Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015

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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
Pestizide und
unsere
Gesundheit
DIE SORGE WÄCHST

Mai 2015

RESEARCH LABORATORIES
Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
Inhalt
Zusammenfassung3

1. Einführung                                                                         6
1.1 Pestizide in der Landwirtschaft                                                   6

1.2 Wo sind wir Pestiziden ausgesetzt?                                                9

1.3 Besonders exponierte und anfällige Personengruppen                               15

2. Gesundheitliche Auswirkungen von Pestiziden                                      18
2.1 Auswirkungen der pränatalen (fötalen) Exposition und
der Exposition im Kindesalter                                                        18

2.2 Pestizide und Krebserkrankungen bei Erwachsenen                                  26

2.3 Pestizide und Schädigungen des Nervensystems                                     30

2.4 Auswirkungen auf das Immunsystem                                                 33

2.5 Auswirkungen auf das Hormonsystem                                                33

2.6 Pestizidvergiftung                                                               34

3. Industrielle Landwirtschaft – Auswirkungen auf
natürliche Lebensräume                                                              36

4. Schlussfolgerungen                                                               38

5. Die Lösung                                                                       40

6. Literatur                                                                        44

              Bild: Auf einer Teeplantage im indischen Kerala werden Pestizide gespritzt.
                                                               © Greenpeace / Vivek M.
Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
Zusammenfassung
Seit 1950 hat sich die Bevölkerungszahl auf unserem Planeten verdoppelt.
Die Ackerflächen zur Ernährung dieser Menschen sind jedoch lediglich um
10 Prozent gewachsen. Der Druck, Nahrungsmittel zu geringen Preisen bereit­
zustellen, ist enorm. Zugleich erregt der Zustand der Anbauflächen zunehmend
Besorgnis, da der Boden seiner Nährstoffe beraubt wird. Zur kurzfristigen
Lösung dieses Problems verlässt man sich in der grossflächigen Intensivland­
wirtschaft auf Düngemittel und Pestizide.

Seit den 1950er-Jahren kommen synthetische Pestizide in der industriellen
Landwirtschaft weltweit in grossem Umfang zum Einsatz. Im Lauf der Zeit haben
viele dieser Chemikalien infolge ihrer grossflächigen und häufigen Anwendung –
und in einigen Fällen auch aufgrund ihrer Umweltpersistenz – tief in unsere Umwelt
eingegriffen. Einige werden derart langsam abgebaut, dass selbst seit Jahr­
zehnten verbotene Chemikalien, darunter DDT und seine Nebenprodukte, auch
heute noch immer wieder in der Umwelt nachgewiesen werden.

Infolge dieser Persistenz und der potenziellen Gefahren für Tiere und Pflanzen hat
die Erforschung der Auswirkungen von Pestiziden in den vergangenen 30 Jahren
exponentiell zugenommen (Köhler und Triebskorn 2013). Inzwischen ist klar, dass
diese Auswirkungen weitreichend und vielfältig sind. Im gleichen Zeitraum sind
auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Auswirkungen von Pestiziden
auf die menschliche Gesundheit und ihre Wirkungsmechanismen rasch ge­
wachsen. Studien verdeutlichen statistische Zusammenhänge zwischen der Pesti­
zidexposition und einem höheren Risiko für Fehlentwicklungen, neurologische
und immunologische Störungen sowie einige Krebsarten.

Dennoch ist ein definitiver Nachweis, dass die Exposition des Menschen gegen­
über einem bestimmten Pestizid zu einer spezifischen Krankheit oder einer
Verschlechterung des Gesundheitszustands führt, schwer zu erbringen. Es gibt
keine Bevölkerungsgruppen, die Pestiziden überhaupt nicht ausgesetzt sind.
Hinzu kommt, dass die meisten Krankheiten auf eine Reihe von Ursachen zu­
rückzuführen sind. So sind Bewertungen der öffentlichen Gesundheit eine enorm
komplexe Angelegenheit (Meyer-Baron et al. 2015). Darüber hinaus sind die
meisten Menschen in ihrem Alltag auf verschiedensten Wegen komplexen und
sich stets verändernden Chemikaliengemischen ausgesetzt, die nicht nur Pestizi­
de umfassen. Diese toxische Belastung wird durch Pestizide noch verstärkt.

                           P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
Weitreichende gesund­heitliche
                                                                Auswirkungen
                                                                Zu den gesundheitlichen Auswirkungen bei Kindern,
                                                                die erhöhten Pestizidkonzentrationen im Mutterleib
                                                                ausgesetzt waren, zählen eine verzögerte kognitive
                                                                Entwicklung, Verhaltensveränderungen und Ge­
Besonders exponierte und                                        burts­­fehler. Auch hängt die Häufigkeit von Kinder­
                                                                leu­­kämie eng mit der Exposition gegenüber
anfällige Personengruppen                                       Pestiziden zusammen.
Durch die tagtäglich aufgenommene Nahrung ist
                                                                Zudem haben Studien höhere Pestizidexpositionen
die Allgemeinbevölkerung einem wahren Pestizid­
                                                                mit einer erhöhten Häufigkeit verschiedener Krebs­
cocktail ausgesetzt. In landwirtschaftlichen
                                                                arten (Prostatakrebs, Lungenkrebs und anderer) sowie
Gebieten, in denen Pestizide zum Einsatz kommen,
                                                                neurodegenerativer Erkrankungen wie Parkinson
landen diese Substanzen in der Luft, verschmutzen
                                                                und Alzheimer in Zusammenhang gebracht. Darüber
Boden und Wasserwege und werden gelegentlich
                                                                hinaus gibt es Hinweise, dass einige Pestizide das
von Nichtzielpflanzen systemisch aufgenommen.
                                                                endokrine System und das Immunsystem im Körper
Auch in Städten werden Menschen durch das Ver­
                                                                stören können. Zwar ist das Wissen über die
sprühen von Pestiziden in Erholungsgebieten
                                                                Mechanismen solcher Auswirkungen lückenhaft,
einem Mix aus Chemikalien ausgesetzt. Der tägliche
                                                                fest steht jedoch, dass in einigen Fällen Enzym­
Einsatz verschiedener Schädlingsbekämpfungs­
                                                                funktionen und wichtige Signalprozesse auf Zell­
mittel im Haushalt kann zudem Wohnbereiche und
                                                                ebene unterbrochen werden können. Studien,
Gärten kontaminieren.
                                                                die mit DNA-basierten Methoden arbeiten, deuten
                                                                zudem darauf hin, dass bestimmte Chemikalien
Besonders exponierte oder anfällige Personen­
                                                                die Gen­expression stören, was durch epigenetische
gruppen sind beispielsweise:
                                                                Vererbung in Generationen weiterwirken kann, die
                                                                selbst keinen Pestiziden ausgesetzt sind. Die nega­
• Landwirte und Pestizidausbringer, insbesondere
                                                                tiven Auswirkungen des Gebrauchs von Pestiziden
Beschäftigte in Gewächshäusern, die bei der Arbeit
                                                                können somit extrem langwierig sein und sich selbst
grossen Mengen an Chemikalien ausgesetzt sind.
                                                                dann noch fortsetzen, wenn die entsprechende
Dies wurde durch im Blut und in den Haaren festge­
                                                                Substanz bereits verboten ist.
stellte Konzentrationen eindeutig nachgewiesen.
                                                                Dieser Report widmet sich dem immer umfang­
• Ungeborene und Kleinkinder. Wenn Schwangere
                                                                reicheren Bestand an Forschungsmaterial über
Pestiziden ausgesetzt sind, gehen einige dieser
                                                                die bekannten und vermuteten Auswirkungen von
Chemikalien direkt auf das ungeborene Kind im
                                                                Pestiziden auf die Gesundheit des Menschen.
Mutterleib über. Während seiner Entwicklung
                                                                Dabei werden Nachweise zusammengetragen und
reagiert der Fötus auf die toxischen Wirkungen von
                                                                ausgewertet, die zeigen, wie die industrielle Land­-
Pestiziden besonders empfindlich. Kleinkinder sind
                                                                wirtschaft und insbesondere der Einsatz synthetischer
aufgrund ihrer erhöhten Expositionsraten generell
                                                                Pestizide derzeit die Gesundheit von Landwirten,
anfälliger als Erwachsene; sie kommen insbesondere
                                                                ihren Familien und der weiteren Be­völkerung ge­
beim Krabbeln zu Hause stärker mit Oberflächen
                                                                fährden. Auch unbekannte Unsicherheiten sowie
in Berührung und stecken häufig ihre Finger in den
                                                                widersprüch­liche und noch nicht abgeschlossene
Mund. Zudem sind die Körper von Kindern deutlich
                                                                Arbeiten finden Berücksichtigung. Zu den vielen
kleiner als die von Erwachsenen und können giftige
                                                                aktiven Inhaltsstoffen, die potenziell gesundheits­
Substanzen noch nicht gut abbauen.
                                                                schädlich sind, gehören die derzeit zugelassenen

