"Pack die Badehose ein " - Eine kleine Geschichte des Tübinger Freibads - tuebingen-info.de
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Soziales „Pack die Badehose ein …“ Eine kleine Geschichte des Tübinger Freibads Birgit Krämer Für viele Tübingerinnen und Tübinger gehört Foto: Jörg Jäger es zu den Lieblingsorten in der Stadt: das Frei- bad. Im Juni 1951 war es eröffnet worden. Auf eine Feier zu seinem 70. Geburtstag mussten die Stadtwerke im Sommer 2021 wegen der Pande- mie verzichten. Doch eines ist in diesem zwei- ten Sommer mit Corona umso klarer geworden: Das Freibad ist heute so wichtig wie damals. Ein Ort, der Freiheit und Geborgenheit zugleich bedeutet und der mit der Stadt gewachsen ist. Der folgende Text ist ein Spaziergang durch die Bäder-Geschichte Tübingens. 104 Tübinger Blätter 2022
Soziales P ack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nüscht wie raus – ins Freibad! Als im auch ein ordentliches Freibad bekamen. Doch seine Vorgeschichte beginnt noch früher: im 19. Jahrhundert. und Luft, vielerorts werden „Volksbäder“ eingeweiht, die zu Sport und Vergnügen ebenso wie zur Hygiene und Gesund- Juni 1951 die kleine Conny Froboess mit heitspflege dienen. Und auch in Tübingen diesem Schlager ganz groß herauskam, Wie alles begann: von Bretterbuden tut sich etwas. Oberhalb der Alleenbrü- war das Tübinger Freibad gerade frisch zur Flussbadeanstalt cke richtet die Stadt eine Flussbadeanstalt eröffnet. Endlich gab es auch hier einen Damals, als das Schwimmen in Mode ein: ein Holzbecken auf Pontons, ab 1908 Sommer-Sehnsuchtsort für alle – und kommt, bietet sich in Tübingen natür- sogar mit Frauen- und Kinderabteil. Im er war ebenso populär wie der Berliner lich der Neckar an. Was sogleich Anstoß Sommer zu Wasser gelassen, im Winter Wannsee. erregt. Offiziell erlaubt wird es nur weitab wieder abgebaut, besteht es bis zum Ers- So ein Freibad wird ja gern als „das demo- öffentlicher Wege und den Frauen gar ten Weltkrieg. kratischste aller Bauwerke“ beschrieben. nicht. Für sie könne ein „schicklicher Es ist der Ort, der uns von der Kindheit Badeplatz“ nicht ermittelt werden, so Uhlandbad und Neckarstrand bis ins Erwachsensein begleitet, wo dis- das Tübinger Amts- und Intelligenzblatt 1914 wird dann das Uhlandbad eröff- ziplinierte Sportler und Frühschwimmer, 1851. Im selben Jahr eröffnet die Uni- net – mit Schwimmhalle, Wannen- und jauchzende Kleinkinder und übermütige versität am Mühlbach die „Akademische Brausebädern und innovativer Warm- „Pubertiere“, wo Menschen verschie- Bad- und Schwimmanstalt“, genannt wasserleitung vom Gaswerk her. Doch denster Herkunft zusammenkommen. „Badschüssel“ – ebenfalls ein reines das Baden in freier Natur kann auch „Wir schwimmen alle im selben Wasser.