Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi

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Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
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pax zeit                            3_2014

Völker – Ethnisierung der Politik
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
2 | pax_zeit | 3_2014 | Editorial

                                                                                                 Editorial
                                                                                                 Wir erinnern uns alle noch an das grausame Morden in Ru-
                                                                                                 anda vor zwanzig Jahren. Menschen wurden getötet, weil
                                                                                                 sie einer bestimmten Volksgruppe angehörten. Menschen
                                                                                                 töteten, weil sie einer bestimmten Volksgruppe angehörten.
                                                                                                 Auf dem Balkan hat zwanzig Jahre nach dem Krieg die Ab-
                                                                                                 grenzung zwischen Menschen entlang ethnisch definierter
                                                                                                 Identität weiterhin hohe Bedeutung. Und wieder bricht in
                                                                                                 Europa ein Konflikt aus, bei dem ethnisierende Identitätsbil-
             Weggefährte des Friedens
                                                                                                 dung zur Grundlage von Gewalttätigkeit wird: Er wolle die
             pax christi trauert um Pater Paulus Engelhardt OP
                                                                                                 russisch-stämmigen Einwohner schützen, war Putins Argu-
             1921 - 2014
                                                                                                 ment bei der Einverleibung der Krim. So unterschiedlich die
Foto: pax christi                                                                                Situationen, so gemeinsam die ethnisierende Konfliktbe-
                                                                                                 schreibung. Weltweit werden viele gewaltsame Konflikte
             Mit Trauer aber auch voll Dankbarkeit für die lange Zeit
                                                                                                 mit Volks- oder Stammeszugehörigkeiten begründet und
             seines segensreichen Wirkens hat pax christi die Nachricht
                                                                                                 immer wieder finden sich Menschen, die durch ideologi-
             vom Tode des früheren Geistlichen Beirats und langjähri-
                                                                                                 sche Aufladung ihrer Volkszugehörigkeit zu hassen bereit
             gen Mitglieds, Pater Paulus Engelhardt OP, aufgenommen.
                                                                                                 sind und gewalttätig werden. Diese Beobachtung ist der
             Paulus Engelhardt war Präsidiumsmitglied und Geistlicher
                                                                                                 Hintergrund für den Schwerpunkt dieses Heftes: Völkerkon-
             Beirat von pax christi in den Jahren 1971 bis 1987.
                                                                                                 flikte. Drei Einblicke in die Lage in Ruanda, Indien und Bosni-
                                                                                                 en-Herzegowina reflektieren die Konfliktursachen.
             Der Dominikaner Paulus Engelhardt kam Mitte der 1950er
             Jahre zu pax christi und hat seit dieser Zeit maßgeblich an
                                                                                                 Aktiv für den Frieden ist seit hundert Jahren der Versöh-
             der Entwicklung und Ausgestaltung der Bewegung mitge-
                                                                                                 nungsbund. Für die pax_zeit Anlass genug, stellvertre-
             wirkt. Sein Markenzeichen war mehr das Zuhören als das
                                                                                                 tend für alle Versöhnungsbundler/innen, den ehemaligen
             Reden. Umso überzeugender gelang seine Rede, weil sie
                                                                                                 IFOR-Präsidenten Hans Ulrich Gerber zu Wort kommen zu
             durch sein persönliches Zeugnis an Kraft gewann. Der Sohn
                                                                                                 lassen. Hundert Jahre zurück blickt der Präsident unserer
             einer jüdischen Mutter, der die Verfolgungen durch den
                                                                                                 deutschen pax christi-Sektion auf die Katholik/innen und
             Nationalsozialismus unmittelbar erlebte, fand die Kraft
                                                                                                 den Ersten Weltkrieg – eine kirchenpolitisch wegweisende
             zur Versöhnung mit einer Gesellschaft, der das Schicksal
                                                                                                 Erklärung, die ohne jeden Schnörkel bekennt, welche Schuld
             seiner Familie und eines ganzen Volkes weitestgehend
                                                                                                 die Kirche im Ersten Weltkrieg auf sich geladen hat.
             gleichgültig geblieben war. Er stellte sich in den Dienst der
             Versöhnung, indem er in pax christi die Brücken zu Frank-
                                                                                                 In die Zukunft der pax christi-Bewegung blickt der Kandidat
             reich, Polen und Israel/Palästina schlug. Noch weit vor dem
                                                                                                 für das Amt des Bundesvorsitzenden (früher Vizepräsident)
             Wort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“ setzte er
                                                                                                 Norbert Richter aus Essen und stellt die Blickrichtung der
             sich kritisch mit der Lehre vom gerechten Krieg auseinan-
                                                                                                 von der Delegiertenversammlung eingerichteten AG 2020
             der und trat engagiert für weltweite Abrüstung und alter-
                                                                                                 vor. Die Kommission Friedenspolitik stellt Überlegungen
             native Konfliktstrategien ein.
                                                                                                 zum Dialog mit der Militärseelsorge vor und dann folgen die
                                                                                                 beliebten Kurzmeldungen aus Bundesvorstand, Kommissio-
                                                                                                 nen und Diözesanverbänden.
             Impressum
             pax_zeit Zeitschrift der deutschen pax christi-Sektion. Herausgeberin pax christi
                                                                                                 Dieses Heft erscheint in einer grausam konfliktreichen Zeit –
             Deutsche Sektion, Hedwigskirchgasse 3, 10117 Berlin, sekretariat@paxchristi.de,
             www.paxchristi.de Redaktion Klaus Beurle, Christine Hoffmann (verantw.), Odilo      auch und gerade im Nahen und Mittleren Osten.
             Metzler, Josef Roberg, Markus Weber Titelfoto UN Photo/Sylvain Liechti Gesamt-
             herstellung Ute Begemann, Köln Druck und Versand Druckerei Hitzegrad GmbH
             & Co. KG, Wuppertal.                                                                Ich wünsche uns allen Kraft für den Weg des Friedens in Zei-
             Die Redaktion behält sich den Abdruck und die Kürzung von Leserbriefen vor.
                                                                                                 ten von Gewalt und Unrech. Und Gottes Schutz und Segen
             pax christi – Deutsche Sektion e.V., Hedwigskirchgasse 3, 10117 Berlin,
                                                                                                 besonders all denen, deren Alltag durch Gewalt geprägt ist.
             Tel. 030 2007678-0, sekretariat@paxchristi.de
                                                                                                 Christine Hoffmann
             Gedruckt auf Circleoffset Premium White (100% Recycling, FSC-zertifiziert)
             Redaktionsschluss für die Ausgabe 4_2014: 31.10.2014.
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
Inhalt | pax_zeit | 3_2014 | 3

                           Inhalt
                           Völker Konflikte                                            Meldungen

                           Seite 4                                                     Seite 18
                           Indien – jetzt ganz rechts?                                 Notizen aus dem Bundesvorstand
                           Klaus Beurle                                                Sabine Kaldorf

                           Seite 6                                                     Seite 18
                           Bosnien heute – zwischen 1914 und 2014                      Nachrichten aus den Kommissionen
                           Dževada Šuško                                               Odilo Metzler

                                                                                       Seite 19
                           Seite 8
                                                                                       Meldungen aus den Diözesanverbänden
                           Manipulierte Erinnerungsdiskurse?
                                                                                       Markus Weber
                           Heinz Werner Wessler

                                                                                       Seite 22
                           Aktiv für den Frieden
                                                                                       Aus Leser/innenbriefen

                           Seite 10
                                                                                       Glaube Perspektive
                           Gewalt und Krieg sind keine Lösung
                           Interview mit Hansuli Gerber
                                                                                       Seite 23
                                                                                       Feldpostbrief 2014
                           Bewegung
                                                                                       Veronika Hüning

                           Seite 12
                           Die Katholiken und der Erste Weltkrieg
                           Heinz Josef Algermissen

                           Seite 14
                           pax christi im Jahr 2020
                           in Kirche und Gesellschaft – ein Ausblick
                           Norbert Richter

                           Seite 16
                           „Respektvoll und streitig“
                           Kommission Friedenspolitik

                                                                    Völker Konflikte
                                                                    Vor 20 Jahren wurden in Ruanda innerhalb von 100 Tagen mindestens 800.000
                                                                    Menschen bestialisch ermordet, im Sommer 1994 flohen hunderttausende
                                                                    Hutu in den Osten von Zaire. Angesichts des Jahrestages des Beginns des Völ-
                                                                    kermords an den Tutsi am 6./7. April veröffentlichte die Kommission Solidari-
UN Photo/Sylvain Liechti

                                                                    tät mit Zentralafrika in Zusammenarbeit mit der pax christi-Gruppe „Twese
                                                                    Hamwe”, eine Erklärung unter dem Titel „Versöhnung und Wahrheit” (pax_
                                                                    zeit 2_2014). Wie die Erinnerungskultur aktuell in Ruanda aussieht, erfahren
                                                                    Sie in der Rubrik Völker Konflikte auf den Seiten 8 und 9.
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
4 | pax_zeit | 3_2014 | Völker Konflikte

                         Indien – jetzt ganz rechts?
                                           Zwischen Tradition und Moderne

                                                                                                    Der Unterschied zwi-
                                                                                                    schen arm und reich,
                                                                                                    zwischen Tradition
                                                                                                    und Moderne ist in
                                                                                                    Indien mehr als sicht-
                                                                                                    bar. Wird die neue
                                                                                                    politische Gangart zu
                                                                                                    einer Verbesserung
                                                                                                    der Lebensverhältnis-
                                                                                                    se für alle führen?