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organischen Phosphorsäureester Chlorpyrifos                      Krebsarten, Entwicklungsstörungen bei Kindern,
und Malathion. Chlorpyrifos wird regelmässig in                  neurologischen Funktionsstörungen, der Parkinson-
Nahrungsmitteln und menschlicher Muttermilch                     Krankheit und Hypersensibilität in Zusammenhang
nachgewiesen. Studien über die öffentliche Gesund­               steht.
heit legen nahe, dass die Substanz mit zahlreichen

Die Lösung: Ökologische Landwirtschaft
Der einzig sichere Weg, unsere Exposition gegenüber giftigen Pestiziden zu
verringern, ist die Umstellung auf einen langfristigen und nachhaltigen Ansatz zur
Nahrungsmittelproduktion. Dies erfordert rechtsverbindliche, auf nationaler und
internationaler Ebene umzusetzende Vereinbarungen über den unverzüglichen
Ausstieg aus der Verwendung sämtlicher Pestizide, die für Nichtzielorganismen
giftig sind. Eine grundlegende Veränderung unserer landwirtschaftlichen
Ausrichtung impliziert einen Paradigmenwechsel weg von der industriellen
Landwirtschaft, die nicht ohne chemische Hilfsmittel auskommt, hin zu einer
flächendeckenden Einführung der ökologischen Landwirtschaft. Nur so können
alle Menschen ausreichend ernährt und die Ökosysteme, in denen wir leben,
geschützt werden. Die ökologische Landwirtschaft ist ein moderner und wirksamer
Ansatz zur Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen, der ohne giftige
Chemikalien auskommt und für gesunde und sichere Nahrungsmittel sorgt.

                      Diese ökologisch aufgezogene Ackerbohne ist in Griechenland heimisch und enthält viel Eiweiss.
                                                                                    © Greenpeace / Panos Mitsios

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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
1. Einführung

                                                                                                     Ein Arbeiter ohne
                                                                                                     Schutzkleidung, der nur
                                                                                                     eine Schutzmaske aus
                                                                                                     Papier trägt, sprüht
                                                                                                     Pestizide auf Gemüse­
                                                                                                     pflanzen in einem
                                                                                                     Gewächshaus.
                                                                                                     © Greenpeace /
                                                                                                     Ángel Garcia

1.1 Pestizide in                                                  Was sind Pestizide?
der Landwirtschaft                                                Ein «Pestizid» ist im Wortsinn der Akt des Aus­
                                                                  löschens einer Störung oder Seuche. Unter
Der Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide in der               chemisch-synthetischen Pestiziden versteht man
Landwirtschaft nahm in den 1950er-Jahren seinen                   Substanzen oder Gemische, die zur Bekämpfung
Anfang. Seither sind verschiedenste Arten von                     von Schädlingen eingesetzt werden, darunter
Chemikalien verwendet worden. Pestizide auf der                   Insekten, Pilze, Schimmel­pilze und Unkrautarten.
Basis von chlororganischen Verbindungen,                          Die Substanzen sind auch unter der Bezeichnung
organischen Phosphorsäureestern, Carbamaten                       «Pflanzenschutzmittel» bekannt.
und Pyrethroiden kamen zu jener Zeit auf den Welt­                Häufig werden sie nach dem jeweiligen Zielschädling
markt und markierten den Beginn der industriellen                 kategorisiert:
Landwirtschaft (Grüne Revolution). In den seither ver-            Insektizide: zur Insektenbekämpfung
gangenen Jahrzehnten wurden weitere Pestizid­                     Herbizide: zur Unkrautbekämpfung
sorten auf dem Weltmarkt eingeführt, darunter die                 Fungizide: zur Pilzbekämpfung
Neonicotinoide. Die industrielle Landwirtschaft                   Zusammengenommen decken diese Gruppen eine
setzt zum Schutz der Ernten vor Schädlingen und                   sehr grosse Anzahl einzelner aktiver Inhaltsstoffe,
Krankheiten und zur Ertragssteigerung inzwischen                  Rezepturen und Markennamen ab. Ferner werden
immer mehr auf den Einsatz chemisch-synthetischer                 Pestizide anhand ihrer chemischen Klasse kate­
Pestizide.                                                        gorisiert – z.B. Organophosphate (OP-Pestizide),
                                                                  Chlororganika (chlororganische Pestizide), Carbamate
                                                                  oder Neonicotinoide.

                            P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
1.1.1 Pestizidklassen                                            Wichtige OPP sind unter anderem: Acephat,
                                                                 Chlorpyrifos, Coumaphos, Diazinon, Dichlorvos,
                                                                 Fonofos, Parathion, Malathion, Methylparathion,
• ORGANOCHLORPESTIZIDE
                                                                 Phosmet. Chlorpyrifos und Malathion sind derzeit
(CHLORORGANISCHE PESTIZIDE)
                                                                 in der EU zur Verwendung zugelassen und in
                                                                 den USA für den Einsatz im Haushalt verboten.
Sie werden seit 1950 in der Landwirtschaft und im
öffentlichen Gesundheitswesen eingesetzt.
Mittlerweile wurde jedoch der Einsatz einiger dieser             • CARBAMATE
Substanzen wegen ihrer nachweislichen Toxizität
                                                                 Sie sind in der Regel neurotoxisch und ebenfalls
für Nichtzielarten, darunter den Menschen, enorm
                                                                 Acetylcholinesterase-Hemmer. Einige wurden mit
eingeschränkt oder ganz untersagt. Einige chlor­
                                                                 nachteiligen Auswirkungen auf die Entwicklung
organische Pestizide sind sehr stabile Verbindungen
                                                                 von Säuglingen und Kindern in Zusammenhang
und deshalb in der Umwelt ausserordentlich lang­
                                                                 gebracht (Morais et al. 2012).
lebig, weil sie natürlichen Abbauprozessen wider-
stehen. Aus diesem Grund werden mehrere nach
                                                                 Wichtige Carbamate sind unter anderem: Aldicarb,
dem Stockholmer Übereinkommen von 2001 als
                                                                 Carbaryl, Methiocarb, Pirimicarb, Maneb und
persistente organische Schadstoffe (Persistent
                                                                 Mancozeb (beides Dithiocarbamate), EPTC (S-Ethyl-
Organic Pollutants, POP) klassifiziert. Zwar sind die
                                                                 N,N-dipropylthiocarbamat oder Thiocarbamat).
Umweltkonzentrationen einiger Chlororganika mit
                                                                 Methiocarb, Pirimicarb, Maneb und Mancozeb sind
der Zeit gesunken, viele lassen sich jedoch nach
                                                                 derzeit in der EU zur Verwendung zugelassen.
wie vor als Verunreinigungen in verschiedensten
Ökosystembereichen nachweisen, so im Boden,
in Flusssedimenten, Sedimenten in Meeres- und                    • SYNTHETISCHE PYRETHROIDE
Küstengewässern und sogar tief in den Ozeanen
                                                                 Diese stören Signalprozesse der Zellen (Ionenkanäle).
und an den Polen (Willet et al. 1998).
                                                                 Einige wurden mit nachteiligen Auswirkungen auf
                                                                 die reproduktive Gesundheit des Mannes in Verbin­
Wichtige chlororganische Pestizide sind unter an­
                                                                 dung gebracht und stehen im Verdacht, endokrine
derem: Tetrachlorkohlenstoff, Chlordan, DDT, DDE,
                                                                 Störungen zu verursachen, indem sie sich auf die
Dieldrin, Heptachlor, β-HCH, γ-HCH. Keine dieser
                                                                 Hormonfunktion auszuwirken (Koureas et al. 2012).
Substanzen ist derzeit in der EU zur Verwendung
zugelassen.
                                                                 Wichtige Pyrethroide sind unter anderem:
                                                                 Cyhalothrin, Cypermethrin, Deltamethrin, Permethrin.
• ORGANOPHOSPHAT-PESTIZIDE (OPP)                                 Cypermethrin und Deltamethrin sind derzeit in
                                                                 der EU zur Verwendung zugelassen.
Die insektizide Wirkung bestimmter organischer
Phosphorsäureverbindungen wurde bei militärischen
Forschungen zu Nervengasen entdeckt. Seit dem                    • NEONICOTINOIDE
Zweiten Weltkrieg werden zahlreiche Organophos­
phat-Pestizide (OPP) für den Einsatz in der Land­                Sie bilden eine jüngere Klasse von Pestizidklasse.
wirtschaft vermarktet. OPP umfassen eine grosse                  Imidacloprid war beispielsweise 1985 erstmals im
Vielfalt chemischer Strukturen. Aufgrund ihres toxi­             Handel erhältlich. Die Substanzen ähneln in ihrer
schen Mechanismus zeigen diese Chemikalien als                   Struktur stark dem Nikotin und blockieren bestimmte
Pestizide Wirkung: Sie hemmen ein wichtiges                      Zellsignalwege. Ausserdem wirken sie sich negativ
Enzym (Acetylcholinesterase) im zentralen und peri­              auf die Entwicklung des Nervensystems aus (Kimura-
pheren Nervensystem – eine Eigenschaft, auf die                  Kuroda et al. 2012). Weil sie im Verdacht stehen,
auch ihre beobachtete Toxizität für Nichtzielarten               für Wild- und Honigbienen giftig zu sein, hat die Eu­
teilweise zurückzuführen ist.                                    ropäische Kommission einige Restriktionen erlassen.

