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   Oper und Afrika - (post-)koloniale Verstrickungen
   und interkulturelle Wechselwirkungen am Beispiel
   von Meyerbeers L'Africaine in Halle / Lübeck
   Ueckmann, Natascha; Vatter, Christoph

   Veröffentlichungsversion / Published Version
   Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Ueckmann, N., & Vatter, C. (2019). Oper und Afrika - (post-)koloniale Verstrickungen und interkulturelle
Wechselwirkungen am Beispiel von Meyerbeers L'Africaine in Halle / Lübeck. interculture journal: Online-Zeitschrift für
interkulturelle Studien, 18(32), 103-118. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-66873-1

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Oper und Afrika – (post-)koloniale Verstrickungen
      und interkulturelle Wechselwirkungen am Beispiel
      von Meyerbeers L’Africaine in Halle / Lübeck
      Opera and Africa – (Post-)Colonial Entanglements and Intercul-
      tural Interactions at the Example of Meyerbeer’s L’Africaine in
      Halle and Lübeck

Natascha Ueckmann                     Abstract (Deutsch)
                                      2018/19 wurde an der Oper Halle Giacomo Meyerbeers Grand opéra L’Africaine radi-
PD Dr., Wissenschaftliche
                                      kal neu inszeniert. In europäisch-afrikanischer Zusammenarbeit gilt es den kolonialen
Mitarbeiterin am Institut für Ro-
                                      Blick des Werks zu dekonstruieren und als Ausgangspunkt für eine Neubewertung der
manistik im Bereich Kulturwis-
                                      europäisch-afrikanischen Beziehungen und eine Re-Afrikanisierung des Stücks in vier
senschaft an der Martin-Luther-
                                      Etappen zu nutzen. Ausgehend von einer Betrachtung der (post-)kolonialen Bezüge und
Universität Halle-Wittenberg seit
                                      Verstrickungen (in) der Oper seit dem späten 18. Jahrhundert analysiert der Beitrag die
2018. Im Jahr 2000 Promotion
                                      Hallenser Inszenierung, auch in Bezug auf andere aktuelle Bearbeitungen von Meyer-
an der Universität Osnabrück,
                                      beers Werk, und diskutiert sie im Kontext der aktuellen Afrika-Renaissance und neu zu
2011 Habilitation an der Univer-
                                      denkender Kulturbeziehungen zwischen Afrika und Europa.
sität Bremen. Ihre Forschungs-
schwerpunkte sind: Karibik- und
                                      Schlagwörter: Oper, postkolonial, Afrika, kulturelle Zusammenarbeit, interkulturelle
Diasporaforschung, Postkolonia-
                                      Interaktion, kulturelles Gedächtnis
le Literatur- und Kulturtheorien;
Gender Studies, Rezeption der
                                       Abstract (English)
Aufklärung im transatlantischen
                                      L‘Africaine, Grand opéra by Giacomo Meyerbeer’s (1865), was radically restaged at the
Raum, Transkulturelles Gegen-
                                      opera of Halle (Germany) in 2018/19. Through a close European-African cooperation,
wartstheater.
                                      the project aimed at deconstructing the colonial gaze to work on new perspectives on
Christoph Vatter                      the relationalities between Europe and Africa. This process was organized around an
                                      attempt to “re-africanize” Meyerbeer’s L’Africaine in four steps. In this contribution, we
Dr., vertritt seit 2017 die Profes-   illustrate the (post-)colonial entanglements of and in operas since the late 18th century
sur für Romanische Kultur- und        as well as the ongoing interest in Africa and current theoretical propositions of re-think-
Landeswissenschaften an der           ing the cultural relations between Europe and Africa to analyze the production at the
Martin-Luther-Universität Halle-      opera of Halle in the light of other recent representations of Meyerbeer’s Grand opéra in
Wittenberg. Außerdem lehrt und        Germany.
forscht er im Bereich interkul-
turelle Kommunikation an der
                                      Keywords: Opera, postcolonial, Africa, cultural cooperation, intercultural interaction,
Universität des Saarlandes. Zu
                                      cultural memory
seinen Forschungsschwerpunk-
ten gehören interkulturelle
Kommunikation und interkul-
turelles Lernen, frankophone
Medien- und Kulturwissenschaft,
Frankophonie (insb. Québec und
frankophones Afrika), kulturelle
Diversität und Erinnerungskul-
turen.