                                                                                                                                   Fotos: KNA
Klaus Beurle                                                     stehe bevor, durch den Indien seinen Charakter als säkularer
                                                                 Staat verlieren könne. Orthodoxe Hindus erheben der Hin-
Am 26. Mai wurde Nahendra Modi, der Vorsitzende der              dutva-Mythologie folgend den Anspruch, dass das moderne
Bharatiya Janata Party (BJP), als Premierminister Indiens        Indien nicht Erbe multi-religiöser und multi-kultureller Zivi-
vereidigt. Seine Partei hatte bei den Lok Sabha Wahlen, den      lisationen sei, sondern Erbe der hinduistischen Zivilisation.
Unterhauswahlen für das gesamtindische Parlament, ei-            „Im Programm der Hindutva wird ein von Hindus in geokul-
nen phänomenalen Sieg errungen. Der Hindu-Nationalist            tureller Einheit dominierter Subkontinent angestrebt und
Nahendra Modi wurde zum Regierungschef der weltweit              eine Neuschreibung der indischen Geschichte gefordert”.
größten Demokratie gewählt (1.2 Milliarden Einwohner).
Die traditionsreiche Kongresspartei, die von der Gandhi/         Es gibt widersprüchliche Ansichten zu dem Entwicklungspo-
Nehru-Dynastie – nicht mit Mahatma Gandhi zu verwech-            tenzial, das die hinduistische Zivilisation in sich birgt. Noch
seln – über Jahrzehnte beherrscht worden war, hatte ihr          vor zwei Jahrzehnten gab es starke Stimmen, die im tradi-
schlechtestes Ergebnis bei allen gesamtindischen Wahlen          tionsgebundenen Kastensystem, in der Stellung der Frau
der letzten 60 Jahre erreicht.                                   oder der unkontrollierbaren Korruption Hinderungsgründe
                                                                 für eine Modernisierung Indiens sahen. „Sie bezweifelten,
Die vorbildlich abgelaufenen Wahlen dauerten vom 7. April        dass die sozialen und wirtschaftlichen Antriebskräfte, wel-
bis zum 12. Mai, bei denen ca. 815 Millionen Wahlberechtigte     che die hinduistische Religion, Philosophie und Denkweise
in 930.000 Wahllokalen ihre Stimmen abgaben – Indien hat         freizusetzen in der Lage sind, für eine Entwicklung des Lan-
mehr Wahlberechtigte als die gesamte Europäische Union,          des zu einem relativen Wohlstand ausreichten“.
die Vereinigten Staaten und Russland zusammen. Die Wah-
len zogen sich über Wochen hin – aus Sicherheitsgründen,         Noch vor drei Jahrzehnten erschien das Lebensziel eines
weil die Polizei nicht in allen Bundesländern gleichzeitig für   großen Teils der damals nur 600 Millionen Hindus auf die
Sicherheit und Ordnung sorgen kann.                              Verbesserung des Karmas gerichtet zu sein, nicht aber auf
                                                                 gesellschaftliche Veränderungen durch Industrialisierung,
                Widersprüchliche Ansichten                       durch Informationstechnologien u.ä. Spätestens seit der
Der Sieg der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party      Durchsetzung der wirtschaftlichen Liberalisierungspolitik
(BJP) mit Nahendra Modi als Wahllokomotive hat indessen          vor zwei Dekaden hat sich jedoch das Ethos eines Großteils
Befürchtungen verstärkt, ein Wandel des Wertesystems             der inzwischen knapp eine Milliarde Hindus entscheidend
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
Völker Konflikte | pax_zeit | 3_2014 | 5

                                                          Viele Inder glauben           Landesfläche: 3.287.000 qkm
                                                          daran, dass sich              Hauptstadt: New Delhi mit circa 13,8
                                                          durch äußere Rituale          Millionen Einwohnern
                                                          eine entscheidende            Bevölkerung: circa 1,2 Milliarden
                                                          Verbesserung des              (Volkszählung 2011)
                                                          Seelenzustandes er-           Bevölkerungswachstum: circa 1,7%
                                                          reichen lasse. Sünden         pro Jahr
                                                          z.B. können durch ein         Landessprachen: Hindi und Englisch,
                                                          Bad im Ganges weg-            21 weitere anerkannte Sprachen
                                                          gewaschen werden.             Religionen: Hinduismus (circa
                                                                                        80,5%), Islam (circa 13,4%), Christen-
                                                                                        tum (circa 2,3%), Sikhismus (circa
                                                                                        1,9%) sowie Buddhismus, Jainismus,
                                                                                        Parsen und andere

geändert. Richtungsweisend ist heute die durch Medien          sichtlich die Energien des neuen Selbstbewusstseins der
propagierte globale Verwestlichung und Vermarktung der         Hindus zunächst bündeln und bändigen lassen. Exzesse ge-
Gesellschaft.                                                  gen religiöse Minderheiten könnten so verhindert werden.
                                                               Nicht der Religion, sondern seiner wirtschaftlichen Erfolge
            Religion der Hindus spielt große Rolle             in Gujarat wegen wurde Modi gewählt. Entscheidend wird
Die säkulare Kongresspartei regierte acht Jahre lang. Ihr      sein, ob sein Gujarat-Modell auf Gesamtindien übertragen
zuvor war die hinduistische BJP-Regierung unter Premier        werden kann. Nicht an der Hindutva-Ideologie wird sich das
Vajpayee an der Macht, gleichfalls acht Jahre. Die hinduis-    Schicksal der Modi-Regierung entscheiden, sondern an den
tische Vajpayee-Regierung wurde abgewählt, weil ihr eine       wirtschaftlichen Fortschritten. Die erste einschneidende
wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnis-      Veränderung, die die Regierung Modi herbeigeführt hat,
se, die sie vollmundig versprochen hatte, nicht gelungen       war die Erhöhung der Bahnpreise um 14 Prozent, was vor
war und weil sie nach kurzer Zeit nicht minder als die Kon-    allem die armen Bevölkerungsschichten getroffen hat. Wird
gress-Partei bis auf die Knochen korrupt war. Die Religion     Modi seine Wirtschaftspolitik auf dem Rücken der Armen
der Hindus spielte schon immer bei Wahlen eine Rolle: Sie      austragen? Es wird sich zeigen. Das indische Volk wird den
ist inzwischen immer wichtiger geworden und steht heute        Rechtsruck akzeptieren, sich aber seine traditionelle Tole-
weit an vorderster Spitze der Motivationskräfte.               ranz und religiös-kulturelle Vielfalt weder abkaufen noch
                                                               zugrunde richten lassen. Zählen wird allein, wie es um die
Die Parteien BJP, Shiv Sena-Partei und der Rashtriya           Portemonnaies der kleinen Leute am Ende der laufenden
Swayamsevak Sangh (RSS/Nationale Freiwilligenorganisati-       Legislaturperiode stehen wird.
on) führen den Kampf der Hindutva als Kampf um die Seele
Indiens. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich unter Führung
des Premiers Nahendra Modi alle Bestrebungen darauf rich-
ten werden, den wirtschaftlichen Aufschwung Indiens zu
beschleunigen.

       Wirtschaftspolitik auf dem Rücken der Armen
Erklärtes Ziel ist es, China als Wirtschaftsmacht zu über-     Klaus Beurle ist Mitglied der pax_zeit-Redaktion und lebte
treffen. Durch diesen Pragmatismus werden sich voraus-         und arbeitete 25 Jahre auf dem indischen Subkontinent.
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
6 | pax_zeit | 3_2014 | Völker Konflikte

  Bosnien heute – zwischen 1914 und 2014
                            Sehnen nach Fortschritt, Frieden und Sicherheit

                                                                                                                            Fotos: Christian Weiß
               Die Überlebenden des Völkermords kämpfen
                immer noch um Wahrheit und Gerechtigkeit.