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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
Wichtige Neonicotinoide sind unter anderem:                       Wirkungen in menschlichen Zelllinien und Auswir­
Clothianidin, Imidacloprid, Thiamethoxam.                         kungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit vermutet
                                                                  (Gasnier et al. 2009, Cassault-Meyer et al. 2014).
                                                                  Glyphosat wird weltweit in grossem Massstab
• CHLORACETAMIDE
                                                                  eingesetzt und ist aktiver Bestandteil von mehr als
                                                                  750 verschiedenen Produkten, die in der Land-
Sie können Fehlentwicklungen verursachen.
                                                                  und Forstwirtschaft, im städtischen Bereich und in
Alachlor und Metolachlor sind in der EU nicht
                                                                  Haushalten angewendet werden. Mit dem Anbau
mehr zugelassen.
                                                                  von «Roundup-Ready»-Kulturen, die genetisch so
                                                                  verändert wurden, dass sie gegen die Wirkung
• PARAQUAT                                                        von Glyphosat resistent sind, ist die Verwendung
                                                                  dieser Substanz stark gestiegen.
Das neurotoxische Herbizid stört die Photosynthese
und ist in der EU nicht mehr zur Verwendung
                                                                  • WEITERE PESTIZIDE MIT UNTERSCHIED­
zugelassen.
                                                                  LICHEN CHEMISCHEN STRUKTUREN

• GLYPHOSAT                                                       Weitere in der EU zur Verwendung zugelassene
                                                                  und auch anderswo eingesetzte Pestizide sind
Der aktive Bestandteil von Roundup hemmt ein be­                  unter anderem: Abamectin (Avermectin), Azoxystro­
stimmtes Enzym in Pflanzen. Die gesundheitlichen                  bin, Boscalid, Captan, Cyprodinil, Dicamba, Dinitrol,
Auswirkungen sind nach wie vor umstritten, die Inter­-            Fipronil, Pendimethalin und Pyrimethanil. Zu den
nationale Agentur für Krebsforschung (International               Substanzen, die in der EU nicht zur Verwendung
Agency for Research on Cancer, IARC) klassifizierte               zugelassen sind (von denen einige jedoch andern­
Glyphosat kürzlich als Wirkstoff der Gruppe 2A                    orts zur Verwendung zugelassen oder im
(wahrscheinlich krebserzeugend für den Menschen)                  Einsatz sein können), gehören: Benomyl, Kohlen­
(Guyton et al. 2015). Diese Klassifikation stützt sich            stoffdisulfid, Ethylendibromid (1,2-Dibromethan),
zwar, was den Menschen angeht, auf begrenzte                      Imazethapyr, Trifluralin. Diethyltoluamid (DEET), das
Erkenntnisse (insbesondere auf Verbindungen zu                    als Insektenschutzmittel eingesetzt wird und in
Non-Hodgkin-Lymphomen), für die Tierwelt liegt                    einigen Pestizidformulierungen (darunter in Carba­
jedoch eine tragfähige Basis verfügbarer Evidenz­                 maten) als Synergist enthalten ist, wird in den
daten vor. Darüber hinaus werden hormonelle                       EU-Verordnungen nicht erfasst.

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Pestizide und unsere Gesundheit - DIE SORGE WÄCHST RESEARCH LABORATORIES Mai 2015
1.2 Wo sind wir Pestiziden ausgesetzt?

                  DURCH DIE LUFT, DIE WIR IN LANDWIRTSCHAFTLICHEN
                  ODER STÄDTISCHEN GEBIETEN WÄHREND UND NACH
                  DEM VERSPRÜHEN VON PESTIZIDEN EINATMEN
                                                                                       DURCH PESTIZIDRÜCKSTÄNDE IM
                                                                                       STAUB IN UNSEREN WOHNBEREICHEN
                                       DURCH DIE NAHRUNG,
                                       DIE WIR ZU UNS NEHMEN

 DIREKTEN KONTAKT
 AM ARBEITSPLATZ
 ODER ZU HAUSE

                                                                             DURCH DAS TRINKEN VON WASSER, WENN DURCH DAS
                                                                             AUSBRINGEN VON PESTIZIDEN AUF LANDWIRTSCHAFTLICHEN
                                                                             NUTZFLÄCHEN OBERFLÄCHENGEWÄSSER UND GRUNDWASSER
         MENSCHEN, DIE NICHT IN DER LANDWIRTSCHAFT ODER IM                   KONTAMINIERT SIND
         GARTENBAU TÄTIG SIND ODER IN UNMITTELBARER NÄHE
         SOLCHER BEREICHE LEBEN, SIND PESTIZIDEN IN DER REGEL
         HAUPTSÄCHLICH ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME AUSGESETZT.

                           P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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1.2.1 Exposition über die Nahrung                                oder regional ein sogenannter Rückstandshöchst­
                                                                 gehalt (RHG) für jede Substanz. Ist diese Schwelle
Pestizidrückstände kommen in Nahrungsmitteln,                    überschritten, gilt das Nahrungsmittel als nicht mehr
die in industrieller Intensivlandwirtschaft angebaut             für den menschlichen Verzehr geeignet. Die Europä­
werden, häufig vor. Studien zeigen, dass Nahrungs­               ische Union beispielsweise legt RHG-Grenzen fest,
mittel häufig Mehrfachrückstände enthalten. Folglich             die für die gesamte Region gelten.
werden uns Pestizide als Gemische bzw. Cocktails
dargereicht (Fenik et al. 2011). Zur toxischen                   Mehrere zwischen 2007 und 2014 veröffentlichte
Wirkung von Pestizidgemischen ist sehr wenig be­                 Studien legen nahe, das Leguminosen, Blattge­
kannt, jedoch gilt als sicher, dass einige Substanzen            müse und Obst wie Äpfel und Weintrauben häufig
untereinander Synergieeffekte entwickeln können,                 die höchsten Pestizidrückstandswerte erreichen
sodass ihre kombinierte Wirkung stärker ist als die              (Bempah et al. 2012; Jardim et al. 2012; Fan et al.
der einzelnen Komponenten (Reffstrup et al. 2010).               2013; Yuan et al. 2014). Es liegen übereinstimmende
Eine toxikologische Bewertung von Gemischen aus                  Beweise vor, dass diese Substanzen in bestimmten
Pestizidrückständen ist angesichts der Anzahl                    Ländern regelmässig als Gemische aus Mehrfach­
möglicher Kombinationen und Interaktionen, die                   rückständen auftreten, und das häufig in Konzent­
auftreten können, hochkomplex.                                   rationen oberhalb der RHG-Grenzen (Latifah et al.
                                                                 2011; Jardim et al. 2012). Neben zahlreichen wei­
Nach Sutton et al. (2011) kann sich angesichts der               teren Pestiziden werden in unseren Nahrungsmitteln
typischen Ernährungsgewohnheiten in den USA                      immer wieder Cypermethrin, Chlorpyrifos, Iprodion,
aufgrund von Pestizidrückständen in Lebensmitteler­              Boscalid, Dithiocarbamate und Acephat nachge­
zeugnissen eine potenziell hohe kumulative Expo­                 wiesen (Claeys et al. 2011; Lozowicka et al. 2012;
sition der Allgemeinbevölkerung ergeben. Dies trifft             Yuan et al. 2014). Während umfassende Forsch­
wahrscheinlich auch auf andere Länder zu und kann                ungen nahelegen, dass einige dieser Rückstände
in Anbetracht des wiederholten Pestizidkonsums                   auf der Pflanzenoberfläche durch das Abwaschen
Anlass zur Besorgnis sein – insbesondere wenn es                 und Kochen von Gemüse reduziert werden können,
sich um lipophile Pestizide (die sich leicht mit Fett            ist in einigen Fällen durch das Zubereiten von Nah­
verbinden) oder bioakkumulierende Pestizide handelt              rungsmitteln sogar eine Steigerung ihrer Konzen­
(die sich mit den Jahren im Körper anreichern).                  tration möglich (Keikotlhaile et al. 2010).

