NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...

Die Seite wird erstellt Silvia Mann
 
WEITER LESEN
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier
   NS-Zwangsarbeit.
   Lernen mit
   Interviews

bpb.de
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                          2

Einleitung
Das nationalsozialistische Deutschland schuf eines der größten Zwangsarbeits-Systeme der
Geschichte. Über 13 Millionen zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und
Häftlinge arbeiteten im Zweiten Weltkrieg im Deutschen Reich. Auch in den besetzten Gebieten wurden
Millionen Männer, Frauen und Kinder zur Arbeit für den Feind gezwungen.

Erst 55 Jahre nach Kriegsende rief die Entschädigungs-Debatte die lange Zeit vergessenen Opfer der
Zwangsarbeit wieder ins Gedächtnis. Um diese Erinnerung auch in Zukunft lebendig zu halten, stellt
das Interview-Archiv Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte (http://www.
zwangsarbeit-archiv.de/") 590 Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter im Internet bereit.

Auf diesen lebensgeschichtlichen Video-Interviews beruht das von der Stiftung "Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft" geförderte neue Online-Bildungsangebot Lernen mit Interviews (http://
zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de) der Freien Universität Berlin: Sieben biografische Kurzfilme
vermitteln unterschiedliche Erfahrungen in Lagern und Fabriken; zwei Hintergrundfilme informieren
über Thema und Quellengattung. Zusatzmaterialien und interaktive Aufgaben unterstützen das
forschende Lernen zu Zwangsarbeit und Oral History.

bpb.de
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                         3

Inhaltsverzeichnis

 1.        Überblick: Die nationalsozialistische Zwangsarbeit                                               4

 2.        Begriffe: Fremdarbeiter – Zwangsarbeiter – Sklavenarbeiter                                       7

 3.        Zeitzeugen erzählen                                                                              11

 3.1             Sinaida Baschlai. Eine ukrainische "Ostarbeiterin" in Haushalt und Rüstungsindustrie       12

 3.2             Reinhard Florian. Verfolgung und Sklavenarbeit eines deutschen Sinto                       14

 3.3             Helena Bohle-Szacki. Eine deutsch-jüdische Polin in KZ und Emigration                      16

 3.4             Claudio Sommaruga. Zwangsarbeit und Verweigerung eines italienischen Militärinternierten   18

 3.5             Victor Laville. Ein französischer Zwangsarbeiter in Bayern                                 20

 3.6             Anita Lasker-Wallfisch. Musikerin – Jüdin – Überlebende                                    22

 4.        Profiteure, Helfer, Handlungsspielräume                                                          24

 5.        Nach 1945: Vergessene Opfer, vergessene Lager                                                    29

 6.        Der lange Weg zur Entschädigung                                                                  35

 7.        Oral History als Methode                                                                         42

 8.        Lernen mit Interviews                                                                            45

 9.        Expertengespräche                                                                                51

 9.1             Zum Umgang mit der NS-Zwangsarbeit seit 1945                                               52

 9.2             Das Projekt „Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und    54
                 Zwangsarbeitern“

 9.3             Zur Entstehung und Arbeit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"             56

 10.       Literatur                                                                                        58

 11.       Redaktion                                                                                        59

bpb.de
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                                       4

Überblick: Die nationalsozialistische
Zwangsarbeit
Von Cord Pagenstecher                                                                                        1.6.2016
 Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich
 Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs arbeiteten über 13 Millionen zivile Zwangsarbeiter,
Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich. Die Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter hielten landwirtschaftliche Versorgung und Rüstungsproduktion aufrecht. Die
Industrie profitierte von der Ausweitung der Produktion, deutsche Beschäftigte stiegen in
Vorarbeiter-Stellen auf.

Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft
Im Zweiten Weltkrieg fehlten der deutschen Kriegswirtschaft in großem Umfang Arbeitskräfte. Daher
setzten Staat und Wirtschaft auf den massenhaften Einsatz von ausländischen Arbeitskräften. Alle
überfallenen Länder wurden als Arbeitskräftereservoir für Deutschland genutzt. Anfängliche
Anwerbungsversuche hatten geringen Erfolg; nach Tschechien und Polen wurden ab 1940 auch aus
Westeuropa immer mehr Männer und Frauen – zum Teil in kompletten Jahrgängen –
zwangsverpflichtet.

Die große Wende brachte aber das Jahr 1942, als das Deutsche Reich nach dem Scheitern der "
Blitzkrieg"-Strategie auf die Kriegswirtschaft des"totalen Kriegs" umstellte. Dies war angesichts der
Einberufung fast aller deutschen Männer nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer
Arbeitskräfte durchzuführen. Sie bildeten mehr als ein Viertel, in manchen Werksabteilungen bis zu
60 Prozent der Belegschaft. Nur mit ihnen wurde die Versorgung der Bevölkerung und die von Albert
Speer als dem zuständigen Minister organisierte Rüstungsproduktion aufrechterhalten.
Großunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch Bauern
und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so
mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit. Die Industrie profitierte von der starken Ausweitung
der Produktion, die dadurch erst möglich wurde.

Auf dem Höhepunkt des "Ausländereinsatzes" im August 1944 arbeiteten sechs Millionen zivile
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Deutschen Reich, die meisten davon aus Polen und der
Sowjetunion. Über ein Drittel waren Frauen, von denen manche gemeinsam mit ihren Kindern
verschleppt wurden oder diese in den Lagern zur Welt brachten. Außerdem mussten 1944 fast zwei
Millionen Kriegsgefangene in der deutschen Wirtschaft arbeiten. Immer stärker griff die deutsche
Industrie auch auf Konzentrationslager-Häftlinge zu.

bpb.de
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                           5

Die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
Die Lebensbedingungen der zwangsweise in Deutschland oder in den besetzten Gebieten für
Deutschland arbeitenden Menschen waren je nach Nation, rechtlichem Status und Geschlecht
unterschiedlich. Menschen aus der Sowjetunion (im NS-Jargon sogenannte Ostarbeiter) und aus Polen
waren durch diskriminierende Sondererlasse der Willkür der Gestapo und anderer polizeilicher
Dienststellen wehrlos ausgeliefert. Sie durften ihre Lager oft nur zur Arbeit verlassen und mussten
entsprechende Kennzeichen ("OST", "P") auf der Brust tragen.

Gestützt wurde diese rassistische Hierarchie des NS-Regimes durch die innerhalb der deutschen
Bevölkerung weit verbreiteten antislawischen Vorurteile, die zu vielen zusätzlichen Beleidigungen,
Denunziationen und Misshandlungen führten. Auch die nach dem Kriegsaustritt Italiens im Herbst 1943
als "Militärinternierte" nach Deutschland verschleppten Italiener wurden als angebliche Verräter
miserabel behandelt.

