Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
SERGEJ
PROKOFJEW

 Die
Opern
Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
INHALT

 1       VORBEMERKUNG

 2       GRUSSWORT
         VON DAVID POUNTNEY

 4       SO FACETTENREICH WIE CHARAKTERISTISCH:
         DIE OPERN SERGEJ PROKOFJEWS
         VON RITA McALLISTER

11       WERKÜBERSICHT

28       IMPRESSUM | KONTAKT

Cover: Prokofjew im Jahr 1918
Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
VORBEMERKUNG
ZU DIESER PUBLIKATION

Der ganze Prokofjew
unter einem Dach
SEIT KURZEM SIND DIE TRADITIONSUNTERNEHMEN
BOOSEY & HAWKES UND SIKORSKI VEREINT

Die zuvor gültige Unterscheidung der Vertriebsgebiete     Wir freuen uns, dass wir einige renommierte
entfällt. Zu den Komponistengrößen des 20. Jahrhun-       Prokofjew-Kennerinnen und -Kenner für dieses
derts, deren komplettes Schaffen nun von unserem          Vorhaben gewinnen konnten. Ihre eigens verfassten
internationalen Verlagsteam gemeinsam vertreten           Beiträge werden durch Kurzeinführungen und
wird, zählt Sergej Prokofjew.                             detaillierte Angaben zu einzelnen Werken ergänzt.

Wir nehmen den Zusammenschluss zum Anlass,                Den Auftakt zur Heftreihe macht die Gattung Oper.
Prokofjews Werk in einer umfänglichen, mehrteiligen       Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Publikation zu präsentieren. Dabei lenken wir den
Blick sowohl auf beliebte Klassiker als auch auf solche   Ihre
seiner Kompositionen, die noch einer stärkeren            Boosey & Hawkes | Sikorski
Beachtung auf den Bühnen und Konzertpodien harren.        Promotion

                    Vollständiges Prokofjew-              Aufführungsrechte:
                    Werkverzeichnis & Infos:
                                                                    © Boosey & Hawkes, London,
                    www.boosey.com/downloads/                       für alle Länder
                    ProkofjewWerkverzeichnis.pdf
                                                                   © Sikorski, Berlin, für D, CH, E, GR, IL, IS,
                    www.boosey.com/Prokofjew                       NL, P, DK, N, S, TR, PL, H, CZ, HR, SLO;
                                                          Boosey & Hawkes, London, für UK, das British
                                                          Commonwealth (ohne CAN), IRL, ZAF

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
GRUSSWORT
VON DAVID POUNTNEY

„Keine Oper Prokofjews ist
wie die andere“
Während meines Studiums in Cambridge ging ich oft in       in Umfang und Stil so stark voneinander unterschei-
Second-Hand-Schallplattenläden und erstand damals          den. Der Spieler, seine erste große Oper, zeugt von der
auch eine Aufnahme von Krieg und Frieden in einer sehr     nervösen Genialität seiner frühen Jahre als enfant ter-
schicken Aufmachung mit Prägung, doch ohne Beiheft.        rible, ist aber wohl in der Tat sein erfolgreichstes Büh-
So begleitete mich dieses Stück durch jene Zeit, ohne      nenwerk – obwohl auch viel dafür spräche, der Liebe zu
dass ich genau verstand, worum es darin überhaupt          den drei Orangen diesen Rang zuzuweisen. Im Spieler
ging. Aber die Musik drang in mein Innerstes, und ei-      präsentieren sich die schillerndsten Persönlichkeiten
nige Zeit später sah ich eine großartige Inszenierung      sowie ein getriebener, hektischer Held, dessen Tem-
an der English National Opera.                             perament bestens zum widerspenstigen Trotz des frü-
                                                           hen Prokofjew passt. Und die vor Energie vibrierende
Glücklicherweise erhielt ich 1969 nach Beendigung          Glücksspielszene ist ein hervorragendes Beispiel für
meines Studiums ein Stipendium für einen Aufenthalt        den motorischen Elan Prokofjews. Für die Rolle und
in Ost-Berlin. Dort erwarb ich einen sehr schönen Kla-     den Charakter der Polina hätte man sich vielleicht et-
vierauszug des Spielers mit dem Text in drei Sprachen.     was mehr Tiefe gewünscht – ein so betörendes Wesen
Dieser legte quasi den Grundstein für mein seitdem         würde man gern genauer kennenlernen. Sie ist eine der
bestehendes Interesse an den Opern Prokofjews. In          Opernfiguren, der ich am liebsten persönlich begegnen
Ost-Berlin sah ich auch ungefähr zwei Drittel einer        würde.
Vorstellung der Liebe zu den drei Orangen – nicht, dass
ich vorzeitig gegangen wäre, es gab nur ein techni-        Der feurige Engel müsste wahrscheinlich seine erfolg-
sches Problem mit den Hubpodien, und die Vorstellung       reichste Oper sein, weil ihre makabre Mystik so hervor-
musste abgebrochen werden.                                 ragend zu Prokofjews Auslandsperiode passt, die von
                                                           Hektik, Dissonanzen und Dämonie geprägt war. Sie ist
1972 wurde ich von Brian Dickie, dem künstlerischen        aber relativ schwer zu inszenieren – nicht zuletzt, weil
Leiter des Wexford Festivals, gefragt, ob ich Janáčeks     die männliche Hauptrolle im Vergleich zu der hysteri-
Katja Kabanowa inszenieren wolle. Ich konnte ihn da-       schen Renata – eine der Figuren, der ich lieber nicht
von überzeugen, im Jahr darauf den Spieler auf die Büh-    persönlich begegnen möchte – eher blass erscheinen
ne zu bringen, den ich dafür ins Englische übersetzte      muss. Auf Wunsch von Lord Harewood durfte ich den
– mein erster Versuch in diesem Metier. In der genialen    Feurigen Engel mit der göttlichen Josephine Barstow
Glücksspielszene gibt es einen besonderen Moment,          für das Adelaide Festival inszenieren. Die Szene mit
wenn die beiden Tenöre, die jeweils nur sehr wenig zu      Agrippa ist problematisch, denn wenn das Orchester
singen haben, auf die Bühne stürmen und ihr Staunen        auch nur annähernd so wild spielt, wie vom Komponis-
über Alexejs Meisterleistung am Spieltisch zum Aus-        ten verlangt, hört man den Sänger nicht mehr, wodurch
druck bringen: Die Tenöre waren Graham Clark und           viel von der Kraft und dem bedrohlichen Charakter sei-
Dennis O’Neill – zwei angehende Stars. Den Spieler habe    ner Rolle verloren geht. Viel größere Wirkung erlangt
ich später in größerem Rahmen noch öfter inszeniert –      diese Passage in ihrer rein instrumentalen Fassung in
auf Niederländisch (!) in Amsterdam – und natürlich        der Dritten Sinfonie.
auf Englisch an der ENO, wieder mit dem grandiosen
Graham Clark, nun aber in der Hauptrolle als Alexej, in    Wenn Der feurige Engel die dämonische, obsessive Sei-
der er beim Singen einen perfekten Handstand vollführ-     te Prokofjews widerspiegelt, passt Die Liebe zu den drei
te! Später habe ich meine englische Übersetzung für        Orangen perfekt zum eher lebhaften, verschrobenen
Richard Jones am Royal Opera House Covent Garden           Teil seines Charakters. Ihre leuchtend farbige Partitur
überarbeitet. Somit war ich dem Spieler über viele Jahre   gibt den Exotismus von Carlo Gozzis Märchen aufs
verbunden – oder er mir.                                   Schönste wieder und streicht Prokofjews künstlerische
                                                           Verbindung zu der äußerst stilisierten, zirkusartigen
Prokofjews Vermächtnis als Opernkomponist lässt sich       Virtuosität von Meyerholds konstruktivistischem The-
nur sehr schwer zusammenfassen, da sich seine Opern        ater heraus.

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
Kommen wir nun zu seinen „sowjetischen“ Opern, die
einen klaren Bruch zu den vorherigen Werken darstel-
len. Und hier wäre ehrlich zu sagen: Er sah sich – was
wenig überrascht – nie in der Lage, die Lebensumstän-
de in der Sowjetunion mit seinen eigenen künstleri-
schen Impulsen in Einklang zu bringen. Man bedenke,
dass Schostakowitschs Reaktion auf dieses unlösbare
Problem im Kontext der Oper Schweigen war.