PESTIZIDE IN OBST UND GEMÜSE                                     PESTIZIDE IN FISCHEN

Pestizide kommen in der kommerziellen Produktion                 Seit den 1970er-Jahren kommen Zinnorganika
von Obst und Gemüse weitläufig zum Einsatz.                      (Organozinnverbindungen, OZV) als Fungizide und
Rückstände angewendeter Pestizide können im Ge­                  Biozide in der Landwirtschaft weitläufig zum Ein­
webe oder auf der Oberfläche von Ernteprodukten                  satz. Zinnorganische Verbindungen (hauptsächlich
zurückbleiben, wenn diese auf den Markt kommen.                  Tribu­tylzinnhydrid, TBT) wurden häufig auch auf
Über viele Jahre hinweg haben Wissenschaftler                    Booten und Schiffen in Anstrichen verwendet, um
verschiedenste Techniken entwickelt, um Pestizid­                das Festsetzen von Muscheln und Algen zu ver­
konzentrationen in Nahrungsmitteln zu messen. Die                hindern (Antifouling). Dies hatte die weitreichende
Ergebnisse legen nahe, dass anhaltende Kontrollen                Verschmutzung zahlreicher Küstengewässer zur
erforderlich sind, um so weit wie möglich sicher­                Folge und führte schliesslich mit dem Internationalen
zustellen, dass für Pestizidrückstände festgelegte               Übereinkommen von 2001 über die Beschränkung
Grenzwerte bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen,                des Einsatzes schädlicher Bewuchsschutzsysteme
die auf den Markt gelangen, nicht überschritten                  auf Schiffen (AFS-Übereinkommen, seit 2008 in Kraft)
werden (Wilkowska und Biziuk 2011; Li et al. 2014).              zu einem weltweiten Verbot dieser Anwendung durch
In den meisten Ländern gilt entweder landesweit                  die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO).

                           P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
                                                            10
Eine weltweit durchgeführte Untersuchung der                    Insektizide und Akarizide werden häufig zur Be­
Verschmutzung durch Zinnorganika in Meeresum­                   kämpfung von Ektoparasiten wie der Roten Vogel­
welten ergab, dass eine auf dem Land als Pestizid               milbe in der Geflügel- und Eierproduktion eingesetzt.
eingesetzte Triphenylzinnverbindung (TPT) ebenfalls             In der Folge reichern sich einige dieser Pestizide in
häufig Sedimente verunreinigt (Yi et al. 2012).                 Muskeln, Fett und Leber an und lassen sich in Eiern
Phenylzinnverbindungen können von Meereslebe­                   auch noch lange nachweisen, nachdem die Chemi­
wesen nicht ohne Weiteres biologisch abgebaut                   kalien aus anderen Geweben bereits abtransportiert
werden, was ihre Bioakkumulation und potenzielle                wurden (Schenck und Donoghue 2000).
Biomagnifikation durch marine Nahrungsnetzsysteme
zur Folge hat. Besonders hohe Konzentrationen                   Auch Milch und Milcherzeugnisse enthalten auf­
an Zinnorganika lassen sich im Blut von Menschen                grund von Bioakkumulation und Ablagerung im
nachweisen, die Fisch und Meeresfrüchte in                      Fettgewebe der Tiere eine Reihe von Substanzen.
grösseren Mengen zu sich nehmen. Zum Schutz der                 Dies ist insbesondere von Bedeutung, weil Kuhmilch
öffentlichen Gesundheit wurde eine regelmässige                 in der menschlichen Ernährung häufig ein Grund­
Kontrolle der Konzentration dieser Substanzen                   nahrungsmittel ist, das vor allem Kinder reichlich zu
empfohlen (Yi et al. 2012).                                     sich nehmen.

PESTIZIDE IN TIERISCHEN PRODUKTEN                               BIO-LEBENSMITTEL IM VERGLEICH ZU
                                                                ERZEUGNISSEN AUS DER INDUSTRIELLEN
Auch in Nutztieren können sich Pestizide aus                    LANDWIRTSCHAFT
kontaminierter Nahrung oder dem veterinären
Pestizideinsatz anreichern. In der Regel werden                 Studien haben gezeigt, dass die meisten Kinder
diese Substanzen im Fett und in den Muskeln der                 Pestiziden hauptsächlich über ihre Ernährung aus­
Tiere gespeichert, einige wurden jedoch auch in                 gesetzt sind. Folglich kann man davon ausgehen,
Gehirn, Leber, Lunge und anderen Innereien nach­                dass Kinder, die Nahrungsmittel aus biologischem
gewiesen (LeDoux 2011).                                         Anbau zu sich nehmen, durchweg geringere

                      In einer Apfelplantage in der Nähe von Hamburg in Deutschland werden Pestizide ausgebracht.
                                                                                  © Greenpeace / Christian Kaiser

                          P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
                                                           11
Pestizidrückstände im Urin aufweisen als jene,                    Menschen, die in landwirtschaftlichen Gebieten
deren Ernährung auf Erzeugnissen aus der konven­                  wohnen, können aus diesem Grund abgedrifteten
tionellen industriellen Landwirtschaft basiert                    Pestiziden stark ausgesetzt sein. Gleichermassen
(Forman et al. 2012).                                             können Menschen solchen Belastungen durch das
                                                                  Einatmen konta­minierter Luft ausgesetzt sein,
Lu et al. (2006) untersuchten Metaboliten von OPP                 wenn Pestizide in Parks und städtischen Bereichen
im Urin von Kindern zwischen 3 und 11 Jahren in                   oder zu Hause versprüht werden.
Seattle, USA. Diese Kinder wurden fünf Tage lang
konventionell ernährt, darauf gab man ihnen
fünf Tage lang Nahrungsmittel biologischer Herkunft.
                                                                  1.2.3 Exposition über Hausstaub,
Es wurde beobachtet, dass die Konzentrationen                     Versprühen und Gartenerde
der Pestizide Malathion und Chlorpyrifos rasch auf
                                                                  Untersuchungen haben ergeben, dass Hausstaub
ein Niveau sanken, auf dem sie nicht mehr nach­
                                                                  mit zahlreichen Chemikalien kontaminiert ist, dar­
gewiesen werden konnten, nachdem Kinder in den
                                                                  unter auch einigen Pestiziden, insbesondere wenn
zweiten fünf Tagen eine biologische Ernährung
                                                                  sie häufig zur Bekämpfung von Haushaltsschäd­
eingehalten hatten. Kehrten sie zur konventionellen
                                                                  lingen eingesetzt werden (Naeher et al. 2010).
Ernährung zurück, stiegen die Konzentrationen
                                                                  Die wichtigsten Substanzen, die bei der Schädlings­
dieser Metaboliten von OPP im Urin erneut an.
                                                                  bekämpfung im Haushalt zum Einsatz kommen,
                                                                  sind die Pyrethroide Permethrin und Cyfluthrin sowie
Bei dieser Studie setzte sich die biologische Ernäh­
                                                                  in einigen Fällen Chlorpyrifos. Das Verschlucken,
rung der Kinder aus frischem Obst und Gemüse,
                                                                  das Einatmen und der Hautkontakt mit kontaminier­
verarbeitetem Obst oder Gemüse wie Säften sowie
                                                                  ten Stäuben kann zu anhaltenden und vielfältigen
Elementen auf Weizen- und Maisbasis zusammen.
                                                                  Pestizidexpositionen führen (Morgan et al. 2007,
Untersuchungen zufolge enthalten Nahrungsmittel
                                                                  2014; Starr et al. 2008). Wohnstätten in landwirt­
aus diesem Bereich, die aus industrieller Landwirt­
                                                                  schaftlichen Gebieten, insbesondere in unmittelbarer
schaft stammen, in der Regel OPP. Dies legt den
                                                                  Nähe von Flächen, die mit Pestiziden behandelt
Schluss nahe, dass Kinder aller Wahrscheinlichkeit
                                                                  werden, haben sich als stärker kontaminiert heraus­
nach ausschliesslich durch ihre Ernährung Chlorpy­
                                                                  gestellt (Harnly et al. 2009). Kontaminierter Staub
rifos und Malathion ausgesetzt sind (Lu et al. 2006).
                                                                  stellt jedoch auch in städtischen Bereichen,
                                                                  in denen Rückstände infolge von Anwendungen
1.2.2 Exposition durch das Versprühen                             im Haushalt bestehen bleiben, ein potenzielles
von Pestiziden in landwirtschaftlichen                            Problem dar (Naeher et al. 2010; Muñoz-Quezada
und städtischen Gebieten                                          et al. 2012).