“ Männervergnügen. Die Tübingerinnen diese „Vorzeige-Anstalt“ nicht toppen. Genau dieser soziale Gedanke bewegte müssen sich mit den Badehäuschen am Und so wird in den 1920er-Jahren der auch die Bauherren vor 70 Jahren. Als Neckar begnügen, kleinen Bretterbuden offene Fluss oberhalb der Alleenbrücke Ausdruck des sozialen Fortschritts, als im Wasser, in denen sie, von Kopf bis Fuß zum Neckarfreibad. Kaum jemand hält „Herzenssache der ganzen Bürgerschaft“ züchtig verhüllt, allenfalls planschen kön- sich an die strikt getrennten Badetage beschreibt Oberbürgermeister Dr. Wolf nen. Anfang des 20. Jahrhunderts fallen für Männer und Frauen; „unzüchtiges Mülberger das Freibad in der städtischen viele Badehäuschen der Neckarkorrektur Treiben“ veranlasst empörte Leserbriefe. Eröffnungsschrift. Und schildert, wie zum Opfer. Die Badschüssel wiederum Kleidungsstücke überall, Geschrei und schwierig es gewesen sei, in einer Zeit muss der Bahnlinie nach Herrenberg laute Grammophonmusik – die „ein- sozialer Not, die Mittel dafür zu bewil- weichen. gerissenen Badesitten“ beleidigen „den ligen. Fast ein halbes Jahrhundert hatte Doch um die Jahrhundertwende setzt ein bürgerlichen Ordnungs- und Anstands- es gedauert, bis die Tübingerinnen und neues Denken ein. Die Lebensreformbe- sinn“ und beschäftigen wiederholt den Tübinger nach ihrem ersten Hallenbad wegung propagiert Bewegung in Licht Gemeinderat. Badevergnügen im Neckar um 1925, vor dem Ausbau des Badeplatzes Foto: Stadtarchiv Tübingen, Postkartensammlung Hartmaier Tübinger Blätter 2022 105
Fotos: Hans Steinhorst/Foto Kleinfeldt Soziales Bauarbeiten am Tübinger Freibad 1950 bis 1951 106 Tübinger Blätter 2022
Soziales 1930 baut die Stadt den Badeplatz aus, lässt den Neckar ausbaggern, Umkleiden einrichten. 1933 fällt die Trennung nach Geschlechtern. Gleichzeitig schließt der Gemeinderat „Juden und Fremdrassige“ aus. 1945 enden die Kabinen des Neckar- freibads als Brennholz. Und bald ist klar: Der Neckar kann als Schwimmstätte auf Dauer nicht befriedigen – zu gering ist die Wassertiefe, zu trübe und schmutzig das Wasser. Ein echtes Freibad muss her! „Bedenkt man nur, o welch ein Graus, wie schmutzig sah das Wasser aus: Glas, Dreck und alte Dosen, auch faule Aprikosen, und Ratten sowie tot Getier, die bildeten des Wassers Zier!“ (Tübinger Freibadschlager 1951) Fotos: Hans Steinhorst/Foto Kleinfeldt Die Werbetrommel wird gerührt Schon erarbeitet das Tiefbauamt Pläne für ein Becken jenseits der Lindenallee –1937 war ein ähnliches Projekt noch gescheitert. Doch Geld ist auch nach der Währungs- reform nicht vorhanden. Und so fällt die Entscheidung nicht leicht. Ein Werbeaus- schuss sammelt derweil mit Tanzturnieren und Turnvorführungen, mit dem Verkauf von „Bausteinen“ und 3000 Litern Paten- Am 16. Juni 1951 weiht Oberbürgermeister Dr. Wolf Mülberger wein über 23 000 DM ein. Auch Vereine das Tübinger Freibad mit einem Sprung vom Dreimeterbrett ein. und Firmen spenden. Schließlich bewilligt der Gemeinderat rund 700 000 DM. So haben viele Anteil daran, „dass aus eige- zur 20-Grad-Marke. 50 Pfennig, ermäßigt 400 000 Gäste pro Jahr. Von Anfang an ner Kraft der Bürger ein bleibendes Werk 40 Pfennig kostet der Eintritt. Am Eröff- war klar, dass das Bad keinen Gewinn echten gemeinschaftlichen Wollens und nungstag nimmt auch ein Motorboot sei- abwerfen würde. Immer schon legen die Zusammenwirkens geschaffen wurde“ nen Pendeldienst auf, das Badegäste von Stadt und die Stadtwerke drauf, denen (Eröffnungsschrift). Im Oktober 1950 der Neckarbrücke aus hin- und wieder mit dem Bau des Freibads der Bäder- beginnen die Bauarbeiten. zurückbringt. betrieb offiziell übertragen wurde. Die Gleich der erste Sommer beschert eine Verluste klettern in die Höhe – und der „Kinder! So ein Freibad, Hitzewelle und in den ersten drei Wochen Eintritt wird teurer: 1 DM, ermäßigt 50 ja, das ist doch schön!