Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres

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Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Apostel
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                             Zeitschrift der Arnsteiner Patres               Ausgabe 4/2020

        Weihnachten          Ist das Fest noch zu retten?

        Weitere Themen   Was passiert, wenn nicht beide   Geistlicher Wegbegleiter
                         Brautleute katholisch sind?      »5 vor 12 – erfüllte Zeit – 5 nach 12«
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Termine
Da derzeit ungewiss ist, ab wann und unter welchen
Bedingungen wieder Veranstaltungen in der Citykirche in
Koblenz und im Konvent der Arnsteiner Patres in Werne
stattfinden können, informieren Sie sich bitte auf den
beiden Websites: Ω www.arnsteiner-patres.de
Ω www. citykirche-koblenz.de

Vorankündigungen 2021
Das Fest des heiligen Pater Damian soll am Sonntag, dem
9. Mai 2021, in Werne stattfinden. Neben dem Gottesdienst
werden wir uns das »Pesthäuschen« anschauen. Es ist ein
interessantes Beispiel dafür, wie man früher in Deutschland
mit ansteckend kranken Menschen umgegangen ist.

Die Herz-Jesu-Wallfahrt nach Euskirchen ist für den
6. oder 13. Juni 2021 geplant.
Wir hoffen, dass die Pandemielage der Durchführung
dieser beiden Veranstaltungen nicht im Wege steht.

Frohe Weihnachten und Gottes Segen für das Jahr 2021                                                               irtschaftskrise, Umweltkrise, Glaubens­
wünscht Ihnen die Redaktion des »Apostel«                                                             krise, Missbrauchskrise, Finanzkrise, Kulturkrise,
                                                                                                      Corona-Krise, … Nicht immer sind wir uns sicher,
                                                                                                      was mit Krise gemeint ist, aber wir ver­muten, dass
                                                                                                      wir die Krise meiden oder vor ihr fliehen sollten.
                                                                                                      Für viele ist die Rede von »Krise« gleichbedeutend
                                                                                                      mit Ausweglosigkeit, Hoffnungs­losigkeit, ja mit
                                                                                                      Angst vor dem Tod. Doch was bedeutet eigentlich
                                                                                                      dieses Wort »krisis«? Im Griechischen, woher es
                                                                                                      stammt, wird es vor allem im militärischen und im
                                                                                                      medizinischen Bereich benutzt. Es meint den
                                                                                                      Moment, in dem die Ent­scheidung fällt. Militärisch
                                                                                                      ist es der Moment, in dem sich Sieg oder
                                                                                                      Niederlage entscheiden. Medizinisch beschreibt
                                                                                                      Krise die Phase einer Krankheit, in der sich die
                                                                                                      Wende zum Besseren oder Schlechteren, zu
                                                                                                      Gesundung oder Tod ereignet.

                                                                                                      Johannes Tauler (1300) beschreibt die Krise als
                                                                                                      den Zustand des »Nicht mehr und noch nicht«, in
                                                                                                      dem der Mensch, sich sozusagen in der Schwebe
                                                                                                      befindet, vor einer Entscheidung, vor einem

Impressum Apostel (ISSN 1611-0765)
Herausgeber: Provinzialat der Ordensgemeinschaft von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariens           Erscheinungsort: Werne Auflage: 4.600 Exemplare Druck: Druckerei Wenz, Hanau
(Arnsteiner Patres e. V.) • Kardinal-von-Galen-­Straße 3 • 59368 Werne •Telefon: 0 23 89 97 01 50 •   Papier: 100 % Recyclingpapier Titel: picture alliance – abaca | Vandeville Eric
Fax: 0 23 89 97 01 27 • E-Mail: provinzialat@sscc.de • Internet: www.arnsteiner-patres.de             Bildnachweise: Auf den Doppelseiten, auf denen die Abbildungen Verwendung finden;
SSCC ist die Abkürzung der Ordensgemeinschaft von den Heiligsten Herzen, in Deutsch­­land als         Bilder ohne Nachweis: Archive der Ordensgemeinschaft und der Firma Meinhardt
Arnsteiner Patres bekannt.                                                                            Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung von
Gestaltung/Verlag: Meinhardt Verlag und Agentur • Friedensstraße 9 • 65510 Idstein • Telefon:         Herausgeber und Redaktion wieder.
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Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Krise: nicht mehr und noch nicht
                                                                nächsten Schritt. Aus dem Gewohnten ist er »ver­       befreiend sein, endlich zu sehen, was los-zu-
                                                                trieben«, und das, »wonach ihn gelüstet,« hat er       lassen oder zu ver-lassen ist. Die alten »Lebens­
                                                                noch nicht. Diese Situation kann den Menschen zu       meister« raten zur »Ge-lassen-heit«. Das hat
                                                                Trauer und Resignation führen, zu Abneigung und        weder mit innerer Faulheit noch mit Gleichgültig­
                                                                Widerwillen vor der Herausforderung, die die           keit zu tun. Der Grund der Gelassenheit ist die
                                                                Wirklichkeit an ihn stellt. Die Versuchung ist, sich   Bereitschaft loszulassen, also weder in der Flucht
                                                                nach der »Normalität« zurückzusehnen, ist die          in die Vergangenheit Rettung zu suchen noch sich
                                                                Weigerung, jetzt die »Zeichen der Zeit« zu sehen       in gesteigerten Aktivismus zu flüchten. Es geht
                                                                und zu deuten. In der Krise sind wir versucht, das     darum, in der Wirklichkeit jetzt standzuhalten, das
                                                                Überleben um jeden Preis zum einzigen Inhalt           Leben hier und jetzt zu leben, aufmerksam,
                                                                unseres Lebens zu machen; die Lösung zu suchen         ehrlich, achtsam. Dazu ist es notwendig, dass wir
                                                                in dem, was gestern schön und gut war. Wenn das        uns gegenseitig ermutigen und stärken, dass wir
                                                                Feuer ausgeht, wenn die Glut kalt wird, wenn der       uns gegenseitig helfen, die »Geister zu unter­
                                                                Eifer im Herzen nicht mehr genährt wird, dann ist      scheiden« und uns auf das Wesentliche zu
                                                                es nicht die Kälte, die tötet, sondern es sind die     konzentrieren und es anzunehmen. Tauler schreibt
                                                                Unfähigkeit und der fehlende Wille, das Feuer am       vom Versinken im eigenen Nichts, um da Gott und
                                                                Leben zu erhalten. Jenes Feuer, das wir früher in      damit meinen Grund zu finden. Dazu ist es gut,
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                                                                uns trugen.                                            wenn wir wie die Emmaus-Jünger einen Weg­
                                                                                                                       gefährten, eine Weggefährtin haben, die uns
                                                                Die Chance der Krise besteht also darin, die Glut      helfen zu entdecken, wo das Herz brannte auf dem
                                                                am Glühen zu halten, damit das Feuer neu ange­         Weg.
                                                                zündet werden kann, nachdem die glühende Kohle
                                                                von der Asche befreit ist. Eine Krise kann die
                                                                Stunde der Wahrheit sein: So wie bisher geht es
                                                                nicht weiter.

                                                                Manchmal erfahren wir erst in einer Krise, wovon       Pater Martin Königstein SSCC
                                                                wir leben und wer wir wirklich sind. Es kann           Provinzial der Arnsteiner Patres

                                                                EDITORIAL                                                                                      Apostel       | 3
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Ist Weihnachten
         noch zu retten?
               Weihnachten scheint unverzichtbar für die Menschen in Deutschland zu sein.
             In den letzten Wochen konnte der Eindruck entstehen, dass die coronabedingten
                Einschränkungen in erster Linie durchgehalten werden müssen, damit das
                 Weihnachtsfest gerettet wird. Gleichzeitig sagen weit über 60 Prozent der
                          Deutschen: »Weihnachten geht auch ohne Christmette.«