Auf landwirtschaftlichen Nutzflächen und in städti­
schen Bereichen versprühte Pestizide können wäh­
rend der Anwendung von der Luft erfasst werden
und in grosse Entfernungen abdriften. Eine Studie in
den USA ergab beispielsweise, dass mehrere häufig
eingesetzte Pestizide in grosser Entfernung von den
Orten nachweisbar waren, an denen sie land-
wirtschaftlich angewendet worden waren. In Entfer­
nungen zwischen 10 und 150 Metern vom Einsat­
zort überschritten einige Pestizide wie Diazinon und
Chlorpyrifos sogar die von Regierungsseite fest­
gelegten Sicherheitsniveaus (Referenzwerte für die
Exposition über die Luft) (Sutton et al. 2011).

                            P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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Ein Bauer sprüht Pestizid auf
seinen Chinakohl in Hebei.
©Greenpeace / LiGang

                                Ein indischer Apfelbauer spritzt seine
                                             Plantage mit Pestiziden.
                                         © Greenpeace / Peter Caton
Bauern und
                     ihre Familien

                                                                                                    Säuglinge durch
                                                                                                      Muttermilch

    Kinder im                                      Besonders
    Mutterleib                                     exponierte
                                                  und anfällige
                                                   Personen-
                                                    gruppen

                                                                                      Kleinkinder und
                                                                                         Säuglinge

Wir alle sind Pestiziden in unterschiedlichem Mass ausgesetzt, selbst wenn
wir uns bemühen, sie zu meiden. Aufgrund spezifischer Umstände und
Eigenschaften sind jedoch einige Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach
Pestiziden besonders stark ausgesetzt oder gegenüber ihren nachteiligen
Auswirkungen besonders empfindlich.

                           P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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1.3 Besonders exponierte und                                      längerfristige Exposition gegenüber Chlororganika
                                                                  hinweist, die in der Umwelt extrem langlebig sind
anfällige Personengruppen                                         (Schummer et al. 2012). Diese Ergebnisse implizieren,
                                                                  dass Pestizidausbringer selbst unter Einhaltung der
1.3.1 Beschäftigte in der Landwirtschaft
                                                                  erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen erhöhten
                                                                  Expositionswerten ausgesetzt sind, die sich auch in
Landwirte und ihre Familien können Pestiziden
                                                                  ihrem Körpergewebe nachweisen lassen. Wie lange
stärker als die Allgemeinbevölkerung ausgesetzt
                                                                  einige der Pestizide, die nach wie vor aktiv verwen­
sein. Landwirte, die Pestizide versprühen (Pestizi­d­-
                                                                  det werden, tatsächlich im Körper verbleiben, ist
ausbringer), sind den höchsten Konzentrationen
                                                                  nicht ausreichend bekannt, jedoch ist dieser Faktor
ausgesetzt, doch auch Beschäftigte in Gewächs­
                                                                  möglicherweise auch weniger bedeutend, wenn
häusern können in sehr hohem Masse mit Pestiziden
                                                                  Verwendung und Exposition regelmässigen Wieder­
in Kontakt kommen.
                                                                  holungen unterliegen.
In einer in Europa durchgeführten Studie, die sich
mit Rückständen in den Haaren von Landarbeitern                   Auch die in landwirtschaftlichen Gebieten ansässigen
auseinandersetzte, wurden 33 verschiedene                         Familien von Landwirten sind Pestiziden möglicher­
Substanzen nachgewiesen, darunter Herbizide und                   weise etwas stärker ausgesetzt als der Durchschnitt
Fungizide. Am häufigsten fand man die Pestizide                   der Bevölkerung, weil auf Feldern versprühte Pesti­
Pyrimethanil, Cyprodinil und Azoxystrobin, wobei die              zide zu den Wohnstätten dieser Familien abdriften
nachgewiesenen Konzentrationen den Bewirtschaf­                   können und Landarbeiter nach der Arbeit kontami­
tungsarten und den eingesetzten Produkten ent­                    nierte Kleidung und Schuhe mit nach Hause bringen.
sprachen. Ähnliche Konzentrationen von p,p’-DDE                   Dies ist im Hinblick auf Säuglinge und Kinder be­
und γ-HCH (nicht mehr in Verwendung) fanden                       sonders besorgniserregend, weil sie für die toxischen
sich bei allen untersuchten Personen, unabhängig                  Auswirkungen einiger Pestizide an­fälliger sind als
von ihrer Funktion im Agrarbetrieb, was auf eine                  Erwachsene (Arcury et al. 2007).

                                                  Ein Arbeiter ohne Schutzkleidung, der nur eine Maske aus Papier trägt,
                                                         sprüht Pestizide auf Gemüse in einem Gewächshaus in Spanien
                                                                                           © Greenpeace / Ángel Garcia