Dževada Šuško                                                 cheldraht erschienen weltweit auf den Titelseiten. Der Ho-
                                                              locaust wiederholte sich auf europäischem Boden – und
                          Damals
                                                              alle sahen zu. Höhepunkt des Völkermordes waren die Er-
1992 haben 99,6 Prozent der Bevölkerung von Bosni-
                                                              eignisse in Srebrenica: Im Juli 1995 wurden von den hol-
en-Herzegowina in einem Volksentscheid für einen ei-
                                                              ländischen UN-Soldaten, die die Bevölkerung schützen
genständigen Staat gestimmt, der nicht mehr Bestandteil
                                                              sollten, etwa 8.000 Jungen und Männer dem serbischem
eines zunehmend zentralistischen, serbisch dominierten
                                                              Militär ausgeliefert – und massakriert. Daraufhin ergriffen
Jugoslawien sein sollte. Damit war das Konzept eines von
                                                              die USA die Initiative und leiteten energisch die Friedens-
Jugoslawien angestrebten „Staates aller Südslawen“, das
                                                              verhandlungen im Militärstützpunkt Dayton in Ohio.
1918 nach dem Ersten Weltkrieg anvisiert wurde, geschei-
tert. Auch Titos Motto „Einheit“ und Brüderlichkeit stellte
                                                              Der Dayton-Friedensvertrag wurde am 15. Dezember
sich als Fiktion heraus.
                                                              1995 vom bosnischen Staatspräsidenten Alija Izetbego-
Die Jugoslawische Volksarmee erwiderte die demokrati-         vić, dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević und
sche Entscheidung Bosniens mit einer Aggression. Der          dem kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman unterzeich-
international anerkannte, unabhängige Staat sollte inner-     net. Bosnien-Herzegowina wurde in zwei Entitäten aufge-
halb von wenigen Monaten von Muslimen (Bosniaken)             teilt: in die Republika Srpska und die Bosniakisch-Kroati-
sowie Katholiken (Kroaten) gesäubert werden. Später           sche Föderation.
schlossen sich kroatische Einheiten, angetrieben von Kro-
atiens Präsident Tuđman, der Strategie Serbiens an und        Damit wurden innerhalb Bosniens neue Grenzen ge-
kämpften gemeinsam gegen die Bosniaken. Kulturdenk-           zogen. In der Entität Republika Srpska waren die eth-
mäler, Moscheen, osmanische Bauten wurden systema-            nischen Säuberungen am erfolgreichsten. Heute leben
tisch zerbombt.                                               dort etwa 90 Prozent Serben; vor dem Krieg waren es
                                                              etwa 50 Prozent. Viele Bosniaken wurden vertrieben,
          Völkermord auf europäischem Boden                   hingerichtet. Auch wenn im Dayton-Vertrag die Rück-
Der amerikanische Journalist Roy Gutman entdeckte im          kehr der Vertriebenen in ihre Heimatregionen zugesi-
Sommer 1992 in Bosnien mehrere Konzentrationslager.           chert wurde, haben nur wenige den Mut dazu gehabt.
Seine Reportagen über Massendeportationen und Verge-          Kriegsverbrecher werden nach wie vor angehimmelt.
waltigungslager mit ausgehungerten Männern hinter Sta-        Dario Kordić erwartete nach seinem Gefängnisaufenthalt
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
Völker Konflikte | pax_zeit | 3_2014 | 7

ein jubelnder Empfang. Anti-muslimische Ressentiments       allem Deutschlands. Bis heute ist die Daytoner Verfas-
nahmen zu, wie z.B. in Livno, wo im Juni in einer Moschee   sung weder vom bosnischen Parlament noch von der
Inventar und Korane (Q´uran) geschändet und Drohungen       Bevölkerung ratifiziert worden: Bosnien wurde in drei
auf die Wände geschrieben wurden.                           konstitutive Völker von Bosniaken, Serben und Kroaten

  EU-Beitritt
  Bosnien-Herzegowina gilt ne-
  ben anderen westlichen Balkan-
  ländern seit dem Europäischen
  Rat von Thessaloniki im Juni
  2003 als potenzieller Kandidat
  für eine EU-Mitgliedschaft.
  Seitdem ist eine Reihe von
  Vereinbarungen zwischen der
  EU und Bosnien und Herzego-
  wina in Kraft getreten: Abkom-
  men über Visaerleichterung
  und Rückübernahme (2008),
  Interimsabkommen über Handel
  und Handelsfragen (2008).
  (Quelle: Europäische Kommission)

 Gute Herzen, Toleranz und Liebe zu Gott schaffen Wunder    aufgeteilt. Dies hat sich jedoch als dysfunktional erwie-
Andererseits gibt es hoffnungsvolle Signale, wie die Kon-   sen und eine Gesetzgebung verhindert, die allen Volks-
ferenz in Sarajevo „Herausforderung von Gewalt – Reli-      gruppen gleichermaßen nützlich ist. Die Blockademe-
gionen zwischen Krieg und Frieden“, auf der das Ober-       chanismen werden von korrupten Regierenden aber zu
haupt der katholischen Kirche in Bosnien, Kardinal Vinko    ihrem Vorteil ausgenutzt. Politiker in der Republika Srps-
Puljić, und das Oberhaupt der Islamischen Gemeinde,         ka, allen voran deren Präsident Milorad Dodik, drohen
Reisu-l-ulema Husein Kavazović, zu friedlichem Zusam-       mit Abspaltung und blockieren den längst fälligen EU-In-
menleben, gegenseitigem Respekt und interreligiösem         tegrationsprozess – eine Revision der Daytoner Verfas-
Dialog aufgerufen haben. Auch die Tatsache, dass der        sung ist dringend notwendig.
Muslim Hasan Ahmetlić die katholische Kirche in Tešanj
renoviert hat, zeigt, dass gute Herzen, Toleranz und die    Die Bürger/innen von Bosnien-Herzegowina sehnen sich
Liebe zu Gott Wunder schaffen.                              nach Fortschritt, Frieden und Sicherheit. Viele sind es
                                                            müde geworden, nach 22 Jahren immer noch um Wahr-
Dieser Tage wurde an das Attentat von 1914 erinnert.        heit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie sehnen sich nach
Vor genau 100 Jahren hat der Serbe Gavrilo Princip den      einem Rechts- und Sozialstaat. Daher bietet die Aufnah-
österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine      me in die EU den einzigen Ausweg aus der gegenwär-
Frau Sophie ermordet. Die Idee eines Großserbiens brei-     tigen Stagnation, um nach dem Jahrhundert der Kriege
tete sich aus. Doch Österreich-Ungarn stand der Ver-        ein Jahrhundert des Friedens einzuleiten.
wirklichung dieses Plans im Wege. Das Attentat sollte ein
Appell an die Monarchie sein, sich aus Bosnien zurück-
zuziehen. Stattdessen löste es den Ersten Weltkrieg aus.
Damit begann ein Jahrhundert, in dem Bosnien Schau-
platz von drei verheerenden Kriegen wurde.                  Dr. Dževada Šuško, Sarajevo, Studium der Geschichte,
                                                            Politik und Ethnologie in Heidelberg und Hamburg, Pro-
         Politische Korrekturen sind notwendig              motion über „Der Loyalitätsbegriff: Reaktion der Bosniaken
Um heute aber ein Jahrhundert des Friedens in die           auf Österreich-Ungarn (1878 -1918)”, seit 2013 Direktorin
Wege zu leiten, sind politische Korrekturen notwendig,      des Instituts für islamische Tradition der Bosniaken in
und zwar mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft, vor    Sarajevo.
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
8 | pax_zeit | 3_2014 | Völker Konflikte

          Manipulierte Erinnerungsdiskurse?
                    20 Jahre nach dem Genozid an den Tutsis in Ruanda 1994

                                                                 Auch 20 Jahre nach dem Völkermord
                                                                 in Ruanda werden immer wieder neue
                                                                 Massengräber gefunden.