Erträglicher, aber dennoch entbehrungsreich und demütigend, war das Leben für westeuropäische
oder der "nordischen Rasse" zugerechnete Facharbeiter und Ingenieure. Am schlimmsten war das
Schicksal der Konzentrationslager-Häftlinge, vor allem der zur "Vernichtung durch Arbeit
" vorgesehenen Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma.

Ein System rassistisch-bürokratischer Repression
Alle ausländischen Arbeitskräfte wurden durch einen rassistisch-bürokratischen Repressions- und
Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, Polizei und SS streng überwacht. Sie wurden
in zugige Baracken oder in überfüllte Gaststätten und Festsäle eingepfercht. In den Lager- und
Betriebskantinen wurden sie nur äußerst unzureichend verpflegt; ohne Lebensmittelmarken konnten
sie von ihrem geringen Lohn nichts zu Essen kaufen und litten ständig Hunger. Die wenigen nach der
oft zwölfstündigen Arbeitsschicht verbleibenden Stunden Freizeit nutzten sie zunächst, um ihr
Überleben zu sichern. Sie versuchten auf dem Schwarzmarkt Brot zu erstehen oder putzten – gegen
ein Mittagessen – für eine deutsche Familie. Damit konnten sich auch ärmere Deutsche ein
Dienstmädchen oder einen Bauarbeiter ins Haus holen – wortwörtlich für ein Butterbrot.

Den Bombenangriffen waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch wehrloser ausgesetzt
als die deutsche Bevölkerung, da sie meist keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Viele Frauen
litten unter zusätzlichen Schikanen und Gewalttätigkeiten.

Trotz Repression, Denunziation, Orientierungslosigkeit und der verheerenden Lebensbedingungen in
der besetzten und ausgeplünderten Heimat versuchten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
immer wieder zu fliehen; auch gab es Ansätze zu Widerstand und Sabotage. Ohne juristische
Einspruchsmöglichkeiten und allein schon bei Verdacht auf diese Delikte konnten sie im Extremfall in
Konzentrationslager eingewiesen oder gar hingerichtet werden. Im Falle von "Bummelei" oder
Arbeitsverweigerung drohten die berüchtigten Arbeitserziehungslager.

bpb.de
NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews - Dossier - Bundeszentrale für ...
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                6

Nach der Befreiung
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte Millionen versklavter und todesbedrohter Menschen die
Befreiung. Nach ihrer Befreiung machten sich viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter auf eigene Faust sofort auf den Heimweg; andere lebten als "Displaced Persons" oder "
Repatrianten" weiterhin in Lagern und warteten auf ihre Rückkehr oder Ausreise ins westliche Ausland.
Für viele, insbesondere sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war der Leidensweg
1945 noch nicht zu Ende. Sie wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den Deutschen
verdächtigt; nicht wenige verschwanden in den stalinistischen Lagern. Die meisten leiden noch immer
und besonders im Alter unter den psychischen und physischen Folgeschäden des "Totaleinsatzes" (so
die tschechische Bezeichnung für die NS-Zwangsarbeit). In vielen osteuropäischen Ländern leben sie
nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften am Rand des Existenzminimums. In
Deutschland wurde die NS-Zwangsarbeit – trotz ihrer Verurteilung in den Nürnberger Prozessen –
jahrzehntelang als übliche Begleiterscheinung von Krieg und Besatzungsherrschaft bezeichnet und
damit zugleich bagatellisiert, nicht aber als spezifisches NS-Unrecht anerkannt.

Entschädigung und Erinnerung
Die deutschen Regierungen und die von dem Sklaveneinsatz profitierenden Betriebe lehnten lange
Zeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jegliche Übernahme von Verantwortung für diese Opfer
ab. Erst 65 Jahre nach Kriegsende rief die Entschädigungs-Debatte die lange Zeit vergessenen Opfer
der Zwangsarbeit wieder ins Gedächtnis. Überall in Deutschland erforschten lokale Initiativen die
Geschichte der Zwangsarbeit, organisierten Begegnungen, sammelten Erinnerungen und errichteten
Gedenkstätten.

Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zahlte eine
Gesamtsumme von rund 4,7 Mrd. Euro an 1,7 Mio. Überlebende aus. Um die Erinnerung an die NS-
Zwangsarbeit auch in Zukunft zu bewahren, stellt das Interview-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945.
Erinnerungen und Geschichte" 590 Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter im Internet bereit. Die dazugehörige Online-Lernumgebung "Lernen mit Interviews
" stellt beispielhaft sieben Video-Interviews vor.

Weiterführende Links
Interview-Archiv Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte (http://www.zwangsarbeit-
archiv.de)

Lernumgebung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945", Hintergrundfilm Zwangsarbeit und
Entschädigung (http://zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de/ hintergrund/zwangsarbeit-und-entschadigung#)
mit Zusatzmaterialien (Registrierung notwendig)

Bücher und Medien zur NS-Zwangsarbeit (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/buecher_medien/index.
html)

                     Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                     de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                     Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autor: Cord Pagenstecher für bpb.de

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                                       7

Begriffe: Fremdarbeiter –
Zwangsarbeiter – Sklavenarbeiter
Von Cord Pagenstecher                                                                                        1.6.2016
 Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich
 Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".

In Quellen und Literatur werden unterschiedliche Begriffe verwendet, um die
nationalsozialistische Zwangsarbeit zu bezeichnen. Der Oberbegriff "Zwangsarbeit" umfasst
verschiedene Formen des Arbeitseinsatzes und konnte unterschiedliche Lebensumstände
bedeuten.

Auch in den zeitgenössischen Quellen finden wir verschiedene Bezeichnungen für Zwangsarbeit: Oft
schrieben die Dienststellen oder Betriebe von "Ausländern", aber auch von "Gefangenen" oder "
Fremdvölkischen", manchmal sogar von "Gastarbeitern". Im mündlichen Sprachgebrauch waren auch
Schimpfwörter wie "Polenschweine" oder "Russenweiber" gängig. Hier werden die wichtigsten
Bezeichnungen kurz erläutert.

Zwangsarbeit
Arbeit, die mit nicht-wirtschaftlichem Zwang und unter Androhung von Strafe verlangt wird. Unter
Zwangsarbeit im Nationalsozialismus versteht man insbesondere die Verschleppung und Ausbeutung
von über 13 Millionen ausländischen KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und zivilen Arbeitskräften in
Deutschland. Zwangsarbeit gab es auch in Ghettos, Arbeitserziehungslagern und anderen Lagern im
gesamten besetzten Europa und betraf insgesamt etwa zwanzig Millionen Menschen. Deutsche
Jüdinnen und Juden und deutsche Häftlinge leisteten ebenfalls Zwangsarbeit. Daneben herrschte in
vielen besetzten Ländern ein allgemeiner Arbeitszwang für die Zivilbevölkerung. Davon abzugrenzen
sind die Arbeitspflichten für die deutsche Bevölkerung (Reichsarbeitsdienst, Dienstverpflichtung,
Landjahr), die unter völlig anderen Bedingungen stattfanden.