                                                                                                           © SEOYEON-CHOI – UNSPLASH

4   |   Apostel                                                                              WEIHNACHTEN
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Um was geht es an Weihnachten?                              so bedrückend in dieser Pandemiekrise. Wir haben mal
                                                            mehr Licht gemacht.« Zudem verbinden viele mit
Martin Königstein SSCC: Auf den ersten Blick geht es        ­Weihnachten, dass es zu Hause friedlicher zugeht oder
an Weihnachten ums Schenken und ums Beschenkt-               dass man sich überhaupt mal als große Familie sieht.
werden. Dahinter steckt die tiefe menschliche Erfah-         Man sehnt sich nach einem Wiedersehen und nach
rung, dass wir das Wichtigste im Leben nicht verdienen       Begegnung. Auch wenn es dann unter Umständen
und auch nicht fordern, sondern nur als Geschenk an-         ­gerade diese Beziehungen sind, die Stress verursachen.
nehmen können.                                                Denn über all dem soll nicht vergessen werden, dass
                                                              es viele Menschen gibt, die sich vor Weihnachten fürch-
Für die Kinder geht es vielleicht an Weihnachten darum,       ten. Sie erleben genau das alles nicht, haben keine
Geschenke auszupacken. Aber zentral ist, dass wir uns         ­Beziehungen oder können es sich nicht leisten, Ge-
gegenseitig mit unserer Person beschenken. Wenn wir            schenke zu machen, schön zu schmücken, was Gutes
uns zusammen an den Tisch setzen, dann entsteht                aufzutischen.
Freundschaft, Gemeinschaft, Wertschätzung, Zuwen-
dung, Aufmerksamkeit … Das ist es, was sich nicht           Kerstin Meinhardt: Ich finde, es hat nichts Verwerf-
verdienen, nicht einfordern lässt, was uns jedoch le-       liches, dass in unserer Gesellschaft Weihnachten un-
ben lässt und den Horizont weit macht.                      abhängig von den christlichen Inhalten eine große
                                                            Bedeutung hat. In erster Linie nehme ich das starke
Brauchen wir Jesus, um in diesem                            menschliche Bedürfnis danach wahr, eine Zeit zu ha-
­Verständnis Weihnachten zu feiern?                         ben, die zumindest ein Stück weit eine Auszeit ist vom
                                                            ständigen Getriebensein, vom Zwang zu Leistung und
Martin Königstein SSCC: Aber Jesus ist doch das Geschenk!   Konsum. Auch wenn Weihnachten heute sehr kom-
                                                            merzialisiert ist, ist da immer doch etwas, was für die
Manfred Kollig SSCC: Ich überlege gerade, wie jemand        meisten Menschen durch all den weihnachtlichen
reagieren würde, wenn wir ihm sagten: »Wir feiern dei-      Kaufrausch und den Kitsch hindurchscheint. Es ist ein
nen Geburtstag. Aber du kannst ruhig wegbleiben.«           Versprechen, dass es mehr gibt als ein sinnentleertes,
Die Frage in die säkulare Gesellschaft hinein lautet:       egozentriertes Rotieren im Hamsterrad. In dieser Aus-
»Möchtest du, dass dein Geburtstag ohne dich gefeiert       zeit besteht die Chance, sich auf das zu besinnen, was
wird? Oder dass irgendwann einmal der Jahrestag dei-        wirklich zählt. Nicht von ungefähr schwiegen in Kriegs-
nes Todes begangen wird, ohne an dich zu denken,            zeiten zu Weihnachten die Waffen. Untersuchungen
nur weil das Essen so gut und die Zusammenkunft so          zeigen übrigens, dass selbst die, die zu Weihnachten
nett sind?« Es gibt eine Sehnsucht nach Weihnacht-          nicht in die Kirche gehen, es gut finden, dass es Weih-
lichem, die ohne Jesus besteht. Aber Weihnachten oh-        nachtsgottesdienste gibt. Solange alle diese Menschen
ne Jesus ist wie Geburtstag ohne Geburtstagskind.           die Sehnsucht noch spüren können, dass es ein »Mehr«
                                                            gibt, habe ich noch Hoffnung, auch wenn viele dieses
Ich habe mich gewundert, wie viel Aufmerksamkeit            Fest nicht mit meinen Glaubens­inhalten füllen.
hier in Berlin der Frage geschenkt wird, ob auch in
­diesem Jahr unter Corona-Bedingungen die Weihnachts-       Reicht es Christinnen und Christen, nur noch
 märkte stattfinden können. Berlin ist eine Stadt, in der   Bewahrende der Tradition zu sein und einen
 die Christen insgesamt eine Minderheit sind. In ande-      folkloristischen Anlass zu geben?
 ren Städten, die überwiegend christlich oder sogar
 ­katholisch sind, wurden frühzeitig die Märkte abge-       Martin Königstein SSCC: Es zeigt sich, dass wir nicht
  sagt. Ich glaube, es steckt ein Bedürfnis nach Licht,     Eigentümer des Festes sind und dessen, was da gefei-
  Gerüchen und Geschmack dahinter, nach all dem, was        ert wird. Es geht um eine tiefe Wahrheit des Mensch-
  einen Kontrast bildet zur kühlen und dunklen Winter-      seins. Theologisch gesprochen heißt das Geschenk
  zeit. Diese Sehnsucht ist menschlich. Es war lang ge-     »Gnade«. Ein Wort, das heute kaum noch ein Mensch
  nug dunkel und kühl. Als Zeichen der Hoffnung, dass       versteht. In Gnade, Lateinisch »gratia«, steckt »gra-
  es wieder anders wird, machen wir uns etwas Licht.        tis« und »graziös«. Das Wesentliche ist also geschenkt,
  Gerade in diesem Jahr der Pandemie hat dies eine noch     attraktiv und schön. Wenn Menschen diese tiefe Wahr-
  stärkere Bedeutung. In einer evangelisch geprägten        heit und Sehnsucht, die uns eigen ist, vor dem Hin-
  Gegend Niedersachsens, in der es bisher ein Tabu war,     tergrund eines folkloristischen Weihnachten entde-
  vor dem Totensonntag eine adventliche Beleuchtung         cken können, dann ist das gut so. Gott kann viele
  anzuschalten, sagten die Menschen in diesem Jahr:         Sprachen und ist nicht beschränkt auf unsere Sym-
  »Wir können einfach nicht mehr abwarten. Es ist alles     bole, Riten und Redewendungen.

WEIHNACHTEN                                                                                              Apostel        | 5
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Krippen legen Zeugnis vom Alltag am konkreten Ent-
                                                                stehungsort ab. Die Flucht der heilige Familie findet
                                                                in Peru im Boot statt. Dass Gott Mensch wird, wird
                                                                überall anders erfahren.

                                                                   Manfred Kollig SSCC: Ich würde mich ungern damit
                                                                   zufriedengeben, wenn wir nur den Rahmen schaffen
                                                                   würden für Riten und Rituale. Wenn ich auf dieses Jahr
                                                                   schaue, nehme ich wahr, dass die Menschen unabhän-
                                                                   gig vom sozialen Status, von Intelligenzgrad, Hautfar-
                                                                   be oder Religion unter der Pandemie leiden. Sie sehnen
                                                                   sich danach, dass es irgendwann ohne diese Pandemie
                                                                   weitergeht und dass dann nicht eine neue Virusinfek-
    Ich erinnere mich, es ist jetzt schon lange her, da be-        tion kommt. Ich möchte ihnen nicht die Hoffnung ma-
    suchte ich in Chile an Weihnachten die christliche Ge-         chen, dass, wenn sie ein paar Wochen die Vorschriften
    meinde von Huallepén, eine indigene Gemeinde der               einhalten, dann alles wieder so ist wie früher. Wenn
    Mapuche-Indios. Sie hatten eine Kapelle, einen Ge-             ich mir Weihnachten 2020 vorstelle, dann stelle ich mir
    meindevorstand, Liturgen und Katecheten. Jede Woche            unter anderem vor, wie wir vor der Krippe stehen. Da
    feierten sie den Sonntag, aber sie hatten noch nie Weih-       schauen wir uns Figuren an: Jesus, Maria, Josef, Hir-
    nachten gefeiert, wenigstens nicht so, wie wir uns das         ten, Könige, Schafe, Esel und Ochse. Und diese tragen
    vorstellen. Es gab kein Zeichen oder Symbol, keinen            alle keinen Mund-Nase-Schutz. Nur wir, die wir davor-
    Ritus, der mich irgendwie an Weihnachten erinnert              stehen, haben Mund und Nase bedeckt. Wenn ich das
    hätte. Da stand ich nun mit dem Lukasevangelium und            sehe, dann habe ich eine Perspektive. Irgendwann
    seiner Weihnachtsgeschichte und mit der Heraus­
    forderung, dass die Menschwerdung, die in dieser
    ­Geschichte erzählt wird, gerade an diesem Abend neu
     stattfindet in der Gemeinde von Huallepén, in der
     ­Kultur und in den Umständen dieser Gemeinde, die an
      Jesus glaubt, die Jesus nachfolgen will. Die aber, um
      Jesus nachzufolgen, nicht so werden muss wie die,                      Das Weihnachtsfest –
      ­deren Vorfahren vor Jahren ihr Territorium erobert und
       ihnen das Land und ihre Selbstständigkeit genommen                    Alle Jahre wieder feiert der weitaus größte
       hatten. Gott wird Mensch heißt dort: Gott wird Ma-                    Teil der Deutschen das Weihnachtsfest. Ver-
       puche. Und um das auszudrücken und zu feiern, müs-                    standen wird es meist als Fest der Familie,
       sen Zeichen, Symbole und Riten benutzt werden, die                    das mit vermeintlich uralten Traditionen be-
       ihre Kultur ihnen zur Verfügung stellt. Diese Arbeit                  gangen wird. Kerzenlicht, Weihnachtsmusik
       müssen sie selbst machen. Ich kann ihnen nicht von                    und -düfte sowie Plätzchen gehören dazu;
                                                                             für 70 Prozent der Deutschen laut Statistik
       außen sagen, wie Weihnachten auf Mapuche-Art geht.                    auch ein Christbaum. Weihnachtsmärkte
       Ich durfte viele indigene Gemeinden begleiten in der                  fallen dieses Jahr fast überall aus, was über-
       Bemühung, es Gott zu ermöglichen, in ihrer Kultur                     wiegend als Verlust empfunden wird. Ob
       Mensch zu werden. Es hat mich immer wieder erstaunt,                  Christmetten und Weihnachtsgottesdienste
       bewegt und gefreut zu sehen, wie sie das geschafft                    stattfinden, kümmert hingegen deutlich
       ­haben. Und so, denke ich, müssen wir es den Men-                     weniger. Im Vorjahr gingen nur 22 Prozent
                                                                             der Deutschen an den Festtagen zur Kirche.
        schen unserer Zeit auch ermöglichen, dass sie Wege
                                                                             Im Zentrum steht heute stärker das Zusam-
        finden, wie Gott heute Mensch werden kann in ihrem,                  mentreffen der Familie als die Feier der Ge-
        in unserem Leben. Und das wird wieder unauffällig,                   burt Jesu.
        klein, oft genug am Rande stattfinden und wohl mei-
        stens auch schwach aussehen. Wagen wir es zu warten                  Die konkrete Art, wie Gläubige Weihnachten
        und uns überraschen zu lassen, wie die Menschen es                   feiern, veränderte sich über die Jahrhun-
                                                                             derte ständig. Unabhängig von kulturellen
        heute Gott erlauben, bei uns Mensch zu werden. Es
                                                                             Unterschieden ist Weihnachten für die meis­
        wird Zeichen dafür geben. Und es wird Momente ge-                    ten Menschen in Europa sowie Nord- und
        ben, an denen wir mit Gertrud von Helfta beten kön-                  Südamerika das wichtigste Fest des Jahres.
        nen: »Ich fühle in meinem Herzen aus Staub: Du bist
        angekommen.«