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1. Einleitung                                 mit den Regie- und Dramaturgie-Ver-
                                              antwortlichen Lionel Poutiaire Somé,
Die interkulturellen Beziehungen              Michael von zur Mühlen und Philipp
zwischen Ländern des subsaharischen           Amelungsen ausführlich in einem In-
Afrikas und dem globalen Norden, ins-         terview gesprochen, das im Anschluss
besondere auch Europa, befinden sich          an diesen Beitrag abgedruckt. Zunächst
in einem intensiven Aushandlungspro-          soll jedoch ein Blick auf den aktuellen
zess. Neben politisch-ökonomischen            Kontext der europäisch-afrikanischen
und humanitären Feldern, bei denen            Kulturbeziehungen sowie die Rolle der
vor allem die Frage der Migration den         Oper geworfen werden. Dabei sollen
öffentlichen Diskurs beherrscht, rückt        exemplarisch Formen der interkulturel-
auch die Kultur als wesentlicher Bereich      len Aneignung und der postkolonialen
der afrikanisch-europäischen interkultu-      Auseinandersetzung mit der Gattung
rellen Zusammenarbeit zunehmend ins           Oper aufgezeigt werden, die die be-
Zentrum der Debatte, in der die fran-         trachtete Inszenierung aufgreift und
kophonen Kulturen aus Subsahara-Afri-         weiterführt. Schließlich wird das Pro-
ka sehr präsent sind. Hierfür erscheinen      jekt der Oper Halle im Zusammenhang
vor allem zwei aktuelle Entwicklungen         mit anderen zeitgenössischen Inszenie-
als relevante Faktoren: Zum einen             rungen der L’Africaine näher betrachtet.
rücken die ästhetisch-künstlerischen
Produktionen aus frankophonen afrika-         2. Oper und/in Afrika
nischen Ländern verstärkt ins Interesse
der transnationalen Medien- und Pop-          Africa rising (Ernst / Ntivyihabwa
kultur, was auf der kulturtheoretischen       2019) – die so betitelte Fernsehdoku-
Ebene durch viel beachtete Wortergrei-        mentation des Kultursenders arte steht
fungen frankophoner Intellektueller           symptomatisch für ein gesteigertes In-
begleitet wurde; zum anderen wurde die        teresse an Afrika, vor allem in der trans-
Debatte maßgeblich durch das Thema            nationalen Popkultur. Die Stimmen
des Umgangs mit Artefakten aus den            Schwarzer Künstler*innen verschiede-
ehemaligen Kolonien in europäischen           ner Disziplinen finden zunehmend Ge-
Museen befeuert.                              hör und bringen ihre Perspektiven aktiv
                                              ein, so dass sie weit über eine eventuelle
In diesen Zusammenhang schreibt sich          exotistische Faszination hinaus Teil
die Neuinszenierung von Giacomo               kultureller Diskurse werden. Auch die
Meyerbeers Grand Opéra L’Africaine            regelmäßige Afropop-Kolumne in der
an der Oper Halle ein, die sich in post-      Süddeutschen Zeitung kann als Beispiel
kolonialer Perspektive mit dem Werk           für diese Konjunktur im deutschen
auseinandersetzt und es mit einem             Sprachraum angeführt werden. Be-
europäisch-afrikanischen Team in vier         merkenswert ist, dass in den letzten
Etappen hinterfragt, kommentiert und          Jahren vor allem auch Künstler*innen
schließlich dekonstruiert und sozusa-         aus dem subsaharischen frankophonen
gen ‚re-afrikanisiert‘. Das Projekt zielt     Afrika international Beachtung finden.
so auf eine kritische Aufarbeitung der        Diese verbinden häufig europäische
Kolonialgeschichte und der Rolle der          (z.T. auch nordamerikanische) und afri-
kulturellen Medien und Institutionen          kanische Einflüsse und sind auch auf
ab; gleichzeitig erprobt die Inszenierung     beiden Kontinenten präsent, wie z.B.
neue Formen europäisch-afrikanischer          die Musiker Maître Gims oder Disiz.
Kooperation im Kultursektor und wirft         Dies unterstreicht auch das Konzept des
sowohl Fragen der Form und Ästhetik           „Afropéanisme“ (Miano 2008, Gunst /
als auch der interkulturellen Interak-        Kanobana 2017), das die engen afrika-
tion und Zusammenarbeit zwischen              nisch-europäischen Verflechtungen in
Künstler*innen aus beiden Kontinenten         den Vordergrund rückt und beispiels-
auf. Über die Hallenser Inszenierungen        weise für in Frankreich aufgewachsene
von Meyerbeers L’Africaine haben wir          afrodeszentende Autor*innen Anwen-
                                              dung findet.

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Diese neue Dynamik im künstlerischen        / Savoy 2018), stellt sich die Frage des
Bereich wird in der post- und dekolo-       Umgangs mit dem kolonialen Erbe in
nialen Kulturtheorie in der jüngeren        Europas Museen in besonders virulenter
Vergangenheit durch viel beachtete Pu-      Art und Weise. Denn Sarr und Savoy
blikationen frankophoner afrikanischer      kommen zu dem Schluss, dass nur eine
Intellektueller wie Felwine Sarr, Achille   bedingungslose Rückgabe die Basis für
Mbembe oder Souleymane Bachir               eine Neubestimmung der europäisch-
Diagne begleitet, die für eine neue Sicht   afrikanischen Beziehungen sein kann.
auf (und aus) Afrika und eine Neube-        Dazu zählt auch die Frage des Umgangs
stimmung der europäisch-afrikanischen       mit den fraglichen kulturellen Objek-
Beziehungen plädieren.1 In Erweiterung      ten, in die die europäisch-afrikanischen
der historischen Dimension afrikani-        Verflechtungen inhärent eingeschrieben
schen intellektuellen Engagements im        sind.
kolonialen Raum (Lüsebrink 2002)
erreichen diese Positionen auch inter-      2.1. Die Oper als Agentin
nationale Beachtung – sicherlich auch       kultureller Kolonialisierung
aufgrund von Übersetzungen in andere
Sprachen2 – und werden als Modelle          Während diese Herausforderungen für
für ein transkulturelles Miteinander        die europäischen Museen – in Deutsch-
diskutiert. Bei aller Unterschiedlichkeit   land v.a. im Zusammenhang mit dem
der verschiedenen Ansätze erscheint         Berliner Humboldt-Forum – die ak-
eine grundsätzliche Anerkennung der         tuelle Debatte dominieren, scheinen
wechselseitigen Verstrickungen in den       andere Kulturbereiche wie Literatur,
Nord-Süd-Beziehungen, die nicht nur         Film oder Theater weniger im Vor-
als einseitige Abhängigkeiten gedacht       dergrund zu stehen. Der Bereich der
werden können, die Voraussetzung zu         klassischen Musik und der Oper spielt
sein für eine Neubestimmung und rela-       dabei kaum eine Rolle. Dabei handelt
tional-reziproke Weiterentwicklung der      es sich zwar um Gattungen, die im
europäisch-afrikanischen Beziehungen.       subsaharischen Afrika kaum Fuß fassen
                                            konnten, die aber dennoch maßgeblich
Neben transnationalen Tendenzen in          am europäischen Projekt der kulturellen
der Populärkultur, die sich bspw. mit       Kolonisierung beteiligt waren, sowohl
einem wachsenden Bewusstsein für die        als „Exportartikel“ und Vehikel für die
Teilhabe und Partizipation Schwarzer        internationale Verbreitung des kulturel-
Akteur*innen in der Filmbranche ma-         len Überlegenheitsanspruchs Europas
nifestieren – Black Panther (2018) sowie    als auch als Projektionsfläche für exo-
die Oscar-Prämiierung von Moonlight         tistische Fantasien und Imaginationen
(2016) zählen zu den prominente-            kolonialer Beziehungen. Opernhäuser
sten Beispielen –, ist die europäische      wie das Teatro Amazonas in Manaus
Debatte im kulturellen Feld vor allem       (Brasilien, 1896) und in Kairo (1869)
von der Frage des Umgangs mit afri-         fungierten so beispielsweise als Agenten
kanischen Artefakten (und z.T. auch         der Kolonialisierung und Distinktion in
menschlicher Überreste) in europä-          der Kolonialgesellschaft – ein Prozess,
ischen Museen und Sammlungen sowie          der in Werner Herzogs Film Fitzcar-
ihrer Restitution geprägt. Ausgehend        raldo (1982), in dem der von Klaus
von dem Bericht, den der senegalesische     Kinski verkörperte Protagonist Sweeney
Wirtschafts- und Kulturwissenschaftler      Fitzgerald/Fitzcarraldo wie besessen für
Felwine Sarr und die in Deutschland         die Verwirklichung seines Traums eines
und Frankreich lehrende Kunsthistori-       Opernhauses im peruanischen Urwald
kerin Bénédicte Savoy im Auftrag des        kämpft, filmisch bearbeitet wurde.
französischen Präsidenten Emmanuel
Macron verfasst haben und der mittler-      Seit dem 18. Jahrhundert setzte die
weile in französischer, englischer und      Oper auch immer wieder koloniale
deutscher Sprache verfügbar ist (Sarr       und exotistische Vorstellungswelten

