Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind

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Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
Migration und Flucht in Zeiten
der Globalisierung
           Die Zusammenhänge zwischen Migration,
           globaler Ungleichheit und Entwicklung

                                  Pedro Morazán, Katharina Mauz
Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
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Impressum                            Inhalt
Bonn, Juli 2016
                                     1         Einleitung                                                                          3
Herausgeber:
SÜDWIND e.V. – Institut für          2         Die Folgen der Globalisierung                                                       4
Ökonomie und Ökumene
Kaiserstraße 201
                                         2.1 Globalisierung − Ursachen und Motive für moderne Migration                            5
53113 Bonn
                                         2.2 Die Liberalisierung des Welthandels                                                   6
Tel.: +49 (0)228-763698-0
                                         2.3 Die Liberalisierung der Finanzmärkte                                                  7
info@suedwind-institut.de
www.suedwind-institut.de
                                     3         Die steigende Süd-Nord-Migration                                                    8
Bankverbindung:
KD-Bank                                  3.1   Globale Ungleichheit und Migration                                                 8
IBAN: DE45 3506 0190 0000 9988 77        3.2   Geschlechterspezifische Ungleichheit und Migration                                 9
BIC: GENODED1DKD                         3.3   Fallbeispiele                                                                      9
                                         3.4   Klimawandel, Umweltzerstörung und Migration                                       10
AutorInnen:
                                         3.5   Krieg und Gewalt als Ursachen für Flucht                                          12
Dr. Pedro Morazán, Katharina Mauz
Redaktion und Korrektur:             4         Rücküberweisungen und Migration                                                   14
Melanie Deter, Sabine Ferenschild,
Sandra Grigentin-Krämer,                 4.1 Nord-Süd-Komponente                                                                 15
Jannik Krone                             4.2 Süd-Süd-Komponente                                                                  16
V.i.S.d.P.: Martina Schaub               4.3 Positive und negative Auswirkungen                                                  17
Gestaltung und Satz:
www.pinger-eden.de                   5         Migration und die deutsche Entwicklungspolitik                                    17

Druck und Verarbeitung:                  5.1   EU-Migrationspolitik                                                              17
Brandt GmbH, Bonn,                       5.2   Der EU–Notfall-Treuhandfonds für Afrika                                           19
gedruckt auf Recycling-Papier            5.3   Migration und die Agenda 2030                                                     20
                                         5.4   Migration und deutsche Entwicklungspolitik                                        22
Titelfoto:
Rasande Tyskar/Flickr.com
                                     6         Schlussfolgerungen und Empfehlungen                                               23

                                     7         Literaturverzeichnis                                                              25

                                     Gefördert aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes, durch Brot für die Welt -
                                     Evangelischer Entwicklungsdienst, durch den Evangelischen Kirchenverband Köln und Region
                                     sowie die Evangelische Kirche im Rheinland.

                                                                                  Gefördert durch:

2
                                                                                    Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
> Abkürzungsverzeichnis · 1 Einleitung

Abkürzungsverzeichnis
AA      Auswärtiges Amt                                            ILO         International Labour Organisation / Inter-
BAMF    Bundesamt für Migration und Flüchtlinge                                nationale Arbeitsorganisation
BMZ     Bundesministerium für wirtschaftliche                      IMF         International Monetary Fund / Internatio-
        Zusammenarbeit und Entwicklung                                         naler Währungsfond
BIP     Bruttoinlandsprodukt                                       IPCC        Intergovernmental Panel on Climate
CONCORD European NGO Confederation for Relief                                  Change / Zwischenstaatlicher Ausschuss
        and Development / europäischer Dachver-                                über Klimaveränderung
        band entwicklungspolitischer Nichtregie-                   ODA         Official Development Assistance / öffent-
        rungsorganisationen                                                    liche Entwicklungszusammenarbeit
ECOWAS  Economic Community of West African Sta-                    OECD        Organisation for Economic Co-operation
        tes / Wirtschaftsgemeinschaft westafrika-                              and Development / Organisation für wirt-
        nischer Staaten                                                        schaftliche Kooperation und Entwicklung
GATS    General Agreement on Trades in Services                    PPP         Purchasing Power Parity / Kaufkraftparität
        / Übereinkommen über den Handel mit                        SDG         Sustainable Development Goals / Ziele für
        Dienstleistungen                                                       nachhaltige Entwicklung
GCIM    Global Commission on International Mi-                     TRIPS       Trade-Related Aspects of Intellectual Pro-
        gration / Weltkommission für internatio-                               perty Rights / Übereinkommen über han-
        nale Migration                                                         delsbezogene Aspekte der Recht des geis-
GFMD    Global Forum on Migration and Develop-                                 tigen Eigentums
        ment / Globales Forum für Migration und                    UNHCR       United Nations High Commissioner for Re-
        Entwicklung                                                            fugees / Flüchtlingshilfswerk der Verein-
GMG     Globale Migrationsgruppe                                               ten Nationen

1 Einleitung
Mehr als 60 Mio. Menschen befinden sich derzeit welt-              menspiel verschiedener Faktoren, sowohl auf Mikro-,
weit auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Hunger oder Na-             Meso- als auch auf Makroebene, die Migrationsbewe-
turkatastrophen. Das sind so viele, wie noch nie. Die              gungen auslösen, verstärken und überdauern lassen.
Zahl der MigrantInnen wird auf ca. 240 Mio. Menschen
weltweit geschätzt. Die meisten von ihnen bewegen                  Die vorliegende Studie befasst sich mit den Themen
sich in und zwischen den armen Ländern des Globalen                Flucht, Migration und Entwicklungszusammenarbeit.
Südens. Aber auch die Süd-Nord-Migration hat in den                Sie beleuchtet sowohl an einigen Beispielen die Aus-
letzten Jahren zugenommen. Die MigrantInnen und                    gangssituationen in den Herkunftsländern der Migran-
Flüchtlinge, die auf der Suche nach Schutz und einem               tInnen und Flüchtlinge − seien es politische, wirtschaft-
besseren Leben in den Globalen Norden kommen, tun                  liche, kulturelle oder durch den Klimawandel bedingte
dies nicht leichtfertig. Der Entscheidung gehen meist              Folgen − als auch die Mechanismen und politischen
Erfahrungen von Gewalt, Entbehrung und Armut vo-                   Rahmenbedingungen, die zu Flucht und Migration
raus. Aber woher konkret rühren die Gründe für den                 führen.
Aufbruch?
                                                                   Migration und Flucht kann man nicht ausschließlich
Die Trennlinie zwischen Flucht und Migration ist nicht             im Rahmen von Landesgrenzen analysieren. Es sind
immer eindeutig und wird sehr häufig, je nach politi-              transnationale Phänomene in einer globalisierten
schen Interessen der Zielländer, unterschiedlich ge-               Welt. Demzufolge befasst sich das zweite Kapitel der
zogen. Es ist selten ein einziger Grund, der Menschen              Studie mit Globalisierung im Allgemeinen und welche
flüchten oder migrieren lässt. Viel eher ist es ein Zusam-         Auswirkungen sie auf Entwicklungsländer, auf Migra-

                                                                                                                                            3
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
> 2 Die Folgen der Globalisierung

                tion und Flucht hat. Das Kapitel handelt von der Un-          kunftsländer der MigrantInnen beinhalten. Im darauf-
                gleichheit zwischen dem Globalen Norden und Süden,            folgenden Kapitel verdeutlicht das Beispiel von Rück-
                von Handels- und Kapitalverkehrsbarrieren und von             überweisungen dies auf anschauliche Weise.
                Grenzen für MigrantInnen und Flüchtlinge.
                                                                              Migration kann das Wirtschaftsgefüge, die Rechtspre-
                Das dritte Kapitel beleuchtet die Migration zwischen          chung, die gesellschaftlichen Debatten ebenso wie
                Globalem Süden und Norden ebenso wie innerhalb der            die Politik beeinflussen. Das letzte Kapitel der Studie
                Regionen. Die Gründe für Migration und Flucht sind            beleuchtet deshalb die Ansätze der Politik. Sei es im
                vielfältig: Klimawandel, politische Konflikte und Lohn-       Rahmen der Agenda 2030 und den dazu gehörenden
                ungleichheit gehören dazu.                                    Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nati-
                                                                              onen (SDG), auf EU-Ebene am Beispiel des Notfall-Treu-
                So kritisch und negativ die Stimmen sind, die über Mi-        handfonds für Afrika oder auf nationaler Ebene mit
                gration diskutieren, kann Migration auch enormes              dem Konzept des BMZ, um Flucht- und Migrationsursa-
                Entwicklungspotential für Zielländer und für Her-             chen zu bekämpfen.