6   |     Apostel                                                                                             WEIHNACHTEN
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
kommen wir dort an, wo man das nicht mehr braucht.
                                              Da bin ich erlöst, nicht mehr anfällig für Viren, nicht
                                              mehr anfällig für Krieg und für Not. Da ist Frieden.
                                              Das möchte ich den Menschen in diesem Jahr sagen:
                                              Schaut auf die Krippe; dort findet ihr eine Perspektive.
                                              Irgendwann gibt es Erlösung. Das ist das, was wir
                                              glauben. Das ist ewige Gesundheit, das ist ewiges Heil,
                                              das ist ewiger Friede. Wer das nicht teilt, den verur-
                                              teilte ich nicht. Mir genügt es aber nicht, eine schöne
                                              Szenerie darzustellen, wie sie vielleicht gewesen sein
                                              könnte – oder auch nicht war – irgendwo in Bethle-
                                              hem, in einem Stall oder in einer Höhle. Ich möchte
                                              deutlich werden lassen, was dahintersteckt und mit
                                              welcher Perspektive Gott Mensch wurde. Das möchte
                                              ich nicht billig verkaufen. Die Perspektive, die wir ha-
© FRANZISKANISCHES MUSEUM, FORUM DER VÖLKER

                                              ben, heißt Erlösung! Wir sollten das querdenken nicht
                                              den Radikalen überlassen. Die meinen, »Querdenken«
                                              heißt, ohne Abstand und ohne Mund-Nase-Schutz
                                              durch die Welt zu gehen. Wirkliche Querdenker:innen
                                              sind die, die glauben, dass das Ende nicht das Ende
                                              ist. Querdenker:innen sind die, die glauben, dass der       Krippen entstehen aus dem Material, das
                                              Allmächtige Mensch wird, dass der Allwissende er-           verfügbar ist. Für diese von den Philippinen
                                              trägt, dass wir vieles nicht wissen …                       wurde Papier kunstvoll gerollt.

                                              eine uralte Tradition?
                                              Das Teilen christlicher Glaubens­inhalte ist dabei offen-   scherung unterm Baum. Von diesem Verständnis zeugt
                                              sichtlich keine Voraussetzung. Die frühen christlichen      noch der Deutschen liebstes Gericht für Heiligabend:
                                              Gemeinden kannten das Fest übrigens nicht, es kam           Würstchen und Kartoffelsalat. Der Festbraten wird in der
                                              erst im vierten Jahrhundert »nach Christus« auf. Die        Regel erst am ersten Weihnachtsfeiertag aufgetischt.
                                              ersten Weihnachtsfeiern in Rom, von denen berichtet
                                              wird, waren schlichte Gottesdienste am 25. Dezember.        Eine aktuelle Studie belegt, dass 61 Prozent der Be-
                                              Die nächtliche Messe kam – in Anlehnung an die              fragten Heiligabend in den eigenen vier Wänden feiern
                                              ­Osternacht – erst später hinzu.                            wollen. Mehr als ein Drittel verbringt den Abend bei
                                                                                                          den eigenen Eltern und/oder denen der Partnerin oder
                                              Der Heiligabend als Familien- und Kindheitsritual, das      des Partners. Weshalb sich der 25. Dezember als Weih-
                                              unsere heutige Vorstellung von Weihnachten prägt,           nachtsfesttag eingebürgert hat, darüber gibt es ver-
                                              entstand erst im 19. Jahrhundert. Mit der zuneh-            schiedene Theorien. Sicher ist, dass der Zeitpunkt, ab
                                              menden Bedeutung der Familie als Keimzelle der Ge-          dem die Tage wieder länger werden, schon vor Urzeiten
                                              sellschaft kam der Familien-Heilig­abend in der pri-        für die Menschen bedeutsam war. In den religiösen
                                              vaten, festlich geschmückten Stube mit Hausmusik            Vorstellungen früherer Kulturen nahm die Sonne eine
                                              auf. Diese Entwicklung geht einher mit der Industrie­       zentrale Rolle ein, daher wurde der Tag der Sonnen-
                                              alisierung und der »Entdeckung der Kindheit« als eige-      wende häufig mit einem Fest gefeiert. Vielfach wird
                                              ner Lebensphase Ende des 18. Jahrhunderts. Die Be-          daher angenommen, dass Weihnachten ein christlich
                                              scherung der Kinder – ursprünglich am frühen Morgen         vereinnahmtes, ursprünglich heidnisch-kosmisches
                                              des 25. Dezembers – verlegten zuerst evangelische           Fest war. Doch einig ist sich die Forschung nicht. In
                                              Familien auf den Heiligabend vor. In ländlichen katho-      jedem Fall stimmt die Symbolik: Mit Jesus Christus
                                              lischen Gegenden blieb der 24. Dezember noch bis            kommt das Licht in die Welt.
                                              weit ins 20. Jahrhundert ein Arbeits-, Fasten- und Vor-
                                              bereitungstag: Baden und Beichten statt Feier mit Be-                                         ¡ Kerstin Meinhardt