                                                                               105
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in Szene (Bara 2010)3: So beruhte der          Eine Ausnahme stellt v.a. Südafrika da,
Erfolg von Élisca ou l’amour maternel          dessen Kulturinstitutionen sich nach
(Favières / Grétry 1799) maßgeblich            Ende des Apartheid-Systems öffneten,
auf einer opulenten exotischen Kulis-          so dass nun mehr und mehr Schwarze
se; weitere Beispiele sind die Opern-          Opernsänger*innen, wie z.B. Pretty
adaption von Paul et Virginie (Favières        Yende oder Pumeza Matshikiza, die
/ Kreutzer 1791) nach dem Roman von            internationalen Bühnen erobern (Fleury
Bernardin de Saint-Pierre, Les Créoles         2018; Hillériteau 2016). Aus dem fran-
(Lacour / Berton 1826) oder auch               kophonen Afrika finden sich dagegen
Le Code noir (1842), die der Libret-           nur wenige Beispiele wie der kongolesi-
tist Eugène Scribe auf Grundlage der           sche Countertenor Serge Kakudji.5
Anti-Sklaverei-Novelle Les épaves4 von
Fanny Reybaud (1838) konzipierte.              Dass das Genre der Oper historisch
Dem Zeitgeist verpflichtet, greift die         tendenziell eher als „weiß“ markiert
komische Oper des 19. Jahrhunderts             ist, mag auch dazu beigetragen haben,
immer wieder auf die Attraktivität             dass sich trotz einer fehlenden kultu-
exotistischer Szenarien zurück, die            rellen Tradition zahlreiche Spuren der
sich aus kolonialen Erfahrungen und            postkolonialen Auseinandersetzung mit
Imaginationen speisen und diese in             dem europäischen Musiktheater finden
kreativ-freier Art und Weise weiterent-        lassen. Ein herausragendes Beispiel ist
wickeln. So inszeniert beispielsweise          die réécriture von Brechts Dreigroschen-
die Oper Lakmé (Délibes / Gondinet /           oper bzw. John Gays The Beggar’s Opera
Gille 1883), die auf Pierre Lotis Tahiti-      durch den nigerianischen Literaturno-
Roman Rarahu ou le Mariage de Loti             belpreisträger Wole Soyinka. In seiner
(1880) beruht, ein romantisch-exoti-           Opera Wonyosi (1977) setzt er sich mit
stisches Indienbild. Während Verdis            dem Thema Macht und den afrikani-
Aida (1871) sicherlich das bekannteste         schen Präsidenten-Potentaten auseinan-
Beispiel dieses Genres darstellt, han-         der und zeichnet ein satirisches Bild des
delt es sich bei Giacomo Meyerbeers            zentralafrikanischen Diktators Bokassa.
Grand Opéra in fünf Akten L’Africaine,         Der südafrikanische Komponist Mzi-
die – wie zuvor schon die dreiakti-            likazi Khumalo präsentierte 2001 mit
ge Opéra Comique Le Code noir –                Princess Magogo die erste Oper auf Zulu
auf einem Libretto von Eugène Scribe           – ein Stück über das Leben der gleich-
basiert und die 1865 in der Pariser            namigen Komponistin und Interpretin
Oper Premiere hatte, wohl um das für           traditioneller Zulu-Musik. Das Projekt
die europäisch-afrikanischen Beziehun-         der Überführung westafrikanischer
gen prägnanteste und spektakulärste            Traditionen ins Musiktheater6 steht im
Werk.                                          Zentrum von Bintou Wéré – un opéra du
                                               Sahel, die 2007 zuerst in Bamako, dann
2.2. Oper in Subsahara-                        im Théâtre du Châtelet in Paris unter
Afrika I – postkoloniale                       der künstlerischen und musikalischen
Aneignungen                                    Leitung des senegalesischen Sängers
                                               Wasis Diop uraufgeführt wurde. Bintou
Während die Oper in Europa sich                Wéré entstand in Folge des Vorschlags
also in thematischer und ästhetischer          Prinz Claus der Niederlande, der 1996
Hinsicht immer wieder auf die Kolo-            ein internationales Opernprojekt auf
nialbeziehungen und damit auch auf             Basis der reichen künstlerischen Tradi-
Afrika bezog und als Institution an der        tion der Länder der Sahelzone anregte.
kulturellen Kolonialisierung teilhatte,        Die Oper mit der von Zé Manel Fortes
spielt sie als Genre in Subsahara-Afrika       (Guinea-Bissau) komponierten Musik
bis heute praktisch keine Rolle, v.a. auf-     und einem Libretto von Koulsy Lamko
grund vielfach fehlender institutioneller      (Tschad) entstand als internationales
Voraussetzungen (Ausbildungsstätten,           Kollektivprojekt, das in interdiszipli-
Ensembles, Aufführungsorte etc.).              nären Workshops von Künstler*innen