                            P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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1.3.2 Kinder, Säuglinge und                                       gebracht. In einer Studie in Taiwan wurden im
Exposition im Mutterleib                                          Zeitraum von 2000 bis 2001 in Muttermilchproben
                                                                  nachgewiesen (Choa et al. 2006). Bei den vor­-
Wenn Schwangere und stillende Mütter Pestiziden                   rangig in den Milchproben gefundenen Pestiziden
ausgesetzt sind, kann die Belastung auch auf ihre                 handelte es sich um p,p’-DDE, p,p’-DDT, α-Chlordan,
Kinder übergreifen. Einige Pestizide können über                  Heptachlorepoxid, Heptachlor, β-HCH und γ-HCH.
die Plazenta auf den sich entwickelnden Fötus im                  Studien in anderen Teilen der Welt kamen zu
Mutterleib und über die Muttermilch auf den ge­                   ähnlichen Ergebnissen, so in Kolumbien, Korea
stillten Säugling übergehen. In den frühen Entwick­               und Deutschland (Lee et al. 2013a; Raab et al.
lungsphasen bilden sich die Organe des Kindes aus                 2013; Rojas-Squella et al. 2013). Untersuchungen
und können für die Auswirkungen giftiger Chemika­                 deuten darauf hin, dass die Konzentrationen dieser
lien äusserst anfällig sein. Das noch in Entwicklung              langlebigen OCPs in menschlicher Muttermilch
begriffene Gehirn eines Kindes ist beispielsweise                 derzeit in vielen Ländern, in denen diese Substanzen
gegenüber Neurotoxika empfindlicher. Zudem ist die                seit einiger Zeit verboten sind, zurück­gehen (Ulas­
Dosis von Pestiziden bezogen auf das Körperge­                    zewska et al. 2011). Die Ernährung ist und bleibt ein
wicht bei Kindern aufgrund ihrer geringeren Grösse                wich­tiger Faktor für die Pestizid­belastung, insbeson­
wahrscheinlich höher (Weiss 2000). Weiter sind                    dere wenn Fisch einen hohen Anteil daran ausmacht
bestimmte Enzyme, die aktivierte Formen von Pesti­                (Solomon und Weiss 2002).
ziden entgiften, bei Kindern insgesamt in geringerem
                                                                  Zu den chlororganischen Pestiziden, die in vielen
Masse vorhanden und weniger aktiv (Holland et al.
                                                                  Teilen der Welt noch häufig in der Landwirtschaft
2006).
                                                                  eingesetzt werden, gehören Lindan und Endosulfan.
                                                                  In einer 2003 in Indien veröffentlichten Studie wurden
KONTAMINIERTE MUTTERMILCH                                         in Muttermilchproben von Frauen aus Bhopal hohe
                                                                  Endosulfankonzentrationen nachgewiesen (Sanghi
Vor dem Abstillen ist Muttermilch für Säuglinge die               et al. 2003). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
beste Ernährungsform, insbesondere weil wichtige                  hat Werte für die Pestizidkonzentrationen in Mutter­
Elemente zum Schutz vor Krankheiten vom System                    milch festgelegt, die aufgrund der Wissenslage zu
der Mutter auf das Kind übertragen werden. Ange­                  ihrer Toxizität als «akzeptabel» gelten (die sogenann­
sichts der Tatsache, dass das Stillen in eine der                 te «erlaubte Tagesdosis» – Acceptable Daily Intake,
sensibelsten Phasen der kindlichen Entwicklung fällt,             ADI). Laut Sanghi et al. (2003) überschritten sie den
ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine                    Wert um das 8,6-Fache (9,6) oder waren sie 8,6
Kontamination der Muttermilch mit schädlichen                     mal so hoch (8,6). Auch Lindan wurde in der Mutter­
Chemikalien minimiert bzw. so weit wie möglich                    milch dieser indischen Frauen nachgewiesen.
ver­mieden wird. Daten aus Untersuchungen von
Muttermilch in verschiedenen Ländern zeigen                       Organophosphat-Pestizide (OPP) und synthetische
jedoch, dass die Pestizidkontamination nach wie                   Pyre­throide gelten nicht als umweltpersistent. Folg­
vor ein Problem darstellt.                                        lich wurden ihre Konzentrationen in der Muttermilch
                                                                  kaum untersucht. Einige Studien haben jedoch
Insbesondere chlororganische Pestizide reichern sich              deutlich gezeigt, dass diese Pestizide die menschliche
bekanntermassen durch Bioakkumulation im Körper­                  Muttermilch sehr wohl kontaminieren. Während
fett und in der Muttermilch an, wenn sie regelmässig              die Konzentrationen möglicherweise rückläufig sind,
mit der Nahrung aufgenommen werden. Aufgrund                      werden nun deutlich mehr OPP und synthetische
ihrer Langlebigkeit in der Umwelt kontaminieren sie               Pyrethroide in der Muttermilch nachgewiesen, da
so unseren Körper Tag für Tag weiter. Diese Che­                  diese Substanzen Pestizide, deren Ein satz stärker
mikalien wurden in epidemiologischen Studien mit                  eingeschränkt wurde, abgelöst haben (Sharma et
nachteiligen Auswirkungen auf die menschliche                     al. 2014). Sanghi et al. (2003) stellten in der Mutter­
Entwicklung in einen statistischen Zusammenhang                   milch von Frauen aus Bhopal hohe Konzentrationen

                            P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
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des OPP Chlorpyrifos sowie von Malathion fest.                   Expositionswege als auch Expositionsraten zu
In dieser Studie überschritten die Chlorpyrifos-Werte            beurteilen, ist schon jetzt klar, dass Kinder vielen
in der Muttermilch die ADI-Werte der WHO um das                  verschiedenen Substanzen permanent und auf
4,1-Fache. In einer jüngeren Pilotstudie in den USA              unterschiedliche Weise ausgesetzt sind. Selbst bei
wurden zudem Chlorpyrifos, Chlorpyrifosmethyl                    geringen Konzentrationen einzelner Substanzen
und das Carbamat-Insektizid Propoxur in der Mutter­              gibt diese anhaltende kombinierte Exposition gegen­
milch nachgewiesen (Weldon et al. 2011).                         über komplexen Substanzgemischen Anlass zur
                                                                 Sorge. Morgan et al. (2014) beschreiben die Expo-
Sharma et al. (2014) identifizierten in einer Unter­             sition gegenüber verschiedenen Pestiziden bei
suchung in Indien zu den Schadstoffen in der Mutter­             Vorschulkindern in den USA über multiple Wege,
milch Cyfluthrin, ein synthetisches Pyrethroid,                  darunter Umweltquellen (Staub und Luft zu
als das am häufigsten nachgewiesene Pestizid.                    Hause und in der Kindertagesstätte), Pflegeprodukte
Bei dieser Studie wurden Werte festgestellt,                     (Feuchttücher) und Nahrungsmittel. Die Absorptions­-
die für Säuglinge, die Muttermilch zu sich nehmen,               raten unterscheiden sich je nach Substanzen
ein Gesundheitsrisiko darstellen würden. Darüber                 und Expositionswegen. Die Pestizide α-Chlordan,
hinaus wurden inzwischen auch synthetische Pyre­                 γ-Chlordan, Heptachlor, Chlorpyrifos, Diazinon und
th­roide in Muttermilchproben nachgewiesen,                      Permethrin wurden allerdings häufig in den Wohn­
die sowohl in städtischen als auch in landwirtschaft­            stätten dieser Kinder und ihren Kindertagesstätten
lichen Gebieten in Spanien, Brasilien und Kolumbien              nachgewiesen, wobei sich die Ernährung als
genommen wurden (Corcellas et al. 2012). Diese                   wichtigster Expositionsweg für Chlorpyrifos und
Ergebnisse deuteten darauf hin, dass sich die                    Permethrin herausstellte.
Pestizide entweder im Körper anreichern können
(was der Annahme entgegensteht, dass sie im
Stoffwechsel rasch umgewandelt werden) oder dass
die Schadstoffbelastung durch wiederholte Expo­
sition zunimmt.

MULTIPLE EXPOSITIONSWEGE

Kleinkinder verbringen einen Grossteil ihrer Zeit zu
Hause oder draussen auf dem Boden bzw. in Bo­
dennähe. Sie berühren Staub und Erde häufig und
die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Chemikalien
verschlucken, ist deshalb höher, weil sie regelmäs­
sig ihre Hände, ihr Spielzeug oder andere Objekte in
den Mund nehmen. Untersuchungen zu Schadstof­
fen im Haushalt und die direkte Überwachung von
Substanzen im Urin von Kindern haben deutlich ge­
zeigt, dass Kinder, insbesondere Kleinkinder, Sub­
stanzen wahrscheinlich über verschiedene Wege
ausgesetzt sind, beispielsweise durch Verschlucken
oder Einatmen von Erde, Teppichstaub, Nahrung
oder Luft (Naeher et al. 2010; Muñoz-Quezada et
al. 2012; Morgan et al. 2014). Die Expositionsmus­
ter weisen geografische und jahreszeitenbedingte
Unterschiede auf. Während Wissenschaftler derzeit
daran arbeiten, sowohl

                           P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
                                                            17
2. Gesundheitliche
Auswirkungen von Pestiziden

                                                                                                     In diesem spanischen
                                                                                                     Gewächshaus wir
                                                                                                     das heranwachsende
                                                                                                     Gemüse mit Pestiziden
                                                                                                     eingenebelt.
                                                                                                     © Greenpeace /
                                                                                                     Ángel Garcia

2.1 Auswirkungen der pränatalen (fötalen)
Exposition und der Exposition im Kindesalter
Während seiner (früh)kindlichen Entwicklung ist der Mensch für die Auswirkungen
von giftigen Chemikalien, darunter Pestiziden, besonders anfällig (s. nächste Seite).
Die Pestizidexposition Schwangerer – und in einigen Fällen die Exposition
von Kleinkindern selbst – wurde mit nachteiligen gesundheitlichen Folgen für die
Kinder in Zusammenhang gebracht, darunter:

1. geringeres Geburtsgewicht, geringere Grösse bei der Geburt und
   Auftreten von Fehlentwicklungen
2. geringere Intelligenz
3. Verhaltensstörungen
4. höhere Inzidenz von Leukämie und anderen Krebsarten
5. höhere Fehlgeburtenrate

Diese nachteiligen gesundheitlichen Auswirkungen wurden bei Kindern fest­
gestellt, deren Mütter in der Schwangerschaft mit Pestiziden gearbeitet hatten.
Die gesundheitlichen Auswirkungen der Pestizidexposition betreffen jedoch
die Kinder der Allgemeinbevölkerung in landwirtschaftlichen Gebieten und in
Städten gleichermassen.