                                              WEIHNACHTEN                                                                                             Apostel        | 7
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Martin Königstein SSCC: Da ist er, der Punkt, an dem        Manfred Kollig SSCC: Ich möchte zu dem, was gesagt
    Weihnachten anfängt! Weihnachten ist zunächst der           wurde, eine weitere Perspektive hinzufügen. In der
    definitive Schritt Gottes, solidarisch zu werden mit sei-   Heiligen Schrift wird deutlich, dass der Mensch von
    nem Geschöpf und seiner Schöpfung. Er wird Teil sei-        Beginn an darunter leidet, dass er nicht wie Gott ist.
    ner Schöpfung. Die Perspektive der Erlösung ist das         Das zieht sich wie ein roter Faden durch bis heute. Der
    andere Ende des Bogens. Man kann natürlich keines           Mensch möchte perfekt sein, möchte nach Möglichkeit
    unserer Feste ohne den ganzen Bogen sehen: kein             alles selbst regeln, eine absolute Sicherheit haben,
    Weihnachten ohne Ostern und kein Ostern ohne Weih-          kurz: Er will sein wie Gott. Die Botschaft von Weih-
    nachten. Die Erlösung geht nicht durch einen Zauber-        nachten ist: »Nehmt es nicht so tragisch, dass ihr nicht
    stab, sondern durch die Solidarisierung Gottes. Er ent-     seid wie Gott. Ich werde Mensch! Und ihr werdet se-
    äußert sich. Inkarnation – Fleischwerdung –, das ist        hen, dass man als Mensch gut leben kann. Nicht im
    nicht der Weg der Macht und schon gar nicht der All-        Sinne von Komfort. Aber dass ihr als Menschen nie –
    macht, sondern das heißt klein werden. Das ist der          und unter keinen Umständen – aus meiner Liebe fallt.
    Anfang: Da verwandelt sich etwas bei uns und insge-         Das ist das Entscheidende. Nicht dass ihr die absolute
    samt. Jedes Jahr neu erlebt – jeweils aus der Perspek-      Sicherheit habt oder alles habt, was ihr wollt; nicht
    tive, in der wir leben. Gegenwärtig leben wir mit der       dass ihr allmächtig seid. Vertraut, dass ich jeden Men-
    Maske und mit Abstand, und daraus erwächst eine             schen unter allen Umständen liebe.« Jesus wird Mensch
    spezifische Sehnsucht. Die Umstände, unter denen wir        mit allen Widersprüchen, mit Konflikten, mit Schei-
    leben, machen uns empfänglich für einen bestimmten          tern, mit Gelingen – aber stets wird deutlich: Er ver-
    Aspekt der Botschaft.                                       traut darauf, von seinem Vater geliebt zu sein. Wer
                                                                Mensch wird, will nicht sein wie Gott, sondern Gott
    Weihnachten – das Fest der Menschwerdung                    vertrauen.
    Gottes – was heißt das konkret?
                                                                Kerstin Meinhardt: Ich finde im Bezug auf Weihnach-
    Martin Königstein SSCC: Die Tatsache, dass Gott Teil        ten die griechischen Kirchenlehrer wie zum Beispiel
    unserer Geschichte und Teil unseres Lebens wird, heißt      Johannes Chrysotomos wegweisend. Er hielt im fünf-
    für mich, dass wir nicht zu hundert Jahren Einsamkeit       ten Jahrhundert in Byzanz vor dem Kaiserpalast eine
    verurteilt sind, wie es bei Gabriel García Márquez heißt.   Weihnachtspredigt, in der er sinngemäß sagte: »Was
    Wir sind nicht verurteilt, in unserer Blase zu bleiben.     nützt es Dir, Weihnachten zu feiern, wenn Christus
    Diese wird durchstochen, und der Horizont öffnet sich.      nicht in Deinem Herzen geboren wird, wenn Du ihn
    Ich bin eingeladen eins zu werden mit dem Schöpfer,         nicht in Deinem Leib trägst und durch gute Werke ge-
    den Menschen und mit der ganzen Schöpfung. Die              bierst, indem Du für die Armen, die vor Deinem Palast
    Menschwerdung öffnet den Weg dahin. Die eigenen             liegen, Sorge trägst.« Dieser Gedanke, dass Christus in
    Grenzen und der begrenzte Horizont können zurück-           mir, in meinem Herzen geboren wird und durch meine
    gelassen werden.                                            Taten in die Welt kommt, ist in der Ostkirche – wo ja
                                                                auch das Herzensgebet gepflegt wird – sehr präsent.
    Kerstin Meinhardt: Für mich ist das Besondere an Weih-      Christus will also immer wieder neu geboren werden.
    nachten, dass Gott uns als Kind begegnet. Er ist schutz-    Bei uns in der Westkirche wird der Gedanke noch im
    los, abhängig. Er streckt die Arme aus und fragt im         Barock formuliert zum Beispiel durch Angelus Silesi-
    Grunde genommen nur nach unserer Liebe. Das finde           us, aber verliert sich dann …
    ich etwas Besonderes am Christentum gegenüber an-
    deren Religionen. Gott ist nicht der oben thronende,        Manfred Kollig SSCC: Er drückt sich auch in dem Kir-
    gekrönte Herrscher, sondern er macht sich klein und         chenlied aus, in dem es heißt: »Treuer Immanuel, werd´
    verletzlich, um uns zu begegnen. Das berührt mich;          auch in mir nun geboren.« Gott wohnt in mir und in
    ich denke, dadurch wird eine bestimmte Qualität die-        allen Menschen. Eigentlich ist es der Auftrag von Kir-
    ser Beziehung aufgezeigt. Außerdem wird an der Krip-        che – nicht nur an Weihnachten – immer wieder deut-
    pe deutlich, dass Gott uns in den Niederungen des All-      lich zu machen, dass dieser Gott in allen lebt, ob sie
    tags begegnet. Für mich ist das eine Ermutigung, die        das glauben können oder nicht. Und dass wir wahrneh-
    Gottesbegegnung in meinem Alltag zu suchen und nicht        men, dass er in ihnen wirkt – in aller Bruchstückhaf-
    primär im sakralen Raum. So wie Teresa von Avila ih-        tigkeit. Geboren wird Gott nicht in der Komfortzone,
    ren Schwestern sagte, dass sie auch zwischen den Koch-      sondern in der Krippe. Auch wenn ich mich fühle wie
    schüsseln Gott finden können. Für mich wird diese           ein »armer Stall« oder eine »erbärmliche Höhle«: Für
    zentrale Botschaft nicht durch den ganzen Lichterglanz      Gott ist das kein K.-o.-Kriterium: Er will trotzdem in mir
    und das Lametta erstickt, sie ist immer noch spürbar.       wohnen.

8   |     Apostel                                                                                            WEIHNACHTEN
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Gott kommt in die Welt, wird Mensch und zeigt stets,
        dass er die Freiheit des Menschen achtet. Er lässt je-
        den gehen. Er fragt sogar an der Stelle, wo viele ihn
        verlassen, seine Jünger: »Wollt auch ihr gehen?« So
        gibt er sogar die Freiheit, sich von ihm zu entfernen,
        ihn im Stich zu lassen. Wir als Kirche sind Zeichen
        dieses Gottes, wir sind Realsymbol. Wir tun daher gut
        daran, zu schauen, wie wir mit den Menschen umge-
        hen vor allem mit den Teilen ihres Lebens, die nicht
        perfekt sind, die nicht den Idealen entsprechen. Er-
        fahren sie, dass sie trotzdem geliebt sind, oder erfah-
        ren sie sich als ausgeschlossen? Ist das, was wir als
        Kirchen leben, konstruktiv? Führt es Menschen zu-
        sammen, oder ist es destruktiv und spaltet? Dieser
        Gott, der Mensch wird, tut alles, um die Menschen zu-
        sammenzubringen, und nichts, um sie zu spalten. Wo
        gespalten wird, wo destruktiv gewirkt wird, darf sich
        niemand auf Gott berufen! Für mich ist es bei der Ge-
        wissenserforschung immer wichtig, mich zu fragen,
        ob das, was ich getan habe, konstruktiv war und Men-
        schen zusammengebracht hat. Wenn es die Leute aus-
        einanderbringt und sie von Gott entfernt, dann habe
        ich meinen Auftrag nicht erfüllt.

         Der Krippenbauer Benjamin Marx platziert die Figur
                 eines Flüchtlings aus Eritrea in der Krippe, die
                ­erstmals 2016 in der Kölner Kirche St. Maria in
               Lyskirchen in einem Flüchtlingsboot aus Malta
             ­aufgebaut war. Auf dem Weg zur Krippe befindet
                    sich unter anderen Figuren auch eine junge
         ­D rogenabhängige. Sie trägt den Stern. Sogenannte
          Milieukrippen ver­suchen in vielen Gemeinden, die
                   Erfahrung »Gott wird Mensch« zu vermitteln.
© KNA

        WEIHNACHTEN                                                 Apostel   | 9
Apostel - Weihnachten Ist das Fest noch zu retten? - Arnsteiner Patres
Und dennoch sind es auch Christen, die die
   Würde anderer missachten, denken wir nur
   an den sexuellen Missbrauch …

   Martin Königstein SSCC: Das Thema Missbrauch – das
   wird immer deutlicher – geht weit über das Thema des
   sexuellen Missbrauchs hinaus. Es belastet mich – ge-
   rade an Weihnachten, wo Gott selbst sich verwundbar
   macht –, zu einer Institution zu gehören, die sich an
   Kindern schuldig gemacht hat, also gerade an denen,
   die verwundbar sind und Fürsorge und liebevolle Zu-
   wendung brauchen.