                                                                                                                               Foto: KNA
Heinz Werner Wessler                                          „Versöhnung“ ist ein viel bemühter Begriff in Ruanda. 20
                                                              Jahre nach den Ereignissen hat sich eine gewisse Routine
In nationalen Erinnerungskulturen sind zwanzig Jahre kein     der Traumabewältigungsarbeit eingestellt. Kirchen und
langer Zeitraum. So viel oder: so wenig Zeit ist seit den     zahlreiche Nichtregierungsorganisationen haben dabei
schrecklichen 100 Tagen des Genozids an den Tutsi vergan-     einen gewissen Freiraum, doch der Staat behält sich das
gen. Das diesjährige Motto der Trauerwoche Anfang April       Recht vor, zu bestimmen, was im Rahmen der Erinnerungs-
lautete „Kwibuka 20: erinnern – vereinigen – erneuern“. Bei   kultur erlaubt ist und was nicht.
der Erinnerung geht es immer auch um die Gegenwart.
                                                              Wer etwa davon spricht, dass es nach wie vor unterschied-
Bis heute tauchen immer wieder neue Massengräber von          liche kollektive Narrative von Tutsis und Hutus gibt, han-
1994 auf, werden menschliche Gebeine in die laufend aus-      delt sich leicht den Vorwurf ein, er oder sie sei „divisionis-
gebauten zentralen Gedenkstätten überführt. Im Ortsteil       te“ (Spalter) oder gar „génocidaire“ (Völkermörder) und
Gasabo in Kigali, wo sich die sterblichen Überreste von       muss mit der erbarmungslosen Härte von Polizei- und
bereits mehr als einer Viertelmillion Menschen befinden       Justizapparat, ja sogar mit fingierten Autounfällen und
sollen, ist eine Art zentraler Ort des Gedenkens entstan-     Verschwindenlassen rechnen. Der Geheimdienst kennt
den, wo in den letzten Jahren zunehmend versucht wird,        keine Grenzen, was im vergangenen März angesichts des
einzelnen Ermordeten ihre individuelle Geschichte zurück-     wiederholten Attentatsversuchs auf den Dissidenten Kay-
zugeben.                                                      umba Nyamwasa in Johannesburg zu einer schweren Krise
                                                              im Verhältnis zwischen Südafrika und Ruanda führte. Das
                Das Narrativ der Erinnerung                   neue Ruanda verkauft sich als eine gesellschaftliche, poli-
Die Erinnerung an den Schrecken von 1994 setzt sich aber      tische und wirtschaftliche Erfolgsstory und möchte dabei
vor allem aus zahllosen Geschichten der überlebenden Op-      nicht gestört werden.
fer und Täter und ihrer Familien zusammen. Zu den beinahe
unbegreiflichen Rätseln Ruandas gehört, wie überlebende       Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versamm-
Opfer und Täter oft Haus an Haus leben. Die Berichterstat-    lungsfreiheit, der Kenianer Maina Kiai, legte dagegen im
tung über nahezu unglaubliche Versöhnungserfahrungen          Februar 2014 einen sehr kritischen Ruanda-Länderbericht
findet immer wieder neuen Stoff.                              vor. Bürgermeister, die oppositionelle Regungen in ihrem
                                                              Machtbereich nicht konsequent klein halten, werden – so
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
Völker Konflikte | pax_zeit | 3_2014 | 9

                                                                                                       Die Aufarbeitung des
                                                                                                       Völkermords ist noch
  „ Die Prävention                                                                                     lange nicht abgeschlossen.
    von Völkermorden
    bedarf der Entschie-
    denheit der Verein-
    ten Nationen.“
    Kordula Schulz-Asche, MdB

                                                                                           Foto: KNA
der Bericht – aus dem Amt gedrängt. Bildungsinstitutionen    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier mahnte
und die Medien sind politisch unter strenger Kontrolle. In   bei der Ruandadebatte im Bundestag am 4. April 2014, man
den berüchtigten Ingando-Camps wird jungen Leuten ein-       müsse „das uns Mögliche tun, um Völkermord zu verhin-
getrichtert, was sie politisch zu denken haben.              dern“. Vor einigen Monaten warnte Uno-Generalsekretär
                                                             Ban vor einer Wiederholung der ruandischen Tragödie in
Neben der individuellen Traumaarbeit steht die Frage der     der Zentralafrikanischen Republik. Der Befehlshaber der
juristischen Aufarbeitung. Die Gerichte, so wurde rasch      Blauhelm-Mission in Ruanda 1994, General Roméo Dallaire,
nach 1994 deutlich, waren angesichts der unübersehba-        vertritt bis heute die Meinung, der Genozid hätte sich mit
ren Menge der Verhafteten hoffnungslos überlastet. Die       einem robusten UN-Blauhelmeinsatz verhindern lassen.
Regierung richtete 2002 die sogenannte Gacaca-Gerich-
te ein, eine Form traditioneller Gerichtsbarkeit auf Gras-   Zwar sind Mali, Zentralafrika und Südsudan derzeit wie-
wurzelebene. Tatsächlich gab es in den folgenden Jahren      der aus den Schlagzeilen. Die Bundeswehr kann allerdings
eine ungeheure Fülle von Verfahren unter öffentlicher        nach den kürzlich neu aufgelegten afrikapolitischen Richt-
Beteiligung. Meistens ging es um Eigentumskonflikte          linien der Bundesregierung durchaus zum Einsatz kom-
und deren pragmatische Lösung. Vielleicht wurden hier        men. Doch selbst, wenn sie es wollte, kann weder die Bun-
und da auf diese Weise Voraussetzungen für Versöhnung        deswehr noch eine andere Armee unmöglich in jeder Krise
geschaffen.                                                  intervenieren. Es geht eben nichts über Präventionsarbeit
                                                             und friedliche Konflikttransformation. Dazu gehört als Ers-
                Wegsehen und Eingreifen                      tes vermehrte Achtsamkeit. Die Alarmzeichen in Ruanda
Rheinland-Pfalz begann 1982 offiziell eine Landespart-       1990-1994 wurden systematisch verdrängt und verleugnet.
nerschaft mit Ruanda und ist bis heute stolz auf deren
Kontinuität vor wie nach dem Genozid. Schon im Habya-
rimana-Regime der 1980er und frühen 1990er Jahre sahen
viele ausländische Beobachter, darunter auch der dama-
lige deutsche Botschafter Dieter Hölscher, schon eine Art
erfolgreiche Entwicklungsdiktatur. Die Aufarbeitung des
Völkermords, aber auch des Versagens der internationalen     Heinz Werner Wessler ist Mitglied der pax christi-Kommis-
Gemeinschaft, ist noch lange nicht abgeschlossen.            sion Solidarität mit Zentralafrika.
Pax_zeit 3_2014 - Völker - Ethnisierung der Politik - Pax Christi
10 | pax_zeit | 3_2014 | Aktiv für den Frieden

                        Gewalt und Krieg sind keine Lösung
                             Versöhnungsbund: Hundert Jahre ökumenische Friedensarbeit

                                                                                Hansuli Gerber, geb. 1954, Mennonit, Friedensarbeit
                                                                                beim Zentralkomitee der Mennoniten, 2002-2009 beim
                                                                                Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), 2010-2013 Präsi-
                                                                                dent des internationalen Versöhnungsbunds, Pastor in
Foto: Privat

                                                                                La Chaux-d´Abel/Jura.

               Hansuli Gerber im Gespräch mit der pax_zeit                      Zum Versöhnungsbund bin ich erst 1990 gestoßen, aber ich
                                                                                stamme aus einer Täuferfamilie und ich erinnere mich, dass
               pax_zeit: Hansuli, Du bist aktiv für den Frieden tätig. Du       meine Großmutter von Menschen sprach, die sich für Frie-
               warst Präsident von IFOR, der International Fellowship of Re-    den und Versöhnung einsetzten, wie z.B. Dag Hammarskjöld
               conciliation. IFOR ist die erste ökumenische Friedensinitiati-   oder Visser’t Hooft. Durch meine Begegnungen im friedens-
               ve, die 1914, gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstand,   kirchlichen Umfeld und durch mein Studium wurde ich auf-
               nachdem sich bereits sozialistische Pazifisten für gewalt-       merksam auf die Gewaltfreiheit als christliches Postulat,
               freie Lösungen sozialer und politischer Konflikte eingesetzt     auch wenn diese im theologischen Vokabular bis vor kurzem
               hatten. Worin siehst Du heute Deine Aufgabe bei IFOR, dem        praktisch nicht existierte. Bevor ich bei IFOR arbeitete, war ich
               Internationalen Versöhnungsbund? Sicher nicht allein im          auf kirchlicher Ebene für Frieden, Gewaltüberwindung und
               Jubilieren?                                                      Versöhnung tätig. Diese Arbeit, friedenskirchlich, ökumenisch
                                                                                und interreligiös, hat mich tief berührt – es ist ein ständi-
               Hansuli Gerber: Feiern ist wichtig und die Bewegung für          ger Prozess der Veränderung und der Vertiefung. Ich glaube
               Gewaltfreiheit und gegen Krieg hat umso mehr Grund zum           heute, dass Gewaltfreiheit der Grund und Boden spiritueller
               Feiern, da sie heute neues Interesse findet, weltweit. Die ge-   Lebenspraxis ist, egal welcher Religion sie zugehört. Liebe, Re-
               waltfreie Bewegung war nach zwei Weltkriegen praktisch           spekt, Achtung vor der Würde des Lebens sind grundlegend.
               unsichtbar und unbekannt. Dass es vor 100 Jahren eine            Alles andere führt zum Krieg oder rechtfertigt ihn.
               starke und profilierte Bewegung gegen Krieg und für Ver-
               ständigung und Versöhnung gab, ist heute den wenigsten           Bei pax christi wird immer wieder mal die Frage nach der
               Menschen bekannt. Deshalb geht es heute darum, ins Be-           Vorrangigkeit des Spirituellen bzw. des Politischen aufge-
               wusstsein zu rufen, dass es gewaltfreie Bewegungen immer         worfen. Ist Deiner Meinung nach IFOR heute mehr spirituell
               gegeben hat und auch immer geben wird.                           oder mehr politisch? Oder keines von beidem oder gar bei-
                                                                                des zugleich?
               Wie bist Du auf den Versöhnungsbund, den International
               Fellowship of Reconciliation gestoßen? Hat die Bewegung          Wenn ich an die rund 80 Mitgliedsgruppen oder Mitgliedsor-
               Dein Leben beeinflusst?                                          ganisationen von IFOR in fast 50 Ländern denke – IFOR hat
Aktiv für den Frieden | pax_zeit | 3_2014 | 11