106             interculture j our na l 18/32 (2 0 1 9 )
aus sechs Ländern entwickelt wurde.          hel-Landes verknüpft. Das Operndorf
Thematisch verbindet das Werk die            Afrika versteht sich als „Plattform für
kulturellen Traditionen der Region mit       interkulturelle Austauschprogramme
zeitgenössischen Themen. So ist die Ti-      und relevante postkoloniale Diskurse,
telheldin eine Kindersoldatin, die sich      die ein neues und differenziertes Bild
aus ihrem Dorf auf den Weg macht, um         von Afrika sichtbar macht“ (Operndorf
die spanische Enklave Melilla zu errei-      Afrika). Schlingensief (2009) postuliert
chen und ihr Kind auf europäischem           einen „erweiterten Opernbegriff“, der
Boden zu gebären – um es schließlich         sich vom westlichen Opernverständ-
doch nicht über den Grenzzaun, son-          nis löst und eher ein interkulturelles
dern zurück in die Obhut Afrikas zu          Theater aus der produktiven Interak-
geben. Ein weiteres Opernprojekt mit         tion europäischer und afrikanischer
westafrikanischem Hintergrund ist Ki-        Akteur*innen bezeichnet:
rina, das 2018 in Marseille uraufgeführt
                                             Jedenfalls toben wir alle gemeinsam rum
und dann sowohl auf verschiedenen eu-
                                             und stemmen alles auf die Bühne. Das
ropäischen Bühnen als auch in Ouaga-
                                             wäre dann eine Art Transformationskas-
dougou zu sehen war. Diese zeitgenös-
                                             ten. Und ich erhoffe mir, dass diese Über-
sische Oper der malischen Musikerin
                                             blendungen von Bildern und Texten ver-
Rokia Traoré wurde in Burkina Faso,
Mali und Belgien entwickelt und ist          schiedener Kulturen neue Währungen im
von der Geschichte des mittelalterlichen     System erzeugen. Dann präsentieren wir
Malireichs inspiriert.                       das Ergebnis hier in Deutschland, topfen
                                             die Sache gleichsam um. Dadurch, dass
2.3. Oper in Subsahara-                      sich jemand anmaßt, etwas aus Afrika
Afrika II – Abgrenzungen                     hier zu präsentieren, entstehen vielleicht
und postkoloniale Neu-                       diese Überblendungswährungen. Da
bestimmungen                                 muss ich noch mehr drüber nachdenken.
                                             (Schlingensief 2009: 40)
Neben diesen Formen der interkulturel-
len Aneignung des Genres Oper durch          Schlingensiefs Operndorf soll so einen
afrikanische Kunstschaffende sind kri-       Raum eröffnen für „interkulturelle Aus-
tische Auseinandersetzungen mit und          handlungsprozesse“ (Lehmann 2015)
Abgrenzungen von der kolonialen Di-          und die Entwicklung neuer Bilder von
mension der Oper zu verzeichnen, von         und über Afrika bzw. aus Afrika, die
denen das von Christoph Schlingensief        althergebrachte Repräsentationsstra-
in Burkina Faso initiierte „Operndorf“       tegien und ihnen zu Grunde liegende
das bekannteste Beispiel darstellt. Das      Machtstrukturen durchbrechen. Eine
sich seit der Grundsteinlegung 2010          wichtige Rolle dabei spielen für Schlin-
stets in Weiterentwicklung befindliche       gensief spirituelle Übergangsrituale (van
Projekt, das seit dem Tod des Künstlers      der Horst 2013: 130f.), wie sie auch in
2010 von einer gemeinnützigen GmbH           der Hallenser L’Africaine eingesetzt wer-
unter Leitung von Schlingensiefs Wit-        den.7 Zu den weiteren künstlerischen
we Aino Laberenz weitergeführt wird,         Strategien gehört die Umkehrung des
grenzt sich von der Transplantation eu-      europäisch-afrikanischen Verhältnisses,
ropäischer Opernhäuser in (ehemalige)        um gleichsam durch eine Exotisierung
Kolonien ab und verfolgt vielmehr das        Europas postkoloniale Kontinuitäten
Ziel, traditionell hochkulturelle Vorstel-   offenzulegen (Bleuler 2018).8
lungen gegen den Strich zu bürsten und
das Projekt Oper im gesellschaftlichen       Das Projekt um Meyerbeers L’Africaine,
Alltag neu zu verankern, wie auch der        das im Zentrum dieses Beitrags steht,
zunächst paradox anmutende Name              knüpft an diese postkolonialen Aneig-
„Operndorf“ suggeriert, der ein Medi-        nungs- und Abgrenzungsprozesse um
um der (städtischen) Hochkultur mit          das Genre Oper und seine koloniale
dem Dorfleben eines afrikanischen Sa-        Tradition an.

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3. L’Africaine (1865) von                     madagassische Sklav*innen. Sie dienen
Giacomo Meyerbeer                             ihm als Beweis, dass er in Ostafrika
                                              bzw. Indien war. Dennoch wird Vasco
Seit 2011 erlebt Giacomo Meyerbeers           da Gama eine weitere Entdeckungsreise
Grand Opéra L’Africaine (1865) in             vom Klerus verweigert, woraufhin er
Deutschland eine bemerkenswerte Re-           so ausfallend wird, dass er als Ketzer
naissance. Den 1791 als Jakob Meyer           hingerichtet werden soll. Er wird zu-
Beer in Berlin geborenen jüdischen            sammen mit den beiden vermeintli-
Komponisten, der vor allem in Frank-          chen Sklav*innen in die Kerker der
reich große Erfolge feierte, suchte           Inquisition geworfen. Inès kann eine
man bis dahin meist vergebens in den          Begnadigung erwirken, indem sie sich
Spielplänen deutscher Opernhäuser.            auf eine von ihrem Vater eingefädelte
Im Schatten von Richard Wagner und            Heirat mit Vasco da Gamas Kontrahen-
durch die Nationalsozialist*innen             ten Don Pedro einlässt. Vasco startet
nachhaltig verunglimpft und verdrängt,        im Anschluss, zusammen mit Sélika
gelangt nun insbesondere seine letzte         und Nélusko, eine erneute Expedition
Oper L’Africaine wieder auf die deut-         nach Afrika. Während eines Sturmes
schen Bühnen (Jungheinrich 2018). Für         läuft das Schiff – durch das Eingreifen
Giacomo Meyerbeer, der ebenso wie             von Nélusko – auf Klippen. Es kommt
sein Librettist Eugène Scribe die Urauf-      durch die dortige lokale Bevölkerung zu
führung von L’Africaine in Paris nicht        einer Befreiungsaktion von Sélika und
mehr erleben konnte, wäre diese späte         Nélusko; die portugiesischen Seeleute
Rehabilitierung eine Genugtuung. Um           kommen in Gefangenschaft. Indem Sé-
das hier im Mittelpunkt stehende ex-          lika vorgibt Vasco sei ihr Gatte, kann sie
perimentelle Opernprojekt in Halle zu         ihn und Inès retten. Denn Sélika, be-
würdigen, ist ein erster Blick auf andere     reits entpuppt als afrikanische Königin
aktuelle Inszenierungen von L’Africaine       (von Madagascar?), liebt heimlich ihren
in Deutschland aufschlussreich.               ‚Besitzer‘ Vasco. Aus diesem Grund
                                              rettet sie ihn vor dem Tod, aber Vasco
Die Handlung von L‘Africaine soll hier-
                                              liebt Inès, seine portugiesische Verlobte.
für kurz skizziert werden. Hintergrund
                                              Sélika gibt die beiden Liebenden bzw.
der Opernhandlung ist eine Fünfecks-
                                              Conquistador*innen frei, damit sie
geschichte zwischen drei Männern und
                                              nach Portugal zurückkehren können.
zwei Frauen in wechselnden Liebesver-
                                              In der Schlussszene, welche in Sélikas
strickungen: dem Seefahrer Vasco da
                                              Königreich spielt, nimmt sich die afri-
Gama, seinem Widersacher Don Pedro,
                                              kanische Titelfigur aus Liebeskummer
der portugiesischen adligen Admirals-
                                              das Leben. „In der imaginierten Fremde
tochter und Vascos Verlobter Inès, der
aus Indien bzw. Afrika kommenden Kö-          findet man doch nur wieder das bürger-
nigin Sélika und ihrem Diener Nélusko.        liche Beziehungsdreieck, mehr ist nicht
Die Oper spielt in Lissabon, auf dem          vorstellbar“, so resümiert Chefdrama-
Meer und im Königreich der Titelfigur         turg Michael von zur Mühlen. Wieder-
in den Jahren 1497-1498. L’Africaine          holt sind es bezeichnenderweise die bei-
bezieht sich auf die historischen Reisen      den Frauenfiguren, die Vasco da Gama
des portugiesischen Seefahrers Vasco da       das Leben retten. Durch das ‚Happy
Gama (ca. 1469-1524), der als erster          End‘ für die weißen Protogonist*innen
Europäer auf dem Seeweg um das Kap            ist auch die Gefahr der ‚Rassenmi-
der Guten Hoffnung in Indien ankam.           schung‘ gebannt. Die Oper illustriert
Dies markiert auch den Beginn des             so ungewollt bzw. unbewusst die
transatlantischen Sklavenhandels und          Konsequenzen eines internalisierten
der Kolonisierung. In der Oper bringt         Rassismus und die Unmöglichkeit einer
Vasco da Gama von seiner Expedition           interracial relationship in einer kolonial
die beiden Afrikaner*innen Sélika und         und patriarchal organisierten Gesell-
Nélusko mit nach Europa, scheinbar            schaft, denn Rassismus – wie Françoise