Fremdarbeiter
Umgangssprachliche Bezeichnung für zivile Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus. Der Begriff "
Fremdarbeiter" verschleiert den Zwang als Grundlage des Arbeitseinsatzes. Selbst die ursprünglich
freiwillig, d. h. oftmals aus wirtschaftlicher Not nach Deutschland gekommenen "Fremdarbeiter" durften
später ihren Arbeitsplatz nicht mehr verlassen. Der in den Quellen nur selten verwendete Begriff "
Fremdarbeiter" fand nach 1945 Verbreitung, um den nationalsozialistischen Ausländereinsatz von der
Beschäftigung der "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik zu unterscheiden. In politischen Debatten
werden Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten noch heute gelegentlich als "Fremdarbeiter
" bezeichnet.

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                       8

Fremdvölkische
Nationalsozialistische Bezeichnung für Menschen, die nicht "germanischer Abstammung" waren und
nicht zur "Volksgemeinschaft" zählten. Als "fremdvölkisch" galten alle Ausländerinnen und Ausländer,
die nicht aus "germanischen" Ländern wie den Niederlanden oder Skandinavien kamen. Als "rassisch
minderwertig" wurden insbesondere Slawinnen und Slawen angesehen. Ganz unten in der NS-
Rassenhierarchie standen Jüdinnen und Juden, "Zigeuner" und "Farbige"; sie galten als "fremdvölkisch
", auch wenn sie Deutsche waren.

Sklavenarbeiter
Heutige Bezeichnung für völlig rechtlose Arbeitskräfte, vor allem für die Häftlinge von
Konzentrationslagern. Der Begriff "Sklavenarbeiter" wurde in den Nürnberger Prozessen für alle zur
Arbeit ins Reich Verschleppten verwendet. In den Entschädigungsverhandlungen der 1990er Jahre
bezeichnete er dagegen nur die Gruppe der KZ-Häftlinge, die für die SS, für private oder staatliche
Unternehmen arbeiten mussten und extrem ausgebeutet wurden ("Vernichtung durch Arbeit"). Der mit
diesem Begriff verbundene Vergleich der NS-Zwangsarbeit mit der Sklaverei in anderen Epochen ist
umstritten, unter anderen, weil die SS im Unter-schied zu anderen Sklavenhaltern kaum am Überleben
ihrer "Sklavenarbeiter" interessiert war.

Am 1. Oktober 1946 endete der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der die "Sklavenarbeit" als zentrales
Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten verurteilte. Im folgenden Video sprechen zwei Zeitzeugen und eine
Zeitzeugin über Zwangsarbeit als Sklaverei. Sie verwenden den Begriff "Sklave" in unterschiedlichen Bedeutungen.
Ausschnitte aus den Video-Interviews mit den Zwangsarbeitern Wasyl B., Bloeme E. und Claudio S. (http://www.bpb.
de/mediathek/227592/sklavenarbeit)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                           9

Zivilarbeiter
Heutige Bezeichnung für Zwangsarbeiter, die keine Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlinge waren. Im
Sommer 1944 gab es im Deutschen Reich rund 5,7 Millionen ausländische Zivilarbeiterinnen und
Zivilarbeiter. Sie wurden von privaten Firmen, Behörden, Bauern oder Familien beschäftigt,
untergebracht und überwacht. Kriegsgefangene und Militärinternierte unterstanden dagegen der
Wehrmacht, Häftlinge der SS oder der Gestapo. Die Bezeichnung "Zivilarbeiter" verweist also nicht
auf besonders zivilisierte Lebensumstände, sondern nur auf die nicht-militärische Verantwortung für
ihre Zwangsarbeit.

Ostarbeiter
Nationalsozialistische Bezeichnung für Zivilarbeiter, die aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion
stammten. Nach der anfänglichen Anwerbung von Freiwilligen folgte sehr bald die gewaltsame
Verschleppung von 2,1 Millionen sowjetischen Frauen und Männern nach Deutschland. "
Ostarbeiterinnen" und "Ostarbeiter" mussten das diskriminierende "OST"-Abzeichen tragen, wurden
meistens in besonderen Lagern untergebracht und weitaus schlechter behandelt als
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus anderen Ländern. Nach der Befreiung wurden viele von
ihnen in der Sowjetunion wegen angeblicher Kollaboration diskriminiert oder verfolgt. Menschen aus
Polen zählten nicht zu den "Ostarbeitern", wurden aber als Slawen ebenfalls besonders schlecht
behandelt.

Am 20. Februar 1942 gab Heinrich Himmler die "Ostarbeiter-Erlasse" heraus. Sie unterwarfen über drei Millionen aus
der Sowjetunion verschleppte zivile Arbeitskräfte einem diskriminierenden Sonderrecht. Im folgenden Interview-
Ausschnitt (Audio) berichtet eine Zeitzeugin, wie sie bei der Zwangsarbeit in Chemnitz als "Ostarbeiterin" behandelt
wurde. Audio-Slideshow mit Ausschnitten aus dem Audio-Interview und Fotos der sowjetischen Zwangsarbeiterin
Hanna Fedoriwna H., Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945". Aktuelle Fotos der Diamant-Werke: Udo Thierfelder (http://
www.bpb.de/mediathek/227595/20-februar-1942-die-ostarbeiter-erlasse)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                          10

Weiterführende Links
Nationalsozialistische Lager: Begriffserklärungen zu Konzentrations-, Kriegsgefangenen-,
Zwangsarbeiter- und anderen Lagern (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/erfahrungen/
lager/index.html) auf der Webseite "Zwangsarbeit 1939-1945"

Lexikon in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945" mit ca. 150
Begriffserläuterungen zur NS-Zwangsarbeit (http://zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de/dictionary/)
(Registrierung notwendig)

Themenfilm 8. März 1940: Die Polen-Erlasse (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/
ereignisse/polenerlasse) auf der Webseite "Zwangsarbeit 1939-1945" (Ausschnitte aus 3 Interviews,
10 Minuten)

Themenfilm 8. September 1943: Die italienischen Militärinternierten (http://www.zwangsarbeit-archiv.
de/zwangsarbeit/ereignisse/8-september/) auf der Webseite "Zwangsarbeit 1939-1945" (Ausschnitte
aus 3 Interviews, 9 Minuten)