                               IFOR
                               Der Versöhnungsbund wurde auf einer internationalen Konferenz 1914 in Konstanz gegründet
                               und feiert in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen. Christ/innen aus verschiedenen Län-
                               dern versuchten, den drohenden Krieg abzuwenden. Der Kriegsausbruch führte zum Abbruch
                               der damaligen Konferenz. Die Teilnehmer/innen jedoch gründeten anschließend den Versöh-
                               nungsbund als pazifistischen Verband in England und den USA, nach dem Krieg ebenfalls in
                               Deutschland. Im 2. Weltkrieg wurden viele Mitglieder des deutschen Versöhnungsbundes inhaf-
                               tiert, weil sie den Dienst mit der Waffe verweigerten.

keine Einzelmitglieder – dann habe ich den Eindruck, dass sie      relativ spät. Auch Gewalt selber wird soziologisch und anth-
sowohl spirituell als auch politisch sind. Dies mag auf ver-       ropologisch erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts unter-
schiedene Weise verwirklicht werden. Bei einigen steht die         sucht und besprochen. Pazifismus hat den Ruf, unrealistisch,
politische Aktion im Vordergrund, oft im Zusammenhang mit          verträumt oder gar gefährlich zu sein. Wo immer sich ein
den Menschenrechten. Einige sind ausdrücklich christlich ge-       Pazifist auf diesem Spektrum situiert – es geht darum, dass
prägt, andere nicht. Ich denke, dass beides, die spirituelle und   Gewalt und Krieg nicht die Lösung sind, sondern das Problem.
die politische Dimension besser artikuliert und ausgestaltet       Der Begriff der Gewaltfreiheit ist präziser und auf das eige-
werden müssten und in ihrer Zuordnung zueinander stärker           ne und öffentliche Leben bezogen: Sie zielt darauf ab, keine
in unser Bewusstsein gebracht werden sollten. Ich wehre            Gewalt anzuwenden und der Gewalt, wie immer möglich, zu
mich dagegen, die spirituelle und die politische Dimension         widerstehen und sie in Gewaltfreiheit umzuwandeln. Das
gegeneinander auszuspielen. Das Eine kann ohne das Andere          braucht Sachverstand, Bescheidenheit und enorm viel Mut. Es
nicht nachhaltig für den Frieden wirksam sein.                     gibt keine Garantie auf Erfolg – Gewaltfreiheit ist risikoreich.
                                                                   Historisch gesehen wurden Pazifisten und ihre Bewegungen
Pioniere der aktiven Gewaltfreiheit wie Jean Goss und Hil-         von obrigkeitlicher und kirchlicher Seite gnadenlos verfolgt –
degard Goss-Mayr oder bedeutende Mitglieder von IFOR               weshalb? Weil sie die Welt verändern können, aber nicht im
wie Jane Adams, Chief Albert Luthuli, Martin Luther King,          Sinne derer, die mit Gewalt herrschen.
Mairead Corrigan Maguire und Adolfo Maria Perez Esquivel
– einige Friedensnobelpreisträger unter ihnen – haben IFOR         Die Fragen stellte Klaus Beurle, Mitglied der pax_zeit-Redak-
geprägt und mitgetragen. Mein persönliches Leben wurde             tion.
stark durch Jean und Hildegard Goss-Mayr geprägt. Wird die
von den IFOR-Friedensnobelpreisträgern vertretene und ge-
lebte Gewaltfreiheit nicht oft mit Pazifismus verwechselt?

Es kümmert mich wenig, wie man Gewaltfreiheit definiert:
Um die Jahrhundertwende sprach man von Antimilitarismus
und von Pazifismus. Der Begriff der Gewaltfreiheit entstand
12 | pax_zeit | 3_2014 | Bewegung

            Die Katholiken
            und der Erste Weltkrieg

                                    Erklärung des pax christi-Präsidenten Bischof Heinz Josef Algermis-
                                    sen, Fulda, zum Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

                                    In wenigen Tagen, am 28. Juni, jährt sich zum 100. Mal das Attentat auf
                                    den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sara-
                                    jevo, das dann Anlass, nicht der Grund des Ersten Weltkriegs wurde. Die-
                                    ser Krieg war für das Deutsche Reich kein Verteidigungskrieg, sondern
                                    der Versuch, mit den damaligen Weltmächten militärisch und politisch
                                    auf gleicher Ebene zu stehen und eine geopolitische Rolle einzunehmen.

                                    Er wurde mit rücksichtslosem Einsatz von Menschen und Material und
                                    mit den ersten Massenvernichtungswaffen geführt. Seine verheerenden
                                    Folgen waren 17 Millionen Tote, ungezählte verkrüppelte und traumati-
                                    sierte Menschen, zerstörte Landschaften und Gesellschaften. Die politi-
                                    schen Ergebnisse der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (vgl. George
                                    Kennan) brachten keinen dauerhaften Frieden, bildeten ganz im Gegen-
                                    teil auch die Voraussetzungen für den Zweiten Weltkrieg.

                                    Im August 1914 zogen die deutschen Truppen unter dem Jubel der Bevöl-
                                    kerung und dem Läuten der Glocken zum Kampf aus. Dieser Weg in den
                                    Krieg wurde in Deutschland von kirchlicher Seite unterstützt, mitunter
                                    von offener Begeisterung begleitet. Obwohl die katholische Kirche we-
                                    gen ihres universalen Charakters stets Distanz zum Nationalismus des
                                    19. Jahrhunderts gehalten hatte, traten besonders am Anfang des Welt-
                                    krieges Bischöfe, Priester und Gläubige in großer Zahl an die Seite derer,
                                    die den Krieg als moralische und geistige Erneuerung begrüßten. Wir
                                    wissen heute, dass die Kirche damit Schuld auf sich geladen hat.

                                    Zudem versuchte die Moraltheologie, die Vorstellung von soldatischem
                                    Gehorsam, Opferbereitschaft und Pflichterfüllung bis in den Tod klar zu
                                    umreißen und in den Menschen fest zu verankern. Diese Auffassungen
                                    wurden auch durch die grausamen Erfahrungen des Krieges später zu-
                                    nächst nicht in Frage gestellt. Im Unterschied zum nationalen Denken
                                    und Empfinden war Papst Benedikt XV. ein unermüdlicher Mahner ge-
                                    gen den Krieg. Er verzichtete auf Schuldzuweisungen, nannte den Krieg
Bewegung | pax_zeit | 3_2014 | 13