108            interculture j our na l 18/32 (2 0 1 9 )
Massardier-Kenney zur Verbindung von        aktuellen Flüchtlingsdebatte und mit
Gender und ‚Race‘ analysiert – ist auf-     religiösem Fanatismus, bewahrt aber auf
grund der Reproduktion ökonomischer         der Inszenierungsebene ein exotistisches
Interessen durch Heirat aufs engste mit     Setting. In Frankfurt am Main wurde
patriarchalen Werten verknüpft (vgl.        2018 die Oper unter dem Doppeltitel
Massardier-Kennedy 1994: 191).              L’Africaine/Vasco da Gama unter der
                                            Leitung von Tobias Kratzer aufgeführt.
3.1. Zeitgenössische Insze-                 Es ist nach Les Huguenots in Nürnberg
nierungen von L’Africaine /                 und Le Prophète in Karlsruhe seine
Vasca da Gama in Deutsch-                   dritte große Meyerbeer-Inszenierung.
land (Würzburg 2011,                        Kratzer entfernt sich konsequent von
Chemnitz 2013, Berlin 2015,                 der historischen Darstellung: Während
Frankfurt/M. 2018)                          die Original-Oper rund 350 Jahre vor
                                            ihrer Entstehungszeit spielt, findet die
Im Rahmen der Wiederentdeckung              Handlung in der Frankfurter Insze-
des bis dahin gerade in Deutschland         nierung – praktisch auf der Zeitachse
wenig bekannten Bühnenwerks fei-            gespiegelt – 350 Jahre danach in der
erte L’Africaine zunächst 2011 in der       Zukunft, also im 22. Jahrhundert statt.
Regie von Gregor Horres Premiere in         Die portugiesischen Seefahrer steuern
Würzburg. Dieter Stoll hält dazu fest,      hier Raumschiffe und erobern fremde
dass das Mainfranken Theater sich           Sonnensysteme und die afrikanische
„fast vierstündig im Grenzbereich der       Titelheldin ist ein blaugefärbter Alien
eigene[n] Ressourcen [bewegt]. Großes       – angelehnt an den Film Avatar; Star
Orchester, großer Chor, große Stimmen       Trek, Star Wars, 2001: A Space Odyssey
für übergroße Gefühle“ (Stoll 2011).        und Gravity lassen ebenfalls grüßen.
2013 eröffnete dann Chemnitz das            „Große Oper und großes Kino in ideal-
‚Wagnerjahr‘ (Richard Wagners 200.          typischer Liaison.“ (Jungheinrich 2018)
Geburtstag) mit der Oper von Meyer-         Das Meer wird als endloses All interpre-
beer (Regie: Jakob Peters-Messer) unter     tiert. Begründet wird dieser Futurismus
dem ursprünglich vom Komponisten            auch im Zusammenhang mit Jules
vorgesehenen Titel Vasco da Gama und        Vernes Roman De la terre à la lune, der
verweist damit maßgeblich auf die           im selben Jahr wie die Uraufführung
historisch belegte Figur des europä-        1865 erschienen war und der schon
ischen Seefahrers – und eben nicht auf      damals die europäische Kolonialisie-
eine fiktive Figur wie die imaginierte      rung als nahezu komplett abgeschlossen
‚Afrikanerin‘ Sélika. Es ist die mutige     diagnostizierte. Der einstige Bootsfahrer
Erstaufführung der kritischen Neuaus-       Vasco da Gama steuert nun rücksichtlos
gabe von Jürgen Schläder, der eine Art      sein Raumschiff durch ferne Galaxien,
Version letzter Hand rekonstruierte.9 In    die ihm letztlich fremd bleiben. Re-
den Kritiken zur fünfstündigen Insze-       gisseur Kratzer lässt Geschichts- und
nierung werden lobend die gelungenen,       Zukunfts-pessimismus zusammenfal-
ausgedehnten Ballett- und Gesangsein-       len; das Gegeneinander der Kulturen
lagen hervorgehoben. Die Grand Opéra        scheint sich fortzusetzen.
als Blockbuster avant la lettre werde auf
diese Weise eindrucksvoll umgesetzt.        3.2. L’Africaine postkolo-
2015 inszenierte die Deutsche Oper          nial an der Oper Halle und
Berlin ebenfalls in der revidierten Fas-    Lübeck (2018-2020)
sung von Jürgen Schläder unter dem
Titel Vasco da Gama die Oper als Auf-       Ein europäisch-afrikanisches Produk-
takt eines Meyerbeer-Zyklus (Amling         tionsteam10 hat in mehreren Etappen
2015, Pullinger 2015). Die Regisseu-        Meyerbeers Oper L’Africaine radikal
rin Vera Nemirova unterstreicht die         überarbeitet: von September 2018 bis
politischen und religiösen Konflikte        Juni 2019 erlebte die Oper Halle vier
des Werkes und verbindet sie mit der        verschiedene Aufführungen. Zur Spiel-