Als Prokofjew beispielsweise in den 1940er Jahren
Krieg und Frieden komponierte, war es unvermeidlich,
dass diese Oper nach ihrer nationalen, patriotischen
Aussage beurteilt werden würde. Etwas voreilig hatte
Prokofjew jedoch das Stück zunächst mit einer anderen
Konzeption begonnen und die Skizzen und Überarbei-        großartigen Geschichte, starken Charakteren und dem
tungen mit Sergej Eisenstein diskutiert, der die Urauf-   Reichtum von Prokofjews unfehlbar kommunikativer
führung inszenieren sollte, aber dann in Ungnade fiel.    Musik machen die Oper zu einem äußerst lohnenswer-
Ursprünglich wollte Prokofjew bei Krieg und Frieden       ten, wenngleich umfangreichen Unterfangen.
wie in der Buchvorlage die emotionalen Beziehungen
in den Vordergrund stellen und ein bemerkenswert la-      Im Vergleich dazu sind die übrigen Werke weniger
konisches Ende schreiben, bei dem Kutusow und der         spektakulär, auch wenn Die Verlobung im Kloster eine
Chor beim Gedanken, den Franzosen Tritte in den Hin-      herrliche, leichte Komödie mit einer wunderschönen
tern zu verpassen, in Gelächter ausbrechen. Dies hätte    melancholisch-romantischen Atmosphäre ist, die auch
natürlich nicht zu der sowjetischen Vorstellung von ei-   groteske Züge beinhaltet, etwa bei der musikalischen
ner heroischen Siegesparade gepasst.                      Hausparty und den trunksüchtigen Mönchen. Ich habe
                                                          den Eindruck, dass diese Oper von einem glücklichen
So wurde auch Krieg und Frieden zu einer Oper, bei der,   Menschen komponiert wurde. Leider kenne ich Die
wie bei Don Carlos, entschieden werden muss, was und      Geschichte eines wahren Menschen und Semjon Kotko
wie viel man davon auf die Bühne bringt, auch wenn es     nicht, würde mich aber freuen, wenn ich feststellen
ein Fehler wäre zu behaupten, dass alle späteren Über-    dürfte, dass sie viel besser sind, als ich befürchte.
arbeitungen Zugeständnisse an den Sowjet-Bombast
waren. Schließlich kam auch die ergreifende Ballszene     Das Besondere an diesem reichen Œuvre: dass keine
mit ihrem äußerst charakteristischen Walzer erst später   Oper Prokofjews wie die andere ist. Es gibt ein obsessi-
hinzu. Bei meiner Inszenierung an der Welsh National      ves Ensemble-Drama nach Dostojewski, eine exzessive
Opera habe ich ein wenig geschummelt. Ich habe das        mittelalterliche Schauergeschichte, ein leuchtend far-
Chor-Epigramm ganz an den Anfang gestellt – und da-       biges Märchen, ein patriotisches Epos über Liebe und
mit schamlos eine Idee von Colin Graham aus der ENO-      Krieg, eine romantische iberische Komödie und zwei
Inszenierung der 1970er Jahre geklaut. Die Ballszene      Stücke des Sozialistischen Realismus. Eine ziemlich
wurde natürlich gespielt, denn wer will schon Krieg und   beachtliche Leistung!
Frieden ohne den Ball sehen? Aber wir haben Prokof-
jews Originalschluss mit dem „Gelächter“ verwendet
und das Beste aus beiden Welten genommen, indem
wir die Musik des großen sowjetischen Finaltableaus
als Applausmusik spielen ließen. Krieg und Frieden ist
aus all den genannten Gründen qualitativ nicht ganz
ausgewogen, doch die Verbindung zwischen einer

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
EINFÜHRUNG
VON RITA McALLISTER

So facettenreich wie charakteristisch:
die Opern Sergej Prokofjews
Bereits zu Lebzeiten genoss Prokofjew den Ruf als einer    tritte. Viel wichtiger für ihn war jedoch zeitlebens seine
der bedeutendsten Komponisten des zwanzigsten Jahr-        Affinität zum Musiktheater: Oper, Ballett, Bühnenmusik
hunderts. Das verdankte er vor allem seinen Werken         sowie seit den frühen 1930er Jahren Filmmusik.
für das Konzertpodium – den Sinfonien, Solokonzerten
und Klavierwerken. Prokofjew war ein ausgezeichneter       Seine große Liebe galt der Oper. Außer in den Jahren
Pianist und finanzierte seine Tätigkeit als Komponist zu   1928–38, vor und kurz nach seiner Rückkehr nach Russ-
Beginn seiner Karriere größtenteils durch eigene Auf-      land – in denen er immerhin vier Ballette, fünf Schau-
                                                           spielmusiken, Peter und der Wolf und eine Filmmusik
                                                           komponierte – war er immer mit dem Schreiben einer
Der Komponist um 1900 in St. Petersburg vor der            Oper beschäftigt. Zwischen 1911 und seinem Tod im
Handschrift seiner Oper Der Riese                          Jahr 1953 komponierte er acht ausgewachsene Opern-
                                                           werke. Drei davon existieren in mehreren Fassungen.
                                                           Außerdem blieben zwei weitere Opern unvollendet:
                                                           Chan Busay (1942–47) und Ferne Meere (1948). Letztere
                                                           sollte eine heitere Operette voller Lieder und Tänze wer-
                                                           den. Erstere hätte, mit ihren kasachischen Volksweisen,
                                                           den Komponisten in neuem Licht erscheinen lassen.
                                                           Seine Opern gingen nicht auf Kompositionsaufträge zu-
                                                           rück, sondern auf Stoffe, die er selbst gefunden hatte
                                                           und allen Widrigkeiten zum Trotz unbedingt vertonen
                                                           wollte. Die Oper trug maßgeblich zur Ausprägung sei-
                                                           nes musikalischen Idioms bei. Zum Teil ist dies auch
                                                           der Grund für die ausgeprägte Theatralik seiner Kon-
                                                           zertwerke, in denen es zumeist um unbenannte Dramen
                                                           zwischen nicht näher bezeichneten Figuren geht.

                                                           Inspiriert von häufigen Besuchen im Moskauer Bol-
                                                           schoi-Theater und Sankt Petersburger Mariinski-The-
                                                           ater, begann Prokofjews Karriere als Opernkomponist
                                                           bereits in jungen Jahren. In seiner Kindheit übte Gou-
                                                           nods Faust und vor allem dessen Marsch und Walzer
                                                           großen Einfluss auf ihn aus: In Prokofjews eigenen
                                                           Opern sollte es später viele Nummern dieser Art so-
                                                           wie Duelle, Konfrontationen, Obsessionen, Doppelbö-
                                                           digkeiten und vor allem Finali mit großem, meist dem
                                                           Orchester anvertrautem Höhepunkt geben. Weitere
                                                           wichtige Einflüsse seiner frühen Jahre kamen von Glin-
                                                           ka, Borodin, Mussorgski, Tschaikowsky und Rimski-
                                                           Korsakow. Diese Komponisten, die, jeder auf seine Art,
                                                           die typisch russische Tradition verkörperten, waren
                                                           Prokofjews Vorbilder für sein Opernschaffen. Und ob-
                                                           wohl die musikalische Sprache seiner Opern, insbeson-
                                                           dere der frühen Werke, etwas völlig Innovatives war,
                                                           bildeten die Bühnenwerke dieser beliebten Vorgänger
                                                           die grundlegenden konzeptuellen Parameter für Pro-
                                                           kofjews eigenes Schaffen.

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
In seiner Kindheit schrieb er vier Opern: Der Riese
(1900 im Alter von nur neun Jahren komponiert), Auf
unbewohnten Inseln (1900–02), Das Gelage während der
Pest (1903–08) und Undine (1904–07). Auch wenn die-
se Werke nur noch als Fragmente existieren, sind sie
ein zwar rudimentäres, aber sehr klares Zeugnis des-
sen, was noch kommen sollte: große Melodien, direkte
musikalische Ansprache, ein ausgeprägtes szenisches
Gespür, regelmäßige viertaktige Phrasen mit einem
dominierenden rhythmischen Puls, abschnittsweise
Gliederungen und mitunter pikante Dissonanzen, die
auch den späteren Opernpartituren das gewisse Etwas
verleihen sollten.