                     Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                     de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                     Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autor: Cord Pagenstecher für bpb.de

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                           11

Zeitzeugen erzählen
                                                                                     11.10.2016

Der Begriff „Zwangsarbeit“ umfasst verschiedene Formen des Arbeitseinsatzes, die unterschiedliche
individuelle Erfahrungen bedeuteten. Zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hatten mehr
Freiraum als Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge. Die Zwangsarbeit in Bergwerken und Bunkerbauten
war schlimmer als ein Einsatz in der Haus- und Landwirtschaft. In den besetzten Gebieten herrschten
andere Bedingungen als im Reich selbst. Frauen litten unter zusätzlichen Schikanen. Menschen
slawischer Abstammung wurden besonders diskriminiert. Viele Roma und jüdische Häftlinge wurden
sogar zu Opfern der „Vernichtung durch Arbeit“, während ihre Arbeitsfähigkeit andere wiederum
zumindest zeitweise vor der Ermordung rettete.

Die Vielfalt dieser Erfahrungen zeigt sich in den höchst unterschiedlichen individuellen Erinnerungen
der Überlebenden. Ihre verschiedenen Lebenswege eröffnen zugleich eine internationale Perspektive
auf die NS-Zwangsarbeit als Teil der europäischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs. In der Online-
Anwendung Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945 (http://zwangsarbeit.lernen-mit-
interviews.de) (Registrierung notwendig) berichten sechs Vertreterinnen und Vertreter
unterschiedlicher Opfergruppen von ihren Erfahrungen in Lagern und Fabriken. Ihre Lebenswege
werden hier vorgestellt.

Weiterführende Links:

Themenfilm 8. September 1943: Die italienischen Militärinternierten (http://www.zwangsarbeit-archiv.
de/zwangsarbeit/ereignisse/8-september/) auf der Webseite „Zwangsarbeit 1939-1945“ (Ausschnitte
aus 3 Interviews, 9 Minuten)

Themenfilm Sinti und Roma: Der Beginn der Verfolgung (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/
zwangsarbeit/ereignisse/sintiundroma/) auf der Webseite „Zwangsarbeit 1939-1945“ (Ausschnitte aus
einem Interview, 8 Minuten)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                        12

Sinaida Baschlai. Eine ukrainische "Ostarbeiterin" in
Haushalt und Rüstungsindustrie
                                                                                                 11.5.2016

1942: Verschleppung nach Berlin und Arbeit in der Fabrik (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.bpb.
de/mediathek/240044/sinaida-baschlai)

1914: Geburt in Belgorod
(Russisches Reich, heute Russland)

1916-1942: Kindheit und Jugend in Charkow
Umzug nach Charkow
Schulbesuch und Studium als technische Zeichnerin und Konstrukteurin Arbeit als Ingenieurin bei "
Giprokoks"

1942: Zwangsarbeit in Berlin
Verschleppung zur Zwangsarbeit bei der Firma "Schwarzkopf" in Berlin-Tempelhof
Später Arbeit als Dienstmädchen bei einer baltendeutschen Familie in Berlin-Steglitz

1943: Zwangsarbeit in Bäckerei in Schönstadt
Nach Luftangriffen auf Berlin zieht die Hausherrin nach Hessen und nimmt Sinaida Baschlai mit
Arbeit in einer Bäckerei in Schönstadt bei Marburg

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   13

Sommer 1944: Zwangsarbeit für die WASAG in Allendorf
Arbeit in der Munitionsfabrik, Unterbringung im "Russenlager"

April 1945: Überprüfung in Filtrierlager Magdeburg
Befreiung durch US-Truppen, dann Überprüfung in einem Filtrierlager in Magdeburg (Sowjetische
Besatzungszone)

Oktober 1945: Rückkehr nach Charkow
(Sowjetunion, heute Ukraine)
Wiedereinstellung bei "Giprokoks"

1978: Rente

1984: Heirat

Weiterführender Link:
Sinaida Baschlai. Eine ukrainische ‘Ostarbeiterin’ in Haushalt und Rüstungsindustrie (http://
zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de/menschen/sinaida-baschlai)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung „Lernen mit Interviews“ (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                  14

Reinhard Florian. Verfolgung und Sklavenarbeit
eines deutschen Sinto
                                                                                            11.5.2016

"Es fängt alles klein an und groß hört es auf." (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.bpb.de/
mediathek/240053/reinhard-florian)

1923: Geburt in Matheninken bei Insterburg
(Ostpreußen, heute Ugrjumowo, Oblast Kaliningrad, Russland), Schulbesuch

1937: Zwangsverpflichtung als Melker auf einem Rittergut

1941: Inhaftierung in Insterburg
(Ostpreußen, heute Tschernjachowsk, Oblast Kaliningrad, Russland) Monatelanger Transport durch
zahlreiche weitere Gefängnisse in Deutschland

1941: Einlieferung ins KZ Mauthausen
Sklavenarbeit im Steinbruch

1942: Zwangsarbeit im KZ Auschwitz
Gefangenschaft im KZ Auschwitz und seinen Nebenlagern Monowitz, Rydultau (Charlottengrube) und
Blechhammer

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   15

Sklavenarbeit unter anderem im Bergbau

Januar 1945: Transport ins KZ-Außenlager Melk
Wegen Herannahen der Roten Armee Transport über Mauthausen ins KZ Melk (Außenlager von
Mauthausen)

Mai 1945: Befreiung im KZ Ebensee
(Außenlager von Mauthausen)

Nach 1945: Leben in Bayreuth
Lebt als Staatenloser in Bayreuth.
Infolge der KZ-Haft lange arbeitsunfähig

Bis 2014: Aktiv für die Erinnerung
Erst nach 1990 Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit
Ehrengast bei der Eröffnung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
Europas in Berlin am 24. Oktober 2012

17. März 2014: Reinhard Florian stirbt im Alter von 91 Jahren

Weiterführender Link:
Reinhard Florian. Verfolgung und Sklavenarbeit eines deutschen Sinto (https://zwangsarbeit.lernen-
mit-interviews.de/menschen/reinhard-florian)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                 16

Helena Bohle-Szacki. Eine deutsch-jüdische Polin in
KZ und Emigration
                                                                                           11.5.2016

1944/45: Im Außenlager Helmbrechts des KZ Flossenbürg (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.
bpb.de/mediathek/240054/helena-bohle-szacki)

1928: Geburt in Białystok (Polen)
Vater deutsch, Mutter jüdisch

1939: sowjetische Besatzung

seit 1941: deutsche Besatzung
Ermordung der Schwester
illegaler Schulbesuch

April 1944: verhaftet

Juni 1944: Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück
Transport ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, inhaftiert als "asoziale Halbjüdin"
Arbeitseinsatz im Lager