                 2 Die Folgen der Globalisierung
                Von der gegenwärtigen Flüchtlingskrise sind Entwick-          und Flüchtlingen ist, dass sie schneller und unmittel-
                lungsländer viel stärker betroffen als die Mitglieds-         barer in ihre Heimatländer zurückkehren können.
                länder der EU. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR)            Auch geht meistens mit der geographischen eine kul-
                schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf einen Nachkriegs-        turelle Nähe einher, was die Integration erleichtern
                rekord von mehr als 60 Mio. Menschen. Nur ein Drittel         kann. Schätzungen zu Folge sind zurzeit ca. 13 Mio.
                derer befindet sich außerhalb ihrer Herkunftsländer:          SyrerInnen auf der Flucht, sieben Mio. davon innerhalb
                Derzeit gelten 38 Mio. Menschen als Binnenvertriebe-          des Landes und ca. sechs Mio. im Ausland. Von diesen
                ne. Die meisten Flüchtenden wollen in ihre Heimator-          sechs Mio. Flüchtlingen ist lediglich eine Million nach
                te zurückkehren, sobald die Ursachen und Umstände,            Europa gereist. Die große Mehrheit der syrischen
                die sie einst zur Flucht gezwungen haben, vorbei sind.        Flüchtlinge hat in den Nachbarländern Jordanien,
                Die benachbarten Entwicklungsländer stemmen den               Libanon, Türkei und Irak Schutz gesucht. Allein in Jorda-
                Löwenanteil bei der Aufnahme von Flüchtlingen und             nien leben inzwischen mehr als eine Million SyrerInnen,
                MigrantInnen. Ein Vorteil aus Sicht der MigrantInnen          und es werden jeden Tag mehr. Nicht nur in Syrien
                                                                                                   werden Menschen gezwungen zu
                                                                                                   fliehen, auch in Afghanistan, im
                                                                                                   Sudan, im Südsudan oder in Ko-
                                                                                                   lumbien, der Demokratischen Re-
                                                                                                   publik Kongo und vielen weiteren
                                                                                                   Ländern fliehen Menschen vor
                                                                                                   Krieg, Unterdrückung, Gewalt,
                                                                                                   Hunger oder Naturkatastrophen
                                                                                                   (siehe Abb. 1):

                                                                                                   Länder, wie der Libanon, die Tür-
                                                                                                   kei oder Kenia, sind angesichts
                                                                                                   der Dimension der Flüchtlingskri-
                                                                                                   se stark überfordert. Auch Europa
                                                                                                   steht zurzeit vor großen Heraus-
                                                                                                   forderungen.

                Flüchtlingslager Libanon, Foto: UNHCR Refugee Agency/Flickr.com

4
                                                                                             Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
> 2 Die Folgen der Globalisierung

Abb. 1: Anzahl der eingetragenen Flüchtlinge nach Zielland in Mio., Stand 2015

                                                                    Europa

            Amerika
                                                                    3,49
            0,75
                                                          Nordafrika/
                                                          Mittlerer Osten                                                               Asien
                                                          3,01                                                                          3,79
n   > 1 Mio.
n   250.000-1 Mio.
n   50.000-250.000
n   5.000-50.000
n   500-5.000                                                                                       Subsahara-Afrika
n   1-500                                                                                           4,06
n   0 oder keine Angabe
Quelle: Economist.com                                   Flüchtlinge* insgesamt                             weltweit
                                                        nach Region, in Mio. 15,1                          15,1
* oder Menschen in Flucht ähnlichen Situationen
Quelle: Eigene Darstellung nach UNHCR, NATO, Migration Policy Institute, Refugees International, US State Department

Migration als globales Phänomen                                       Weltweit haben Migrationsbewegungen zugenom-
                                                                      men: Süd-Süd-Migration (zwischen Ländern des Glo-
Gegenwärtig versucht die Politik immer intensiver,                    balen Südens); Süd-Nord-Migration (von Ländern des
eine klare Grenze zwischen „Flüchtling“ (auf der Su-                  Globalen Südens in Länder des Globalen Nordens) aber
che nach Schutz) und „MigrantIn“ (auf der Suche nach                  auch die Nord-Nord-Migration zwischen reichen Län-
sozio-ökonomischer Verbesserung) zu ziehen. In der                    dern des Globalen Nordens. Ebenfalls gewachsen ist die
Praxis ist eine Trennungslinie aber alles andere als klar.            Migration in OECD-Länder: Zwischen 2013 und 2014
Flüchtlinge, die länger als fünf Jahre ohne Beschäfti-                erlebten die OECD-Länder einen Anstieg der Migration
gung, Bildung oder sonstige sozio-ökonomische Mög-                    um 6 %. Fernsehbilder von überfüllten Booten im Mit-
lichkeiten leben müssen, sehen sich häufig gezwungen                  telmeer sollten allerdings nicht täuschen: China und
weiterzuziehen, um neue Alternativen zu suchen. Dies                  Indien gelten derzeit als die wichtigsten Herkunftslän-
führt zu einer Vermischung der Migrationsflüsse (Long                 der, gefolgt von Polen und Rumänien. Deutschland hat
2016).                                                                in dieser Zeit seinen Status als zweitwichtigstes Einwan-
                                                                      derungsland nach den USA konsolidiert (OECD 2015).

> 2.1 Globalisierung – Ursachen und Motive für moderne Migration

In der gesellschaftlichen Debatte wird von Migration                  Globalisierung als die einzigen Migrationsursachen zu
sehr häufig als „Problem“ gesprochen, das schnell po-                 betrachten. Migrationsprozesse sind vielmehr die Fol-
litisch gelöst werden müsse. Reflexartig wird für stren-              ge einer Kombination aus Mikro- und Makrostruktu-
gere Grenzkontrollen und gar für eine Sicherung bzw.                  ren. Die ersten haben mit persönlichen Motivationen,
Schließung von Grenzen plädiert − wenn nötig auch                     familiären Bindungen oder Überzeugungen der Mi-
mit „Schießbefehl“. Übersehen wird allerdings, dass Mi-               grantInnen zu tun. Die Makrostrukturen beruhen auf
gration Teil eines breiteren und weltweiten Prozesses                 institutionellen Faktoren mit größerer Wirkung (large
von Entwicklung, Globalisierung und sozialer Transfor-                scale) − also auf der Globalisierung des Weltmarktes −
mation ist, welcher die Menschheit seit Jahrhunderten                 d.h. zwischenstaatliche Beziehungen (Mikro- und Mak-
begleitet und auch künftig begleiten wird.                            rostrukturen) werden teilweise durch Mesostrukturen
                                                                      (durch Netzwerke, Schlepperbanden etc.) miteinander
Die Ursachen von Migration und Mobilität sind nicht                   verbunden (Castles et al. 2014).
eindimensional. Es wäre zu kurz gegriffen, Armut oder