   Manfred Kollig SSCC: Es stimmt, wir sind als Kirche
   schuldig geworden, weil wir durch sexuellen, aber          Westafrikanische Krippe
   auch durch geistigen und geistlichen Missbrauch den
   Menschen ihre Freiheit und Würde genommen haben.
   Wir haben Gott nicht so dargestellt, wie er ist; nämlich   ganze Jahr über eine Krippe stehen und feiern Weih-
   als einen, der die Freiheit und die Würde der Menschen     nachten. Vielleicht müssten wir als Christinnen und
   radikal achtet. Wir sind sündig geworden, weil wir uns     Christen den Gedanken von Weihnachten tatsächlich
   schuldig gemacht haben an denen, von denen er sagt:        auch an den anderen Tagen des Jahres wachhalten.
   »Wer einen von diesen Kindern aufnimmt, nimmt mich         Vielleicht würden wir dann öfter nach dem gefragt,
   auf.« – Hier wurde eine besondere Fürsorge und Liebe       was wir da eigentlich glauben, was uns ausmacht und
   zugesagt, die schrecklich verletzt wurde. Ganz unbe-       weshalb wir so handeln, wie wir handeln. Der heilige
   stritten sind wir auch schuldig geworden dadurch,          Franziskus hat seinen Brüdern mitgegeben, so zu le-
   dass wir das als Kirche nicht rechtzeitig erkannt haben    ben, dass sie gefragt werden nach ihrem Glauben.
   und auch nicht in der rechten Weise dagegen vorge-         »Stellt euch nicht auf den Marktplatz und predigt den
   gangen sind. Ich sehe für mich den Auftrag, dafür zu       Leuten, dass sie so und so sein müssen, sondern lebt
   sorgen, dass wir in Zukunft besser Sakrament sind;         in einer bestimmten Art und Weise, sodass ihr gefragt
   das heißt Aufmerksamkeit zu erzeugen, wo heute wie-        werdet. Und dann redet davon, was euren Glauben
   der den Menschen die Freiheit genommen wird. Wo            ausmacht.« Vielleicht erfüllt uns der Gedanke an
   wieder Leben zerstört wird, wo wieder Menschen klein       Weihnachten und bringt uns zum Strahlen … Und ich
   gemacht und in Abhängigkeit gehalten werden.               denke an die Botschaft des Engels: »Fürchtet Euch
                                                              nicht!« Ich denke, dass ist eine wichtige Weihnachts-
   Kerstin Meinhardt: Die Oberzeller Franziskanerinnen        botschaft in diesem Jahr und wohl darüber hinaus.
   arbeiten mit gestrauchelten, verwundeten Frau­en am
   Rande unserer Gesellschaft. Sie haben übrigens das         Manfred Kollig SSCC: Unser Stifter hat gesagt: »In Jesus
                                                              finden wir alles, seine Geburt, sein Leben, seinen Tod.
                                                              Das ist unsere Regel.« Er hat nicht nur das Kreuz be-
                                                              nannt, obwohl das Kreuz in unserer Spiritualität eine
                                                              besondere Rolle spielt; die Verehrung des Kreuzes und
                                                              die Anbetung des Gekreuzigten. Stifterin und Stifter un-
                                                              serer Ordensgemeinschaft haben in der Weihnacht ihr
                                                              Gelübde abgelegt. Das gesamte Leben Jesu sollte be-
   Auf dem Weg zur Krippe                                     trachtet werden. Die vier Lebensalter Jesu sind Teil un-
   »Die wesentlichen Dinge kannst Du nicht machen,            serer Spiritualität, die uns von den Stiftern mitgegeben
   sondern nur empfangen. Aber du kannst dich                 wurde: die Kindheit Jesu, das Jugend- und das Erwach-
   empfänglich machen!«, schreibt der Geigenbauer             senenalter und sein Leiden und Sterben sollen wir be-
   Martin Schleske. Wie machen Sie sich empfäng-              trachten und daraus Impulse für unser Leben nehmen.
   lich? Wie gestalten Sie die Advents- und Weih-             Dahinter steckt der Gedanke, das ganze Leben vom er-
   nachtszeit? Welche Bedeutung haben Krippen für
                                                              sten bis zum letzten Augenblick in den Blick zu nehmen,
   Sie? Schreiben Sie uns, welche Traditionen Sie für
   sich entwickelt haben. Was ist hilfreich und gut,          weil sich in diesem ganzen Leben die Liebe Gottes of-
   was gilt es vielleicht zu überdenken? Wir freuen           fenbart. Vielleicht brauchen wir das ganze Jahr nicht
   uns auf Ihre Zuschriften: apostel@sscc.de                  nur das Kreuz, sondern auch die Weihnachtskrippe. p

10 |    Apostel                                                                                          WEIHNACHTEN
100 Jahre Deutsche Provinz
                Jubiläumsfeier anders als gedacht                                      ¡ Heinz Josef Catrein SSCC

                Am 15. August des Jahres 1920 wurde die Deutsche
                Ordensprovinz gegründet. Bei einer Feier im Corona
                geschuldeten kleinen Rahmen hielt unsere Ordens-
                gemeinschaft Rückschau auf ein Jahrhundert mit
                vielfältigen Facetten. Das Erinnern lässt Namen und
                Orte auftauchen und die unterschiedlichsten Gefühle:
                Stolz über Geleistetes, Dankbarkeit für gute Erfahrungen,
                Ärger über verpasste Möglichkeiten, Trauer über Ver-
                lorenes und auch Scham über Verfehlungen … Doch
                nicht nur die Vergangenheit spielte bei der Feier am
                3. Oktober in Werne eine Rolle. Auch heute gestalten
                Frauen und Männer ihr religiöses Leben als Eheleute
                oder Singles bewusst aus der Spiritualität unserer
                Ordensgemeinschaft heraus. Sie sind mit uns auf dem
                Weg. Jubiläen sind somit auch Orientierungspunkte
                für die Zukunft.

                Die Deutsche Provinz hatte all dies im Auge, als sie das
                Jubiläum plante. Was sie allerdings nicht berücksichti-
                gen konnte, war das Coronavirus und seine Folgen.
                So konnten wir nicht am 15. August feiern und waren
                gezwungen, die Zahl der geladenen Gäste drastisch zu
                begrenzen. Das hat uns sehr geschmerzt und vielleicht
                auch den einen oder die andere verletzt, die im Stillen
                mit einer Einladung gerechnet hatten. Zu unserer
                Freude zeigten viele Menschen ihre Verbundenheit
                mit uns. Wir trafen Vertreter:innen der Schulen, ehe-
                malige Angestellte, heutige Mitarbeiter:innen und
                Vertreter:innen des weltlichen Zweiges. Weiterhin die
                Mitglieder der »Arnstein-Gemeinschaft«, ehemalige           Mariens alles im Herzen zu bewahren und zusammen-
                Mitbrüder und die Pilgerhelfer:innen.                       zusetzen. Besondere Bedeutung hatte im Gottesdienst
                                                                            die musikalische Gestaltung durch Maja Westbomke
                Der Gottesdienst wurde in der St.-Christophorus-Kirche      und Dietmar Fischenich. Ihr Überraschungsgeschenk
                zu Werne gefeiert. Mit Provinzial Martin Königstein         an die Festgemeinde war ein eigens zum Jubiläum
                SSCC standen der Stellvertreter des Generalsuperiors        komponiertes Lied. Nach dem Gottesdienst wurde
                in Rom Pater Derek Laverty (Irland) und der Superior        im Kolpinghaus weitergefeiert. Pater Derek Laverty
                der neuen Kommunität in Berlin Pater Patris Breket          SSCC von der Generalleitung in Rom hob die Rolle der
                (Indonesien) am Altar. Viele weitere Mitbrüder nahmen       Deutschen Provinz in der internationalen Gemeinschaft
                an der Konzelebration teil, unter anderem der Provin-       SSCC hervor. Er würdigte den Einsatz deutscher Mitbrü-
                zial unserer polnischen Provinz. Pater Heinz Josef          der in den internationalen Projekten der Kongregation
                Catrein SSCC verglich in seiner Predigt das Jubiläum        und beschrieb den internationalen Konvent in Berlin
                mit einem Strandspaziergang, bei dem man auf das            als einen neuen wichtigen Beitrag für die weltweite
                achtet, was die Zeit an Land gespült hat, und vielerlei     Ordensgemeinschaft.
                verschiedene Dinge findet: Staunenswertes, Schönes
© JÖRG STENGL

                und Gegenstände, die dort nicht hingehören. Es geht         Stellvertretend für all die vielen Gemeinden, in denen
                darum, dies wahrzunehmen und nach dem Beispiel              Brüder der Gemeinschaft aktiv waren und sind, lenkte

                FAMILIE SSCC                                                                                          Apostel        | 11
Dass unter Asche Glut brennt

           Dass unter Asche Glut brennt,
               ein Feuer neu entfacht,
            ein großes Licht hell leuchtet,
              weit sichtbar in die Nacht,
         dass es Wärme trägt und ausstrahlt,
            dass Hoffnung nicht erkaltet,                   Musikalische Gestaltung durch Maja Westbomke und
            dass ihr das Licht verbreitet,                  Dietmar Fischenich
              das ihr in Händen haltet.

             Dass ihr wie eine Stadt seid,
              die man von Weitem sieht,
            wo Liebe, Friede, Freundschaft
              und Wohl von allen blüht,
            dass in euren Mauern Recht sei,
               das eure Worte künden,
             dass Flüchtende dort Heimat
              und bei euch Ruhe finden.
                                                            Lothar Christ, der Bürgermeister von Werne, mit Mar-
                                                            tin Königstein. Er hob die Rolle der Schulen hervor.
             Dass ihr die Prise Salz seid,
           die würzt, Geschmack verleiht,
             dass ihr nicht farblos, fade,
                dass ihr lebendig seid,
           dass ihr handelt und verändert,
               in Gottes Sinn gestaltet,
         dass ihr Salz und Licht der Welt seid
           und Gott selbst in euch waltet.