“ 45 600 Gäste! Personal muss aufgestockt Pfennig zahlt man Ende der 1960er, als Am 16. Juni 1951 schauen 3000 Gäste werden. An manchen Tagen ist so viel es eine Kugel Eis noch für 10 Pfennig gab. zu, wie Oberbürgermeister Dr. Wolf los, dass der Stadtwerke-Direktor an der Komfort hält Einzug: Eine Erdgas-Hei- Mülberger das funkelnagelneue Tübin- Kasse mit aushilft. Neben Bademeister zung sorgt ab 1970 für angenehmere ger Freibad mit einem Kopfsprung vom Eberhard Koppen und dem Reiniger- Wassertemperaturen (heute tun das Dreimeterbrett einweiht. „Kinder! So ein meister Otto Kaipf sind zwei Kassiere- Solarthermie und ein modernes Block- Freibad, ja, das ist doch schön!“, erklingt rinnen beschäftigt, eine Dame für die heizkraftwerk). Hippies haben Hochsai- ein eigens komponierter Schlager. Nach Wäscheausgabe – man kann die nassen son. Die Badeordnung schreibt jetzt nicht dem Schwimmen der Honoratioren, Sachen gleich dort waschen lassen – und nur weiblichen Gästen Bademützen vor, nach dem Damen-Reigenschwimmen sechs für die Garderoben, wo man seine sondern auch langhaarigen Männern. und dem Kunstspringen folgt eine Bade- ordentlich über einen Bügel gehängten Das Jahr 1973 geht in die Freibad-Ge- modenschau. Dann steht es endlich allen Kleider abgibt. Erst 20 Jahre später wird schichte ein: 467 000 Gäste – der absolute offen, das lang ersehnte Freibad. Selbstbedienung eingeführt. Rekord bis heute. Spitzenreiter ist ein Tag, Das große Becken hat mit 50 mal 25 an dem sich mehr als 14 000 Menschen Metern Wettkampfmaße. Abgeteilt durch Hippies, Warmduscher und Visionen auf dem Gelände drängeln. Dieses wächst einen schmalen Steg schließt sich direkt Noch in den 1960er-Jahren gibt es im um Volleyball- und Basketballfelder. 1977 das Nichtschwimmerbecken an. Die Was- Umkreis kaum Konkurrenz für das öffnet der Kiosk. Die Stadtwerke gestal- sertemperaturen sind mit durchschnitt- Tübinger Freibad. Strandurlaub und ten Eingang und Sanitärbereich neu: Eine lich 17,5 Grad erfrischend: Nur an drei Flugreisen sind für die meisten uner- Kassenanlage und elektrische Drehkreuze Tagen im ersten Sommer klettern sie bis schwinglich, und so kommen bis zu beschleunigen den Eintritt. Tübinger Blätter 2022 107
Soziales Foto: swt-Archiv Der Tübinger Lieblingsort 1954. Das große Becken ist in Nichtschwimmer- und Schwimmerbereich geteilt. 1978 scheitert eine kühne Vision der Tübinger Stadtplaner, die sich für eine Landesgartenschau-Bewerbung ein Frei- zeitparadies im Oberen Neckartal erträu- men: Sportstätten und einen Bürgergarten, das Freibad als Freizeit- mitsamt Hallen- bad, ein Festivalgelände mit Amphitheater, den Gôgensee für Modellbootkapitäne – es hätte so schön sein können! Ein neuer Star und technische Probleme Immerhin hält 1985 eine neue Attraktion Einzug: die 85 Meter lange Großrutsche. Anfangs werden sogar Zehnerkarten dafür verkauft. In den 1980ern geht die Bademützenpflicht zu Ende. Auch bei den Bikini-Oberteilen ist Schwund festzustel- len, nahtlose Bräune ist in. Wie umge- hen mit der neuen Freizügigkeit? Die Schwimmmeister werden angewiesen, Foto: swt-Archiv Der neue Eingang in Braun-Orange – das sind sie, die Farben der 1970er. 108 Tübinger Blätter 2022