                                                                                                                                                      5
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung - Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung - Südwind
> 2 Die Folgen der Globalisierung

                Es gibt Umstände in den Herkunftsländern, die Aus-        balisierung der Migration, d.h. immer mehr Länder
                wanderung auslösen − sogenannte Abstoßkräfte (push        weltweit sind von der Migration betroffen. Zweitens
                factors). Dazu gehören ethnische oder religiöse Diskri-   der Richtungswechsel der Migrationsbewegungen,
                minierung ebenso wie schlechte Arbeitsbedingungen         d.h. die Süd-Nord-Migration ist heute stärker als die
                und Armut. Das allein erklärt aber nicht die Entschei-    Nord-Süd-Migration der Vergangenheit (von Europa
                dungen der Menschen, auszuwandern. Anziehungs-            nach Argentinien, Australien etc.). Drittens die Diffe-
                kräfte der Zielländer (pull factors), wie höhere Löhne,   renzierung der Migration, d.h. die meisten Länder ha-
                Bedarf an saisonalen Arbeitskräften in der Landwirt-      ben mit verschiedenen Migrationsformen zu tun. Vier-
                schaft oder im Pflegebereich sowie an hochqualifizier-    tens die Proliferation von Migrationsübergängen, d.h.
                ten Fachkräften im IT-Bereich, beeinflussen ebenfalls     viele Auswanderungsländer werden zunehmend zu
                die Migration.                                            Einwanderungsländern. An fünfter Stelle die Femini-
                                                                          sierung der Arbeitsmigration, d.h. anders als in der Ver-
                Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren wie             gangenheit sind es heute in zahlreichen Migrationsbe-
                Wohlstand, geographische Nachbarschaft, Transport-        wegungen mehrheitlich Frauen, die ihre Heimatländer
                verbesserungen oder plötzliche Ereignisse schaffen die    verlassen. Und sechstens die steigende Politisierung
                Bedingungen und das Umfeld, in dem Menschen die           von Migration, d.h. Migration bestimmt immer mehr
                Entscheidung zwischen Gehen oder Bleiben treffen –        die Innen-, Außen-und Entwicklungspolitik der betei-
                dies sind die Motive oder Ursachen der Migration.         ligten Länder (Castles et al. 2014).

                Insgesamt sechs Tendenzen der Migration werden in
                der Migrationsforschung identifiziert: Erstens die Glo-

                > 2.2 Die Liberalisierung des Welthandels

                Länder wie Burkina Faso und Ghana hatten einst eine       Milch für 38 bis 45 Cent pro Liter produzierten, kostete
                funktionierende Milchproduktion. Viele Bäuerinnen         das europäische, subventionierte Milchpulver nur 30
                und Bauern besaßen ein oder zwei Kühe, und es gab         Cent. Statt der, laut neoliberalem Dogma, Verbesse-
                zahlreiche kleine Molkereien in den Ländern. Dann         rungen und Vorteilen für die AfrikanerInnen, brach-
                kam sehr billiges, subventioniertes Milchpulver aus       te dies jedoch verheerende Folgen mit sich: Weil sich
                der EU nach Westafrika − in den Jahren 2004 und 2005      die Milchproduktion nicht mehr lohnte, mussten die
                lag dessen Preis bei einem Viertel des europäischen       Milchbäuerinnen und -bauern ihre Kühe verkaufen
                Produktionspreises. Während einheimische Bauern           und ihre Ländereien verlassen. Viele von ihnen verlie-
                                                                          ßen ihr Land und zogen auf der Suche nach neuer Ar-
                                                                          beit in die Städte. Vergleichbares spielte sich an den
                                                                          Küsten des Senegals und Mauretaniens im Hinblick
                                                                          auf die EU-Fischereipolitik ab: Die billigen Importe aus
                                                                          den EU-Ländern zerstörten die Lebensgrundlagen der
                                                                          einheimischen FischerInnen und KleinproduzentIn-
                                                                          nen, ohne dass alternative Beschäftigungsmöglich-
                                                                          keiten geschaffen wurden. Durch die Liberalisierung
                                                                          des Welthandels wurde die Grundlage von Millionen
                                                                          Bauernfamilien in Afrika, Asien und Lateinamerika zer-
                                                                          stört. Das Ergebnis: Da die Landwirtschaft sie nicht wei-
                                                                          ter ernähren kann, verlassen sie die ländlichen Gebiete
                                                                          und ziehen in die Städte. Dort leben sie unter teilweise
                                                                          prekären Lebensbedingungen.

                                                                          Die Regierungen armer Länder haben vergeblich ver-
                                                                          sucht, sich gegen diese Entwicklungen zu wehren. Sie
                                                                          plädierten dafür, im Rahmen der Welthandelsorgani-
                                                                          sation (WTO) eine „Entwicklungsrunde“ einzuführen.
                                                                          Die Doha-Entwicklungsrunde sollte Regeln gegen un-
                                                                          faire Handelspraktiken und einen besseren Zugang der
                Containerhafen, Foto: Senfwurst/Flickr.com                Entwicklungsländer zu den Märkten der reichen Staa-

6
                                                                                         Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
> 2 Die Folgen der Globalisierung

ten erreichen. Ursprünglich sollten die Verhandlungen                                die für Entwicklungsländer von strategischer Bedeu-
bereits 2004 abgeschlossen sein. Sie scheiterten am Wi-                              tung waren, liberalisiert: die Durchsetzung von Urhe-
derstand der USA und der EU, die sich weigerten, ihre                                berrechten, das Allgemeine Übereinkommen über den
Agrarsubventionen abzubauen. Die Folgen sind für                                     Handel mit Dienstleistungen (GATS), Übereinkommen
die meisten Entwicklungsländer verheerend: Die Kluft                                 über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geisti-
zwischen armen und reichen Ländern ist gewachsen. In                                 gen Eigentums (TRIPS), Investitionen und öffentliche
zahlreichen afrikanischen, lateinamerikanischen und                                  Beschaffung etc.
asiatischen Ländern ist die landwirtschaftliche Produk-
tion zum Erliegen gekommen und Konflikte um knap-                                    Diskutiert man Globalisierung, dann finden Migrati-
pe Ressourcen haben sich verschärft.                                                 on und Migrationsbewegungen nur am Rande Beach-
                                                                                     tung. Allerdings fragte sich schon Lant Pritchett zu
Die Regeln und Normen, die den internationalen Han-                                  Recht: „Wenn alles globalisiert ist, warum dann nicht
del heute bestimmen, haben die Ungleichheit zwi-                                     auch Arbeit und Beschäftigung?”1 (Pritchett 2006).
schen Nord und Süd nicht reduziert, sondern eher noch                                Mächtige Länder verwehren sich einem Migrations-
verschärft. Gewinner sind multinationale Konzerne                                    system, welches auf Regeln und Normen basiert. Faire
und Banken in reichen Ländern sowie Wirtschaftse-                                    Regelungen würden die Schwächeren gegen die Mäch-
liten und korrupte PolitikerInnen in armen Ländern.                                  tigeren schützen. Wenn diese Regeln aber fehlen oder
Schätzungen zu Folge hat die WTO im Jahr 2000 ein                                    nur einseitig umgesetzt werden, dann ist das Schicksal
Handelsvolumen von umgerechnet 8 Trio. US-Dollar                                     der Menschen von der Entscheidung und dem Wohl-
ermöglicht.                                                                          wollen Einzelner abhängig.