                                                                                       Sarajewo 2014: Blick über den Fluss
                                                                                       Miljacka auf das kleine Stadt-Museum.
                                                                                       An der Ecke des Museums war der Ort
                                                                                       des Attentats auf den österreichisch-
                                                                                       ungarischen Thronfolger Franz Ferdi-
                                                                                       nand und Erzherzogin Sophie am
                                                                                       28. Juni 1914.
Foto: röm

            eine „grauenhaft nutzlose Schlächterei“. Schon in seiner Antrittsenzyk-
            lika im November 1914 rief er die Regierenden zu einem Verhandlungs-          Bitte Termin vormerken
            frieden auf. Die päpstlichen Bemühungen blieben jedoch erfolglos, auch
            sein letzter Appell vom 1. August 1917, in dem der Papst alle Krieg füh-      Gerechten Frieden weiterdenken
            renden Mächte zu Friedensverhandlungen aufrief und sich als neutraler
            Vermittler anbot.                                                             Vom Ethos der Gewaltkontrolle
                                                                                          zur Praxis der Gewaltfreiheit
            Wir müssen aus heutiger Sicht erkennen, dass erst die Erfahrungen des
            Ersten Weltkriegs und damit zusammenhängend auch des Zweiten ein              26. - 28. Juni 2015 im Bildungshaus
            stärkeres Engagement der Kirche für den Frieden und eine Abkehr von           St. Bernhard in Rastatt
            der Rechtfertigung von Kriegen begründete. Im Wort „Gerechter Friede“
            aus dem Jahr 2000 schrieben wir katholischen deutschen Bischöfe: „Die         Ausgehend von der Enzyklika Pa-
            schrecklichen Erfahrungen der beiden Weltkriege haben in unserer Ge-          cem in Terris von Papst Johannes
            sellschaft ein geschärftes sittliches, besonders auch friedensethisches       XXIII von 1963, die die „Perspektive
            Bewusstsein wachsen lassen, das wir als wertvolles Erbe auf Dauer be-         eines ,gerechten‘ Krieges“ aufge-
            wahren wollen.“ Im Hinblick auf diese Einsicht ist heute zu erkennen          geben hat, will dieser Kongress die
            und zu bekennen, dass sich damals Bischöfe in ihrer Verkündigung und          aktuellen friedenspolitischen He-
            theologischen Billigung des Krieges geirrt und verirrt haben.                 rausforderungen wie Kampfdroh-
                                                                                          nen, Bundeswehrauslandseinsätze,
            Für pax christi als internationaler katholischer Friedensbewegung sind        Schutzverpflichtung sowie Religi-
            diese Erfahrungen eine bleibende Herausforderung, sich kriegerischer          on und Gewalt friedensethisch re-
            Politik zu widersetzen und immer wieder Schritte der Versöhnung zu            flektieren und die Praxis aktiver
            versuchen. In der Rückschau auf den Ersten Weltkrieg gibt es eine we-         Gewaltfreiheit fördern.
            sentliche Lehre: Wir wollen nie wieder „wie Schlafwandler“ (vgl. Chris-
            topher Clark) in eine solche Katastrophe hineinrutschen.

            Um das mit aller Macht zu vermeiden, bedarf es Menschen, die sich
            keinerlei Gleichgültigkeit und Feigheit erlauben, vielmehr im Sinne
            des Evangeliums Lüge und Obrigkeitsdenken demaskieren und selbst
            Schritte des Friedens tun.

            Berlin/Fulda, 23. Juni 2014
            Heinz Josef Algermissen
            Präsident von pax christi Deutschland
            Bischof von Fulda
14 | pax_zeit | 3_2014 | Bewegung

           pax christi im Jahr 2020
  in Kirche und Gesellschaft – ein Ausblick
                                    Gedanken zur Zukunft von pax christi

                                                                              Generation     Organisation    Kooperation

                                                                                     pax christi
                                      Religion

                      Politik

                                                                                                 2020

                        Friedensarbeit

Norbert Richter                                               Dazu bedarf es eines eindeutigen Profils, welches durch
                                                              seine Inhalte überzeugt. Wir müssen die Menschen von
pax christi will Zukunft. Dafür haben wir in den letzten      unserer Grundhaltung und unserer Notwendigkeit in Kir-
Jahren einiges getan: In Berlin Fuß gefasst, Kampagnenfä-     che und Gesellschaft überzeugen. Wir wollen zu einer zivil-
higkeit bewiesen, die Strukturen von pax christi durch die    gesellschaftlichen Stimme werden, die stärker gehört und
neue Satzung zukunftsfest gemacht, ein gemeinsames Er-        wahrgenommen wird.
scheinungsbild gefunden und unsere Zeitschrift erneuert.
Wollen wir 2020 noch eine dynamische Bewegung sein,           Zukünftige Politik wird uns stärker denn je herausfordern.
warten aber weitere Herausforderungen auf uns.                Wir erleben den deutschen Bundespräsidenten, der mehr
                                                              Verantwortung für die Welt, auch mit militärischen Mit-
                                                              teln, fordert. Gestützt wird diese Position durch die Stu-
    Eindeutiges Profil für pax christi                        die: „Neue Macht – Neue Verantwortung“. Sie fordert „…
                                                              eine Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit
Jetzt ist es für pax christi wichtig, uns damit zu beschäf-   grundlegenden Werten zu verbinden. Wenn die Vereinig-
tigen, inwieweit wir uns auf veränderte gesellschaftliche     ten Staaten nicht ständig mehr leisten können, müssen
Rahmenbedingungen sowie dem Wunsch vieler Enga-               Deutschland und seine europäischen Partner für ihre Si-
gierter nach ihrem Lebensrhythmus angepassten Mitwir-         cherheit zunehmend selbst verantwortlich sein“, militäri-
kungsformen einstellen können. Ziel ist es, Menschen für      sche Optionen werden zum Mittel der Politik, zivile Kon-
pax christi zu begeistern und zum Mittun zu motivieren.       fliktlösungen spielen eine untergeordnete Rolle.
Bewegung | pax_zeit | 3_2014 | 15

 Gewaltfreie Konfliktlösungen in den                          Zukünftige Inhalte
                                                              • Welche Themen und Inhalte binden Menschen an pax christi?
   politischen Diskurs einbringen                             •Wie können wir unser Profil schärfen?
                                                              •Sprechen wir die richtige Sprache?
pax christi soll als Stimme wahrgenommen werden, von
                                                              •Wie stellen wir unsere Alleinstellungsmerkmale besser dar?
der Anstöße zu einer nicht-militärischen Zukunft und zu
                                                              • Wie können wir unsere Inhalte besser vermitteln? Welche
gewaltfreien Konfliktlösungen in den politischen Diskurs
                                                                Marketingstrategien sind notwendig?
eingebracht werden. Die Hoffnung und Zuversicht, dass
unser Zusammenleben gewaltfrei zu gestalten ist, ist der
                                                              Zukünftige Organisations- und Arbeitsformen
Kern unseres Engagements in pax christi und muss in Ge-
                                                              •Welche Möglichkeiten gibt es, das Potential von Einzelmit-
sellschaft und Kirche deutlich sichtbarer werden. Dieses
                                                               gliedern besser zur Geltung kommen zu lassen?
in einem Leitgedanken, einem Slogan zusammengefasst,
                                                              •Welche Arbeitsformen und Engagementformen sind für
könnte unsere Grundhaltung in der Öffentlichkeit besser
                                                               nachfolgende Generationen attraktiv?
positionieren.
                                                              •Wie können kreative Formen von Mitgliedschaft aussehen?
                                                              •Inwieweit ist eine Organisation mit Diözesanverbänden,
Auch benötigen wir eine Weiterentwicklung unserer
                                                               Kommissionen und Gruppen zukunftssicher?
Strukturen. pax christi ist da stark, wo sich Kompetenzen
                                                              •Welche Kooperationsoptionen mit anderen innerkirchlichen
gebildet haben, u.a. in den Kommissionen. Durch ihre Öf-
                                                               und Partnern der Friedensbewegung möchten wir fördern?
fentlichkeitsarbeit wirken sie in Kirche und Gesellschaft
                                                              •Welche Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnamen
hinein und sind unerlässlich für unsere Profilbildung. Ziel
                                                               für Haupt- und Ehrenamtliche sind notwendig, um den
der Kommissionsarbeit ist es, verstärkt Dienstleister für
                                                               Zukunftsprozess zu begleiten?
Diözesanverbände, Gruppen und Einzelpersonen zu sein.
Durch ihre Grundlagenarbeit und die Entwicklung von
                                                               Zukünftige Finanzierung
Handlungsoptionen unterstützen sie die Präsenz von pax
                                                              • Wie sehen zukünftige Spendenwerbekonzepte aus?
christi auf regionaler und lokaler Ebene.
                                                              • Gibt es weitere innerkirchliche und staatliche Unterstüt-
                                                                zungs- und Finanzierungsmöglichkeiten?
Wichtig ist es, all diese Überlegungen in ein finanzielles
Zukunftskonzept einzubinden, welches die inhaltlichen         Dieser Prozess ist für unsere Bewegung überlebenswich-
und strukturellen Herausforderungen unterstützt. Die          tig. Deshalb ist es umso wichtiger, die Bewegung in ihren
Einnahmenseite durch Mitgliederbeiträge, Spenden und          unterschiedlichsten Organisationsebenen mitzunehmen.
kirchliche Unterstützung stagniert, bzw. sinkt kontinuier-
lich. Die Finanzierung der Bewegung muss auch für die         Wir brauchen viele Ideen und wünschen uns, dass sich
Zukunft neu gesichert werden, ansonsten droht eine wei-       möglichst viele unserer Mitglieder an diesen Denkprozes-
tere Einschränkung des Handlungsrahmens.                      sen beteiligen, um die Zukunft von pax christi für uns und
                                                              andere interessant und engagiert zu gestalten.
Um die notwendigen Zukunftskonzepte zu beraten, ist die
                                                              Dazu lade ich jetzt schon herzlich ein.
AG 2020 einberufen worden, in der der Bundesvorstand
mit Vertreter/innen aus den Diözesanverbänden und             Norbert Richter ist Mitglied im geschäftsführenden Bun-
Kommissionen folgende Fragen diskutiert und berät:            desvorstand und Moderator der AG 2020.
16 | pax_zeit | 3_2014 | Bewegung