                                                                                109
Abb. 1: Kolonialgeschichtlicher Dialog: Verweis auf Sarah Bartmann (L’AFRICAINE IV:
 NISALB LIÈFO - Verwandlung), Bühnen Halle / L'Africaine / Foto: Falk Wenzel

 Abb. 2: Europäische Opernbilder unter (afrikanischer) Beobachtung (L’AFRICAINE I: FOTOUONA DJAMI
 YÉLÉ - Auseinandersetzung mit den Ahnen), Bühnen Halle / L'Africaine / Foto: Falk Wenzel

110          interculture j our na l 14/25 (2 0 1 5 )
Abb.3: Performer*innen auf der Opernbühne (L’AFRICAINE I: FOTOUONA DJAMI
YÉLÉ - Auseinandersetzung mit den Ahnen), Bühnen Halle / L'Africaine / Foto: Falk Wenzel

    Abb. 4: L’Africaine ‚afrikanisieren‘?: Lionel Poutiaire Somé in L’AFRICAINE IV:
    NISALB LIÈFO (Verwandlung), Bühnen Halle / L'Africaine / Foto: Falk Wenzel

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zeit 2019/2020 wanderte das Projekt           Mitteln entgegenzuwirken. Entgegen
nach Lübeck, wo zeitgleich eine neue          der dominierenden Geschichtsschrei-
Filmoper mit dem Titel L’Européenne           bung, das Deutsche Reich sei nur ein
entsteht.11 Diese Umkehrung der Per-          ‚später‘ oder ‚marginaler‘ kolonialer
spektive kommt schließlich 2020/21            Akteur gewesen, gibt es eine lange,
erneut nach Halle. Entwickelt wurde           aber weniger bekannte Geschichte
das Opernprojekt im Rahmen von I like         der Teilhabe deutschen Kapitals und
Africa and Africa likes me – I like Europe    deutschen Wissens an Kolonialismus
and Europe likes me.12 Das in vielfacher      und Versklavung.14 Zum anderen ist
Hinsicht ausgezeichnete und grenz-            das Opernprojekt eine Auseinander-
überschreitende vom Fonds Doppelpass          setzung mit Reinigungsritualen eines
der Kulturstiftung des Bundes geför-          anderen Kulturkreises, denn die vier
derte Projekt entspricht genau dem            Aufführungen basieren auf vier Etap-
experimentellen, multiperformativen           pen eines Transformationsrituals aus
Zugang des nur noch bis 2021 verant-          Westafrika, konkret des Volkes der Da-
wortlichen Opernintendanten Florian           gara: L‘AFRICAINE I: FOTOUONA
Lutz – die Bühnen Halle haben Anfang          DJAMI YÉLÉ (Auseinandersetzung mit
2019 beschlossen, seinen Vertrag nicht        den Ahnen), L‘AFRICAINE II: BOO
zu verlängern (Petraschewsky 2019).13         A SAN PKAMINÉ (Versöhnung),
Lutz hinterfragt in origineller Weise         L‘AFRICAINE III: PIIR A SIÈN (Rei-
die Grenzen der Kunstgattung Oper,            nigung), L‘AFRICAINE IV: NISALB
ihrer Repräsentationsformen und ihre          LIÈFO (Verwandlung). Diese spiri-
heutige Relevanz. Die Inszenierung von        tuellen und transzendentalen Bezüge
L’Africaine an der Oper Halle verbin-         westafrikanischer Kultur ernst zu neh-
det auf interkontinentale Weise nicht         men, ist eine anspruchsvolle Aufgabe,
nur Theaterformen wie Oper, Perfor-           zumal für Europäer*innen, die Religion
mance und Reenactment, sondern auch           häufig durch Rationalität ersetzt und
Protagonist*innen, kulturelle Räume           sich aus christlichen Bezügen weitge-
und historische Ereignisse. Statt einer       hend gelöst haben. Ziel des Prozesses ist
einzigen Meistererzählung kommen              es, an der Entkolonialisierung Europas
plurale Geschichten, künstlerische Stile      mitzuwirken und dieses künstlerische
und divergente Erinnerungskulturen            und lyrische Werk als ‘Dokument’ der
zum Vorschein. Durch die kreative             europäischen Kolonialgeschichte zu
Mobilisierung einer Vielzahl von Re-          analysieren.
präsentationsformen verlebendigt dieses
Theaterprojekt eine beeindruckende            Jenseits der bestimmenden konven-
Multiperspektivität. Es verbindet politi-     tionellen Dreiecksgeschichte um
sche Botschaften mit ästhetischen Inter-      Vasco, Inès und Sélika erweitert das
ventionen. Guido Müller schreibt dazu:        Produktionsteam sein postkoloni-
„Der Besucher stelle sich einfach vor, er     ales Inszenierungsprojekt um zwei
sei noch nie mit Wagner in Berührung          historische Schlüsselfiguren des 19.
gekommen und treffe auf eine um mehr          Jahrhunderts: dem in Paris gefeierten
als die Hälfte zerstückelte Götterdäm-        deutsch-jüdischen Komponisten Giaco-
merung, die von Isländern in Hinblick         mo Meyerbeer setzen sie Saartjie/Sarah
auf Wagners nordische Mythen seziert          Baartman an die Seite – eine Frau aus
würde.“ (Müller 2018)                         Südafrika aus dem Volk der Khoikhoi,
                                              ausgestellt in Europa aufgrund ihrer
Das Hallenser Opernprojekt ist zum            anatomischen Besonderheiten; sie war
einen eine fordernde Auseinanderset-          auch bekannt unter dem pejorativen
zung mit der in Deutschland noch              Beinamen Hottentotten-Venus. Diese
immer verdrängten und unterdrückten           beiden Figuren – Repräsentant*innen
eigenen Kolonialgeschichte. Erklärtes         für Oper und ‘Menschenzoo’ – nehmen
Ziel der Macher*innen ist es, der ko-         als Ahn*innen aktiv teil, um Zeugnis
lonialen Amnesie mit künstlerischen           über Operngeschichte und Kolonialge-