Im Rahmen zahlreicher Verhandlungen wurden im-
mer wichtigere Aspekte der nationalen Souveränität,

> 2.3 Die Liberalisierung der Finanzmärkte

Die Liberalisierung der Finanzmärkte hat ebenfalls die                               neue Schuldenkrise sein. Ein starker Rückgang der In-
Kluft zwischen reichen und armen Ländern weiter ge-                                  dustrieproduktion von mehr als 30 % ist in den Schwel-
öffnet. Die internationale Finanzkrise war in erster Li-                             lenländern bereits zu beobachten.
nie eine Kreditkrise, eine Krise des internationalen Ban-
kensystems. In Subsahara-Afrika werden die Banken vor                                Nur vor dem Hintergrund der Globalisierung kann
allem mit einheimischem oder regionalem Kapital ver-                                 man Verlauf und Dynamik der aktuellen Migrationsbe-
sorgt und hängen weniger von ausländischen Krediten                                  wegungen verstehen. Die zunehmende Globalisierung
ab. Banken aus Schwellen- und Entwicklungsländern                                    der Wirtschaft ist eine enorme Herausforderung für
haben nicht am Derivate-Handel teilgenommen. Ihr                                     Demokratie und nationale Souveränität – insbesonde-
Finanzsystem ist infolge der vom Internationalen Wäh-                                re in Entwicklungsländern. Rodrik beschreibt Demo-
rungsfonds (IWF) verordneten Liberalisierung dennoch                                 kratie, nationale Souveränität und Globalisierung in
mit den internationalen Finanzmärkten verknüpft.                                     einem wechselseitigen „Dreierverhältnis“. In diesem
                                                                                     „Trilemma“ spielt die Globalisierung eine entscheiden-
Ausländische Direktinvestitionen, Portfolioinvestitio-                               de Rolle: Eine größere Öffnung nach außen geht in der
nen und Kredite für den Globalen Süden gingen infolge                                Regel auf Kosten von Demokratie und/oder nationaler
der Rezession und der Rettungspakete für Industrielän-                               Souveränität (Rodrik 2009).
der dramatisch zurück. Das Geld für den Süden wurde
für die Rettung von Banken umgeleitet. Nach Angaben                                  Globalisierungs- und Transitionstheorien belegen, dass
des Institute for International Finance sind die Kapi-                               soziale Transformation und Entwicklungsprozesse Mi-
talzuflüsse in Entwicklungsländer 2008 um 465 Mrd.                                   gration steuern und dass es sehr schwer ist, langfristige
US-Dollar zurückgegangen. Nach Berechnungen der                                      Migrationstrends entscheidend zu beeinflussen, wenn
Weltbank beläuft sich der Finanzierungsbedarf infolge                                Staaten und internationale Institutionen nicht radikale
der Austrocknung des Bankentransfers für Entwick-                                    Veränderungen in ihren politischen und wirtschaftli-
lungsländer auf 1,4 Bio. US-Dollar. Unmittelbare Folge                               chen Systemen vornehmen (Goldin et al. 2011).
dieses gigantischen Ressourcentransfers könnte eine

1 “If everything else is globalized then why not labor?“ (eigene Übersetzung nach Pritchett 2006: 31)

                                                                                                                                                              7
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

               3 Die steigende Süd-Nord-Migration
               Migrationsstudien haben den Zusammenhang zwi-                                      tionalen Währungsfonds und insbesondere der Welt-
               schen der zunehmenden Süd-Nord-Einkommenskluft                                     bank wurden in den armen Entwicklungsländern im
               und Migration empirisch nachgewiesen. Der Einkom-                                  Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen u.a. die
               mensunterschied zwischen Herkunfts- und Ziellän-                                   Kapitalmärkte für ausländische InvestorInnen geöff-
               dern ist gestiegen. Wenn die Kluft um 1.000 US-Dollar                              net. Die Liberalisierung von Handel und Finanzen war
               Kaufkraftparität  steigt, dann steigt die Anzahl der Mi-                           also das Resultat politischer Initiativen, die insbesonde-
               grantInnen um 10 % (Ortega/Peri 2009).                                             re das Interesse großer multinationaler Konzerne und
                                                                                                  reicher Finanzinstitute im Blick hatte. Für Waren und
               Die Liberalisierung des internationalen Handels wurde                              Kapital wurden die Grenzen vollständig geöffnet, für
               durch die Entstehung der Welthandelsorganisation                                   Menschen und Arbeitskräfte jedoch nicht.
               (WTO) erst möglich gemacht. Mit Hilfe des Interna-

                > 3.1 Globale Ungleichheit und Migration

               Demographische, ökonomische und soziale Nord-Süd-                                  sogenannte GastarbeiterInnen in den Zielländern auf
               Ungleichheiten sind wichtige Aspekte im Hinblick auf                               Arbeitssuche oder bereits beschäftigt sind. 60 % der
               Migration (GCIM 2005). Unter den wirtschaftlichen Fak-                             MigrantInnen weltweit leben in reichen Ländern, in
               toren, die als Auslöser von Migration angesehen wer-                               denen gleichzeitig lediglich 16 % der weltweit Beschäf-
               den, spielen die Lohndisparitäten zwischen Ländern                                 tigten leben (GCIM 2005). Im Jahr 2000 gab es in die-
               des Globalen Nordens und des Globalen Südens eine                                  sen Ländern 52 Mio. MigrantInnen unter den 465 Mio.
               Schlüsselrolle. Die meisten Menschen migrieren von                                 Beschäftigten, d.h. 12 % der Arbeitskräfte im Globalen
               Niedrig- in Hochlohnländer. Zwischen 1980 und 2010                                 Norden waren ArbeitsmigrantInnen aus dem Globalen
               machten MigrantInnen aus Entwicklungsländern 40 %                                  Süden.
               der Arbeitskräfte in den naturwissenschaftlichen Be-
               reichen und in den Wirtschaftssektoren der Industrie-                              In Entwicklungsländern dagegen sieht die Situation
               länder aus (McKinsey Global Institute 2012).                                       anders aus: Von den 3 Mrd. Arbeitskräften, sind 32 Mio.
                                                                                                  ArbeitsmigrantInnen, also lediglich 1 %. In China und
               Während sogenannte WirtschaftsmigrantInnen – per                                   Vietnam gibt es keine ausländischen Arbeitsmigran-
               Definition – ihr Migrationsziel hinsichtlich eines höhe-                           tInnen in der nationalen Industrie, in den Öl expor-
               ren Beschäftigungseinkommens wählen, geht es bei                                   tierenden Ländern des Mittleren Ostens dagegen sind
               den politischen Flüchtlingen in erster Linie darum, ihr                            70 % der Arbeitskräfte MigrantInnen.
               Leben zu retten und sich in Sicherheit zu bringen. Die
               sogenannten WirtschaftsmigrantInnen hoffen, in den                                 Die Lohndisparitäten zwischen reichen, entwickelten
               Zielländern mit besseren Arbeitsbedingungen und                                    Industrieländern- und Entwicklungs- bzw. Schwel-
               angemessenerer Entlohnung ihr Wohlstandsniveau                                     lenländern sind groß und haben in den letzten Jahren
               verbessern zu können. Es muss allerdings festgehalten                              der Wirtschaftskrise weiter zugenommen. Der Durch-
               werden, dass auch politische Flüchtlinge eher in Län-                              schnittslohn lag 2013 in den entwickelten Ländern bei
               dern mit geringer Arbeitslosigkeit, wie Deutschland,                               3.000 US-Dollar – pro Monat gemessen in Kaufkraft-
               Österreich oder Schweden, Schutz suchen als in Län-                                parität – verglichen mit einem Durchschnittslohn von
               dern mit Beschäftigungsproblemen, wie Griechenland                                 1.000 US-Dollar in Schwellen- und Entwicklungslän-
               oder vielen osteuropäischen Ländern (IMF 2016).                                    dern (ILO 2015). Der US-amerikanische Durchschnitts-
                                                                                                  lohn ist mehr als dreimal so hoch wie der chinesische
               Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorga-                                  Durchschnittslohn. Zwar ist der Lohnunterschied
               nisation (ILO) gibt es derzeit ca. 150 Mio. Arbeitsmig-                            zwischen beiden Ländern leicht zurückgegangen, die
               rantInnen weltweit (ILO 2015b). Zu den Arbeitsmig-                                 Arbeitsbedingungen haben sich allerdings nicht ver-
               rantInnen werden nur die Personen gezählt, die als                                 bessert.