                  Lied zur 100-Jahr-Feier
                  von Dietmar Fischenich
                                                            Die Corona-Bestimmungen beschränkten die Zahl der
                                                            Festgäste im Kolpinghaus/Werne auf 70 Personen

   Pfarrdechant Jürgen Schäfer aus Werne den Blick auf      liche, gerechte und friedliche Gesellschaft, die Papst
   die Rolle unserer Gemeinschaft in der lokalen Kirche.    Franziskus in »Evangelii gaudium« formulierte. Als
   Der Bürgermeister von Werne – Lothar Christ – richtete   Summe dieser Leitsätze fügte Pater Manfred einen
   die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung unserer Schule.     fünften an: »Die Ewigkeit wiegt mehr als die Zeit.«
   Es waren unsere Patres, die das erste Gymnasium in       Er schlussfolgerte: »100 Jahre Deutsche Provinz: Das
   Werne eröffneten, ihm hohes pädagogisches Ansehen        Ganze zu sehen, bedeutet auch, sich vorzustellen, dass
   verschafften.                                            in diesen 100 Jahren deutsche Mitbrüder für zwei bis
                                                            drei Millionen Menschen tätig waren, getauft und das
   Pater Manfred Kollig SSCC lud in seinem Vortrag die      Wort Gottes verkündet haben. Eine ›Millionenstadt‹,
   Festversammlung zu einer Betrachtung über Gegen-         in der Menschen von deutschen Mitbrüdern begleitet
   wart und Zukunft ein. Dieser Beitrag steht auf unserer   und ausgebildet wurden, in der Menschen die Sakra-
                                                                                                                      © JÖRG STENGL

   Website zum Download bereit. Behandelt werden            mente gespendet und sie auf ihrem letzten irdischen
   darin die Handlungsprinzipien für eine geschwister-      Weg begleitet wurden.« p

12 |    Apostel                                                                                        FAMILIE SSCC
Erfüllte
                                                                                                                                                                                                                                        Zeit                                  IV
                                                                                                                                                                      Geistlicher Wegbegleiter
                                                                                                                                                                            Winter 2020
                                                                                                                                                                                                                                                                   ¡ Manfred Kollig SSCC

                                                                                                                                                                      In der letzten Ausgabe des Geistlichen Wegbegleiters         wir, bevor wir sterben? Diese Fragen beantworten
                                                                                                                                                                      war ein Lobgebet des Prudentius abgedruckt. In der 2.        Menschen unterschiedlich. Streben wir nach einem
* GEBET IN EINEM WELTLICHEN LEBEN, 31F. (ZIT. N. MADELEINE DELBRÊL, GOTT EINEN ORT SICHERN. TEXTE-GEDICHTE-GEBETE, HRSG. VON ANNETTE SCHLEINZER, KEVELAER 2007, 38)

                                                                                                                                                                      Strophe war ein Druckfehler. Dort stand: »des Herzens        bestimmten Beruf, nach einem Titel, nach einer Part-
                                                                                                                                                                      Sterben klar und rein«. Stattdessen heißt es richtig: »des   nerin oder einem Partner, nach einem eigenen Haus,
                                                                                                                                                                      Herzens Streben klar und rein«. An dieser Stelle kann        nach einem bestimmten Auto, nach dem nächsten
                                                                                                                                                                      uns selbst der Fehlerteufel auf eine interessante Idee       runden Geburtstag, nach dem Urlaub …?
                                                                                                                                                                      bringen: Streben und Sterben. Liegen diese Begriffe
                                                                                                                                                                      eigentlich so weit auseinander?                              Zu diesem Streben gibt es einen Impuls von Madeleine
                                                                                                                                                                                                                                   Delbrêl*:
                                                                                                                                                                      In dieser vierten Folge des Geistlichen Wegbegleiters
                                                                                                                                                                      unter dem Thema »Erfüllte Zeit« soll es um die Span-
                                                                                                                                                                      nung gehen zwischen dem, wonach wir streben, und
                                                                                                                                                                      dem Ziel, dem wir alle entgegengehen. Wonach streben                       Geht in euren Tag hinaus
                                                                                                                                                                                                                                                 ohne vorgefasste Ideen,
                                                                                                                                                                                                                                           ohne die Erwartung von Müdigkeit,
                                                                                                                                                                                                                                                   ohne Plan von Gott,
                                                                                                                                                                         Madeleine Delbrêl (1904–1964) war phasen-                            ohne Bescheidwissen über ihn,
                                                                                                                                                                         weise Atheistin und konnte in ihrem Leben                                 ohne Enthusiasmus,
                                                                                                                                                                         zeitweise gut ohne, gut gegen und gut mit Gott
                                                                                                                                                                         leben. Den größten Teil ihres Lebens hat sie                               ohne Bibliothek –
                                                                                                                                                                         als katholische Sozialarbeiterin gewirkt und                    geht so auf die Begegnung mit ihm zu.
                                                                                                                                                                         sich für die Armen in Ivry am Rande von Paris                         Brecht auf ohne Landkarte –
                                                                                                                                                                         eingesetzt. Sie hatte gute Kontakte zur Kom-
                                                                                                                                                                         munistischen Partei, zu den Arbeiterpriestern                        und wisst, dass Gott unterwegs
                                                                                                                                                                         in Frankreich und anderen sozial engagierten                                  zu finden ist,
                                                                                                                                                                         Persönlichkeiten in Kirche und Politik. Sie hat                          und nicht erst am Ziel.
                                                                                                                                                                         den Streit um die Arbeiterpriester und das
                                                                                                                                                                         Verhältnis zur Kommunistischen Partei durch-                                 Versucht nicht,
                                                                                                                                                                         litten und sich in einer persönlichen Begeg-                     ihn nach Originalrezepten zu finden,
                                                                                                                                                                         nung mit Papst Pius XII. für die Arbeiterpriester
                                                                                                                                                                                                                                            sondern lasst euch von ihm finden
                                                                                                                                                                         eingesetzt. Letztendlich konnte sie aber nicht
                                                                                                                                                                         verhindern, dass diese seitens des Vatikans                       in der Armut eines banalen Lebens.
                                                                                                                                                                         kritisch betrachtet und schließlich abgelehnt
                                                                                                                                                                         wurden. Madeleine Delbrêl hat ihr Leben als
                                                                                                                                                                         katholische Mystikerin angenommen und ge-
                                                                                                                                                                         staltet. Ihr Seligsprechungsprozess wurde von
                                                                                                                                                                         Papst Johannes Paul II. eröffnet. Papst Franzis-          Erfüllte Zeit ist die Zeit, in der wir uns von IHM finden
                                                                                                                                                                         kus hat sie 2018 bereits als ehrwürdige Diene-            lassen. Am Anfang steht dabei immer Gott, der den
                                                                                                                                                                         rin Gottes anerkannt.                                     Anstoß gibt, der zeugt, in uns etwas erzeugt, auf dass
                                                                                                                                                                                                                                   wir dies dann bezeugen.

                                                                                                                                                                                                                                                                               Apostel     | 13
5 vor 12 – erfüllte zeit – 5 nach 12                                                            Winter 2020

                   zeugen
   Erfüllte Zeit ist nicht von       damalige Zeiten nicht lang,         Gott, du schenkst mir deinen Geist.
   ihrer Länge abhängig. Er-         die Zeit seines öffentlichen       Hauch mir immer wieder Leben ein,
   füllte Zeit kann viele Jahre      Wirkens kurz.                             wo ich müde werde und
   andauern, manchmal aber                                                      gähnende Leere spüre.
   auch nur Sekunden. Ein            Auf den Augenblick scheint                  Lass mich vertrauen,
   Augenblick kann erfüllte          es anzukommen, wenn Gott                   dass du wachsen lässt,
   Zeit sein.                        etwas zeugt. Augenblicke,                  was ich aus Liebe säe.
                                     um dem Menschen nahezu-                So lass mich jeden Augenblick
   Am Anfang der Schöpfung           kommen; um ihm zu sagen,          als sinnvolle und erfüllte Zeit erfahren.
   stand ein Hauch. Gott, so         dass er den gleichen Lohn                          Amen.
   heißt es im 2. Kapitel, Vers 7    bekommt, wenn er auch
   des Buches Genesis, hauchte       nur kürzere Zeit gearbeitet
   dem Adam Leben ein. Der           hat. Es ist das Samenkorn,     Habe ich etwas begonnen, was darauf wartet
   Herr »blies in seine Nase         nicht der fertige Baum, mit    zu wachsen? Wo vertraue ich konkret darauf,
   den Lebensatem. So wur-           dem Jesus das Wirken Gottes    dass ein »Samenkorn« aufgeht? Wann habe
   de der Mensch zu einem            vergleicht.                    ich erfahren, dass aus dem Wenigen etwas
   lebendigen Wesen.« Für                                           Wertvolles entstehen kann?
   die erfüllte Zeit braucht es      Was aus Gottes Geist ge-       Erfüllt ist die Zeit nicht deshalb, weil wir
   offenbar weder die Fülle an       schieht, beginnt klein, ist    dieses Wirken biologisch, psychologisch
   Zeit noch die Fülle an ma-        wirkmächtig, kann sich ent-    oder theologisch erklären können. Es sind
   teriellen Dingen. Gott gibt       falten und darf in Freiheit    nicht der Hauch, nicht das Wort, nicht der
   ein wenig von sich, einen         wachsen. So wirkt er auch      Same, nicht die Eizelle, nicht die Berüh-
   Hauch.                            durch uns Menschen, wenn       rung, nicht die Leistung, die aus gemes-
                                     ein Wort mehr ansprechen       sener Zeit erfüllte Zeit machen. Es ist der
   Die Bibel ist voll von Zeug-      kann als ein ganzes Buch       Geist, aus dem dies alles geschieht. Gott
   nissen, die belegen, dass         voller Wörter; eine Berüh-     haucht, spricht, berührt, eint aus Liebe.
   Gott das Wenige und das           rung wirksamer sein kann       Wo Liebe ist, gewinnt das Wenige, Kleine
   Geringe erwählt, um daraus        als langes Festhalten. Und     und Geringe Kraft, während das Große
   Großes werden zu lassen.          schließlich sind wir alle      und die Fülle ohne Liebe zerstören oder
   Selbst seine eigene Men­          aus der Vereinigung von        wirkungslos sind.
   schwerdung geschieht nur          ein wenig männlichem Sa-
   durch diesen Lebensatem           men und weiblicher Eizelle
   »Heiliger Geist«. Fünf Brote      entstanden.
   und zwei Fische reichen, um
   die Menge zu speisen. Nach
   einer Nacht ohne Fischfang
   genügen ein paar Minuten,
   um die Netze so zu füllen,
   dass es eine Zerreißprobe
   wird. Eine kurze Berührung          Mit einem Hauch
   heilt, ein Wort richtet auf, in    beginnt das Leben …
   ein kleines Stück Brot und
   in einen Schluck Wein legt
   Jesus sein Testament. Das
   Leben Jesu war selbst für