Prokofjews erste mehr oder weniger reife Oper war die
einaktige Maddalena op. 13, die zwischen 1911 und
1913 komponiert wurde und auf einem Theaterstück
von Magda Lieven-Orlowa aus dem Jahr 1905 basiert.
Die Handlung spielt im Venedig des 15. Jahrhunderts.
Dort kommt es am Höhepunkt einer intensiven Drei-
ecksbeziehung um die schöne, aber durchtriebene
Maddalena zu einer Nacht-und-Nebel-Aktion: Madda-
lena provoziert ein Duell, bei dem sowohl ihr Ehemann,
ein Alchimist, als auch ihr junger Liebhaber Genaro ge-
tötet werden. Orchestriert hat Prokofjew nur die ersten
vier Szenen (vollendet wurde die Partitur 1979 durch
Edward Downes). Als die geplante Uraufführung ab-
gesagt wurde, brach er die Komposition ab, und erst
1981 wurde das komplettierte Werk auf die Bühne ge-       In New York 1918
bracht. Dieses Jugendwerk besitzt bereits Vieles, was
sich auch in den späteren Opern findet: starke Gefüh-
le – Liebe und Eifersucht –, eine dunkle und fesselnde    gendsten Momente in Prokofjews Opern. Diese Szene
Atmosphäre, einen Text voller Anspielungen und Me-        ist mit ihren verwobenen und überlagerten Stimmen
taphern sowie eine eindringliche, chromatisch aufge-      der verschiedenen Spielergruppen im Casino, die ihrer
ladene Partitur mit charaktervollen wiederkehrenden       unkontrollierbaren Sucht völlig ausgeliefert sind, ein
Motiven. Der jugendliche Romantizismus Prokofjews,        einziger surrealer Kommentar zur Verletzlichkeit des
der wahrscheinlich von Skrjabin und den kurz zuvor ur-    Menschen. Die in Sankt Petersburg geplante Urauffüh-
aufgeführten Einaktern Salome und Elektra von Richard     rung kam nicht zustande: Im Geist der Februarrevoluti-
Strauss beeinflusst war, sowie das melodramatische        on von 1917 protestierten Sänger und Orchester gegen
Zeitmaß traten jedoch bald hinter einer charakteristi-    das Werk, weil es angeblich zu schwierig war.
scheren, komplexeren und persönlicheren Herange-
hensweise an die Gattung Oper zurück.                     Die nächste Oper Prokofjews, die er nach seiner Über-
                                                          siedlung in die Vereinigten Staaten im Jahr 1918
Das Libretto von Prokofjews nächster Oper, Der Spie-      schrieb, hätte andersartiger kaum sein können. Die
ler op. 24 (1915–17, überarbeitet und neu orchestriert    Liebe zu den drei Orangen op. 33 (1918–19) ist eine al-
1927–29), basiert auf der gleichnamigen Novelle von       legorische Märchenoper. Sie geht auf ein Szenario zu-
Dostojewski. In dieser im Jahr 1865 angesiedelten Ge-     rück, das Wsewolod Meyerhold nach einem Stück von
schichte geht es um die komplexen Interaktionen in        Carlo Gozzi (1761) fantasievoll übersetzt hatte, welches
einer Gruppe unterschiedlicher russischer Figuren im      seinerseits den Geist der alten italienischen Comme-
und um das Casino des fiktiven Kurorts Roulettenburg.     dia dell’arte wieder aufleben ließ. Erzählt werden die
Die Handlung kreist um den Konflikt der Fixierungen       bunten, von Zauberei geprägten Abenteuer eines hypo-
des jungen Hauslehrers Alexej – Liebe und Glücks-         chondrisch veranlagten Prinzen, der die Liebe sucht –
spiel. Sie erreicht ihren Höhepunkt in einer Reihe von    zunächst zu den Orangen und später zu der schönen
kathartischen Rouletterunden. Mit dem Spieler wollte      Prinzessin Ninetta, die einer der Früchte entsteigt. The-
Prokofjew ein radikales Werk schaffen, das richtungs-     matisch entsprach das Stück hervorragend Prokofjews
weisend für die neue russische Oper sein sollte: Ent-     Talenten und bildete ein natürliches Ventil für seinen
standen ist ein Experiment in Sachen musikalischer        bissigen Humor und seine Liebe zum leicht Grotesken.
Sprache und Musiktheater, das durch Deklamationen         Es passte auch ideal zu seinem damaligen musikali-
mit hervorgehobenen Sprachmelodien und eine hoch          schen Stil: voll von unvorhersehbaren Wendungen und
emotionale Orchestrierung umgesetzt wird. Die Hand-       harschen Kontrasten, mit einer nicht-gesanglichen Ly-
lung spielt sich in atemberaubendem Tempo ab, macht       rik und flüchtigen Momenten einer ans Herz gehenden
weder für Arien noch für Chöre Halt und kulminiert in     Liebesgeschichte, temporeich und mit blitzgescheiten,
der meisterhaften Spielszene – sicher einer der bewe-     karikaturistisch gezeichneten Charakteren, alles vor

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
dem Hintergrund von Dämonie und Zauberei. Wenn es        Okkulte aus dem 16. Jahrhundert zurückzugehen, und
ein historisches Vorbild gibt, dann den Goldenen Hahn    der im Rheinland spielt. Die Heldin Renata wird von
von Rimski-Korsakow aus dem Jahr 1908 mit dessen         übernatürlichen Visionen verfolgt und ist vom Bild ei-
unirdischen Klängen, coups de theâtre und skurrilem      nes feurigen Engels besessen. Ihr Beschützer ist der
Humor. Die Liebe zu den drei Orangen sollte Prokofjews   Ritter Ruprecht, und gemeinsam bedienen sie sich auf
beliebteste und erfolgreichste Oper werden, wobei der    der Suche nach dem Engel der Magie und Zauberei.
Marsch und das Scherzo wahrscheinlich am bekann-         Dabei wird Ruprecht schließlich verwundet, und Re-
testen sind – beides ursprünglich Klavierstücke und      nata wird in ein Kloster gebracht und dort nach einer
später Zugaben, vor denen ihm graute!                    hysterischen Séance zum Tod auf dem Scheiterhaufen
                                                         verurteilt. Bei einer Beschäftigung mit Prokofjews Büh-
Mit der Komposition des Feurigen Engels op. 37           nenwerken erweist sich Der feurige Engel in jeder Hin-
(1919–23, 1927, 1930er Jahre) begann Prokofjew noch      sicht als Schlüsselwerk: beeindruckend und intensiv in
vor der Uraufführung der Drei Orangen 1921 in Chi-       seinen dunklen, vielschichtigen Stimmungen und vor
cago. Grundlage des neuen Librettos (vom Komponis-       allem in der Auslotung der psychischen Instabilität der
ten) war der historische, autobiografisch motivierte     Heldin. Renata, eine absolut faszinierende Opernfigur,
Roman des russischen symbolistischen Schriftstellers     ist offenkundig sexuell von ihren eigenen Dämonen be-
Waleri Brjussow, der vorgibt, auf ein Traktat über das   sessen und doch beherrscht von einer alles erfassen-
                                                         den religiösen Inbrunst.

In Chicago 1919 anlässlich der Vorbereitung von          Diese allgegenwärtige Präsenz von Bösem und Zau-
Die Liebe zu den drei Orangen                            berei entlockte Prokofjew seine physisch kraftvollste,
                                                         strukturell einheitlichste und entwicklungsdrama-
                                                         tischste Oper. Der feurige Engel bildet den Höhepunkt
                                                         seiner symbolistischen Moderne, wobei seine obsessi-
                                                         ven, repetitiven, ostinato-getriebenen und explosiven
                                                         Orchesterklänge im Kontrast stehen zu reinen, altera-
                                                         tionsfreien Melodien hier, einer intensiven lyrisch-ro-
                                                         mantischen Chromatik dort sowie purer musikalischer
                                                         Farce. Prokofjew scheint selbst von der hypnotisieren-
                                                         den Atmosphäre der Handlung besessen gewesen zu
                                                         sein. Obwohl niemand ihm die Aufführung des Werks
                                                         anbot, nahm er es sich über zehn Jahre lang immer
                                                         wieder vor. Anfang der 1930er Jahre geriet er durch
                                                         seine zunehmende Beschäftigung mit der Christlichen
                                                         Wissenschaft jedoch in einen persönlichen Konflikt mit
                                                         den inhaltlichen Grundlagen der Oper und verzichtete
                                                         auf eine geplante Endfassung.

                                                         Zwischen dem Feurigen Engel und Semjon Kotko liegen
                                                         rund zehn Jahre, in denen Prokofjew offenbar seine
                                                         Opernambitionen überdachte. Bis dahin war bei den
                                                         Bühnen nur die Liebe zu den drei Orangen auf Zustim-
                                                         mung gestoßen. Die konzertante Aufführung des zwei-
                                                         ten Akts des Feurigen Engels im Juni 1928 war ein ein-
                                                         maliges Ereignis. In diesen Jahren hatte er Erfolg mit
                                                         seinen Balletten, vor allem mit dem Verlorenen Sohn,
                                                         und mit der Musik zu Leutnant Kishe sowie natürlich
                                                         mit Peter und der Wolf – seinem bekanntesten Werk,
                                                         das vielleicht auch einen Ausgleich für ein fehlendes
                                                         Opernprojekt bot. Anfang der 1930er Jahre wurden die
                                                         meisten seiner Kompositionsaufträge von der Sowjet-
                                                         union erteilt, und 1936 entschied er, dass sein künfti-
                                                         ger Erfolg auch dort begründet sein würde. Daraufhin
                                                         kehrte er im Frühjahr jenes Jahres nach Russland zu-
                                                         rück und blieb dort bis an sein Lebensende.