                2 Kaufkraftparität heißt, dass man Kennzahlen verschiedener Währungen nicht vergleicht, in dem man die Währungen über den Wechselkurs umrechnet, sondern in-
                  dem man die Kaufkraft der Währungen anhand eines repräsentativen Warenkorbs bestimmt und die Kennzahlen dann anhand der Kaufkraft vergleicht. In Statistiken
                  wird oft die englische Abkürzung PPP (Purchasing Power Parity) angegeben. (https://www.vimentis.ch/d/lexikon/152/Kaufkraftparit%C3%A4t.html)

8
                                                                                                                       Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

Das Abfallen des Reallohns und die Verschlechterung                               dern des Globalen Nordens, öffnet sich die Einkom-
der weltweiten Arbeitsbedingungen sind eine Folge                                 mensschere zwischen Europa und Afrika weiter. Nicht
der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Während                                nur in Hinblick auf Afrika hat sich das Versprechen,
die Reallohnsteigerungen in den letzten Jahren in eini-                           dass neoliberale Handelsreformen und Globalisierung
gen Entwicklungs- und Schwellenländern Asiens und                                 zu einer allmählichen Konvergenz im Einkommensni-
Osteuropas zu erheblichen Verbesserungen geführt                                  veau führen, als ein Trugschluss erwiesen.
haben und stärker waren als in einigen reichen Län-

> 3.2 Geschlechterspezifische Ungleichheit und Migration

Flucht und Migration sind immer gefährliche, mühsa-                               gleichheiten im Zielland auf die Erfahrungen von Mi-
me und schwere Unterfangen. Menschenhandel und                                    grantinnen aus?
Entführung sind Gefahren, mit denen alle, die ihre
Heimat verlassen und in einem anderen Land Schutz                                 Die Daten belegen, dass einerseits in Ländern, in denen
suchen müssen, konfrontiert werden – Männer gleich-                               hohe Armutsraten und starke Unterschiede zwischen
wohl wie Frauen. Allerdings sind es Frauen, die beson-                            Männern und Frauen herrschen, weniger Frauen emi-
ders verletzlich sind und öfter Opfer von Gewalt, Miss-                           grieren. Andererseits wirkt geschlechterspezifische
brauch und Vergewaltigungen werden.                                               Diskriminierung von bestimmten Frauengruppen, wie
                                                                                  alleinerziehenden Müttern, unverheirateten oder ge-
Migration hat für Frauen andere Auswirkungen als                                  schiedenen Frauen und Witwen, als Push-Faktor, also
für Männer. Nicht nur in den Herkunftsländern, son-                               als verstärkender Grund, das Land zu verlassen. Ein
dern auch in den Zielländern bestimmt die Ungleich-                               Anreiz, ein sogenannter Pull-Faktor, kann beispielwei-
heit zwischen Frauen und Männern die Situation der                                se die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften im
Migrantinnen. Auch die Auswirkungen der Migrati-                                  Pflege- und Reinigungsbereich in den Zielländern der
on oder Flucht sind für Frauen andere als für Männer.                             Migration sein.
Migration ist nicht „geschlechterneutral“. Daraus er-
geben sich wichtige Fragen für eine Migrationsana-                                Obwohl Frauen im Durchschnitt 17 % weniger Lohn für
lyse aus der Gender-Perspektive: Warum sind Frauen                                die gleiche Tätigkeit als Männer erhalten, sparen sie in
stärker negativ von Migrationsprozessen betroffen als                             der Regel mehr, um Rücküberweisungen an Familien-
Männer? Inwieweit wirkt sich Migration positiv bzw.                               angehörige in der Heimat zu schicken. Hochqualifizier-
negativ auf die Lage von Migrantinnen aus und wie                                 te und besser bezahlte Stellen bekleiden dagegen eher
wirken sich bestehende geschlechterspezifische Un-                                Männer (UNDP 2009).

> 3.3 Fallbeispiele

Die arabischen Länder im Norden Afrikas stehen häufig                             bei weiblichen Jugendlichen sind es sogar 45 % − die Re-
im Mittelpunkt der Migrationsdebatten. Der sogenann-                              gion mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit weltweit.
te Arabische Frühling wurde in Ländern wie Tunesien,                              Auch die Kinderarbeit ist mit mehr als 9 Mio. arbeiten-
Libyen oder Ägypten als der Aufstand der Bevölkerung                              den Kindern sehr hoch. Im Sudan machen Kinder ca.
gegen korrupte Regierungen, die ihre Bevölkerung                                  4 % der gesamten Arbeitskräfte aus. Hinzu kommt, dass
unterdrücken, bekannt. Wie so oft gab es aber auch                                soziale Dienstleistungen und soziale Sicherungssyste-
ökonomische Ursachen − steigende Einkommensun-                                    me in der Region zersplittert und ungerecht sind. Da-
gleichheit und eine Verschlechterung der Arbeitsbe-                               bei wird sich das Problem von Arbeitslosigkeit und pre-
dingungen − die zu zunehmender Unzufriedenheit in                                 kären Arbeitsbedingungen in den arabischen Ländern
der Bevölkerung führten.                                                          in der Zukunft eher noch weiter verschlechtern, denn
                                                                                  in dieser Region liegt die Erwerbsbeteiligungsquote3 −
Insbesondere junge Menschen sind in Nordafrika von                                insbesondere bei Frauen − weit unter dem weltweiten
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen.                                Durchschnitt (ILO 2016).
Nach Angaben der ILO ist Nordafrika mit knapp 30 % −

3 Die Erwerbsbeteiligungsquote ist der Anteil der Erwerbspersonen in Relation zur Gesamtbevölkerung.

                                                                                                                                                         9
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

                Das Haushaltseinkommen besteht nicht nur aus dem                                     Durchschnitt bei 46 % liegt, arbeiten dort knapp 70 %
                Einkommen der Löhne. Es gibt auch Einkommen aus Ei-                                  der Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen. Da-
                gentum, Handel, Produktion und aus dem Angebot von                                   bei gibt es sehr starke regionale Unterschiede, die von
                Dienstleistungen für den Markt oder den Eigenbedarf                                  den jeweiligen Produktionsstrukturen abhängig sind:
                sowie aus Transferzahlungen, wie Arbeitslosengeld                                    Nicht nur, dass die Löhne sehr niedrig und die Arbeits-
                und Sozialhilfe. Anders als in den entwickelten Län-                                 zeiten lang sind, es gibt auch keinerlei sozialen Arbeits-
                dern, sind in armen Ländern Transferzahlungen so gut                                 schutz. Dabei sind Frauen in Afrika noch stärker von
                wie nicht vorhanden. In armen Ländern sind weniger                                   ungeschützten Arbeitsverhältnissen betroffen als Män-
                Menschen vom Lohn, als vielmehr vom Eigeneinkom-                                     ner (ILO 2016). Vor diesem Hintergrund ist es nicht ver-
                men aus privaten Dienstleistungen (unter anderem aus                                 wunderlich, dass Subsahara-Afrika die höchsten Migra-
                dem informellen Sektor) abhängig. Das bringt mit sich,                               tionszahlen weltweit aufweist, nämlich 1,5 % bei einem
                dass die Einkommensverhältnisse weniger kontinuier-                                  weltweiten Durchschnitt von 1 %. Länder mit besonders
                lich sind und das Armutsrisiko größer ist (ILO 2015a).                               hohen arbeitsbedingten Migrationsraten sind Gambia,
                                                                                                     Elfenbeinküste, Somalia und Simbabwe.
                In Subsahara-Afrika sind 60 bis 80 % der Beschäftigten
                in der informellen Wirtschaft aktiv. Das macht 50 bis                                Die Verbindung zwischen Migration und Beschäfti-
                80 % des BIP aus. Sowohl auf dem Land als auch in den                                gung ist inzwischen als entscheidend für Armutsbe-
                Städten sind neun von zehn Erwerbstätigen im infor-                                  kämpfung und Entwicklung anerkannt (OECD 2009).
                mellen Sektor beschäftigt. Während der weltweite