Soziales Foto: Manfred Grohe Das Freibad nach dem Umbau 1994/95 – jetzt mit 3100 Quadratmetern Wasserfläche. Tübinger Blätter 2022 109
Soziales Foto: Sascha Walther Mehr Platz für Sport, Spiel und Ruhezonen: Freibaderweiterung in den Jahren 2017/18 nur bei Beschwerden einzugreifen. Viel nischen Ansprüchen kann es nicht mehr Mehrmals neu erfunden Haut – aber Tattoos sind noch nirgends genügen. Der Stadtwerke-Aufsichtsrat 11 Millionen DM nehmen die Stadt- zu sehen, dafür Neonfarben, Vokuhilas beschließt die Sanierung. Mehr als das: werke in die Hand, sanieren das Freibad und Sixpacks. Und zweimal pro Woche Gleichzeitig soll das Freibad größer und 1994/95 von Grund auf und erweitern französische Soldaten, die auf LKW zum attraktiver werden. Eine Fragebogen- es nach Westen. Becken, Liegeflächen Schwimmtraining hergefahren werden. Aktion ergibt ein großes Wunschkonzert und die gesamte Technik entstehen Anfang der 1990er häufen sich im Frei- an Ideen. Bis zu fünf eng beschriebene neu – so, wie alle es heute kennen: das bad Mängel und Reparaturen. Den hygie- Seiten reichen manche ein. 50-Meter-Sportbecken, der Sprungbe- 110 Tübinger Blätter 2022
Soziales Diese Geschichte ungekürzt und viele mehr gibt es auch zum Hören im Audioblog der Stadtwerke unter blog.swtue.de oder überall, wo es Podcasts gibt. Quellen: u. a. Stadtwerke Tübingen (Hrsg.), Als die Tübinger das Bad entdeckten, 1997 reich, das Nichtschwimmerbecken mit seinen Rutschen, das Kinderplansch- becken und der Spielplatz. Eine FKK- Wiese gibt es, außerdem barrierefreie Zugänge überall. Edelstahl, moderne Wasseraufbereitung und Umwälzanla- Foto: Jörg Jäger gen schaffen beste hygienische Bedin- gungen. Neue Trends kommen und gehen. Die Badehosen werden knapper, dann wie- der länger und weiter. Aquafitness mit Freibadleiter David Letzgus-Maurer (rechts) mit Azubi Rudi Hilt im Technikgebäude. Schwimmnudeln wird erst belächelt, dann begeistert angenommen. Poolpartys lassen das Wasser schäumen. Der Rekord- sommer 2003 wird mit fast 405 000 Gäs- der Zukunft. 2020 zwingt die Coro- da einmal mehr gezeigt. Kleine Auszeit, ten zur erfolgreichsten Saison seit dem na-Pandemie zu einschneiden Maß- große Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe Umbau. nahmen: Einlassbeschränkung, Desin- – all das ist es und noch mehr. Vielerorts 2017 rücken die Bagger wieder an: Das fektionspausen und Einbahnverkehr im gehören Freibäder inzwischen zu den Gelände wächst um die Hälfte auf sie- Schwimmbecken. Trotzdem kommen gefährdeten Arten. In Tübingen zum ben Hektar – noch mehr Platz für Sport rund 160 000 Gäste, 2021 zählt man Glück nicht. Und alle freuen sich auf die und großzügige Ruhezonen. Und die sogar über 186 000. Wie undenkbar nächste, vielleicht ganz unbeschwerte Voraussetzung für die Bäderkonzepte Tübingen ohne sein Freibad ist, hat sich Saison. M Schwimmen bis in den Herbst: In den Corona-Sommern 2020 und 2021 blieb das Freibad bis Mitte Oktober geöffnet. Foto: Valentin Marquardt Tübinger Blätter 2022 111
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