                                                            „Respektvoll und streitig“
                                                                       Zum Dialog mit der Militärseelsorge
© Luftbildfotograf - Fotolia.com

                                                                             © zyphyrus - Fotolia.com

                                   Kommission Friedenspolitik                                           deswehr auf die Durchsetzung außenpolitischer Interessen
                                                                                                        oder gar zur Ressourcensicherung zu erweitern, drohe ein
                                   Die fortschreitende Enttabuisierung des Militärischen und            Missbrauch von Soldat/innen entgegen dem Friedensauf-
                                   Veränderungen in der Kriegsführung, wie die durch den                trag des Grundgesetzes. Das Bischofsdokument „Gerechter
                                   Einsatz von Drohnen und Robotern, erfordern nach Ein-                Friede“ von 2000 ziele auf eine strukturelle Überwindung
                                   schätzung der Kommission Friedenspolitik eine friedens-              des Krieges. Demgegenüber würden unter dem Konzept
                                   ethische Neuorientierung, von der Gewaltkontrolle hin zur            der Schutzverantwortung der UNO von 2001 bzw. von 2005
                                   Gewaltüberwindung durch aktive Gewaltfreiheit. Aktive Ge-            nach wie vor Kriterien eines Gerechten Krieges propagiert.
                                   waltfreiheit steht hier für die Art der Bearbeitung aktueller        Kirchlichen Akteuren müsse es daher um einen Paradigmen-
                                   Konflikte, als auch für die angestrebte Überwindung struk-           wechsel gehen, weg von militärischen Lösungen hin zu einer
                                   tureller Gewaltverhältnisse. Eine solche Neuorientierung             Ethik in Richtung des messianischen Friedens. Ein Frieden,
                                   würde auch die Grundlagen der Militärseelsorge tangieren.            der im vorbehaltlosen Vertrauen auf Gott und untereinan-
                                   In der Überzeugung, dass sie nur in einem offenen dialogi-           der keine Gewalt mehr braucht und jede gewaltbewehrte
                                   schen Prozess betrieben werden kann, organisierte die Kom-           Friedensordnung durch ein Mehr an Gerechtigkeit und Ver-
                                   mission mit dem Bundesvorstand erstmals einen Runden                 söhnung übersteigt. (vgl. Gerechter Friede, 2000, Ziff. 55f)
                                   Tisch, in dem es u.a. um Selbstverständnis, Praxis und Erfah-
                                   rungswelt katholischer Militärseelsorger ging. Zu dem Ge-            Einsätze, denen die Militärseelsorge nicht zustimmen kann?
                                   spräch am 9.11.2013 in Köln trafen sich 20 Teilnehmer/innen          Die Militärseelsorge machte deutlich, dass sie nicht zu frie-
                                   von pax christi und der Militärseelsorge.                            denspolitischen Themen Stellung nimmt, sondern ihre Auf-
                                                                                                        gabe in der pastoralen Begleitung der Soldaten sieht. Es
                                   pax christi problematisierte den Umbau der Bundeswehr zur            gehe darum, Verantwortungsbewusstsein zu schärfen und
                                   Interventionsarmee und die fehlende Klärung ihres Sinns              Einsatzerfahrungen zu verarbeiten. Um mit den Betroffe-
                                   und Zwecks nach Wegfall der Bedrohung durch Nachbarlän-              nen soziale Netzwerke zu bilden, sei eine institutionalisier-
                                   der. Indem versucht werde, die Akzeptanz des Militärischen           te Militärseelsorge nötig. Ohne Vertrag zwischen Staat und
                                   in der Gesellschaft zu erhöhen und den Auftrag der Bun-              Kirche könne man nicht in einem staatlichen Hoheitsbe-
Bewegung | pax_zeit | 3_2014 | 17

                                                                                            Gemeinsam mit anderen Friedensorganisationen
                                                                                            demonstriert pax christi gegen den Soldatengottesdienst
                                                                                            im Kölner Dom.

                                                                                            (Neu-)Ausrichtung der Bundeswehr seit der Epochenwende
                                                                                            von 1989/90.

                                                                                            Dieses im Grunde funktionalistische Selbstverständnis wur-
                                                                                            de unter zwei Gesichtspunkten besonders deutlich. Zum
                                                                                            einen wurde eindrucksvoll geschildert, wie die konkrete
                                                                                            seelsorgerliche (und psycho-soziale) Begleitung der Soldat/
                                                                                            innen im Vordergrund der Arbeit steht, nicht normative Fra-
Foto: Arbeiterfotografie

                                                                                            gen oder Ansprüche. Zum anderen ist strittig, ob sie im Ein-
                                                                                            satzfall von einer eigenen politisch-moralischen Einschät-
                                                                                            zung der Situation abhängig gemacht werden soll.

                                                                                            Vordergründig ist man sich mit pax christi einig über die
                                                                                            Letztinstanz des persönlichen Gewissens der Bundeswehr-
                           reich arbeiten. Im lebenskundlichen Unterricht würden auch       angehörigen. Ob und wie man sie aber gegenüber dem Er-
                           ethisch problematische Bereiche wie Drohnenkriege oder die       wartungsdruck des militärischen Umfelds und Ansätzen, sie
                           Schwierigkeit von Friedenslösungen angesprochen.                 zu unterlaufen (z.B. des Verteidigungsministeriums im Fall
                                                                                            Florian Pfaff), zu stärken versucht, blieb unthematisiert.
                           Das Konzept der Schutzverantwortung wird auch von der Mi-
                           litärseelsorge als problematisch bewertet. Es bleibe stets be-   „Streitig“ weiter arbeiten
                           gründungspflichtig, wenn Gewalt angewendet werde. Nicht          Die Frage von pax christi, welche Moral der Soldat/innen
                           geklärt sei, ob Soldat/innen zu allen Einsätzen begleitet wer-   man durch die eigene Arbeit befördern wolle oder zu beför-
                           den oder ob es auch Einsätze gebe, bei denen die Kirche nicht    dern glaube, wurde nachdenklich differenzierend (Moral im
                           zustimmen könne. Man orientiere sich an den Entscheidun-         Sinne militärpolitischer und militärischer Ziele vs. im Sinne
                           gen des Parlaments über Militäreinsätze.                         der Ethik) zur Kenntnis genommen, blieb aber ebenfalls un-
                                                                                            beantwortet.
                           Am Ende des Gesprächs gab es Dissense und gemeinsame
                           Nachdenklichkeit und Interesse der Militärseelsorge an den       Die Kommission hält es für wichtig, sich mit den Militärseel-
                           pax christi-Überlegungen zu einer Neuorientierung der Frie-      sorger/innen über die genannten offenen Fragen „respekt-
                           densethik. Es war ein Gespräch in einer offenen Atmosphäre       voll und streitig“ wie es in „Gerechter Friede“ heißt, ausei-
                           auf hohem inhaltlichen Niveau.                                   nanderzusetzen und sieht sie als wichtige Adressat/innen
                                                                                            des Projekts einer friedensethischen Neuorientierung.
                           Begleitung statt öffentliche Stellungnahmen
                           Die ethische Grundproblematik von Gewaltkontrolle mit
                           (militärischer) Gewalt wird von der Militärseelsorge gese-
                           hen und anerkannt, zugleich aber sieht sie sich selbst nicht
                           zuständig für eine vertiefte, gar öffentliche Auseinanderset-
                           zung. Ähnliches gilt für Fragen der Grundgesetz- und Völ-        Mitglieder der Kommission Friedenspolitik: Christof Grosse,
                           kerrechts-Konformität einzelner Einsätze, wie der gesamten       Albert Fuchs, Odilo Metzler und Norbert Fabian.
18 | pax_zeit | 3_2014 | Meldungen

Notizen aus dem Bundesvorstand                                    Alle waren sich anschließend einig, dass diese Art des Treffens
                                                                  sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Auseinandersetzung als
Sabine Kaldorf
                                                                  auch bezüglich der Gesprächsatmosphäre sehr viel besser
                                                                  eingeschätzt wurde als in den vorangegangenen Jahren.