                > 3.4 Klimawandel, Umweltzerstörung und Migration

                Die Begriffe „Umweltflüchtling“ oder „Klimaflücht-                                   gration der einzige Ausweg, sich an schwerwiegende
                ling“ sind sehr umstritten, denn eine klare Abgrenzung                               Umweltveränderungen, beispielsweise Dürren oder
                zwischen umweltbezogenen Migrationsursachen und                                      Überschwemmungen, anzupassen. Diese Migration ist
                anderen, nicht umweltbezogenen, ist in zahlreichen                                   jedoch eher ein temporäres Phänomen und findet im
                Fällen schwer vorzunehmen. Bereits 1985 prägten Ex-                                  regionalen und nur selten im transnationalen Kontext
                pertInnen der Vereinten Nationen den Begriff „Um-                                    statt. Allmähliche Umweltveränderungen legen hinge-
                weltflüchtlinge“ für jene Menschen, die aufgrund von                                 gen nahe, Auswanderung als eine Antwort auf den Kli-
                Veränderungen in ihrer unmittelbaren Umwelt ge-                                      mawandel zu betrachten.
                zwungen waren, dauerhaft oder vorübergehend ihre
                Heimat zu verlassen – der Zusammenhang zwischen                                      Nicht jede Katastrophe führt automatisch zur Auswan-
                Migration und Vertreibung infolge von Umweltverän-                                   derung oder Vertreibung. Statistische Recherchen zei-
                derungen wurde bereits damals deutlich.                                              gen, dass Klimaereignisse zu Katastrophen werden,
                                                                                                     wenn sie in bevölkerungsreichen Regionen stattfinden,
                Insbesondere in armen Entwicklungsländern hat der                                    in denen viele Menschen in prekären Wohnsituationen
                Klimawandel zu einer signifikanten Steigerung von Mi-                                leben und dadurch verwundbar sind. Die aktuell be-
                gration und Umsiedlung geführt. Zwischen 2008 und                                    kanntesten Fälle sind die Dürrekrisen im Sudan, Südsu-
                2013 mussten weltweit ca. 165 Mio. Menschen wegen                                    dan, in Äthiopien oder Syrien. Die Überschwemmun-
                durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen                                     gen in Pakistan, den Philippinen oder in Bangladesch
                ihre Heimat verlassen. Jedoch nicht immer haben so-                                  sind ebenfalls eindrückliche Beispiele. Die größten
                genannte Umweltflüchtlinge die Möglichkeit, frei da-                                 Wanderungsbewegungen infolge von Klimaverände-
                rüber zu entscheiden, ob sie migrieren oder bleiben.                                 rungen werden in Ländern und Regionen wie Pakistan,
                Diese Entscheidungen hängen von den Umständen ab,                                    Westafrika, dem Horn von Afrika oder jenen Inselstaa-
                unter denen Menschen von Umweltereignissen betrof-                                   ten4, die besonders stark vom Klimawandel betroffen
                fen sind. Opfer von schweren Naturkatastrophen oder                                  sind, erwartet.
                Enteignungen haben kaum die Kontrolle darüber, wie
                und wann sie ihren angestammten Wohnsitz verlassen                                   Das Ausmaß des Schadens, der durch den Klimawandel
                und wo sie Schutz suchen können. Für die Bewohne-                                    verursacht wird, fällt je nach Region, Sozialstatus oder
                rInnen vieler Regionen in Entwicklungsländern ist Mi-                                Einkommensniveau unterschiedlich aus. Zugleich

                4 „Zu der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS) gehören 44 Staaten, sowohl Inseln als auch Länder mit Küstenregionen, die in vergleichbarer Weise vom Klimawan-
                  del betroffen sind. Die Mitglieder der Allianz machen fünf Prozent der Weltbevölkerung aus.“ (eigene Übersetzung nach URL: http://aosis.org/about/ (letzter Abruf:
                  30.5.2016))

10
                                                                                                                           Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