                                                         Dennoch gab er die Suche nach einem neuen Opern-
                                                         sujet nicht auf, und unter den gegebenen Umständen
                                                         spielte die Themenwahl nun eine entscheidende Rol-
                                                         le. 1932 war der Sowjetische Komponistenverband
                                                         und mit ihm die Politik des Sozialistischen Realismus
                                                         ins Leben gerufen worden, der vorschrieb, dass mu-
                                                         sikalische Werke einen deutlich nationalen, möglichst

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Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
In Leningrad 1927 mit der Besetzung der ersten russischen Produktion von Die Liebe zu den drei Orangen

volksbezogenen Charakter haben, melodisch und dem         Ausdruck kommt. Semjon Kotko op. 81 ist ein Werk
sowjetischen Volk zugänglich sein und dessen Hel-         von echter Bekenntnishaftigkeit, kraftvollem Lyrismus
dentum sowie Humanität widerspiegeln sollten. In der      und wirkungsvoller Charaktergestaltung, mit Episoden
aufrichtigen Absicht, die sowjetische Oper schlecht-      großer Eindringlichkeit und schlagfertigen Humors,
hin zu schreiben, entschied sich Prokofjew 1939 für       und ist menschlicher angelegt als alle seine früheren
Semjon Kotko, einen Roman von Walentin Katajew,           Opern. Es gibt bewegende Momente, die es ohne Wei-
der teils Kriegsgeschichte, teils gewitztes Volksmär-     teres mit seiner populären Musik zum Film Alexander
chen war und sich auf der Theaterbühne bereits als        Newski aufnehmen können. Allerdings dürfte die geo-
den sowjetischen Ansprüchen genügend erwiesen hat-        grafische und zeitliche Beschränkung der Handlung
te. Die Handlung spielt 1918 in einem Dorf im Süden       den internationalen Zuspruch mit Sicherheit geschmä-
der Ukraine während des Bürgerkriegs zwischen den         lert haben. Durch die westliche Kritik an der ideolo-
Bolschewiki und der „Weißen“ Armee. Sie stellt die        gischen Naivität Prokofjews und seiner Befolgung des
Liebesgeschichten einer Gruppe heldenhafter sowjeti-      Partei-Diktats war die Wirkung von Semjon Kotko über
scher Jugendlicher und die feindliche Einnnahme ihres     die Grenzen Russlands hinaus trotz vieler wunderbarer
Dorfes durch deutsche Truppen und deren Sympathi-         Musik begrenzt, vielleicht zu Unrecht.
santen im Ort gegenüber.
                                                          Fast direkt im Anschluss entstand Die Verlobung im
Musikalisch wie politisch schien Prokofjews Wahl          Kloster op. 86 (1940–41, 1943 überarbeitet). Dieses
angemessen. Seine Klangsprache hatte sich in den          Projekt bewegte sich gänzlich in Prokofjews Kom-
1930er Jahren verändert – nicht radikal –, aber sie war   fortzone und entsprach seiner „Neuen Einfachheit“.
harmonisch dezenter, strukturell klarer und in gewis-     Es basiert auf dem englischsprachigen Singspiel The
sem Maße einfacher und melodiöser geworden. Me-           Duenna des irischen Schriftstellers und Satirikers Ri-
lodien waren seit jeher seine große Stärke gewesen,       chard Brinsley Sheridan aus dem Jahr 1775, und das
und selbst zur Hoch-Zeit seines Vorstoßes in Richtung     Libretto wurde von Prokofjew und Mira Mendelson (die
Moderne in den 1920er Jahren hatte er das klassische      bald darauf seine zweite Frau wurde) frei bearbeitet. Im
Element seines Stils nie komplett aufgegeben. Was         Stile früherer Sittenkomödien werden die verwirrenden
später als seine „Neue Einfachheit“ bezeichnet wurde,     Liebesaffären zweier junger Paare geschildert, die von
ergab sich aus einer weicheren Gesanglichkeit, die in     einem intriganten Vater, einem geldgierigen Händler
der Fünften und Sechsten Sinfonie, dem Zweiten Vio-       und betrunkenen Mönchen in einem Kloster behindert
linkonzert und dem Ballett Romeo und Julia sowie sei-     werden. Entstanden ist daraus Prokofjews konventio-
ner späten Oper Krieg und Frieden am stärksten zum        nellste und definitiv gesanglichste Oper. Wie in seinem

                                                                                                                7
Opern - SERGEJ PROKOFJEW - Boosey & Hawkes
zeitgleich geschriebenen Ballett Cinderella kommt hier       Der Stoff für seine nächste ausgesprochen patriotisch-
Prokofjews Liebe zu Mozart zum Ausdruck. Die Verlo-          sowjetische Oper musste Prokofjew im Frühjahr 1941
bung im Kloster lieferte die ideale (und politisch neutra-   vor dem Hintergrund der Hitler-Invasion in Russland
le) Entschuldigung, längere Szenen und geschlossene          und des Ausbruchs des „Großen Vaterländischen
Nummern zu schreiben: ausladende lyrische Arien,             Krieges“ als ideal erschienen sein: Tolstois epischer
Serenaden, Duette und Ensembles sowie reich har-             Roman Krieg und Frieden, der sich um Napoleons In-
monisierte Tänze. Diese komische Oper ist eher launig        vasion von 1812 dreht. In Anbetracht der Länge und
als absurd und enthält, was bei Prokofjew selten ist,        des großen Handlungsrahmens des Romans erwies
große Teile ehrlicher, romantischer Liebesmusik. Nicht       sich die Ausarbeitung eines stimmigen Librettos als
übergangen wurden dennoch die satirischen Neben-             schwierig. Dies versuchten Prokofjew und seine Co-
handlungen der Geschichte, und Prokofjew machte              Librettistin – erneut Mira Mendelson – gar nicht erst,
auch von seiner Fähigkeit Gebrauch, Personen durch           sondern entschieden sich stattdessen für elf bzw. spä-
einprägsame Motive zu karikieren. Don Jeronimo, der          ter dreizehn „lyrisch-dramatische Szenen“ aus einem
Fischhändler Mendoza und die betrunkenen Mönche              Roman, der dem russischen Publikum vertraut war.
werden schonungslos persifliert, und selbst für die jun-     Die Entstehungsgeschichte der Oper Krieg und Frie-
gen Liebenden gibt es kein Entkommen vor dem mu-             den op. 91, die Prokofjew über all seine anderen Opern
sikalischen Spott des Komponisten. Dieses köstliche          stellte, an der er mehr als ein Jahrzehnt lang mit vol-
Stück sollte die einzige sowjetische Oper Prokofjews         lem Einsatz arbeitete und von der er mindestens fünf
werden, die zu seinen Lebzeiten erfolgreich war.             Versionen schrieb, war jedoch fast ebenso aufwühlend
                                                             wie die in ihr geschilderten Ereignisse. In den beiden
                                                             Hauptteilen – zunächst Krieg, später Frieden – wird
Mit seiner zweiten Frau Mira Mendelson-Prokofjewa,           die aristokratische Gesellschaft, mit ihren Liebschaften
Anfang 1948                                                  und Verlusten, der bitteren Realität des Krieges, das
                                                             Intime dem Heroischen gegenübergestellt. Im Mittel-
                                                             punkt stehen dabei Tolstois drei ineinander verstrickte
                                                             Hauptpersonen: die junge, temperamentvolle Natascha
                                                             Rostowa, Fürst Andrej Bolkonski, des Lebens über-
                                                             drüssiger Aristokrat, und Pierre Besuchow, anfangs
                                                             noch eine komische Figur, die jedoch durch den Krieg
                                                             zu tiefer Selbsterkenntnis gelangt.

                                                             Aufgrund der Länge, der Besetzungsgröße und der
                                                             emotionalen Bandbreite stellt Krieg und Frieden das
                                                             umfangreichste musikalische Panorama aus Prokof-
                                                             jews sowjetischer Periode dar: leidenschaftliche Ari-
                                                             osi, aristokratische Walzer, düstere, disharmonische
                                                             Kampfszenen, humoristische Karikaturen der Feinde,
                                                             mitreißende Chöre voller Verzweiflung und schließlich
                                                             Siegesgewissheit. Mit den zahlreichen Überarbeitun-
                                                             gen verfolgte Prokofjew zwei Ziele: widerwillig die Zu-
                                                             friedenstellung der sowjetischen Kulturbehörden – und
                                                             leidenschaftlich die szenische Realisierung dieses rei-
                                                             fen Meisterwerks moderner russischer Oper in seiner
                                                             Vollständigkeit. Beides ist ihm damals nicht gelungen.
                                                             Simon Morrison hält Krieg und Frieden für „Prokofjews
                                                             bedeutendste sowjetische Leistung und das Werk, das
                                                             wohl letztlich sein Vermächtnis darstellt“. Und trotz al-
                                                             ler praktischen und musikalischen Herausforderungen,
                                                             die die Inszenierung eines so epischen Werks mit sich
                                                             bringt, hat diese monumentale Oper jenen Vermächt-
                                                             nischarakter unter Beweis gestellt.