14 |     Apostel
Winter 2020                                      5 vor 12 – erfüllte zeit – 5 nach 12

              erzeugen
Gott zeugt, aber er erzeugt nicht. Er ist kein
Produzent, der sich einen Plan macht und
nach diesem Plan etwas zusammenbaut.
Gott konstruiert keine Produkte und baut
nichts Fertiges. Er haucht Leben ein und
lässt dem Lebenden die Freiheit, sich zu
entfalten und zu wachsen, zu lernen und
zu reifen.

Ob die Zeit erfüllt ist oder nicht, hängt
nicht von der Menge oder der Qualität der
Erzeugnisse ab. Die Zeit ist erfüllt, wo Gott
eine Initiative ergreift. Initiative ergreifen
heißt einen Anfang setzen. Erfüllt ist die
Zeit, weil in jedem Lebensanfang, der von
Gott ausgeht, die Chance liegt, dass dieses
begonnene Leben gelingen kann. Das ist die
Verheißung Gottes: Mit dem Lebensatem
gibt er das hinein, was es braucht, um
vollendet zu werden. Ob dieses genutzt
wird, hängt vom Menschen ab, von seiner                      Auf dem Weg zum Erzeugnis
Freiheit, von seinen Lebensbedingungen.                in Freiheit pflegen, was gezeugt wurde …
Dabei steht der Mensch immer in Bezie-
hung mit anderen Menschen. Der Gebrauch
seiner Freiheit hängt wesentlich auch von
deren Einfluss ab.
                                                   Das mag irritieren. Der Allwis-   Was hat Gott in mir gezeugt,
Gott hat nicht den perfekten Menschen              sende setzt nicht sein ganzes     angelegt, begonnen? Wie
erzeugt. Wie es im 3. Kapitel des 1. Briefs        Wissen ein, um den perfekten      baue ich auf Jesus Christus,
des Apostels Paulus an die Gemeinde in             Menschen zu schaffen, der         dem Grund, weiter? Wann
Korinth heißt, lässt Gott wachsen. Er baut         nur Gutes tun kann, nur dem       sollte ich selbst zeugen statt
nicht das Haus, sondern er ist der Grund,          Frieden dient und sich unein-     zu erzeugen? Wo müsste ich
auf dem wir bauen können.                          geschränkt für die anderen        mehr Freiheit lassen, damit
                                                   und für eine gerechte Welt        Gutes entstehen kann?
                                                   einsetzt. Stattdessen gibt er     Erfüllt ist die Zeit, in der
                                                   dem Menschen alle Gaben           Menschen erkennen, was
 Gott, du hast mir die Freiheit geschenkt.         mit, um gut zu handeln. Und       Gott in ihnen gezeugt, gesät
           Lass mich erkennen,                     er gibt ihm die Freiheit, diese   und angelegt hat, damit sie
        was du in mir gezeugt hast.                Gaben einzusetzen oder auch       dies im Laufe ihres Lebens
      Gib mir Geduld und Ausdauer                  nicht. Jeder Mensch kann          entfalten. Mitzuarbeiten und
    zu pflegen, was du angelegt hast.              Worte sprechen, die verlet-       zu pflegen auf dem Weg zum
                  Amen.                            zen, und Worte, die heilen.       »Erzeugnis«, sind Aufgabe
                                                   Jeder Mensch kann den an-         jedes Menschen. Wo dieses
                                                   deren zärtlich berühren und       Zusammenspiel gelingt, le-
                                                   brutal verletzen.                 ben wir in erfüllter Zeit.

                                                                                                      Apostel         | 15
5 vor 12 – erfüllte zeit – 5 nach 12                                                              Winter 2020

                   bezeugen
   Die 12. Betrachtung über die       Gott ist der, der zeugt, aber
   »erfüllte Zeit« möchte ich         nicht fertige Produkte oder
   mit einer Vermutung begin-         perfektes Leben erzeugt.
   nen: Vielleicht hätten wir         Das kann uns Angst ma-
   es gerne anders; Gott sollte       chen. Gleichzeitig sagt Je-
   doch alles perfekt machen.         sus immer wieder: »Fürchtet
   Er sollte Hunger und Krieg,        euch nicht!« Er will nicht,
   Krankheit und alle Übel be-        dass wir uns ängstigen. Wie
   enden. Eigentlich hätte er         passt das zusammen? Ei-
   dafür sorgen müssen, dass          nerseits gibt uns Gott nicht
   solche Übel und alles Böse         die Sicherheit, die wir gerne
   gar nicht erst entstanden          hätten. Andererseits fordert
   wären. Und er sollte sich          er uns auf, keine Angst zu
   bitte auch immer eindeutig         haben. Einerseits teilen wir
   zeigen. Er sollte seine Macht      mit den Jüngern im Boot die     Welche Berichte in der Bibel und in der
   einsetzen und dafür sorgen,        Erfahrung, dass Jesus im        Geschichte der Kirche wecken in mir das
   dass er immer und überall          Boot schläft und nichts tut,    Vertrauen auf Gott? Erinnere ich mich an
   als Sieger dasteht. Und ne-        während unterschiedliche        Menschen, deren Gottvertrauen mich ermu-
   benbei sollte er natürlich         Formen von Stürmen – wie        tigt, selbst ebenfalls auf Gott zu vertrauen?
   auch die Menschen, die sich        beispielsweise die Pande-       Bezeuge ich Gott als den, der in diesem
   zu ihm bekennen, erfolg-           mie – uns gefährden. Ande-      Leben heilsam wirkt und dem ich zutraue,
   reich machen. Vielleicht           rerseits sollen wir uns nicht   dass er uns von allem Übel erlösen wird?
   bedeutet »erfüllte Zeit« für       ängstigen.                      Wir können gerade unserer heutigen Ge-
   uns die Zeit, in der alles rund                                    sellschaft einen guten Dienst erweisen,
   und perfekt läuft.                 Gott setzt unserer Angst        wenn wir bezeugen, dass wir uns nicht
                                      nicht das Versprechen ent-      ständig absichern und Sicherheiten su-
   Als ich mich entschieden           gegen, uns die Sicherheit zu    chen, sondern Gott vertrauen. Das bedeutet
   habe, die vier Ausgaben für        geben, dass alles gut wird,     nicht, tollkühn zu werden, sondern im
   den Geistlichen Begleiter in       dass alles Elend bald auf-      Vertrauen unvermeidbare Risiken mutig           GRAFIKEN DES WEGBEGLEITERS © MEINHARDT VERLAG UND AGENTUR/LUKAS NEU/JANINA BACK
   diesem Jahr unter das The-         hört. Diese Sicherheiten, die   anzunehmen und mit begrenzter Sicherheit
   ma »erfüllte Zeit« zu stel-        wir gerne hätten, gibt Gott     zufrieden und glücklich zu leben. Dann ist
   len, dachte ich nicht an die       nicht. Stattdessen lädt er      die Zeit erfüllt.
   Möglichkeit einer Pandemie.        uns ein, ihm zu vertrauen.
   Pest und Cholera gab es im         Von der Schöpfung über
   Mittelalter, Lepra bis in die      die Auferstehung bis hin
   Neuzeit, die sogenannte            zur Gegenwart gibt es gute         Jesus Christus, Heiland und Erlöser.
   Spanische Grippe vor 100           Gründe, darauf zu vertrau-                Lass mich annehmen,
   Jahren. Aber eine Pandemie         en, dass Jesus Christus der        dass unsere Sicherheit begrenzt ist.
   mit der Auswirkung von Co-         Heiland und Erlöser ist,             Stärke mich im Glauben an Gott
   vid-19 konnte ich mir für das      dass er unseren Weg be-                und im Vertrauen auf dich,
   Jahr 2020 nicht vorstellen.        gleitet.                                  der du in deiner Angst
                                                                       dein Leben in Gottes Hände gelegt hast.
                                                                                        Amen.
                   Mit begrenzten Sicherheiten leben
                    und Gottvertrauen bezeugen …
16 |     Apostel
100
Die Ordensschulen: Wachstum und Übergabe
                                                                        Deutsche
                                                                      Ordensprovinz

2020 wurde die Deutsche Provinz der »Ordensgemeinschaft von den Heiligsten
Herzen Jesu und Mariens und der ewigen Anbetung« 100 Jahre alt. Die Redaktion
nimmt dies zum Anlass, die Geschichte der Ordensprovinz in den »Apostel«-
Ausgaben dieses Jahres vorzustellen und jeweils den Fokus auf einen die
                                                                                               ¡ Heinz Josef Catrein SSCC

jeweilige Epoche prägenden Begriff zu richten. In diesem Heft geht es darum:
Auch »die Bäume« einer Ordensgemeinschaft »wachsen nicht in den Himmel«.