112            interculture j our na l 18/32 (2 0 1 9 )
schichte und deren Interdependenzen          (post-)kolonialen Auseinandersetzung
und Verflechtungen abzulegen.                der europäischen Oper mit Afrika in
                                             produktiver und innovativer Art und
Die Oper, mittels Guckkastenbühne
                                             Weise fort. Sie regt dazu an, die europä-
oder Illusionstheater inszeniert, wird
                                             isch-afrikanische kulturelle Zusammen-
selbst zum Objekt eines Perspektiv-
                                             arbeit für die Erprobung neuer ästheti-
wechsels (Häußner 2019). So zielt die
                                             scher und formaler Wege zu nutzen und
erste Aufführungsetappe auf eine weit-
                                             gemeinsam eine Neubestimmung der
gehend ‚werktreue’ Inszenierung der
                                             wechselseitigen Beziehungen aus der
Grand Opéra von Meyerbeer, eine In-
                                             Geschichte und ihrer Aufarbeitung –
szenierung, die über große Bildschirme
                                             auch die Rolle der Kunst im kolonialen
von einer Gruppe von Afrikaner*innen
                                             Projekt – zu entwickeln. Dieser Prozess
angeschaut wird. Afrika blickt gewisser-
                                             beschränkt sich nicht nur auf die Kom-
maßen auf eine exotische Vorstellung
                                             munikation zwischen Kunstschaffenden
von Afrika. Die übliche Blickhierarchie
                                             und Publikum bzw. Gesellschaft, son-
wird so auf den Kopf gestellt.
                                             dern bezieht auch die interkulturelle
Am Ende von L’AFRICAINE I ver-               Dimension der Zusammenarbeit zwi-
lässt die Gruppe der afrikanischen           schen Künstler*innen aus Afrika und
Performer*innen die Position des Be-         Europa mit ein.
obachtens, um von der Bühne Besitz zu
                                             4. Literatur
ergreifen und um die gesamte Inszenie-
rung in Frage zu stellen. Sie installieren
                                             Amling, U. (2015): Irrweg nach Indien:
ein „Akephalisch reguliertes anarchisti-
                                             Vasco da Gama an der Deutschen Oper
sches Komitee zur Entkolonisierung des
                                             Berlin. Der Tagesspiegel, 06.10.2015.
Geistes“, dieses Komitee ist inspiriert
                                             URL: https://www.tagesspiegel.
von den „Wahrheits- und Versöhnungs-
                                             de/kultur/vasco-da-gama-an-der-
kommissionen“, mit denen Südafrika
                                             deutschen-oper-berlin-irrweg-nach-
unter Nelson Mandela versucht hat die
                                             indien/12409654.html [Zugriff am
Verbrechen der Apartheid aufzuarbei-
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ten. In den ersten Teilen von L’Africaine
sind es die Weißen, die singen und die
                                             Bara, O. (2010): Figures d’esclaves à
Schwarzen, die als Störende interve-
                                             l’opéra. Du ”Code noir” à ”L’Africaine”
nieren, dabei ausschließlich mit der
                                             d’Eugène Scribe (1842- 1865), les
gesprochenen Sprache ausgestattet. Die
                                             contradictions de l’imaginaire libéral.
Oper befindet sich so in Konfrontation
                                             In: Moussa, S. (Hrsg.): Littérature et
mit dem Sprechtheater. In der vierten
                                             esclavage, XVIIIe-XIXe siècles. Paris: Des-
Inszenierungsetappe im Juni/Juli 2019
                                             jonquères, S. 110-123.
erscheinen die Performer*innen auf der
Bühne und hinterfragen den gesamten
                                             Bleuler, M. (2018): Raum der un-
Prozess, nämlich die Oper ‚afrikanisie-
                                             überwindbaren Differenz? Christoph
ren‘ zu wollen. Das Ganze müsse be-
                                             Schlingensiefs Arbeit in Afrika und das
endet werden; Afrika lasse sich so nicht
                                             Operndorf-Residency 2016. In: Bleuler,
erfahren, dafür müsse man dorthin.
                                             M. / Moser, A. (Hrsg.): ent/grenzen.
Und wenn Vasco da Gama – immer
                                             Künstlerische und kulturwissenschaftliche
einen Globus in der Hand haltend –
                                             Perspektiven auf Grenzräume, Migration
seine große Arie „Pays merveilleux“ und
                                             und Ungleichheit. Bielefeld: transcript,
die Königin Sélika „O temple magni-
                                             S. 171–193.
fique!“ singen, sei der kolonialistische
Unsinn für ein paar Momente egal,
                                             Brahm, F. / Rosenhaft, E. (Hrsg.)
wahrscheinlich weil die Musik so schön
                                             (2016): Slavery Hinterland: Transatlan-
sei (o.A. 2019).
                                             tic Slavery and Continental Europe,
Die Hallenser Inszenierung von               1680-1850, Woodbridge-Rochester,
L’Africaine schreibt die Tradition der       NY: Boydell Press.