                                                             Die Geschichte eines wahren Menschen op. 117 (1947–
                                                             48), deren Libretto auf dem Reportage-Roman von Bo-
                                                             ris Polewoi basiert, sollte Prokofjews letzte vollendete
                                                             Oper werden. Erzählt werden die realen Heldentaten
                                                             eines Piloten im Zweiten Weltkrieg, der von Feinden
                                                             abgeschossen wird und daraufhin beide Beine ver-
                                                             liert. Nichtsdestotrotz kämpft er für seine Liebe, seine
                                                             Genesung und seinen weiteren militärischen Einsatz.
                                                             Wie bei Krieg und Frieden werden hier Krieg und He-
                                                             roismus mit Liebe und Selbstverwirklichung vermischt,
                                                             doch in ganz anderer Gewichtung und auf einer mehr

8
Mit Sergej Eisenstein während der Arbeit an der Filmmusik zu Iwan der Schreckliche, 1943

persönlichen Ebene. Im Mittelpunkt steht das Indivi-      Kloster – seinen beiden komischen Opern –, hatten
duum – Alexej –, das Ringen im Umgang mit seiner          Prokofjews Bühnenwerke zu seinen Lebzeiten wenig
Behinderung und schließlich seine Entschlossenheit,       Erfolg, aus verschiedenen politischen Gründen oder in-
„ein sowjetischer Mann“ zu sein. Wie schon bei Sem-       folge der mit ihnen verbundenen logistischen Schwie-
jon Kotko und Krieg und Frieden muss die von Tapfer-      rigkeiten oder einfach aufgrund fehlenden Glücks. Er
keit und Patriotismus in ihrer Zeit geprägte Handlung     selbst konnte Maddalena, den Feurigen Engel und Die
als idealer sowjetischer Stoff erschienen sein. Dennoch   Geschichte eines wahren Menschen nie auf der Bühne
fand auch dieses Werk damals keinen Anklang und ließ      sehen, und von Krieg und Frieden wurden selbst nach
sich aufgrund seiner Thematik nur schwer im Ausland       umfangreichen Umarbeitungs-„Vorschlägen“ im Bol-
aufführen. Nichtsdestotrotz ist es durch die Charak-      schoi-Theater Mitte der 1940er Jahre nur die ersten
terdarstellung, die mitreißenden Genreszenen und die      acht Szenen aufgeführt. Die ideologische Botschaft von
wahrhaft dramatische Atmosphäre ein äußerst inter-        Semjon Kotko war bei Fertigstellung der Partitur fast
essantes Werk – der (auf die Opernbühne bezogene)         schon überholt, und die Inszenierung wurde bereits
Schwanengesang eines Komponisten, der trotz seiner        nach einer einzigen Spielzeit im Stanislawski-Theater
physischen und psychischen Schwäche noch immer            wieder vom Spielplan genommen. Für Prokofjew be-
durch seine Kreativität beeindruckt. Außerdem war         deuteten dies große Enttäuschungen.
das Werk innovativ: Der neuartige Einsatz filmischer
Effekte (nach seiner Arbeit mit Eisenstein an Alexander   Ein entscheidendes Problem stellte sicher auch die
Newski und Iwan der Schreckliche) hätte möglicherwei-     politische Lage dar. Die Tatsache, dass die Meinungen
se zu einem neuen Kapitel in Prokofjews Karriere als      der westlichen und der russischen Kritiker darüber,
Opernkomponist geführt.                                   was eine „große“ Oper sei (vor allem angesichts des
                                                          sowjetischen Propagandawerts dieser Gattung), weit
Mittlerweile erfreuen sich Prokofjews Opern immer         auseinandergingen, wirkte sich auf die Akzeptanz von
größerer Anerkennung. Für die historische Unterbe-        Prokofjews Stücken aus – und hier müssen wir uns im
wertung dieser vom Komponisten selbst so geschätz-        Klaren darüber sein, dass wir seine Musik nicht immer
ten Werkgruppe gibt es viele Gründe. Abgesehen von        so gehört haben, wie es von ihm beabsichtigt war. Sei-
der Liebe zu den drei Orangen und der Verlobung im        ne Partituren wurden immer wieder von ihm revidiert,

                                                                                                              9
teils aus eigenem Antrieb, teils aufgrund von Druck,         Jahre tatsächlich immer größer geworden. Die von ihm
und später auch durch Andere.                                geschaffene musikalische Atmosphäre ist stets ein-
                                                             drucksvoll und mitreißend, unabhängig davon, ob sie
Auch die Libretti wurden für problematisch gehalten.         dunkel und schwermütig oder heiter ist, und wird ent-
Der Spieler galt mit seinen deklamatorischen Gesangs-        weder durch obsessive Wiederholungen und Ostinati
linien als zu wortreich, Der feurige Engel als für den mo-   oder aber durch Bezüge zur Bewegtheit von Tanz oder
dernen Geschmack zu überladen mit schwarzer Kunst,           Marsch geschaffen. Metrum und regelmäßige rhythmi-
Semjon Kotko trotz einiger starker Episoden als zu sow-      sche Einheiten erzeugen Kraft; starke Kadenzen setzen
jetisch für das Ausland, für Moskau wiederum als nicht       einerseits strukturelle Akzenzte und bekräftigen ande-
sowjetisch genug. Dennoch schrieb Prokofjew stets            rerseits musikalische Aussagen. Die Orchestrierung
weiter Opern, und viele Kritiker der damaligen Zeit hat-     war für Prokofjew oft zweitrangig, auch wenn die star-
ten in der Tat falsche Vorstellungen vom Zuschnitt der       ken Orchesterfarben seiner Opern den typischen Klang
russischen Oper. Denn trotz seiner kosmopolitischen          seiner Musik ausmachen.
Karriere und seinem offensichtlich radikalen Verständ-
nis der Gattung war Prokofjew in erster Linie ein russi-     Es mag sein, dass der viel gereiste Prokofjew oft ein-
scher Komponist mit einem Opernkonzept, das von den          fach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weder das
Modellen Verdis oder Wagners oft weit entfernt war.          vorrevolutionäre Sankt Petersburg noch die selbstbe-
So anspruchsvoll es in Bezug auf Stil oder Inhalt auch       wussten Trendsetter der Ballets Russes, weder das kul-
sein mag – beim russischen Musiktheater geht es seit         turell konservative Amerika noch das kühle Paris nach
jeher um Unterhaltung, und diese kommt oft tableau-          dem Ersten Weltkrieg zeigten echtes Interesse an der
und episodenhaft daher.                                      individuellen Radikalität Prokofjews. Im stalinistischen
                                                             Russland war man zunehmend der Ansicht, dass sei-
In dieser Hinsicht hätten weder die Plots noch die           ne Werke die Ideologie nicht unterstützten. Während
Musik von Prokofjews Opern seine russischen Vor-             die ursprüngliche Wirkmacht, die seine Opern zu ihrer
gänger gestört, und trotz ihrer Verschiedenartigkeit         Entstehungszeit hätten haben können – mit ihrer Fri-
ziehen sich stilistisch etliche Konstanten durch seine       sche, ihrer neuartigen musikalischen Individualität –,
Bühnenwerke. Sie alle werden von markanten Motiven           heute so nicht mehr herbeigeführt werden kann, sind
angetrieben, die nicht nur die Figuren für die Zuhö-         ihre Dynamik, ihr Einfallsreichtum und das ausgespro-
renden charakterisieren, sondern strukturell auch dem        chen Charakteristische ihres Idioms nach wie vor un-
Zusammenhalt der Partitur dienen. Die Bedeutung              verändert. Und es ist diese dauerhafte Qualität, die zu
der Melodie zieht sich durch alle Werke: Stärke und          einer positiven Neubewertung von Prokofjews Leistung
Charme von Prokofjews Melodien sind im Laufe der             in der Gattung Oper geführt hat.