Herbst 1944: Transport ins KZ Helmbrechts (Außenlager von Flossenbürg) in Oberfranken

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   17

Zwangsarbeit in der Rüstungsfabrik Neumeyer
Freundschaft mit Gruppe aus Lodz

April/Mai 1945: Todesmarsch nach Falkenau-Zwodau
Todesmarsch nach Böhmen
Befreiung durch amerikanische Truppen im Lager Falkenau-Zwodau (heute Svatava, Tschechien)

1945: Leben in Łódź
Rückkehr über Bialystok nach Łódź (Polen)
Beginn des Kunststudiums

1950: Tod des Vaters nach Verhaftung durch Staatssicherheit

1968: Emigration
Emigration nach West-Berlin wegen Antisemitismus in Polen
Arbeit in der Modebranche und als Künstlerin

21. August 2011: Helena Bohle-Szacki stirbt in Berlin

Weiterführender Link:
Helena Bohle-Szacki. Eine deutsch-jüdische Polin in KZ und Emigration (https://zwangsarbeit.lernen-
mit-interviews.de/menschen/helena-bohle-szacki)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                18

Claudio Sommaruga. Zwangsarbeit und
Verweigerung eines italienischen Militärinternierten
                                                                                          11.5.2016

1945: Befreiung und Rückkehr (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.bpb.de/mediathek/240056/
claudio-sommaruga)

1920: Geburt in Genua (Italien)
Schulbesuch

1939: Studium der Geologie

4. September 1943: Einberufung als Offizier

8. September 1943: Gefangennahme in Alessandria (direkt nach der deutschen Besetzung Italiens)
Transport nach Deutschland

September 1943: Ankunft im Kriegsgefangenenlager Stalag X B Sandbostel (bei Bremerhaven)

Anwerbung zu den faschistischen Truppen verweigert

September 1943 - Januar 1944: Kriegsgefangenschaft im Stalag 367 in Tschenstochau (Polen)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   19

Januar 1944: Transport ins Stalag 307 Dęblin (Polen)
dort später im Offizierslager Oflag 77
im März wegen des russischen Vorstoßes Abtransport nach Westen

Sommer 1944: Kriegsgefangenschaft im Stalag VI G Duisdorf-Hardhöhe (bei Bonn)
weitere Anwerbungsversuche verweigert

August 1944: Zwangsarbeit in Köln
"Straflager AK96", Zwangsarbeit bei der Fallschirmfabrik Glanzstoff & Courtaulds in Köln
Krankenhausaufenthalt

Oktober 1944: Transport nach Wietzendorf
über das Straflager Forellenkrug ins Oflag 83 Wietzendorf (Niedersachsen), auf 38 Kilo abgemagert

April 1945: Befreiung durch kanadische Truppen

August 1945: Rückkehr zur Familie nach Varese (Italien)
Fortsetzung des Studiums an verschiedenen Orten, dann Arbeit als Geologe
seit den 1980er Jahren aktiv in der Erinnerungsarbeit für die italienischen Militärinternierten

4. November 2012: Claudio Sommaruga stirbt

Weiterführender Link:
Claudio Sommaruga. Zwangsarbeit und Verweigerung eines italienischen Militärinternierten (http://
zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de/menschen/claudio-sommaruga)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   20

Victor Laville. Ein französischer Zwangsarbeiter in
Bayern
                                                                                             11.5.2016

1943: Im Bahnkonvoi nach Bayern (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.bpb.de/mediathek/240055/
victor-laville)

18. Juli 1921: Geburt in Grau du Roi (Frankreich)

1928: Schulbesuch in Sète
Bekanntschaft mit dem späteren Chansonnier Georges Brassens, Abitur

1940: Studium in Montpellier
Beginn des Kunststudiums in Montpellier, 1941 Marseille
Veröffentlichung von Zeichnungen

1941 - Juni 1942: Arbeitsdienst in den Cevennen
Waldarbeiten bei den „Chantiers de Jeunesse“ (Arbeitsdienst des Vichy-Regimes) in den Cevennen

März 1943: Zwangsarbeit bei der Luitpoldhütte Amberg (Oberpfalz)
Verpflichtung zum Service du Travail Obligatoire (STO, „Pflichtarbeitsdienst“) bei der Luitpoldhütte der
„Reichswerke Hermann Göring“ in Amberg

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   21

April - Juni 1943: Zwangsarbeit in Hirschau (Oberpfalz)
Arbeit im Zementwerk von Polensky und Zöllner in Hirschau

1943: Zwangsarbeit in Penzberg (Oberbayern)
Vermessungsarbeiten auf einer Baustelle der Reichsbahn

Mai 1944: Rückkehr nach Sète
Victor Laville bleibt nach Heimaturlaub in Sète und taucht in der Nähe unter
Bombardierung seiner Heimatstadt

Nach 1945: Leben in Paris
Arbeit als Gestalter und Redakteur bei „Paris Match“

1981: Rente und Rückkehr nach Sète
Pflegt die Erinnerung an seinen alten Freund, den französischen Chansonnier Georges Brassens

Weiterführender Link:
Victor Laville. Ein französischer Zwangsarbeiter in Bayern (https://zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.
de/menschen/victor-laville)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                    22

Anita Lasker-Wallfisch. Musikerin – Jüdin –
Überlebende
                                                                                             11.5.2016

Im Frauenorchester von Auschwitz-Birkenau: 1943 bis 1944 (© 2016 Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") (http://www.
bpb.de/mediathek/239478/anita-lasker-wallfisch)

17. Juli 1925: Geburt in Breslau
Vater Rechtsanwalt, Mutter Geigerin und Hausfrau, zwei ältere Schwestern, Marianne und Renate
Besuch einer Privatschule und Musikunterricht in Breslau (heute Wrocław, Polen)
Ausreise der ältesten Schwester Marianne 1939 nach England

März 1940: Zwangsumzug
Zwangsumzug und Zusammenleben mit Verwandten

Januar bis Juni 1941: Besuch einer jüdischen Schule Bemühungen des Vaters um die Ausreise
der Familie

Herbst 1941: Zwangsarbeit in Papierfabrik
Zwangsarbeit der Schwestern Anita und Renate in der Sacrauer Papierfabrik, Unterstützung
französischer Kriegsgefangener

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                   23

9. April 1942: Deportation der Eltern ins Durchgangsghetto Izbica in Polen
Todesdatum und -ort unbekannt

September 1942: Fluchtversuch und Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Gefängnisurteil