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Anfälligkeit der Jüngsten gegenüber toxischen Pestiziden

Der sich entwickelnde Fötus im Mutterleib und das Neugeborene können für die schädlichen
Auswirkungen giftiger Pestizide besonders anfällig sein. Der Fötus ist aufgrund der
Komplexität seiner Entwicklungsprozesse und seines schnellen Wachstums im Fall der
Exposition gegenüber Chemikalien besonders empfindlich.

Neurotoxische Pestizide können sich insbesondere auf das in Entwicklung begriffene
Nervensystem auswirken. Zu den für das Nervensystem giftigen Pestiziden gehören Organo­
phosphat-Pestizide (OPP) sowie einige Carbamate, Pyrethroide und Neonicotinoide.
Von vielen dieser Pestizide weiss man, dass sie die Plazentaschranke überwinden können;
OPP beispielsweise wurden im den Fötus umgebenden Fruchtwasser nachgewiesen und
stellen somit in einer Phase, in der sich das Gehirn besonders schnell entwickelt, eine Be­
drohung für das ungeborene Kind dar (Rauh et al. 2011).

Das Immunsystem ist bei Föten und Neugeborenen noch nicht entwickelt, sodass
giftige Chemikalien ebenfalls nachteilig darauf wirken können. Neugeborene und Kleinkinder
verfügen im Vergleich zu Erwachsenen über deutlich weniger entgiftende Enzyme.
Zum Beispiel deutet der im Vergleich zu Erwachsenen geringere Spiegel des PON1-Enzyms
bei Neugeborenen darauf hin, dass sie unter Umständen auf Expositionen gegenüber
Organophosphat-Pestiziden besonders anfällig reagieren, weil sie diese Chemikalien nicht so
schnell aufspalten und entgiften können (Huen et al. 2012).

Auch Stillkinder sind Risiken ausgesetzt, weil Muttermilch, die bekanntermassen durch Pestizide
kontaminiert ist, ihre einzige Nahrungsquelle darstellt und ihr Stoffwechsel noch nicht reif
genug ist, um diese Schadstoffe eliminieren zu können (Corcellas et al. 2012). Hinzu kommt,
dass sowohl gestillte Neugeborene als auch Kleinkinder im Vergleich zu Erwachsenen stärker
durch giftige Pestizide gefährdet sind, weil die Dosis bezogen auf das Körpergewicht wegen
ihrer geringeren Grösse höher ist (Bouchard et al. 2011).

Diese Kinder sind im Zuge ihrer Entwicklung nicht nur Pestiziden ausgesetzt, sondern auch
anderen schädlichen Chemikalien, und zwar über verschiedene Wege. Die möglichen
Folgen derart komplexer Expositionsmuster sind allgemein anerkannt, aber nach wie
vor unzureichend untersucht und werden nur sehr unzulänglich verstanden.

                  P E S TIZID E U ND U NS E R E G E SUN DH EI T – DI E SO R G E WÄC H ST
                                                   19
2.1.1 Geburtsfehler                                               Kindern, die in den ersten Lebensjahren über die
                                                                  Nahrung und in der häuslichen Umgebung Pestizi­
Die Konzentrationen von Pestiziden wie des OPP                    den ausgesetzt waren, ergaben gewisse negative
Chlorpyrifos, die im Blut fötaler Nabelschnüre                    Auswirkungen von OPP auf die Entwicklung von
von Säuglingen in New York nachgewiesen wurden,                   Gehirn und Nervensystem des Kindes (Muñoz-
deuten darauf hin, dass eine höhere Pestizidex­                   Quezada et al. 2013). Entwicklungsrelevante Aus­
position im Mutterleib das fötale Wachstum beein­                 wirkungen wurden hauptsächlich als kognitiv und
trächtigen kann (Whyatt et al. 2004). Barr et al.                 verhaltensbezogen beschrieben, insbesondere jene
(2010) kommen bei Metolachlor zu ähnlichen Ergeb-                 im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsstörungen
nissen und weisen ebenfalls darauf hin, dass Pestizid-            und motorischen Fähigkeiten.
belastungen möglicherweise mit dem Geburtser­
gebnis in Zusammenhang stehen, wenngleich in der                  BEEINTRÄCHTIGUNG DER GEISTIGEN
Studie aus den Daten keine Kausalität abgeleitet                  ENTWICKLUNG
werden konnte.
                                                                  In landwirtschaftlichen Gebieten sind Mutter und
                                                                  Kind Pestiziden wahrscheinlich durch eine Kombi­
In den USA gebaren Frauen, die in Haushalt und
                                                                  nation aus Ernährung und Exposition gegenüber
Garten regelmässig Pestizide eingesetzt hatten,
                                                                  Agrochemikalien ausgesetzt, die auf Feldern in der
mit einer zweimal höheren Wahrscheinlichkeit Kinder
                                                                  Nähe ihrer Wohnstätten versprüht und durch die
mit Neuralrohrdefekten (Brender et al. 2010).
                                                                  Luft verteilt werden. Eine Studie in der Agrarregion
Andere Geburtsfehler bei Neugeborenen, deren
                                                                  des Salinas Valley, Kalifornien, dokumentierte die
Mütter anhaltend höheren Pestizidkonzentrationen
                                                                  pränatale Belastung durch OPP anhand von Pestizid-
ausgesetzt waren, umfassen Kreislauf-, Atemwegs-,
                                                                  ­werten, die im Urin schwangerer Frauen nachge­
Urogenital- und Skelettdefekte (Garry et al. 1996).
                                                                   wiesen wurden (Bouchard et al. 2011). Hohe Konzent-
Zudem wurde in den USA berichtet, dass Mütter,
                                                                   rationen dieser Pestizide im Urin der Mütter standen
die in unmittelbarer Nähe (< 500 m) von Maisfeldern
                                                                   in einem statistischen Zusammenhang mit einer
mit einer Grösse von 2,4 Hektar oder mehr lebten,
                                                                   schlechteren geistigen Entwicklung der Kinder bei
mit höherer Wahrscheinlichkeit Säuglinge mit Glied­
                                                                   Erreichen des siebten Lebensjahres. Die Kinder
massendefekten auf die Welt brachten (Ochoa-
                                                                   der am stärksten belas­teten Mütter wiesen eine
Acuña und Carbajo 2009). Dieser Zusammenhang
                                                                  IQ-Abweichung von durchschnittlich 7 Punkten
zeigte sich jedoch nicht bei Müttern, die in einer
                                                                  unter dem Leistungsniveau der Kinder von Müttern
ähnlichen Entfernung zu Sojafeldern lebten, und
                                                                  mit der geringsten Belastung auf. Solche kognitiven
bisher konnte noch nicht vollständig geklärt werden,
                                                                  Auswirkungen traten bei Kindern auf, bei deren
ob dieser Zusammenhang auf den Einsatz bestimm­
                                                                  Müttern im Urin Werte von OPP gemessen wurden,
ter Agrochemikalien, auf Applikationstechniken oder
                                                                  die nahe beim oberen Ende der Bandbreite lagen,
-raten beim Maisanbau oder auf die Toxizität in
                                                                  die typischerweise für die Allgemeinbevölkerung in
Verbindung mit dem Auftreten eines Schimmelpilz­
                                                                  den USA ermittelt wird.
gifts in kontaminiertem Mais zurückzuführen ist.
                                                                  Organophosphat-Pestizide werden in städtischen
2.1.2 Neurotoxizität                                              Bereichen nach wie vor zur Schädlingsbekämpfung
                                                                  eingesetzt. Bis 2001 wurde vor allem das OPP
Immer mehr Forschungsergebnisse deuten darauf                     Chlorpyrifos in städtischen Räumen in grossem
hin, dass eine pränatale Pestizidexposition (wenn ein             Umfang angewendet. Rauh et al. (2011) beschrei­
ungeborenes Kind während der Schwangerschaft                      ben die Belastung schwangerer Frauen in New York
Pestiziden ausgesetzt ist) anhaltende Auswirkungen                City mit Chlorpyrifos und die potenziellen Auswir­
auf Verhalten und Intelligenz des Kindes haben                    kungen auf ihre Kinder. Bei der Geburt entnommene
kann. Dabei spielen insbesondere OPP eine Rolle.                  Blutproben aus der Nabelschnur zeigten, dass eine
Insgesamt 26 von 27 veröffentlichten Studien zu                   pränatale Chlorpyrifos-Exposition im Mutterleib in