                                                                                                 Prokofjew ca. 1917

10
WERKÜBERSICHT

 Die
Opern

                  11
MADDALENA: Partiturhandschrift Prokofjews mit Widmung an seinen Freund, den Komponisten
Nikolai Mjaskowski

12
MADDALENA
op. 13 (1911–13) | 48 Min.                                 Maddalena, seine erste reife Oper, schrieb Prokofjew,
Oper in 1 Akt                                              als er zwanzig und noch Student am Petersburger
                                                           Konservatorium war. Allerdings war es bereits sein
orchestriert von Edward Downes (1979)
                                                           fünftes geplantes Opernprojekt, was auf die zentrale
Libretto vom Komponisten nach dem Drama von                Rolle des Musiktheaters für seinen künstlerischen
Magda Lieven-Orlowa (russ., engl., dt.)                    Werdegang zwischen 1900 und 1910 hinweist. Pro-
                                                           kofjews Libretto beruht auf einem Stück der Baronin
                                                           Lieven, das auffällig an Oscar Wildes Florentinische
BESETZUNG                                                  Tragödie erinnert. Die Verismo-Handlung beschreibt
Hauptrollen: S, T, Bar                                     eine Dreiecksbeziehung, aus der die femme fatale als
Nebenrollen: S, T; Männerchor hinter der Bühne             Gewinnerin hervorgeht und die Befreiung von ihren
                                                           beiden männlichen Liebhabern feiert. Das Werk ist
3(III=Picc).2.EH.3(III=Bkl).3(III=Kfg)—6.4.3.1—
                                                           unter von Prokofjews Opern am stärksten der roman-
Pkn.Schlz(2)—2Hrf—Str
                                                           tischen Tradition verpflichtet, insbesondere die aus-
                                                           giebige Liebesszene und eine Abfolge dramatischer
URAUFFÜHRUNG                                               coups de théâtre. Der Komponist gab die Instrumen-
                                                           tierung auf, als seine Hoffnungen auf eine Aufführung
25. März 1979 London, BBC Radio 3 (Radio-                  in St. Petersburg schwanden, bewahrte jedoch eine
Ausstrahlung)                                              starke Zuneigung zu dem Werk. Die Instrumentierung
Musikalische Leitung: Edward Downes                        wurde in den 1970er Jahren von Edward Downes voll-
28. November 1981 Graz, Opernhaus (szenisch)               endet, wodurch die verspätete Uraufführung der Oper
Inzenierung: Jorge Lavelli                                 möglich wurde.
Musikalische Leitung: Edward Downes
                                                                 www.boosey.com/audio-clip/11626

EMPFOHLENE EINSPIELUNG
                         Elena Ivanova, Alexei Martynov,
                         Sergei Yakovenko | The USSR
                         Ministry of Culture Symphony
                         Orchestra & Male Chorus |
                         Gennadi Rozhdestvensky (1988)
                         Melodiya SUCD 10-00053 &
                         Olympia OCD 215

                                     Es ist keine Partitur, sondern
                                     eine Praline, noch dazu gefüllt
                                     mit gutem Likör.
                                     					SERGEJ PROKOFJEW

                                                                                                              13
DER SPIELER
op. 24 (1917, rev. 1927–29) | 130 Min.                     Prokofjews Der Spieler kann als Höhepunkt der frühen
Oper in 4 Akten (6 Bildern)                                radikalen und experimentellen Phase des Komponis-
                                                           ten angesehen werden. Mit seinen maschinenartigen
Libretto vom Komponisten nach dem Roman
                                                           Ostinati und der fieberhaften Energie bildet das Werk
von Fjodor Dostojewski (russ., engl., frz., dt., ital.)
                                                           eine vollkommene Entsprechung zu Dostojewskis Be-
                                                           sessenheitsstudie. Das Casino, ein gewaltiges Symbol
BESETZUNG                                                  unerwarteten Reichtums oder Ruins, tritt im Schluss-
                                                           akt als eigentlicher Hauptdarsteller hervor, indem es
Hauptrollen: S, M, A, 2 T, Bar, B                          die Macht über das Schicksal all derer erlangt, die
Nebenrollen: 2 S, 2 M, A, T (Falsett), 7 T, 4 Bar, 7 B,    von den Spieltischen angezogen werden wie Motten
stumme Rollen                                              vom Licht. Prokofjew hat das Werk als Reaktion auf
2.Picc.2.EH.2.Bkl.2.Kfg—4.3.3.1—Pkn.Schlz(2)—              den lyrisch-romantischen Stil angelegt und wollte
2Hrf—Klv—Str                                               „eine Oper im deklamatorischen Stil“ schaffen, in der
                                                           Kompositionstechnik an die Bühnenwerke von Dargo-
                                                           myschski und Mussorgski angelehnt, die musikalische
URAUFFÜHRUNG                                               Prosa im natürlichen Rhythmus der Sprache schrie-
                                                           ben. Der Spieler bietet einem Opernhaus die Möglich-
29. April 1929 Brüssel, Théâtre Royal de la Monnaie
                                                           keit zu einem Ensemble-Schaustück, von den beiden
Inszenierung: Georges Dalman
                                                           Hauptpartien Alexej und Polina, die Spitzensolisten
Musikalische Leitung: Maurice Corneil de Thoran
                                                           verlangen, über eine Reihe von Charakterrollen bis hin
                                                           zu Gelegenheiten für einzelne Chormitglieder in der
EMPFOHLENE EINSPIELUNGEN                                   Casinoszene. Auch wird bereits in den ersten Takten
                                                           die zentrale Rolle des Orchesters deutlich, das die
                        6 Opern: Die Verlobung im          Handlung vorantreibt und das verhängnisvolle Kreisen
                        Kloster | Der feurige Engel |      des Roulettes mit einem irrwitzigen Klangfarbenwirbel
                        Der Spieler | Die Liebe zu den     untermalt.
                        drei Orangen | Krieg und
                        Frieden | Semjon Kotko                   www.boosey.com/audio-clip/11172
                        Mariinsky Orchestra & Kirov
                        Opera | Valery Gergiev
                        Decca 478 2315 (14 CDs
                        „Collector’s Edition“)

                        Vladimir Ognovenko, Kristine
                        Opolais, Misha Didyk, Stefania
                        Toczyska, Stephan Rügamer,
                        Viktor Rud, Silvia De La Muela |
                        Staatsoper Unter den Linden
                        Berlin | Daniel Barenboim |
                        Insz.: Dmitri Tcherniakov
                        (Berlin 2008)
                        C Major / Unitel Classica
                        701708 (DVD) / 701804
                        (Blu-ray)

14
DER SPIELER an der Oper Frankfurt 2013 | Inszenierung: Harry Kupfer

DER SPIELER an der Wiener Staatsoper 2017 | Inszenierung: Karoline Gruber

                                                                            15
DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN an der Oper Graz 2009 | Inszenierung: Andreas Homoki

DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN am Anhaltischen Theater Dessau 2018 | Inszenierung: Hinrich Horstkotte

16
DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN
op. 33 (1918–19) | 110 Min.                                  Prokofjews Begegnung mit dem Theaterdirektor Wse-
Oper in 4 Akten (10 Bildern) und einem Prolog                wolod Meyerhold im Jahre 1916 sollte entscheidend
                                                             für die Entstehung seiner bekanntesten und in vieler
Libretto vom Komponisten nach Wsewolod
                                                             Hinsicht charakteristischsten Oper werden. Meyer-
Meyerholds Bearbeitung eines Stücks von Carlo Gozzi
                                                             holds Pläne eines antirealistischen Handlungstheaters,
(russ., frz., engl., dt.)
                                                             das auf dem Rhythmus der Sprache basierte, stand im
                                                             Einklang mit Prokofjews Experimenten im Spieler, und
BESETZUNG                                                    Meyerholds Bearbeitung von Gozzis surrealistischem
                                                             und fantastischem Stück inspirierte den Komponisten
Hauptrollen: S , A, 2 T, 2 Bar, 2 B                          zur großartigsten Verschmelzung von Zauber, Komö-
Nebenrollen: S, 2 M, A, T, 3 B; Chor; Ballett                die und Satire. Die Liebe zu den drei Orangen wirkt auf
2.Picc.2.EH.3(II=EsKl,III=Bkl).3(III=Kfg)—6.3.3.1—           vielen Ebenen – ob als Stück im Stück, als geistreiche
Pkn.Schlz(4)—2Hrf—Str;                                       Kritik der Operntradition oder als dialektisches Spiel
Bühnenmusik: BPos;                                           zwischen historischer commedia dell’arte und moder-
hinter der Bühne: 3 Tpt, 2 Pos, Schlz (Bkn, Tgl, kl. Tr.),   nem politischen Kommentar – und hat damit für viele
Hrf                                                          der weltweit führenden Regisseure und Bühnengestal-
                                                             ter Anreize zur Aufführung geschaffen. Am erstaun-
                                                             lichsten jedoch ist die unwahrscheinliche klangliche
URAUFFÜHRUNG                                                 Vorstellungskraft des Komponisten, mit der ihm die
                                                             nahezu unmögliche Verschmelzung von kindlicher
30. Dezember 1921 Chicago, Auditorium Theatre
                                                             Einfachheit und ausgereifter Differenzierung gelingt
Inszenierung: Jacques Coini
                                                             und die dieser Oper ihren dauerhaften, universalen
Musikalische Leitung: Sergej Prokofjew
                                                             Zuspruch sichert.