Herbst 1943: KZ Auschwitz-Birkenau
Inhaftierung im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Häftlingsnummer 69388; Arbeitskommando:
Frauenorchester

Oktober 1944 bis April 1945: KZ Bergen-Belsen
Ende Oktober 1944 Evakuierungstransport in das KZ Bergen-Belsen

15. April 1945: Befreiung

1945: Nach der Befreiung
Leben im DP-Lager Bergen-Belsen
Herbst 1945 Zeugin im Lüneburger Bergen-Belsen-Prozess, Ausreise nach Brüssel und 1946 nach
England
Ausreise der Schwester Marianne aus London nach Palästina

Ab 1946: Leben in London
Musizieren mit verschiedenen Orchestern
1948 Mitbegründerin des „English Chamber Orchestra“
1952 Heirat mit dem Pianisten Peter Wallfisch; Tod der ältesten Schwester Marianne in Israel
1953 und 1958 Geburt des Sohnes und der Tochter

1990er Jahre: Besuche in Deutschland
Anfang der 1990er Jahre erstmalig wieder in Deutschland, seitdem Auftritte als Zeitzeugin in der
deutschen Öffentlichkeit

1993: Tod des Ehemannes

1996: Anita Lasker-Wallfischs Erinnerungen „Inherit The Truth“ erscheinen
Die deutsche Ausgabe „Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz“ kommt 1997 heraus

Weiterführender Link:
Anita Lasker-Wallfisch. Musikerin – Jüdin – Überlebende (http://zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.
de/menschen/anita-lasker-wallfisch)
Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig)

                              Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                              de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                                      24

Profiteure, Helfer, Handlungsspielräume
Von Cord Pagenstecher                                                                                        1.6.2016
 Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich
 Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".

Neben der Rüstungsindustrie profitierten auch öffentliche Dienststellen, Handwerker und
Bauern sowie private Haushalte von der Zwangsarbeit. Mehr noch als andere
nationalsozialistische Massenverbrechen fand die Zwangsarbeit direkt vor der Haustür statt.

Die "Fremdvölkischen" waren auf ihren langen täglichen Arbeitswegen ebenso unübersehbar wie in
den Fabriken und Lagern. Die allgegenwärtige und überall sichtbare Ausbeutung und Diskriminierung
der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde von der deutschen Bevölkerung weithin
hingenommen oder – wie die hohe Zahl von Denunziationen bei der Gestapo zeigt – gar begrüßt und
unterstützt.

Nicht nur die Rüstungsindustriellen, auch einfache Deutsche profitierten von der Zwangsarbeit, die
ihnen die Lebensmittelversorgung sicherte und einen gewissen sozialen Aufstieg ermöglichte.
Persönliche Kontakte waren verboten, durch Misstrauen und Sprachbarrieren aber ohnehin selten.
Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten gleichwohl von kleinen Anzeichen
von Solidarität oder konkreten Hilfsleistungen wie dem Zustecken von Nahrungsmitteln.

Zwangsarbeit für Industrie, Staat und Handwerk

Die meisten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren in den großen
Fabriken der Rüstungsindustrie tätig. Ab 1942 bemühten sich die Firmen aktiv
um die Zuweisung von immer mehr ausländischen Arbeitskräften, um damit
Rüstungsaufträge übernehmen zu können und so an dem von Albert Speer
(http://www.chotzen.de/bibliothek/biografien/albert-speer) organisierten Wirtschaftsboom
teilzuhaben. Ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hätten die
meisten Fabriken schließen müssen, mit ihnen konnten sie ihre
Produktionskapazitäten erheblich ausbauen. Zu Kriegsende produzierte etwa
die zum Flick-Konzern gehörende Spandauer Stahlindustrie mit einem Anteil
von über 80 Prozent Ausländern an der Belegschaft. Millionen von
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in ganz Europa arbeiteten für
große Baufirmen, oft in Verbindung mit der Organisation Todt (http://www.
                                                                                                      Der Großindustrielle
chotzen.de/bibliothek/glossar/die-organisation-todt). Auch der Bergbau setzte                         Günther Quandt besaß
massenhaft Zwangsarbeiter ein; der Sinto Reinhard Florian etwa musste als                             viele Rüstungsfirmen,
                                                                                                      die Zwangsarbeiter
Häftling in einer oberschlesischen Kohlengrube arbeiten. Besonders schlecht                           einsetzten, 1941. Lizenz:
waren die Bedingungen in den Untertage-Projekten, mit denen die                                       cc by-sa/3.0/de (Bunde­
                                                                                                      sarchiv, Bild 183-B03534)
Rüstungsfirmen unterirdische, vor Luftangriffen geschützte Produktionsstätten
einrichteten.

Ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wäre nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch
die Versorgung der Deutschen rasch zusammengebrochen. Bahn und Post, Krankenhäuser und
Friedhöfe sowie die meisten städtischen Werke bedienten sich der Zwangsarbeit: Die Berliner
Verkehrsbetriebe (BVG) etwa berichteten dem Arbeitsamt über die "vielen Ostarbeiterkinder bei uns

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                          25

". Der 19-jährige Pole Roman Melnyk musste ab 1940 bei der Berliner Stadtreinigung arbeiten, ehe
er 1942 – vermutlich weil er sich über die schlechten Bedingungen beschwerte – ins
Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen wurde. Allein für die Reichsbahndirektion Berlin
schufteten 20.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Franzose Victor Laville arbeitete
erst für eine Eisengießerei, dann auf einer Baustelle der Reichsbahn. Viele der Verschleppten waren
auch bei kleinen Handels- und Handwerksbetrieben beschäftigt. Die Kreuzberger Weinhandlung
Robert Boos beschäftigte ein Dutzend Ostarbeiter. Der Ukrainer Roman F. arbeitete als Heizergehilfe
im Hotel Adlon.

Zwangsarbeit auf Bauernhöfen und in Privathaushalten
Viele deutsche Bauernhöfe setzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein, die die zur
Wehrmacht eingezogenen Knechte, Mägde und Landarbeiter ersetzten. Auf dem Land waren die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter meist besser verpflegt und weniger von Bombenangriffen
betroffen als in der Stadt; doch mussten sie hart arbeiten, waren isoliert von ihren Landsleuten und
der Willkür ihrer Bauernfamilien ausgesetzt.

Besonders viele sowjetische Zwangsarbeiterinnen wurden als Dienstmädchen in bürgerlichen
Haushalten beschäftigt. Viele leitende Angestellte von Unternehmen und NS-Bürokratie nutzten ihre
Beziehungen, um ihren Ehefrauen eine Haushaltshilfe zu besorgen.