sind dies die Faktoren, die darüber entscheiden, ob Be-            In Westafrika sprechen US-amerikanische Migrati-
troffene auswandern oder bleiben. ExpertInnen war-                 onsforscherInnen von einem Spannungsbogen (arc of
nen schon lange davor, dass der Klimawandel in den                 tension), der das Zusammenwirken zwischen Klima-
nächsten Jahren die bereits bestehenden Migrations-                wandel, politischer Instabilität und Migration entlang
bewegungen – insbesondere in den Entwicklungslän-                  der vier Länder Nigeria, Niger, Algerien und Marokko
dern – verschärfen wird. Nach neusten Schätzungen                  beschreibt (Werz/Conley 2012). Diese vier Länder, teil-
mussten schon bis zu einer Milliarde Menschen infolge              weise verbunden durch die Sahara, wurden von Sicher-
von Klimaveränderungen ihre Heimat verlassen (KNO-                 heitsexpertInnen bisher eher selten als eine geopoli-
MAD 2016). Während Wüstenbildung oder Dürre die                    tische Konfliktregion angesehen. Erst durch die neue
einen zu Flucht und Auswanderung zwingen, sind es                  Migrationskrise versteht man allmählich, dass der Kli-
Überflutung, Küstenerosion oder der Anstieg des Mee-               mawandel Auslöser für weitere Krisen ist. Es ist abzuse-
resspiegels für die anderen. Der größte Teil der Migra-            hen, dass sich der Verteilungskampf um immer knap-
tionsbewegungen infolge von Umweltveränderungen                    per werdende Ressourcen in Zukunft zuspitzen wird.
findet national bzw. regional begrenzt und seltener
über nationale Grenzen hinweg statt. „Wenn Men-                    Viele Menschen in Westafrika sind Kleinbäuerinnen
schen ihre Heimat aufgrund der unmittelbaren Folgen                und Kleinbauern und besonders abhängig von der
des Klimawandels verlassen, dann bewegen sie sich                  landwirtschaftlichen Produktion. Naturressourcen si-
meist innerhalb ihrer Heimatländer oder zwischen den               chern ihre Ernährung. Fischerei und Landwirtschaft
Nachbarländern. Man spricht deshalb auch von „trap-                werden jedoch auch infolge von Umweltveränderun-
ped populations“ [„gefangene Bevölkerung“, Anm. d.                 gen so stark beeinträchtigt, dass es manchmal kaum
Red.] (DIE 2015). Nichtsdestotrotz ist die zunehmende              noch möglich ist, sich an die neuen Bedingungen anzu-
Migration aus Afrika über das Mittelmeer nach Europa               passen. Saisonale Arbeitsmigration innerhalb der Re-
unter anderem auch eine Folge von tiefgreifenden Um-               gion ist deshalb weit verbreitet.
weltveränderungen in der Sahelregion und Subsahara-
Afrika (Werz/Conley 2012). Die Menschen sehen sich zu              Klimawandel und Umweltzerstörung haben zu einer
Migration gezwungen, weil sie sich nicht mehr ernäh-               Veränderung der traditionellen Migrationsrouten von
ren können und deshalb ihr Überleben nicht mehr ge-                ViehzüchterInnen und zu einer generellen Zunahme
währleistet ist.                                                   von Migration geführt. Es gibt Anzeichen, dass die ge-
                                                                   genwärtige Krise in Darfur, im Westen des Sudans, eine
Die Fragilität Afrikas ist die Folge einer Kombinati-              Folge der Konflikte zwischen ViehzüchterInnen und
on mehrerer Faktoren: Hierzu zählen unter anderem                  LandwirtInnen ist, die sich durch die Dürrekatastrophe
extreme Armut, häufige Naturkatastrophen, wie Dür-                 verschärft haben. Knappe Ressourcen führen häufig
ren und Überschwemmungen, Bevölkerungswachs-                       zu Konflikten, die auch zu gewaltsamen Auseinander-
tum und Landwirtschaftssysteme, wie Viehzucht und                  setzungen werden können. Eine ähnliche Dynamik,
Nahrungsmittelproduktion, die sehr stark von Regen-                wie in Darfur, ist in der Sahelregion, im Norden Nige-
fall abhängig sind sowie staatliche Strukturen, die die-           rias, zu beobachten. Hier haben ViehzüchterInnen ihre
sen Herausforderungen nicht angemessen begegnen                    Herden aus den von der Dürre betroffenen Regionen in
können. Die Verbindung zwischen Klimawandel und                    Tschad und Niger weiter in den Süden nach Nigeria ge-
Migration ist komplex und kann nur im Zusammen-                    trieben. Dabei sind viele Anbauflächen der dort ansäs-
wirken mit anderen Ursachen, wie ethnischen oder                   sigen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Mitleiden-
religiösen Konfliktsituationen, demographischen oder               schaft gezogen oder gar zerstört worden. Der Konflikt
Wirtschaftskrisen verstanden werden.                               um Wasser hat sich zwischen ViehzüchterInnen und
                                                                   LandwirtInnen verschärft (McLeman 2011). Ähnliche
                                                                   Auseinandersetzungen existieren im Norden von Ke-
Verteilungskämpfe und Zugang zu Ressourcen                         nia, in Äthiopien, Somalia und Uganda. In Ostafrika,
                                                                   einer Region mit durchlässigen Grenzen, können die
Bis 2030 wird die Anzahl der Menschen, die in Trocken-             zunehmenden Konflikte um knapper werdendes Land
gebieten in Westafrika leben, um 65 bis 80 % steigen, so           kaum verhindert werden. Den Regierungen fehlt es an
die Schätzungen der Weltbank. Alarmierend ist auch,                Ressourcen und Personal, um die Auseinandersetzun-
dass infolge des Klimawandels der Anteil der Fläche,               gen konstruktiv zu überwinden.
die als Trockenland eingestuft wird, um mindestens
20 % wachsen wird (World Bank 2016). Der Zwang zur                 Die wirtschaftlichen und politischen Folgen von klima-
Migration und Vertreibungen werden in Afrika zuneh-                tisch bedingten Umweltveränderungen sind schwer-
men. Besonders stark betroffen sind mehr als 300 Mio.              wiegender als angenommen. Ein Beispiel ist der Krieg
Menschen, die in Trockengebieten im Westen und Os-                 in Syrien, der als Folge einer ganzen Reihe von inein-
ten Afrikas leben.

                                                                                                                                         11
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

                andergreifenden Entwicklungen zu sehen ist. Im Fokus       Entwicklungshilfeorganisationen investiert, um kurz-
                der Öffentlichkeit stand zwar der Protest gegen das Al     fristige Antworten auf die humanitären Katastrophen
                Asad-Regime, aber neben den bekannten religiösen,          infolge des Klimawandels zu geben. 2011 wurden ge-
                ethnischen und wirtschaftlichen Hintergründen spiel-       schätzte 4 Mrd. US-Dollar für humanitäre Hilfe in der
                ten auch Umweltfaktoren eine nicht zu unterschätzen-       Sahelregion und am Horn von Afrika ausgegeben –
                de Rolle.                                                  ca. 10 % der gesamten Entwicklungshilfe (World Bank
                                                                           2016). Das geht vielfach zu Lasten von Leistungen, die
                                                                           für langfristige Entwicklungsmaßnahmen notwendig
                Reaktionen der Politik                                     wären, um dem Klimawandel in der Region zu begeg-
                                                                           nen.
                Große Summen öffentlicher Gelder werden von den
                afrikanischen Regierungen und den internationalen

                > 3.5 Krieg und Gewalt als Ursachen für Flucht

                Ein Großteil der Flüchtlinge kommt aus fragilen Staa-      zunehmend unterwandert und ausgehöhlt und der
                ten, Kriegsgebieten und Konfliktregionen. Die meisten      Prozess des Zerfalls schreitet voran (Mair 2004).
                von ihnen bleiben in ihrer Region, da sie sich die Reise
                nach Europa, bei der sie möglicherweise auf Schlepper      SyrerInnen stellen momentan die größte Gruppe der
                angewiesen wären, finanziell nicht leisten können. Ge-     Geflüchteten dar. Millionen sind auf der Flucht vor
                genwärtig sind es besonders SyrerInnen und EritreerIn-     dem brutalen Religions- und Bürgerkrieg, der im Land
                nen, die flüchten müssen und in einem anderen Land,        herrscht. Die Meisten aber bleiben im Land oder in der
                beispielsweise in Deutschland, Schutz suchen.              Region, viele nehmen auch den Weg nach Europa auf
                                                                           sich, sei es über Land oder über das Mittelmeer.
                In fragilen Staaten können in Teilen des Landes oder
                im gesamten Staatsgebiet die öffentliche Sicherheit        Im Vergleich zu Syrien, einem Kriegsgebiet und zerfal-
                nicht gewährleistet und Bildung, Gesundheit, wirt-         lenen Staat (failed state), ist Eritrea zwar relativ stabil
                schaftliche Entwicklungschancen, Rechtsordnung und         – aber der Preis der „politischen Stabilität“ ist hoch: In
                -sprechung sowie Umweltschutz nicht bereitgestellt         Eritrea herrscht seit 1993 der Diktator Isaias Afwerki,
                werden. Fundamentale Infrastruktur oder Kommu-             das gewählte Parlament ist faktisch inaktiv, die Verfas-
                nikationseinrichtungen fehlen. In diesem Vakuum            sung von 1997 ist niemals in Kraft getreten und eine
                übernehmen Guerilla- und Rebellenbewegungen,               Opposition ist nicht vorhanden. Regimekritiker und
                Stammesfürsten, Warlords, religiöse Führer oder Dorf-      Oppositionelle werden ohne ein rechtstaatliches Ver-
                älteste die Macht. Kurz: Offizielle Strukturen werden      fahren verhaftet und an geheimen Orten in Isolations-
                                                                           haft festgehalten (Europäisches Parlament 2016). Re-
                                                                           porter ohne Grenzen attestiert Eritrea im achten Jahr in
                                                                           Folge den schlechtesten Zustand für Pressefreiheit und
                                                                           journalistisches Arbeiten weltweit. Damit liegt Eritrea
                                                                           noch hinter Nordkorea (Reporter ohne Grenzen 2015).
                                                                           Die eritreische Wirtschaft und Politik werden nach wie
                                                                           vor vom Grenzkonflikt mit Äthiopien bestimmt. Für die
                                                                           Bevölkerung bedeutet dies eine weitreichende Militari-
                                                                           sierung der Gesellschaft. Der Wehrdienst ist in Eritrea
                                                                           für alle Menschen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren
                                                                           eine nationale Dienstpflicht (Europäisches Parlament
                                                                           2016). Um das ethnische und nationale Zusammenge-
                                                                           hörigkeitsgefühl zu stärken, müssen die Wehrdienst-
                                                                           leistenden zwischen ihren Einsatzorten rotieren. Sie
                                                                           sind über lange Phasen fernab ihrer Heimatorte. So-
                                                                           lange sie den nationalen Wehrdienst leisten müssen,
                                                                           können die Menschen nur sehr eingeschränkt eigenen
                                                                           produktiven Tätigkeiten nachgehen. Wer sich dem
                Syrische Geflüchtete in libanesischem Flüchtlingslager,    Wehrdienst entzieht und außer Landes flüchtet, be-
                Foto: UNHCR Refugee Agency/Flickr.com                      geht Landesverrat (Amnesty International 2015).