                                                                   www.boosey.com/audio-clip/11174
EMPFOHLENE EINSPIELUNGEN
                       Gabriel Bacquier, Jules Bastin,
                       Catherine Dubosc, Georges
                       Gautier, Jean-Luc Viala | Opéra
                       de Lyon | Kent Nagano (1989)
                       Erato / Warner Classics 48210
                       (2 CDs)

                       Alain Vernhes, Martial
                       Defontaine, François Le Roux,
                       Serghei Khomov, Sandrine Piau,
                       Anna Shafajinskaja | Rotterdam
                       Philharmonic Orchestra |
                       Stéphane Denève |
                       Insz.: Laurent Pelly (De
                       Nederlandse Opera 2005)
                       Opus Arte OA 0957 D (2 DVDs)

                                                                                                                 17
DER FEURIGE ENGEL
op. 37 (1919–23, rev. 1927) | 125 Min.                    Der feurige Engel, der Prokofjew in den 1920er Jahren
Oper in 5 Akten (7 Bildern)                               beschäftigte, verbindet Aspekte des Spielers und der
                                                          Liebe zu den drei Orangen, insbesondere die Themen
Libretto vom Komponisten nach dem Roman
                                                          der Besessenheit bzw. Magie, spielt jedoch vorwie-
von Waleri Brjussow (russ., engl., frz., dt., ital.)
                                                          gend in einer finstereren Welt, aufgeladen von einer
                                                          Erotik, die an Skrjabin denken lässt. Diese „schwarze“
BESETZUNG                                                 Atmosphäre, ungewöhnlich für Prokofjew, entsprang
                                                          teilweise seinem Interesse an den kabbalistischen
Hauptrollen: dramat. S, Bar                               Wissenschaften – eine Faszination, die er mit vielen
Nebenrollen: 2 M, 3 T, Bar, B                             Mitgliedern der Bewegung des russischen Symbolis-
weitere Rollen: M, T, 3 B; Chor                           mus teilte. Dessen zentrale Figur, Waleri Brjussow,
                                                          schrieb den Roman, auf dessen Grundlage der Feurige
3(III=Picc).2.EH.2.Bkl.3(III=Kfg)—4.3.3.1—
                                                          Engel entstand. Das treibende Moment in dem Stück
Pkn.Schlz(3)—2Hrf—Str;
                                                          ist die psychologische Zweideutigkeit von Renata, die
hinter der Bühne: Glocke, gr. Tr.
                                                          entweder als reine Unschuld oder als dämonische Ver-
Kammerfassung von Wolfgang Suppan (2010):                 führerin erscheint. Ihre wahre Natur bleibt absichtlich
1(=Picc).0.1(=Bkl).Ssax(=Tsax).1—1.1.1.0—Schlz(2)—        ungeklärt, selbst in der Schlussszene im Kloster, als
Klv—Str(1.1.1.1.1);                                       sie wegen Hexerei zum Tod auf dem Scheiterhaufen
hinter der Bühne: gr. Tr.                                 verurteilt wird. Die Rolle der Renata ist stimmlich
                                                          und darstellerisch anspruchsvoll und hat führende
                                                          dramatische Sopranistinnen angezogen. Prokofjews
URAUFFÜHRUNG                                              Orchestersatz im Feurigen Engel ist der modernste
25. November 1954 Paris,                                  von allen seinen Opern. Der Komponist verwendete
Théâtre des Champs-Elysées (konzertant)                   größtmöglichste Aufmerksamkeit auf die koloristische
Musikalische Leitung: Charles Bruck                       Realisierung der fieberhaften Intensität des Dramas,
29. September 1955 Venedig,                               ob hysterisch, leidenschaftlich oder visionär. All diese
Teatro La Fenice (szenisch)                               Facetten kommen auch in der Fassung für 15 Instru-
Inszenierung: Giorgio Strehler                            mente zur Geltung, die der Komponist Wolfgang
Musikalische Leitung: Nino Sanzogno                       Suppan 2010 für das Wiener Odeon Theater erstellte.

                                                                 www.boosey.com/audio-clip/11171
EMPFOHLENE EINSPIELUNGEN
                        Galina Gortschakowa, Sergei
                        Leiferkus | Mariinsky-Theater |
                        Valery Gergiev | Insz.: David
                        Freeman (1993)
                        Arthaus Musik 100 391 (DVD)

                        Leigh Melrose, Ewa Vesin |
                        Opera di Roma | Alejo Pérez |
                        Insz.: Emma Dante (2019)
                        Naxos 2.110663 (DVD)

18
DER FEURIGE ENGEL am Deutschen Nationaltheater Weimar 2010 | Inszenierung: Christian Sedelmayer

DER FEURIGE ENGEL an der Deutschen Oper am Rhein 2015 | Inszenierung: Immo Karaman

                                                                                                  19
SEMJON KOTKO in der Produktion des Mariinsky-Theaters, Gastspiel am Royal Opera House London 2000 |
Inszenierung: Yuri Alexandrov

SEMJON KOTKO am Kirow-Theater 1985 | Inszenierung: Alexej Kirejew (1960)

20
SEMJON KOTKO
op. 81 (1939) 140 Min.                                    Die Handlung von Semjon Kotko spielt in der Ukraine.
Oper in 5 Akten (7 Bildern)                               Vergleichbar Prokofjews Spätwerk Die Geschichte
                                                          eines wahren Menschen greift der Komponist auch hier
Libretto von Sergej Prokofjew und Walentin Katajew
                                                          ein politisches Thema auf. Er selbst verfasste das Lib-
nach dessen Roman Ich, ein Sohn des arbeitenden
                                                          retto zusammen mit Walentin Katajew, dem Autor der
Volkes (russ., dt.)
                                                          Roman-Vorlage. Das Werk wurde 1939 veröffentlicht,
                                                          die Uraufführung erfolgte am Moskauer Künstlerthe-
BESETZUNG                                                 ater im Juni 1940. Mit der Wahl des Sujets traf der
                                                          Komponist den Kern des Sozialistischen Realismus,
4 S, S (oder hoM), M (oder S), 3 A, 6 T, BBar, 4 Bar, 2   der in jenen Jahren das Kulturleben der Sowjetunion
B (oder Bar), 6 B; Chor                                   beherrschte. Prokofjew, der mit diesem Werk durch-
2.Picc.2.EH.2.Bkl.2.Kfg—4.3.3.1—Pkn.Schlz(3)—             aus Kontroversen auslöste, sagte zu seiner Motivation,
Hrf—Str;                                                  dass das Stück echte Menschen zeigen sollte: „Hier
Bühnenmusik: 2 Hr, 2 Tpt, PiccTpt, 3 Pos, Tuba, Schlz,    gibt es jugendliche Liebe, hier gibt es den Hass der
Git, Domra, Konzertina                                    Vertreter der alten Welt, hier gibt es den heroischen
                                                          Kampf, tränenreiche Verluste, aber auch fröhliche
                                                          Scherze, wie sie charakteristisch für den ukrainischen
URAUFFÜHRUNG                                              Humor sind.“
23. Juni 1940 Moskau, Künstlertheater                           www.boosey.com/audio-clip/11175
Inszenierung: Serafima Birman
Musikalische Leitung: Mikhail Zhukov

EMPFOHLENE EINSPIELUNG
                      Nikolai Gres, Tamara Yanko,
                      Tamara Antipova, Gennadi
                      Troitsky, Nikolai Panchekhin,
                      Antonia Kleshchova, Ludmila
                      Gelovani, Mikhail Kiselev,
                      Tatiana Tugarinova, Nikolai
                      Timchenko, Daniel Demyanov,
                      Mechislav Shchavinsky,
                      Vladimir Zakharov |
                      USSR Radio Choir & Radio
                      Symphony Orchestra |
                      Mikhail Zhukov (1960)
                      Chandos CHAN 10053 (3 CDs)

Ich wollte lebendige Menschen zeigen mit all ihren
Leidenschaften – Liebe, Hass, Freude und Leid –,
die sich aus den neuen Bedingungen ergeben.