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einem statistischen Zusammenhang mit einer be-                     einer pränatalen Chlorpyrifos-Exposition fest.
einträchtigten geistigen Entwicklung der Kinder bei                Die Gehirnstruktur von 40 dieser Kinder zwischen
Erreichen des 7 Lebensjahres steht. Eine höhere                    6 und 11 Jahren wurde mithilfe von Magnetre­
Chlorpyrifos-Exposition im Mutterleib wurde im Alter               sonanztomografie (MRT) untersucht. Kinder, die im
von 7 Jahren mit Defiziten des Working Memory                      Mutterleib höheren Chlorpyrifos-Konzentrationen
Index (Arbeitsgedächtnis-Index) und des IQ in Ver­                 ausgesetzt waren, wiesen mehr Anomalien in der
bindung gebracht. Diese Ergebnisse decken sich                     Gehirnstruktur auf, und zwar in jenen Hirnarealen,
mit jenen der Studie im Salinas Valley, bei der Kinder             die mit bestimmten kognitiven und verhaltensbe­
mit OPP-Exposition im Mutterleib ebenfalls Defizite                zogenen Prozessen in Zusammenhang stehen.
beim Arbeitsgedächtnis und beim IQ aufwiesen.                      Veränderungen der Gehirnstruktur zeigten sich auf
Es ist davon auszugehen, dass solche Defizite bei                  der gesamten Gehirnoberfläche, wobei manche
diesen Kindern zu langfristigen Problemen beitragen,               Bereiche eine anormale Vergrösserung aufwiesen
da sich Beeinträchtigungen des Arbeitsgedächt­                     und andere ausgedünnt waren. Zusammenhänge
nisses vermutlich nachteilig auf das Leseverständ­                 zwischen einer pränatalen Chlorpyrifos-Exposition
nis, das Lernen und die akademische Leistung                       sowie einer veränderten Gehirnstruktur und
aus­wirken und erhebliche wirtschaftliche Folgen                   Defiziten in der kognitiven Entwicklung deuteten
nach sich ziehen können (Rauh et al. 2011).                        auf die Langfristigkeit dieser neurotoxischen
                                                                   Auswirkungen bis in die mittlere und späte Kindheit
Diese Ergebnisse decken sich auch mit denen                        hin. Zudem decken sich diese Erkenntnisse mit
einer Studie, die sich mit der Gehirnstruktur von                  den Ergeb­nissen kontrollierter Laborexperimente,
Kindern in New York City befasste (Rauh et al.                     die darauf hindeuten, dass ähnlich nachteilige
2012). Forscher stellten einen statistischen Zusam­                Aus­wirkungen bei Tieren möglicherweise irrever­
menhang zwischen strukturellen Veränderungen im                    sibel sind (Rauh et al. 2012).
sich entwickelnden menschlichen Gehirn und

                                                                  In Argentinien wird gentechnisch veränderte Soja bespritzt.
                                                                                           © Greenpeace Gustavo / Gilabert

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Dies hat zweifellos gravierende Folgen für die                    kann (Bouchard et al. 2012). Diese Ergebnisse
öffentliche Gesundheit. Die Chlorpyrifos-Konzen­                  werden auch von Jurewicz und Hanke (2008)
trationen, denen die Kinder in der Studie von                     gestützt, die die Pestizidexposition von Kindern im
Rauh et al. (2012) ausgesetzt waren, lagen innerhalb              Mutterleib und während der Kindheit sowie ihre
der Bandbreite der Belastung, der die Allgemein­                  verhaltensneurologische Entwicklung untersucht
bevölkerung unterliegt. Daher ist es äusserst besorg­-            haben. Trotz einiger Abweichungen bei den Schluss­-
niserregend, dass Organophosphat-Pestizide,                       folgerungen ergeben die Studien insgesamt, dass
darunter auch Chlorpyrifos, in der Landwirtschaft                 die Pestizidexposition bei Kindern zu einer gestörten
weltweit noch immer zur Schädlingsbekämpfung                      verhaltensneurologischen Entwicklung führt.
eingesetzt werden. Zwar gelten für den Hausge­
brauch von Chlorpyrifos Restriktionen und für seinen
                                                                  WEITERE NACHWEISE ÜBER
Einsatz im öffentlichen Raum Vorschriften (z.B.
                                                                  DIE NEUROTOXIZITÄT VON PESTIZIDEN
Pufferzonen), dennoch wird das Produkt als Insek­
tizid in öffentlichen Bereichen wie Golfplätzen und
                                                                  Es gibt Hinweise darauf, dass eine pränatale
in einigen Parks nach wie vor angewendet.
                                                                  Belastung mit OPP die motorischen Fähigkeiten
                                                                  (Kontrolle der Muskel­bewegungen) negativ be­
NACHTEILIGE AUSWIRKUNGEN AUF                                      einflusst. Im Norden Ecuadors wird in Gewächs­
DAS VERHALTEN                                                     häusern intensive Blumenzucht betrieben; OPP
                                                                  sind hier häufig im Einsatz. Eine Untersuchung von
Negative Auswirkungen auf das Verhalten von                       Kindern (6–8 Jahre), deren Mütter während der
Kindern (hauptsächlich in Form von Aufmerk­                       Schwangerschaft in den Gewächshäusern gear­
samkeitsproblemen) wurden sowohl in der Agrar­                    beitet hatten, deutete auf konsistente Defizite bei
region des Salinas Valley in Kalifornien als auch                 der motorischen Geschwindigkeit und Koordination
in New York City mit einer pränatalen OPP-Exposition              sowie der allgemeinen geistigen Leistungsfähigkeit
in Ver­bindung gebracht (Marks et al. 2010;                       im Vergleich zu anderen Kindern hin, deren Mütter
Muñoz-Quezada et al. 2013).                                       bei der Arbeit keinen Pestiziden ausgesetzt waren
                                                                  (London et al. 2012). Diese Auswirkungen standen
Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts­                  mit einer Entwicklungsverzögerung von 1,5 bis 2
störung (ADHS) handelt es sich um eine komplexe                   Jahren der Kinder in Zusammenhang, selbst wenn
Störung, deren genaue Ursachen nicht bekannt                      die Pestizidbelastung bei ihren Müttern zu keinen
sind. Man geht davon aus, dass rund 8–9 Prozent                   akuten Beeinträchtigungen der Gesundheit führte.
der US-amerikanischen Kinder im Schulalter
ADHS haben (Pastor und Reuben 2008). Derart
                                                                  DIE BESONDERE GEFÄHRDUNG FÜR IN
ausge­prägte Aufmerksamkeitsprobleme bei
                                                                  DER LANDWIRTSCHAFT TÄTIGE KINDER
Kindern wirken sich bekanntermassen nachteilig
auf das Lernen und die soziale Entwicklung aus                    Wenn Kinder selbst in der Landwirtschaft arbeiten
(Marks et al. 2010).                                              und Pestizide anwenden, können sie für deren
                                                                  toxische Auswirkungen besonders anfällig sein.
Bouchard et al. (2010) untersuchten die OPP                       Bei einer Studie in Ägypten wurden Kinder (im Alter
Exposition von 8- bis 15-Jährigen in den USA,                     von 9 bis 15 Jahren) und Jugendliche (16 bis 19
hauptsächlich über den Ernährungsweg, und kamen                   Jahre) untersucht, die als Pestizidausbringer im
zum Schluss, dass bei Kindern mit höheren                         Baumwollanbau tätig waren (Rasoul et al. 2008).
Konzentrationen der Metaboliten von OPP im Urin                   Häufig kamen dabei OPP zum Einsatz. Die Studie
mit höherer Wahrscheinlichkeit ADHS diagnostiziert                ergab für beide Alters­gruppen, dass Kinder bzw.
wurde. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass                    Jugendliche mit einer höheren OPP-Exposition in
eine OPP-Exposition in der in den USA üblichen                    verhaltensneurologischen Tests wesentlich schlechter
Höhe zur ADHS-Prävalenz bei Kindern beitragen                     abschnitten als Kinder bzw. Jugendliche, die nicht

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