Neubeginn nach den Katastrophen von                               Baumaterial, um die Kriegsschäden auszubessern.
­Nazizeit und Krieg                                               Das Haus in Waldernbach im Westerwald war von
Um die Aufbauleistung unserer Mitbrüder nachvoll-                 Evakuierten bewohnt; die Schüler, die dort studieren
ziehen zu können, muss man sich die Situation nach                sollten, mussten nach Kloster Arnstein umziehen.
Kriegsende 1945 vor Augen führen. Das Haus Simpel-                Und das mit großen Hoffnungen begonnene Projekt
veld war mit drei Kommunitäten überbelegt, das ent-               Falkenhain in Schlesien war für die Deutsche Provinz
eignete Provinzialat durch Bombentreffer schwer be-               verloren. Es blieben das »Klösterchen« in Herzogen-
schädigt. Das Johanneskloster in Lahnstein stand der              rath bei Aachen, das Noviziat in Weibern in der Eifel
Ordensgemeinschaft zwar endlich wieder vollständig                und die Pfarrei St. Theresia in Wattenscheid-Eppen-
zur Verfügung, aber ohne Nahrungsmittel, Kohle und                dorf, heute ein Stadtteil von Bochum. Von einigen zur
                                                                  Wehrmacht eingezogenen Mitbrüdern fehlte jede
                                                                  Spur. Riesig war die Freude, wenn sie sich nach der
                                                                  Entlassung aus der Gefangenschaft zurückmeldeten.
                                                                  Ihre gesundheitliche Verfassung war sehr unter-
                                                                  schiedlich. So wird in der Chronik notiert: »Pater L.
                                                                  sieht immer noch aus wie ein ›Russe‹. Pater R. kam in
                                                                  bemerkenswert gutem Ernährungszustand aus eng-
                                                                  lischer Gefangenschaft nach Hause.«

                                                                  Hunger und Französisch in Lahnstein
                                                                  Für das Johannesgymnasium in Lahnstein erhielt die
                                                                  Ordensgemeinschaft bereits im Juli 1945 die Genehmi-
                                                                  gung, 50 Schüler aufzunehmen. Am 1. Oktober be-
   Die von Brüdern betriebene Schreinerwerkstatt des              gann schon der Unterricht mit den vor der Nazizeit
   Johannesklosters lieferte einen Großteil der Einrichtung für
   das Johannesgymnasium
                                                                  gültigen Lehrplänen. Mit einer Ausnahme: Franzö-
                                                                  sisch wurde Hauptfach in allen Klassen.

100 JAHRE                                                                                                  Apostel        | 17
Das Hauptproblem war aber nicht der Lehrplan, son-       Seit dem Jahre 1963 gehörten Baukräne zum ver-
   dern der Hunger. Die Schüler wurden eigentlich nie-      trauten Bild des Schulgeländes. Die Schule wuchs
   mals richtig satt. Dazu kam die bittere Kälte des Win-   und stand – von außen betrachtet – imponierend da.
   ters 1945/1946, als den Internatsschülern das Wasser     Für die Ordensgemeinschaft wurde sie dagegen mehr
   in ihren Waschschüsseln gefror. Eine Typhusepide-        und mehr zu einer Belastung: Der Ordensnachwuchs
   mie hat 1946 einigen Schülern fast das Leben geko-       blieb aus, die Zahl der unterrichtenden Patres sank
   stet. Pater Theodor kam auf die Idee, die Kinder am      beständig, und das Projekt war finanziell nicht mehr
   Wochenende in die Bauerndörfer des nahen Huns-           zu stemmen. Schon 1972 wurden die Lasten durch die
   rücks und des Taunus zu schicken, wo sie sich bei Fa-    Gründung der Johannes-Schul-GmbH zwischen Bis-
   milien untergebracht einmal satt essen konnten.          tum und Orden neu verteilt, im Jahre 2006 dann die
                                                            Schule dem Bistum Limburg vollständig übergeben.
   In den ersten Nachkriegsjahren fehlte es an qualifi-     Prägend für den Geist der Schule war neben der religi-
   zierten Lehrkräften. Die Ordensgemeinschaft schickte     ösen Erziehung auch die außerschulische Jugendar-
   deshalb die jungen Patres zum Lehramtsstudium an         beit: In der »Gemeinschaft vom christlichen Leben«
   die Universitäten. Parallel dazu wurden ab 1948 welt-    fanden die Schüler vielerlei Angebote: Gruppenstun-
   liche Lehrkräfte angestellt.                             den, Frühschichten in der Advent- und Fastenzeit und
                                                            soziales Engagement. Legendär waren die Pfingst-
   Internat, Schule und Konvent mussten unter dem           und Sommerlager auf dem Zeltplatz Dahlheim mit bis
   Dach des Johannesklosters unterkommen. Es platzte        zu 150 Teilnehmer:innen.
   damals aus allen Nähten. Selbst im Kreuzgang zog
   man provisorische Zwischenwände ein, um Klassen-         Bahnbrechend war die Schule auch auf dem Gebiet
   räume zu gewinnen. In einer enormen Kraftanstren-        der deutsch-französischen Versöhnung. Keine zehn
   gung wurde zwischen 1951 und 1960 in drei Bauab-         Jahre nach dem Ende des Krieges wurden 1954 die er-
   schnitten der heute sogenannte »Altbau« hochgezo-        sten Kontakte nach Frankreich geknüpft – zum Col-
   gen. Patres, Studenten, Brüder und Schüler hoben         lège St. Etienne und zum Lycée Charles Péguy in
   Gräben und Fundamente aus, die klostereigene Schrei-     Châlons-en-Champagne. Von nun an war der Schü-
   nerei lieferte die Inneneinrichtung, und die Kloster-    ler:innenaustausch nicht mehr aus dem Schulleben
   gärtnerei gestaltete die Außenanlagen.                   wegzudenken. Dieses deutsch-französische Pionier-
                                                            projekt war wohl das erste seiner Art und Vorbild für
   Bis 1966 stellten die Patres die Mehrheit des Lehrkör-   Austauschprogramme unserer Schulen mit weiteren
   pers. Ihre Gehälter flossen in den »großen Topf« der     Ländern. Das bekannte Deutsch-Französische Jugend-
   Ordensgemeinschaft, und in Verbindung mit der hand-      werk wurde erst neun Jahre später ins Leben gerufen.
   werklichen Eigenleistung ermöglichte dieses System
   den Unterhalt der Schule.                                Eine weitere Besonderheit des Johannesgymnasiums
                                                            war der Einsatz für das »Deutsche Aussätzigen-Hilfs-
                                                            werk«, wie die Deutsche Lepra- und Tuberkolosenhilfe,
                                                            damals hieß. Pater Damian de Veuster war das große
                                                            Vorbild, und unter der Leitung der Patres Konrad Ku-
                                                            senbach und Richard Ott gelang es den Schüler:innen,
                                                            etwa fünf Millionen Deutsche Mark zu sammeln.

                                                            Werne – eine Schule auf der grünen Wiese
                                                            In unserer Ordensregel von 1817 findet sich der fol-
                                                            gende Satz: »Um die Kindheit Jesu Christi wiederzuge-
                                                            ben, erziehen wir unentgeltlich arme Kinder, Jungen
                                                            und Mädchen.« Diesen Auftrag nahm die Deutsche
                                                            Provinz sehr ernst: Kaum hatten sich die Verhältnisse
                                                            in Deutschland stabilisiert, begann man ernsthaft,
                                                            nach einem Standort für ein zweites Gymnasium zu
                                                            suchen. Werne an der Lippe kam dabei in den Blick.
                                                            Anfragen unserer Patres nach den Möglichkeiten, dort
                                                            ein katholisches Gymnasium zu errichten, wurden
                          Neubau des Wirtschaftsgebäudes
                       am Johannesgymnasium in Lahnstein    seitens der Stadtverwaltung, der lokalen Geistlichkeit
                                                            und des Bistums Münster wohlwollend beantwortet,

18 |    Apostel                                                                                          100 JAHRE
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