                                                                                                              21
DIE VERLOBUNG IM KLOSTER
(DIE DUENNA)
op. 86 (1940–41, rev. 1943) | 156 Min.                   Die lyrisch-komische Oper Die Verlobung in Kloster
Lyrisch-komische Oper in 4 Akten (9 Bildern)             entstand unmittelbar vor Beginn des Deutsch-Sow-
                                                         jetischen Kriegs, dem dann eine zeitnahe öffentliche
Libretto von Sergej Prokofjew und Mira Mendelson
                                                         Uraufführung zum Opfer fiel. Als Vorlage diente dem
nach Richard Sheridan (russ., engl., dt.)
                                                         Komponisten, der zu jener Zeit im Zenit seines Ruhms
                                                         stand, The Duenna von Richard Brinsley Sheridan –
BESETZUNG                                                der Text für eine von Thomas Linley Vater und Sohn
                                                         1775 komponierte Ballad Opera. Prokofjew selbst und
2 S, M, A (oder M), A, 8 T, T (oder Bar), 5 Bar, 4 B,    seine spätere Ehefrau Mira Mendelson verfassten das
stumme Rolle; Chor                                       neue Libretto. Der irische Dramatiker und Politiker
2.Picc.2.EH.2.Bkl.2.Kfg—4.3.3.1—Pkn.Schlz(3)—            Sheridan war ein Zeitgenosse Beethovens, der auch
Hrf—Str;                                                 politisch aktiv war und 1780 für die Whigs ins Par-
Bühnenmusik: Kl, Kornett, gr. Tr., Git;                  lament gewählt wurde. Seine Komödie The Duenna
hinter der Bühne: Fl, Asax, Schlz, Str                   erzählt von dem reichen, alten Fischhändler Mendoza,
                                                         der mit Don Jerome nicht nur ein großes Geschäft
                                                         abschließen, sondern auch dessen hübsche Tochter
URAUFFÜHRUNG                                             Luisa heiraten möchte. Luisa aber liebt den jungen,
5. Mai 1946 Prag, Nationaltheater                        armen Don Antonio, ihr Bruder Ferdinand die schöne
Inszenierung: Ilja Schlepjanow                           Clara. Luisas Anstandsdame/ Amme, die Duenna, hat
Musikalische Leitung: Boris Chaikin                      selbst ein Auge auf den Fischhändler geworfen und
                                                         ersinnt deshalb eine List, um Mendozas und Don
                                                         Jeromes Pläne zu vereiteln. Prokofjews Musik zu die-
EMPFOHLENE EINSPIELUNG                                   ser prallen Komödie ist brillant, illustrativ und immer
                                                         wieder überraschend. Auf der Bühne hört man oft ein
                       Anna Netrebko, Larissa            Parlando wie in einer Sprechkomödie.
                       Diadkova, Nikolai Gassiev,
                       Sergei Alexashkin, Aleksander           www.boosey.com/audio-clip/11173
                       Gergalov, Marianna Tarassova |
                       Mariinsky-Theater | Valery
                       Gergiev | Insz.: Vladislav Pazi
                       (1998)
                       Decca Classics 074 3076 &
                       EuroArts 2013038 (DVD)

Der feine Humor, die zauberhafte Lyrik, die zugespitzte
Charakterisierung der Personen, die Dynamik der
Handlung, der spannungsreiche Aufbau des Sujets, bei
dem der Zuschauer auf jede Wendung mit Interesse und
Ungeduld wartet – all das hat mich gereizt.

22
DIE VERLOBUNG IM KLOSTER beim Glyndebourne Festival 2006 | Inszenierung: Daniel Slater

DIE VERLOBUNG IM KLOSTER an der Staatsoper Unter den Linden Berlin 2019 |
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov

                                                                                         23
KRIEG UND FRIEDEN am Staatstheater Nürnberg 2018 | Inszenierung: Jens-Daniel Herzog

KRIEG UND FRIEDEN am Grand Théâtre de Genève 2021 | Inszenierung: Calixto Bieito

24
KRIEG UND FRIEDEN
op. 91 (1941–52) | 230 Min.                              Prokofjew wollte in seiner Oper Krieg und Frieden
Lyrisch-dramatische Szenen                               nach Tolstois Roman weder Kriegsschauplätze noch
                                                         Massenszenen im Mittelpunkt sehen. Er plante, als er
Fassung in 13 oder 11 Bildern
                                                         im Zweiten Weltkrieg mit der Arbeit daran begann,
Libretto von Sergej Prokofjew und Mira Mendelson         vielmehr ein sehr intimes Drama, ja „lyrische Szenen
nach dem Roman von Lew Tolstoi (russ., engl., dt.)       im Geiste Tschaikowskys“. Herausgekommen ist ein
                                                         opulentes Werk, das – ungekürzt – einen einzelnen
                                                         Aufführungsabend nahezu sprengt und eine große
BESETZUNG                                                Besetzung erfordert. Das Roman-Epos Krieg und
lyrdramS, S, tiefS, 6 M, 4 A, dramT, T, 2 hoT, komT,     Frieden von Lew Tolstoi hatte Prokofjew stets als eines
tiefT, T/Bar, hoBar, hoBar/B, 6 Bar, 2Bar/B, 3 BBar,     seiner Lieblingsbücher bezeichnet. Der Roman spielt
3 hoB, 10 B, tiefB, 2 Sprechrollen, 6 stumme Rollen;     in der Zeit der napoleonischen Kriege im zaristischen
Chor                                                     Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Abgesehen
2.Picc.2.EH.2.Bkl.2.Kfg—4.3.3.1—Pkn.Schlz(4–5)—          von dem für Prokofjews Musiktheaterwerke unge-
Hrf—Str                                                  wöhnlichen Umfang ist die stilistische Konzeption der
                                                         Oper eine konsequente Fortsetzung seiner Operner-
                                                         folge Die Liebe zu den drei Orangen, Der feurige Engel
URAUFFÜHRUNG                                             und Die Verlobung im Kloster. Er verwendet Leit- und
                                                         Erinnerungsmotive, verzichtet überwiegend auf tradi-
7. Juni 1945 Moskau, Konservatorium (Fassung in
                                                         tionelle Arien- oder Duett-Partien und reiht viele kurze
11 Bildern)
                                                         Handlungsabschnitte wie Filmszenen aneinander.
Musikalische Leitung: Samuil Samossud
8. November 1957 Moskau, Stanislawski-/Nemiro-                  www.boosey.com/audio-clip/10321
witsch-Dantschenko-Musiktheater (Fassung in
13 Bildern)
Inszenierung: Leonid Baratow & Pavel Zlatogorow
Musikalische Leitung: Alexander Schaverdow

EMPFOHLENE EINSPIELUNGEN
                      Ekaterina Morozova, Justin
                      Lavender, Oleg Balashov,
                      Roderick Williams, Pamela
                      Helen Stephen, Igor
                      Matioukhin, Alan Ewing,
                      Stephen Dupont | Russian State
                      Symphonic Cappella | Spoleto
                      Festival Orchestra | Richard
                      Hickox (1999)
                      Chandos 9855 (4 CDs)

                      Olga Guryakova, Nathan Gunn,
                      Robert Brubaker, Anatoli
                      Kotcherga, Elena Obraztsova,
                      Vassili Gerello | Opéra national
                      de Paris | Gary Bertini | Insz.:
                      Francesca Zambello (2000)
                      TDK DV-OPWP & Arthaus
                      Musik 107 029 (2 DVDs)

                                                                                                              25
DIE GESCHICHTE EINES
WAHREN MENSCHEN
op. 117 (1947–48) | 135 Min.                             Die letzte Oper Prokofjews hat, vergleichbar seiner
Oper in 3 Akten (11 Bildern)                             1939 veröffentlichten Oper Semjon Kotko, einen
                                                         politischen Charakter. Das Libretto verfassten Mira
Libretto von Sergej Prokofjew und Mira Mendelson-
                                                         Mendelson-Prokofjewa und der Komponist, basie-
Prokofjewa nach dem gleichnamigen Roman von
                                                         rend auf der Erzählung von Boris Polewoi (deutsche
Boris Polewoi (russ., dt.)
                                                         Übersetzung unter dem Titel Der wahre Mensch), die
                                                         das Leben des sowjetischen Jagdfliegers Alexej Petro-
BESETZUNG                                                witsch Maressew nachzeichnet. Prokofjew schrieb das
                                                         Werk unter dem Eindruck des zu Ende gegangenen
3 S, M, A, 3 T, komT, Bar, Bar (oder B), 4 B,            Krieges. Die dreiaktige Version, die für die posthume
2 Sprechrollen; Chor                                     öffentliche Uraufführung im Moskauer Bolschoi-Thea-
2.2.2.2—4.2.3.1—Pkn.Schlz(3)—Klv—Str                     ter 1960 geschaffen wurde, ist eine gekürzte Fassung.
                                                         Ursprünglich bestand das Werk aus vier Akten und
                                                         zehn Bildern. Diese Version wurde zum ersten Mal
URAUFFÜHRUNG                                             bei einer probenartigen geschlossenen Aufführung im
3. Dezember 1948 Leningrad, Kirow-Theater                Dezember 1948 in Leningrad aufgeführt. Der musi-
(geschlossene Veranstaltung, Fassung in 4 Akten /        kalische Charakter des Werkes ist deutlich sanfter
10 Bildern)                                              als die frühere, oft auf Schärfe und Motorik setzende
Inszenierung: Ilja Schlepjanow                           Klangsprache des Komponisten. Er habe sich bei
Musikalische Leitung: Boris Chaikin                      dieser Oper bemüht, kommentierte Prokofjew, „die
                                                         Melodien so verständlich wie möglich zu machen“.

EMPFOHLENE EINSPIELUNG                                         www.boosey.com/audio-clip/101652

                       Yevgeny Kibkalo, Glafira
                       Deomidova, Georgi Shulpin,
                       Vera Smirnova, Margarita
                       Miglau, Georgi Pankov, Kira
                       Leonova, Artur Eizen, Mark
                       Reshetin | Chor & Orchester des
                       Bolschoi-Theaters | Mark Ermler
                       (1962)
                       Melodiya MEL CD 10 02353

Ich habe mich bemüht, so
melodisch wie nur möglich zu sein.

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