kann, ein bestimmtes Ziel zu deren Darstellung oder Vermittlung mit verantwortlich.“ Auch erreichen, wird damit sekundär. Thesenhaft: Befürworter(innen) zeigt sich mit Blick auf die Auslegung des Vorsorgeprinzips die tendieren dazu, konkrete Techniken im Rahmen des gegenwärti- Bedeutung von Normen. Und doch kann aus plausiblen Gründen gen Systems zu diskutieren, Gegner(innen) die Rahmenbedingun- der Frage „Welche Ziele sollen wir aus moralischen Gründen an- gen des „großen Ganzen“. An dieser Stelle wird das Problem er- streben?“ ein stärkerer normativer Charakter zugesprochen wer- sichtlich, die beiden Perspektiven miteinander ins Gespräch zu den als der Frage „Welche Konsequenzen hat die Einführung der bringen. Technik für die Erreichung dieser Ziele?“. Mit Blick auf die De- batte rund um die Neuen Pflanzenzüchtungsverfahren scheint Unterschiedliche Zukunftshoffnungen und potenzielle der Dissens innerhalb des Delphis eher in der Beantwortung der Ausgleichsmaßnahmen zweiten Frage zu liegen. Die von den Befürworter(inne)n wie Kritiker(inne)n erarbeiteten Wunschszenarios der Zukunft machen zwar deutlich, dass eine Argumentationsfeld „Nutzen“ für alle zufriedenstellende Lösung kaum möglich ist. In diesem Auch mit Blick auf den „Nutzen“ zeigt sich an bestimmten Stel- Sinne sind die Lager getrennt durch unterschiedliche Zukunfts- len durchaus Konsens unter den Teilnehmenden, so, wenn es et- hoffnungen, die sie nicht teilen. Die Wunschszenarios können wa um die zentralen Ziele der gegenwärtigen Pflanzenzüchtung aber hinsichtlich potenzieller „Ausgleichsmaßnahmen“ oder „Ab- in Österreich geht. Diese soll 1. einen Beitrag zur Ertragssicher- federungsmechanismen“ befragt werden. heit der österreichischen Landwirtschaft leisten (beispielsweise Eine explizite Förderung der Neuen Züchtungsverfahren, zum mit Fokus auf regional angepasste Sorten), 2. Antworten finden Beispiel, wird von Gegner(inne)n stets abgelehnt werden; wenn auf die landwirtschaftlichen Konsequenzen der Klimakrise sowie eine solche doch realisiert wird, kann zumindest darauf geachtet 3. grundsätzlich eine umweltschonendere Form der Landwirt- werden, dass die Entscheidung „abgefedert“ wird, indem mög- schaft ermöglichen, 4. die darüber hinaus idealerweise die Be- lichst viele ihrer Kritikpunkte Berücksichtigung finden. Der vor- schreibung „bäuerlich“ verdient. Mit diesen grundsätzlichen Zie- liegende Text schlägt auf Basis der Studie folgende „Abfederungs- len wie Herausforderungen sind die Übereinstimmungen jedoch mechanismen“ als Diskussionsgrundlage vor: Wenn Neue Züch- nahezu erschöpfend beschrieben, denn: 1. Während die Befür- tungsverfahren gefördert werden (sollen), dann 1. nicht auf Kos- worter(innen) darauf hinweisen, dass die Neuen Züchtungsver- ten der „klassischen“ Züchtung, 2. nicht mit Fokus auf Pestizid- fahren angesichts dieser vier Zielsetzungen eine positive Rolle toleranz. 3. Das „Ausschalten“ von wenigen einzelnen Genen wird spielen können, bezweifeln Kritiker(innen) dies. 2. Während die gegenüber komplexeren Verfahren bevorzugt. 4. Eine Vermeidung Befürworter(innen) argumentieren, dass die Techniken auch für von transgenen Organismen wird angestrebt, Züchtung fokus- kleine und mittlere Betriebe von großem Nutzen sein können, siert auf 5. regional angepasste Sorten und 6. „bäuerliche“ Land- verweisen die Kritiker(innen) auf die „klassische“ Gentechnik und wirtschaft; und schließlich wird 7. eine transparente Kennzeich- ihre primäre „Verortung“ im Geflecht multinationaler Konzerne. nung als unbedingt notwendig erachtet. Auch in „die andere Rich- Wie schrieben