Für die "Ostarbeiterinnen“ bedeutete das eine bessere Versorgung, aber auch lange Arbeitszeiten,
persönliche Willkür und eine höhere Gefahr sexueller Ausbeutung. Die aus Charkow nach Berlin
verschleppte Ingenieurin Sinaida Baschlai wurde zunächst bei der Kosmetikfirma Schwarzkopf
eingesetzt, kam dann aber als Haushaltshilfe in eine Villa am Stadtpark in Steglitz. Ihre Herrin
behandelte sie klassenbewusst, aber nicht schlecht: "Sie war die Herrin, ich ihr Dienstmädchen. Ich
arbeitete den ganzen Tag, und sie konnte sich ans Klavier setzen; sie dachte, wenn sie spielte und
ich arbeitete, würde ich eine bessere Laune bekommen."

Nachbarschaft
Die Zwangsarbeit fand direkt vor der Haustür der Bevölkerung statt; fast jeder Deutsche hatte ein
Zwangsarbeiterlager in der Nachbarschaft. In Münster sind 180 solcher Unterkünfte nachgewiesen,
in Hamburg 1300, in Berlin über 3000. Mancher Volksgenosse protestierte gegen die Einrichtung eines
Ausländerlagers in seinem Wohngebiet und die – so ein Berliner in einer Beschwerde – damit drohende
"Überflutung der Gegend durch herumlungernde Ausländer".

Josef Kroupa erinnert sich

Auf einem Privatfoto aus dem Jahr 1942 feiert Familie K. im Garten hinter dem Haus eine Einschulung;
im Hintergrund sieht man eine Baracke. In diesen Baracken in der Steinstraße lebten Zwangsarbeiter
der Reichspostdirektion Berlin. Der Tscheche Josef Kroupa erinnerte sich 1997: „Wir schliefen auch
bei strengsten Frösten nur unter einer Decke. Wir haben uns einen Ofen organisiert, Zweige und Kohle
am Bahnhof gesammelt, um uns wenigstens Tee zu kochen. […] Es war ein Hundeleben.“* Im
Nachbargarten jedoch lief das bürgerliche Familienleben unberührt weiter. Was der Familie K. über
das benachbarte Zwangsarbeiterlager bekannt war, ist unbekannt – die auf dem Foto vorne abgebildete
Zeitzeugin erinnert sich kaum noch daran.

* Erinnerungsbericht von Josef Kroupa, 1997, Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                     26

Auch auf ihren langen täglichen Arbeitswegen waren die "Fremdvölkischen" unübersehbar. Viele
Deutsche erinnerten sich noch lange nach dem Krieg an das typische Klappern der Holzpantinen auf
dem Pflaster, wenn die Lagerinsassinnen und -insassen zur Arbeit geführt wurden. Mit einem
Sonderfahrplan regelte die Reichsbahndirektion Berlin im Juli 1944 den S-Bahn-Transport von
russischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen durch Berlin. Danach passierte beispielsweise jeden
Werktag um 6:16 Uhr ein Sonderzug mit Ostarbeitern den Bahnhof Bornholmer Straße. Die Direktion
merkte an: "Die Sonderzüge sind auf allen Bahnhöfen mit dem Richtungsschild 'Nicht einsteigen'
anzukündigen."

Misstrauen
Die von der NS-Sondergesetzgebung vorgegebene Abschottung der "Fremdvölkischen" beschränkte
die Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern. Der "verbotene Umgang" wurde teilweise streng
verfolgt. Die Sprachbarriere und das gegenseitige Misstrauen taten ein Übriges, um – in der Großstadt
ohnehin seltenere – persönliche Beziehungen zu verhindern. In die anfangs oft siegesgewiss
überhebliche Wahrnehmung der Ausländer mischte sich gegen Ende des Krieges nun häufiger Angst
vor den Fremden. Die Journalistin Ursula von Kardorff notierte Ende 1944 in ihrem Tagebuch: "Die
Fremdarbeiter sollen vorzüglich organisiert sein. Es heißt, daß Agenten unter ihnen sind, Offiziere,
Abgesandte der verschiedenen Untergrundbewegungen, die gut mit Waffen ausgerüstet seien, auch
mit Sendegeräten. […] Zwölf Millionen Fremdarbeiter gibt es in Deutschland. Eine Armee für sich.
Manche nennen sie das Trojanische Pferd des heutigen Krieges."[1]

Hilfsleistungen

Nahezu drei Millionen Frauen, Männer und Kinder aus Polen mussten während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit
in Deutschland leisten. Die Begegnungen mit Deutschen prägten entscheidend ihre Erinnerung daran. In diesem
Video sprechen eine Zeitzeugin und ein Zeitzeuge über ihre Erfahrungen mit einzelnen Deutschen. Ausschnitte aus
den Videointerviews mit Janina Halina G. und Zdzisław D. (http://www.bpb.de/mediathek/227598/gute-deutsche-
schlechte-deutsche)

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                               27

Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten gleichwohl von konkreten
Hilfsleistungen wie dem Zustecken von Nahrungsmitteln. Dieses zwischenmenschliche Mitgefühl war
von großer Bedeutung für das Überleben der Ausländer, aber auch für die moralische Integrität der
Helfenden. In Berlin ist eine ganze Reihe von Hilfsaktionen aus Reihen des deutschen, vor allem des
Arbeiterwiderstands dokumentiert. Die Zwangsarbeiter registrierten aufmerksam jedes Anzeichen von
Solidarität. Jerzy Bukowiecki aus Polen etwa erinnerte sich 1998: "Es arbeitete dort auch ein alter
Mann […]. Dieser sehr sympathische alte Mann fing jede Unterredung mit 'Hitler kaputt' an. Er hasste,
nicht weniger als wir, Hitler und alle Nazileute. Sein Gruß war: 'Hitler kaputt.' Allen Ausländern war er
sehr sympathisch."[2]

Zustimmungsdiktatur
Überwiegend wurde die "Apartheid nebenan" von den Deutschen aber akzeptiert, wenn sie nicht gar
die nationalsozialistische Herrenmenschen-Ideologie fanatisch unterstützten. Die meisten
Verhaftungen und Bestrafungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern gingen auf Anzeigen
von Meistern und Lagerführern, aber auch auf Denunziationen von unbeteiligten Nachbarn oder
Passanten zurück. Gerade im Kontext der Zwangsarbeit erscheint Götz Alys Wort von der
"Zustimmungsdiktatur"[3] zutreffend. Auch die deutschen Arbeiter profitierten schließlich von dem
massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Zwar trug Zwangsarbeit dazu
bei, dass auch immer mehr Facharbeitern die Einberufung an die Front drohte, da Ausländerinnen
und Ausländer ihre Arbeit übernahmen. Andererseits erlaubte die Zwangsarbeit einfachen Arbeitern
einen sozialen Aufstieg, etwa durch Aufrücken in Vorarbeiter-Stellen, und bewahrte viele, vor allem
allerdings bürgerliche, Frauen vor einer Dienstverpflichtung in der Rüstungsindustrie. Zusammen mit
der durch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gesicherten Versorgung der deutschen
Bevölkerung stärkte dies den Zusammenhalt unter den "Volksgenossen".