                                                                  Nachrichten aus den Kommissionen
                                                                  Odilo Metzler
                          Juni 2014

Im Juni traf sich der Bundesvorstand ein ganzes Wochen-
ende, erst zur normalen Vorstandssitzung und dann zur Er-
weiterten Vorstandssitzung mit den Kommissionen. In der
normalen Sitzung befasste sich der Bundesvorstand insbe-                 HeidelbergCement soll Völkerrecht einhalten
sondere mit der Erklärung des bischöflichen Präsidenten zu
100 Jahren 1. Weltkrieg, der Auswertung des Katholikentags,       Kritische Aktionäre und Nahostkommission forderten Hei-
und der Vorbereitung der Delegiertenversammlung. Aus-             delbergCement bei der Hauptversammlung am 7.5. auf, sich
führlich diskutiert wurde das Thema „Ziviler Ungehorsam“,         von der Tochterfirma Hanson Israel zu trennen und eine Ent-
wobei die Frage im Mittelpunkt stand, unter welchen Um-           schädigung an die Enteigneten bzw. Geschädigten zu zah-
ständen pax christi zu Aktionen zivilen Ungehorsams auf-          len. Über Hanson Israel hält die Firma zwei Betonwerke, ein
rufen kann oder soll. Als Ergebnis dieser Beratung wird ein       Asphaltwerk und einen Steinbruch im besetzten Westjord-
Antrag bei der DV eingebracht, der die Mitglieder und Orga-       anland, für den palästinensische Bauern enteignet wurden.
ne der Bewegung einlädt, sich ebenfalls mit dieser Thematik
auseinanderzusetzen.
                                                                                   Weiter Rüstungsexporte
Wie immer nahmen auch die Berichte zu Aktivitäten der Di-                     unter Ausschluss der Öffentlichkeit
özesanverbände sowie einzelner Mitglieder des Bundesvor-
stands breiten Raum ein. Besonders spannend waren hier            Die Kommission Rüstungsexporte kritisierte am 12. Mai die
die Berichte aus Sarajewo, wo einerseits das „peace event“        Koalitionsbeschlüsse, nach denen der Rüstungsexportbe-
anlässlich 100 Jahren 1. Weltkrieg stattgefunden hatte und        richt der Bundesregierung künftig halbjährlich vorgelegt
andererseits die Gremien von Pax Christi International ge-        und der Wirtschaftsausschuss des Bundestages zwei Wo-
tagt hatten, die bei uns dem Bundesvorstand und der Dele-         chen nach Exportgenehmigung durch den Bundessicher-
giertenversammlung entsprechen.                                   heitsrat informiert werden soll. Damit werde alles wie bis-
                                                                  her hinter verschlossenen Türen im Bundessicherheitsrat
Bei der anschließenden Erweiterten Vorstandssitzung wa-           entschieden und das Parlament könne weiterhin kein Kon-
ren in diesem Jahr alle Kommissionen vertreten. In den            trollrecht ausüben.  
vergangenen Jahren hatte diese Sitzung vorrangig aus Be-
richten bestanden, was von allen als unbefriedigend emp-                       Die Rechte aller Israelis schützen
funden wurde, da sich mit den Berichten der Kommissionen
schon die Delegiertenversammlung beschäftigt. So wurde            In einem Schreiben an den Botschafter Israels in Berlin,
dieses Jahr ein neuer Weg eingeschlagen und unter Mode-           Yakov Hadas-Handelsman, kritisierte die Nahost-Kommis-
ration von Christine Hoffmann die Steigerung der Wirksam-         sion am 1. Juni, dass das Beduinendorf Al Arakib im Negev
keit in den Mittelpunkt der Beratungen gestellt: Statt vorab      erneut zerstört und die Bäume entwurzelt wurden, um die
Berichte zu verfassen, wurden die Kommissionen gebeten,           Bewohner zu vertreiben und anstelle des Dorfes einen Wald
ihre Zielgruppen, aktuellen Ziele, Erfolge aus der letzten Zeit   anzupflanzen. Der Botschafter wurde aufgefordert, sich da-
und aktuellen Herausforderungen zu benennen. Jeweils im           für einzusetzen, dass die Rechte aller Bürger/innen Israels
Anschluss durfte der Bundesvorstand den Kommissionen ei-          geachtet und geschützt werden.
nen Spiegel vorhalten, Lob und Kritik äußern und Wünsche
benennen. Dabei wurden Themen gesammelt, die einer ge-                            EU-Taten gegen Siedlungsbau
naueren Betrachtung bedurften und die anschließend über-
greifend diskutiert wurden, beispielsweise Kommunikation/         Nach dem Scheitern der US-Vermittlungen im Konflikt zwi-
Information, unsere Streitkultur oder auch die Frage, was         schen Israel und Palästina forderte die Nahost-Kommission
„die Praxis“ für pax christi bedeutet.                            am 4. Juni von der EU „eindeutige Taten“, um den israelischen
                                                                  Siedlungsbau zu stoppen. Dieser war nach US-Diplomaten
Meldungen | pax_zeit | 3_2014 | 19

                    Foto: pax christi Aachen

                                                                                   Aachener Friedenslauf unter dem Motto
                                                                                   „1914-2014: Aus Feinden können Freunde
der Hauptgrund für das Scheitern der Verhandlungen. Die                                 werden – Mach den ersten Schritt!“
EU habe eine Leitlinie zur Kennzeichnung von Siedlungspro-
dukten auf Wunsch der US-Regierung zurückgehalten, um
die Verhandlungen nicht zu stören.

  Deutsche Afrika-Leitlinien tragen Militarisierung mit          Jugendlichen einen Trauergruß an die Partnerorganisatio-
                                                                 nen B´Teselem, Gush Shalom, ICAHD und Rabbis for Human
In einem Kommentar zu den neuen „Afrikapolitischen Leitli-       Rights, in dem sie sich der Forderung anschließen, dass die
nien der Bundesregierung“ kritisierte Heinz Werner Wessler       Mörder schnell gefunden und zur Rechenschaft gezogen
von der Kommission Solidarität mit Zentralafrika am 4. Juni,     werden und den Partnern „danken, dass ihr in der Stunde
sie brächten nichts Neues zum mafiösen Rohstoffhandel, zur       der Trauer Eure Stimmen gegen jede Art von Rache und Ge-
Zertifizierung von Rohstoffen, zur zivilen Konfliktprävention    walt erhoben habt und Euch darin bestärken“.
und -transformation, zu den Gründen für den Migrations-
druck in Richtung Festung Europa und kein Wort zu Waffe-
nexporten. Dagegen signalisiere die Regierung bereitwillig,      Meldungen aus den Diözesanverbänden
dass sie die „Militarisierung der Afrikapolitik der westlichen   Markus Weber
Industriestaaten mitträgt. Das Tor zu zukünftigen Bundes-
wehreinsätzen in Afrika ist offen.“

     Menschenrechtsbeobachter in Chiapas gesucht

Die Kommission Solidarität Eine Welt unterstützte am                             Diözesanverband Aachen
18. Juni einen Aufruf des Menschenrechtszentrums Fray
Bartólome de las Casas in San Cristóbal/Mexico. Für ein
Friedenscamp in Chiapas suchen sie freiwillige Menschen-         Laufen für den Frieden
rechtsbeobachter ab 18 Jahren, die Aggressionen gegenüber        Unter dem Motto „1914-2014: Aus Feinden können Freunde
den autonomen zapatistischen Gemeinden des Caracol von           werden – Mach den ersten Schritt!“ haben sich etwa 2.000
La Realidad beobachten und dazu beizutragen, dass die Wür-       Schüler/innen aus 19 Schulen am 13. Friedenslauf durch
de ihrer Bewohner gewahrt bleibt.                                die Aachener Innenstadt beteiligt, der u.a. von pax christi
                                                                 vorbereitet wurde. Die Schüler/innen unterstützen mit den
          Trauergruß für ermordete Jugendliche                   von ihnen erlaufenen Spenden in diesem Jahr Projekte, die
                                                                 sich in Aachen, im westlichen Balkan oder im Libanon für
Am 3. Juli schickte die Nahostkommission anlässlich der Er-      Anti-Rassismus-Arbeit sowie für Frieden und Versöhnung
mordung von drei jüdischen und einem palästinensischen           einsetzen.
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