Busch et al. (2002, S. 13) schon vor 20 Jahren: Die tung“ gedacht können derartige „Abfederungsmechanismen“ auf Grüne Gentechnik wird „als Symbol ungezügelten und profitori- Basis der skizzierten Zukunftsvorstellungen wie Worst-Case- und entierten Gestaltens auf Kosten von Natur und Gesellschaft gese- Best-Case-Szenarios gewonnen werden. Wenn die Neuen Züch- hen“. Dieser Dissens zeigt sich auch in der Einschätzung, ob die tungsverfahren von der Politik etwa als nicht notwendig wie ziel- Neuen Züchtungsverfahren die kleinstrukturierte, „bäuerliche“ führend im Anbau erachtet werden, könnte die Grundlagenfor- Landwirtschaft in Österreich gefährden – oder diese unterstützen schung zu diesen Techniken dennoch explizit gefördert werden. können. 3. Während die Befürworter(innen) im Besonderen dar- Grundsätzlich machen die Ergebnisse des „Ethical Delphis“ auf hinweisen, dass die Lage der österreichischen Landwirtschaft deutlich, dass beide Seiten davon ausgehen, die besseren morali- prekär ist, sprich, dass ihr Fortbestand ob der anstehenden Her- schen Gründe auf ihrer Seite zu haben. Derartige Konstellationen ausforderungen und des internationalen Konkurrenzdrucks auf werden oft als „Wertekonflikt“ beschrieben. Eine solche Diagnose > GAIA 29/2 (2020): 115 –122
115_122_Duernberger 10.07.20 10:32 Seite 122 122 RESEARCH Christian Dürnberger, Angela Kallhoff, Herwig Grimm darf jedoch nicht überdecken, dass über bestimmte Fragen und Laaninen, T. 2016. New plant-breeding techniques: Applicability of GM rules. Zielvorstellungen zwischen Befürworter(inne)n und Gegner(inne)n www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2016/582018/EPRS_BRI (2016)582018_EN.pdf (abgerufen 04.04.2020) durchaus Einigkeit besteht. Dieser Hinweis auf einen vorhande- Mayring, P. 2015. Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. nen Wertekonsens könnte dem Konflikt „die moralische Spitze“ 12., überarbeitete Ausgabe. Weinheim: Beltz. (Van den Daele 2001, S. 11) abbrechen und damit ein Stück weit Merton, R. K. 1987. Three fragments from a sociologist’s notebook: zu einer Befriedung beitragen. Mit Blick auf eine etwaige gesell- Establishing the phenomenon, specified ignorance, and strategic research materials. Annual Review of Sociology 13: 1–29. schaftliche Debatte über die Neuen Züchtungsverfahren erscheint Millar, K., S. Tomkins, E. Thorstensen, B. Mepham, M. Kaiser. 2006. Ethical es darüber hinaus möglich wie empfehlenswert, die Antworten delphi: Manual. The Hague: Landbouw Economisch Instituut (LEI). der Teilnehmenden zu den Best-Case- und Worst-Case-Szenarios Stichweh, R. 1994. Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische wie auch zu den erwünschten „Zukünften“ zu verdichteten Fall- Analysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Van den Daele, W. 2001. Von moralischer Kommunikation zur Kommuni- beispielen weiterzuentwickeln. Derartige Fallbeispiele könnten kation über Moral. Reflexive Distanz in diskursiven Verfahren. das bislang noch weitgehend abstrakte Thema für „Lai(inn)en“ Zeitschrift für Soziologie 30/1: 4 –22. greifbarer machen und ein Ausgangspunkt für partizipative Mo- Van den Daele, W., A. Pühler, H. Sukopp. 1996. Technikfolgenabschätzung delle sein, also für Instrumente und Verfahren, die nicht nur Ex- als politisches Experiment. In: Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zum Einsatz transgener pert(inn)en, sondern auch die Öffentlichkeit an der Diskussion herbizidresistenter Pflanzen. Herausgegeben von W. van den Daele, über Technik und ihre gesellschaftliche Integration explizit ein- A. Pühler, H. Sukopp. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft. 3– 40. binden (vergleiche Van den Daele et al. 1996, S. 3 ff.). Wehling, P. 2001. Jenseits des Wissens? Wissenschaftliches Nichtwissen aus soziologischer Perspektive. Zeitschrift für Soziologie 30/6: 465– 484. Wehling, P. 2002. Rationalität und Nichtwissen. In: Zugänge zur Rationalität der Zukunft. Herausgegeben von N. Karafyllis, J. Schmidt. Stuttgart: Literatur J. B. Metzler. 255–276. Baltes, N., D. Voytas. 2015. Enabling plant synthetic biology through genome engineering. 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In: Genome editing in agriculture: Between precaution an der Universität Wien, Promotion an der Hochschule für Phi- and responsibility. TTN-Studien 7. Herausgegeben von C. Dürnberger, losophie München. Post-Doc am Messerli Forschungsinstitut, S. Pfeilmeier, S. Schleissing. Baden-Baden: Nomos. 77–122. Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung (Veterinärmedizi- Doudna, J., E. Charpentier. 2014. The new frontier of genome engineering nische Universität Wien, Medizinische Universität Wien und with CRISPR-Cas9. Science 346/6213: 1258096/1–1258096/9. Universität Wien) Forschungsschwerpunkte: Ethik in der Land- Dürnberger, C. 2019. Natur als Widerspruch. Die Mensch-Natur-Beziehung wirtschaft, veterinärmedizinische Ethik. in der Kontroverse um die Grüne Gentechnik. Baden-Baden: Nomos. Dürnberger, C., S. Pfeilmeier, S. Schleissing (Hrsg.). 2019. Genome editing Angela Kallhoff in agriculture: Between precaution and responsibility. TTN-Studien 7. Studium der Philosophie, Mathematik, Katholischen Theologie und Erziehungs- Baden-Baden: Nomos. wissenschaften in Münster. Promotion und Habilitation an der Westfälischen Wil- Eriksson, D. 2018. The Swedish policy approach to directed mutagenesis helms-Universität, Münster. 2003 bis 2005 an der University of Chicago als Feo- in a European context. Physiologa Plantarum 164/4: 385–395. dor-Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2009 bis 2010 Ver- Gaßner, R., H. Kosow. 2010. Szenario-Methodik zur Begleitung strategischer tretung der Professur für Praktische Philosophie in Köln. Seit 2011Professorin für F+E Prozesse am Beispiel der Hightech-Strategie der Bundesregierung. Ethik mit besonderer Berücksichtigung von angewandter Ethik an der Universität Werkstattbericht 111. Berlin: IZT – Institut für Zukunftsstudien und Wien. Forschungsschwerpunkte: Ethik, politische Philosophie, angewandte Ethik. Technologiebewertung Berlin. Gill, B. 2006. Streitfall Natur. Weltbilder in Technik- und Umweltkonflikten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Herwig Grimm Häder, M., S. Häder. 1995. Delphi und Kognitionspsychologie: Ein Zugang Studium der Philosophie in Salzburg, Zürich und München mit zur theoretischen Fundierung der Delphi-Methode. ZUMA Nachrichten den Schwerpunkten Ethik und angewandte Ethik. Promotion 19/37: 8–34. an der Hochschule für Philosophie SJ in München. Seit 2011 Köchy, K. 2008. Kontextualistische Bioethik. Zur Rolle von biowissenschaft- Professor am Messerli Forschungsinstitut, Abteilung Ethik der lichen Falten bei bioethischen Fragen. In: Praxis in der Ethik. Zur Mensch-Tier-Beziehung (Veterinärmedizinische Universität Methodenreflexion in der anwendungsorientierten Moralphilosophie. Wien, Medizinische Universität Wien und Universität Wien). Herausgegeben von M. Zichy, H. Grimm. Berlin: De Gruyter. 153–184. Forschungsschwerpunkte: anwendungsorientierte Tierethik, veterinärmedizini- Kuckartz, U. 2012. Qualitative Inhaltsanalyse. 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