                                                                                   113
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setzt die Segel an der Deutschen Oper.     hier kann’s im Himmel gar nicht sein!
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                                           in Schlingensiefs Operndorf Afrika.
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                                              4 Der Titel „épaves“ verweist auf die
                                              Bezeichnung für Sklaven, deren Besitzer
Simmer, G. (2000): Gold und Sklaven:
                                              nicht bekannt ist.
Die Provinz Venezuela während der
Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin:        5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch
Wissenschaft und Technik Verlag.              die Einrichtung neuer Spielstätten wie
                                              das Opernhaus in Alger (2016) oder die
Soyinka, W. (1981) : Opera Wonyosi.           Ankündigung des Vivendi-Konzerns
Bloomington: Indiana University Press.        2017, ein panafrikanisches Netzwerk
                                              von Kino- und Konzertsälen zu errich-
Stoll, D. (2011): Zeitlose Meyerbeer-         ten.
Annäherung. Giacomo Meyerbeer:
L’Africaine. Die deutsche Bühne,              6 Vgl. dazu auch grundsätzlich Mbeng
29.09.2011. URL https://www.die-              (2010), der in der Transformation lo-
deutsche-buehne.de/kritiken/zeitlose-         kaler musikalischer Genres in die Oper
meyerbeer-annaeherung [Zugriff am             ein kulturelles Entwicklungspotenzial
19.07.2019].                                  sieht.
                                              7 Die zahlreichen Bezüge zwischen
van der Horst, J. (2013): Also was war        Schlingensiefs Ansätzen im Rahmen des
denn nun die Wahrheit? Wie ging das           Operndorfs in Burkina Faso und der
alles zusammen? In: Biesenbach, K. /          L’Africaine-Inszenierung an der Oper
Gebbers, A.-C. / Laberenz, A. / Pfeffer,      Halle 2018/19 werden außerdem durch
S. (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Lon-     personale Kontinuitäten – Regisseur
don: Koenig Books, S. 128–136.                Lionel Pouiaire Somé arbeitete bereits
                                              mit Schlingensief zusammen – gestützt.
Weber, K. (2009): Deutschland, der
atlantische Sklavenhandel und die Plan-       8 Vgl. aber die kritischen Einschät-
tagenwirtschaft der Neuen Welt. Jour-         zungen bei Schönhuth und Eckstein
nal of Modern European History, Vol. 7,       (2011), die – auf Basis von Feldfor-
No. 1, S. 37–67.                              schung vor Ort – aus dem ambiva-
                                              lenten Afrikabild Schlingensiefs für
Zimmerer, J. (Hrsg.) (2013): Kein Platz       das Operndorf neben einem Willen
an der Sonne: Erinnerungsorte der deut-       zur Umkehrung der Verhältnisse auch
schen Kolonialgeschichte. Frankfurt/M.:       eine Fortdauer des problematischen
Campus Verlag.                                „Hilfediskurses“ der Entwicklungshilfe
                                              ableiten.
5. Endnotes                                   9 Die Uraufführung von L’Africaine
                                              im Jahr 1865, ein Jahr nach dem Tod
1 Vgl. auch die im Sammelband Ecrire
                                              von Meyerbeer, wurde in der verfälsch-
l’Afrique-Monde (Mbembe / Sarr 2017)
                                              ten Fassung von François-Joseph Fétis
versammelten Beiträge.
                                              inszeniert, wie der Musikwissenschaftler
2 So ist bspw. Felwine Sarrs Afrotopia        Jürgen Schläder herausfand; Schläder
(2016) in französischer, englischer,          rekonstruierte die Originalfassung (vgl.
deutscher und spanischer Sprache ver-         Ernst 2013).
fügbar; Mbembes Critique de la raison
                                              10 Inszenierung: Lionel Poutiaire
nègre (2013) ist in fünf Sprachen er-
                                              Somé, Thomas Goerge und Nina
schienen und auch Souleymane Bachir
                                              Gühlstorff; Dramaturgie: Michael von
Diagnes Werk En quête d’Afrique(s).
                                              zur Mühlen und Philipp Amelungsen;
Universalisme et pensée décoloniale (ge-
                                              musikalische Leitung: Michael Wen-
meinsam mit Jean-Loup Amselle 2018)
                                              deberg; Komposition: Richard van
wird ins Englische übersetzt.
                                              Schoor; Sound Design: Abdoul Kader
3 Für das Theater allgemein vgl. auch         Traoré; Bühnenbild und Kostüme:

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Daniel Angermayr; Performer: Lionel      www.schifffahrtsmuseum-flensburg.
Poutiaire Somé, Rosina Kaleab, Telma     de/files/PDF/Downloads/Flensbur-
Bouabeng, Serge Fouha.                   ger_Schifffahrtsmuseum_DMB_
                                         Muku_218_05%20Grigull.pdf (Zugriff
11 Drehbuchautor ist der Regis-          am 20.08.2019). Verwiesen sei auch
seur und Performer Lionel Poutaire       auf die wichtige Ausstellung Deutscher
Somé, der in Halle zum Produkti-         Kolonialismus. Fragmente seiner Ge-
onsteam gehört. Die Uraufführung von     schichte und Gegenwart 2016 am Deut-
L’Européenne ist für Mai 2020 geplant.   schen Historischen Museum in Berlin:
12 Der Titel bezeichnet eine Reihe       https://www.dhm.de/ausstellungen/
von hybriden Veranstaltungen aus         archiv/2016/deutscher-kolonialismus.
Oper, Film, Installation, Symposium,     html (Zugriff am 20.08.2019) oder
Reenactment und Performance, vgl.        auf die didaktisierten Bildungsmate-
https://www.kulturstiftung-des-bundes.   rialien zur Ausstellung Verflechtungen.
de/de/projekte/buehne_und_bewe-          Koloniales und rassistisches Denken und
gung/detail/i_like_africa_and_af-        Handeln im Nationalsozialismus (2018)
rica_likes_me_i_like_europe_and_eu-      in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme:
rope_likes_me.html (Zugriff am           http://www.verflechtungen-kolonialis-
20.07.2019).                             mus-nationalsozialismus.de/start.html
                                         (Zugriff am 20.08.2019). Die Univer-
13 Zum „Störfeuer“, „Getriebescha-       sität Bremen realisierte u.a. das Schul-
den“ durch die Theater, Oper und         projekt Das Gewebe der Sklaverei. Auf
Orchester Halle GmbH (TOOH) und          den Spuren transatlantischer Versklavung
den damit zusammenhängenden „de-         in Bremen (vgl. Gleich / Spatzek 2015)
saströsen Rahmenbedingungen, unter       sowie das Forschungsprojekt zu German
denen Florian Lutz und sein Team         Slavery unter der Leitung der Histo-
ihre Spitzenleistung in der Oper Halle   rikerin Rebekka von Mallinckrodt:
erbracht haben“ (vgl. Brandenburg        https://www.frueheneuzeit.uni-bremen.
2019).                                   de/index.php/de/forschung/german-
                                         slavery (Zugriff am 20.08.2019). Zu
14 Z.B. die Augsburger Fugger und        Deutschland als Hinterland der Sklave-
Welser im 16. Jahrhunderts in den        rei vgl. insb.: Brahm / Rosenhaft 2016;
Amerikas oder später die kurbranden-     Raphael-Hernández 2015; Raphael-
burgische Kolonie Groß-Friedrichsburg    Hernández / Wiegmink 2017; Conrad
in Westafrika. Im künstlerischen, mu-    2012; Degn 2003 [1984]; Roth 2017;
sealen und wissenschaftlichen Bereich    Simmer 2000; Weber 2009; Zimmerer
kommt aber zunehmend Bewegung in         2013.
die Debatte: So blickt das historische
Freilichtspiel Das Brandmal (2018) auf
den Emder Sklavenhandel im 17. Jahr-
hundert. Die Hansestadt Hamburg hat
2014 die Forschungsstelle Hamburgs
(post-)koloniales Erbe / Hamburg und
die frühe Globalisierung eingerichtet:
https://www.geschichte.uni-hamburg.
de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/
forschung/forschungsstelle-hamburgs-
postkoloniales-erbe.html (Zugriff am
20.08.2019). Das Flensburger Schiff-
fahrtsmuseum organisierte 2017/18
unter der Leitung der jamaikanischen
Gastkuratorin Imani Tafari-Ama die
Ausstellung Rum, Schweiß & Tränen.
Flensburgs koloniales Erbe: https://

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