Lagerführer
Die meisten Deutschen hatten freilich nur begrenzte Handlungsspielräume, sofern sie nicht in ihrer
beruflichen Position mit den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zu tun hatten, etwa als
Abwehrbeauftragter, Werkschutzmann oder Lagerführer. Besondere Verantwortung trug der
Abwehrbeauftragte, in kleineren Betrieben meist identisch mit dem Betriebsführer. Ihm unterstanden
die Werkschutzmänner, die die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter oft in gewalttätiger Weise –
beaufsichtigten.

Die Lagerführer der betriebseigenen Lager unterstanden ebenfalls dem Abwehrbeauftragten. Vor Ort
hatten die Lagerführer einen großen Handlungsspielraum gegenüber ihren Insassen, waren aber auch
mit einer Vielzahl organisatorischer Aufgaben beschäftigt. In einem Lager der Evangelischen Kirche
Berlin verhielt sich etwas ein Lagerführer ruhig und verständnisvoll, während der andere häufig schlug
und mit der Gestapo drohte.

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                                28

Weiterführende Links und Literatur
Hintergrundfilm Zwangsarbeit und Entschädigung (https://zwangsarbeit.lernen-mit-interviews.de/
hintergrund/zwangsarbeit-und-entschadigung#) mit Zusatzmaterialien in der Online-Anwendung
"Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945" (Registrierung notwendig)

Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App                           der      Berliner   Geschichtswerkstatt   (http://www.berliner-
geschichtswerkstatt.de/app.html)

Buggeln, Marc/Pagenstecher, Cord: Zwangsarbeit, in: Berlin 1933-1945, hg. v. Michael Wildt und
Christoph Kreutzmüller, München: Siedler 2013, 127–142

                     Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                     de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                     Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autor: Cord Pagenstecher für bpb.de

Fußnoten

1.    Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945, München 1962
2.    Bericht Jerzy Bukowiecki, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.br.pl 599.
3.    Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                                                      29

Nach 1945: Vergessene Opfer,
vergessene Lager
Von Cord Pagenstecher                                                                                        1.6.2016
 Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich
 Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".

In Deutschland wurde Zwangsarbeit lange als Begleiterscheinung von Besatzung und Krieg
bagatellisiert. Erst in den 1980er und 1990er Jahren gelang es Opferverbändern und lokalen
Erinnerungsverbänden, sich Gehör zu verschaffen. Die Entschädigungsdebatte Anfang der
2000er Jahre ließ die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter schließlich aus ihrer Rolle als
"vergessene Opfer" heraustreten.

Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zählten lange zu den vergessenen Opfern des
Nationalsozialismus. Nach ihrer Befreiung machten sich viele auf eigene Faust sofort auf den Heimweg
und waren damit schlagartig aus dem Blickfeld der Deutschen verschwunden. Andere lebten als
"Displaced Persons" (http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56359/nach-dem-2-
weltkrieg) (DPs) oder "Repatrianten" weiterhin in Lagern und warteten auf ihre Rückkehr oder
Weiterreise. Für viele, insbesondere sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war der
Leidensweg 1945 noch nicht zu Ende. Sie wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den
Deutschen verdächtigt; nicht wenige verschwanden in den stalinistischen Lagern.

In Deutschland wurde die NS-Zwangsarbeit – trotz ihrer Verurteilung in den Nürnberger Prozessen –
seitens der Politik und der Gerichte jahrzehntelang als übliche Begleiterscheinung von Krieg und
Besatzungsherrschaft bezeichnet und damit zugleich bagatellisiert, nicht aber als spezifisches NS-
Verbrechen anerkannt. Ausländische NS-Opfer hatten im Nachkriegsdeutschland ohnehin kaum eine
Stimme. Erst in den 1980er und 1990er Jahren konnten sich Opferverbände und lokale
Erinnerungsinitiativen allmählich Gehör verschaffen. Um die Jahrtausendwende ließ die
Entschädigungsdebatte dann die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus dem Status der
"vergessenen Opfer" heraustreten.

Interview: Zum Umgang mit der NS-Zwangsarbeit seit 1945

bpb.de
Dossier: NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews (Erstellt am 03.12.2021)                              30

Prof. Dr. Constantin Goschler im Interview, Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (FU Berlin, CeDiS)

Prof. Dr. Constantin Goschler ist Zeithistoriker an der Ruhr-Universität Bochum. Er spricht im Interview
über gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen, die zur Gründung der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ führten. Die Stiftung organisierte und beaufsichtigte die
Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Goschler geht
auch der Frage nach, weshalb sich die Entschädigungsforderungen über Jahrzehnte nicht durchsetzen
konnten und erläutert, inwiefern die Zahlungen überhaupt bei den Opfern angekommen sind. Weiter...
(http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ns-zwangsarbeit/235774/zum-umgang-mit-der-ns-
zwangsarbeit-seit-1945)

Die Befreiung: Zwischen Freude und Verzweiflung
Die bedingungslose Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland am 8. Mai 1945 markierte
das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Monate und Tage vor diesem symbolischen Datum
erlebten Millionen Menschen ihre Befreiung: aus den Konzentrations- und Arbeitslagern, den Orten
der Zwangsarbeit und der Verschleppung, aber auch von der grausamen deutschen Herrschaft in ihren
Ländern. Dies war freilich kein einmaliger Akt, sondern ein langsamer Prozess, der sich mit der
Verschiebung der alliierten Front im Osten und Westen vollzog und extrem unterschiedliche Aspekte
hatte. In den ersten Tagen und Monaten nach der Befreiung starben noch Unzählige.

Die oft freudig begrüßten Soldaten der Roten Armee befreiten einerseits Osteuropa von den Deutschen,
brachten den Menschen andererseits aber eine erneute Bedrängnis. Nicht wenige der nach
Deutschland Verschleppten galten in ihren Ländern als Heimatverräter. Frauen litten besonders unter
Vergewaltigungen und sexuell konnotierten Verratsvorwürfen. Viele Menschen mussten zwischen Exil
und Heimkehr wählen. Noch anders die jüdischen Überlebenden: Nach der Ermordung ihrer
Familienangehörigen und der Auslöschung ihrer Gemeinden konnten sie nur mühsam einen Neuanfang
in der Fremde starten.

bpb.de
Sie können auch lesen