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                                                                                           Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung
> 3 Die steigende Süd-Nord-Migration

Bereits seit Jahren suchen vom Klimawandel bedingte
Dürren das Horn von Afrika heim. Die landwirtschaft-
liche Produktion leidet sehr darunter. Selbst in guten
Jahren können die landwirtschaftlichen Klein- und
Kleinstbetriebe nur annähernd 60 % der benötigten
Nahrungsmittel produzieren. Die EritreerInnen wer-
den durch Wehr- und Arbeitsdienste, die willkürlich
lange dauern können, davon abgehalten, in ihren ei-
genen landwirtschaftlichen Betrieben zu arbeiten und
für ihr Auskommen Sorge zu tragen. Viele EritreerIn-
nen, vor allem Kinder, leiden unter Mangelernährung
und Hunger. Der Staat kann dem nur wenig entgegen-
wirken, fließen die Ressourcen doch größtenteils in
den Verteidigungshaushalt (Europäisches Parlament
2016).

Der eritreische Staat hält durch systematische Abwer-
tung der Landeswährung und starke Devisenkontrol-
le die Kaufkraft künstlich niedrig und beschränkt die
Bargeld-Verfügbarkeit an Geldautomaten. Große Teile
der Bevölkerung sind deshalb von den Rücküberwei-
sungen von ausgewanderten Familienangehörigen ab-
hängig (UNO-HRC 2015).                                             Flüchtlinge auf dem Mittelmeer,
                                                                   Foto: CAFOD Photo Libraby/Flickr.com
Eine legale Ausreise ist kaum möglich – der verpflich-
tende Wehrdienst bindet die Menschen an das Land –
weshalb sich ein feines Netz organisierter Schleuserkri-           und Flüchtlinge (BAMF) regimetreue eritreische Dol-
minalität gebildet hat. Die, die es sich leisten können,           metscherInnen arbeiten und sowohl die Aussagen der
versuchen zu fliehen – jeden Monat sind das ca. 5.000              Geflüchteten bei den deutschen Behörden verfälschen,
Personen. Zu Fuß oder mit Pick-Ups geht es in den Su-              als auch sensible Informationen an die Regierung in As-
dan und von dort weiter durch die Sahara nach Liby-                mara weitergeben. Familienangehörige der Geflüch-
en. Die Route durch die Sahara ist sehr strapaziös und             teten müssen fürchten, erpresst und terrorisiert zu
gefährlich. Menschenhandel und Entführungen in die                 werden. Von allen Exil-EritreerInnen werden jährliche
Sklaverei oder um Lösegeld zu erpressen, sind keine Sel-           Steuerabgaben in Höhe von 2 % des Einkommens ver-
tenheit (Europäisches Parlament 2016).                             langt. Diese Gelder sollen als sogenannte Aufbausteuer
                                                                   der Infrastruktur im Land zu Gute kommen. Leistet man
In Libyen angekommen, warten Hunderttausende von                   diese Zahlungen nicht, ist es unmöglich, in Eritrea ein
Menschen auf die Überfahrt nach Europa. Viele war-                 Erbe anzutreten, ein Grundstück zu kaufen oder eine
ten Monate, einige Jahre lang und manche werden in                 Geburtsurkunde ausgestellt zu bekommen (Europäi-
Libyen bleiben. Die Herkunft entscheidet darüber,                  sches Parlament 2016). Die eritreische Regierung hält
wie viel man für die Fahrt über das Mittelmeer zahlen              die geflüchteten Landsleute weiterhin in einem büro-
muss. Bei SyrerInnen setzen die Schleuser eine größere             kratischen Würgegriff. Das auf diese Weise erpresste
Zahlungskraft voraus als beispielsweise bei EritreerIn-            Geld dient dazu, das diktatorische Regime zu unter-
nen. Während SyrerInnen sich oftmals sicherere oder                stützen und finanziell aufrechtzuerhalten. Wie fast alle
größere Boote leisten oder an Deck der Boote sein kön-             Ressourcen, fließt auch diese Summe überwiegend in
nen, müssen die meisten EritreerInnen mit kleinen,                 den Verteidigungshaushalt. Bis 2011 wurden die Zah-
überfüllten und schwerlich noch seetauglichen Booten               lungen direkt in der eritreischen Botschaft in Deutsch-
vorlieb nehmen und werden im Schiffsrumpf einge-                   land geleistet, dann wurde diese Praxis auf Druck der
pfercht.                                                           Bundesregierung beendet. Nun muss die Steuer in Eri-
                                                                   trea selbst entrichtet werden. Die Problematik hat sich
Selbst nachdem sie ihr Land verlassen haben, den Su-               nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Die eritrei-
dan, Libyen und das Mittelmeer durch- und überquert                sche Regierung veröffentlicht zwar weder ihren Haus-
haben und irgendwann in Europa angekommen sind,                    halt noch ihre Wirtschaftsdaten, jedoch ist klar, dass
sind eritreische Flüchtende häufig nicht in Sicherheit.            die eritreische Regierung existenziell auf die Einkünfte
Es wird berichtet, dass im Bundesamt für Migration                 aus der Aufbausteuer angewiesen ist.

                                                                                                                                           13
Die Zusammenhänge zwischen Migration, globaler Ungleichheit und Entwicklung
> 4 Rücküberweisungen und Migration

               Reaktionen der internationalen und deutschen                                und der Entwicklung politischer Kompetenzen und Ka-
               Entwicklungspolitik                                                         pazitäten (capacity building) in Höhe von 200 Mio. Euro
                                                                                           (Europe Extenal Policy Advisors 2016). Diese Unterstüt-
               Noch bis vor Kurzem hat die deutsche Außenpolitik                           zung scheint von der Annahme motiviert zu sein, die
               keine nennenswerten Verbindungen zum diktatori-                             Menschen flüchteten nur vor Armut und Hunger. Die
               schen Regime in Eritrea unterhalten, doch nun, da von                       Fluchtursachen sind aber auch hier   vielfältig. Sowohl
               dort besonders viele Menschen nach Europa flüchten,                         die durch den Klimawandel bedingten, langanhalten-
               hat sich das entwicklungspolitische Blatt gewendet.                         den Dürren als auch das Misswirtschaften des Staates
               Nachdem die Entwicklungszusammenarbeit zwischen                             haben schwerwiegende Folgen für die eritreische Sub-
               Eritrea und Deutschland 2007 eingestellt wurde, fin-                        sistenzwirtschaft. Tatsächlich flüchten EritreerInnen
               det nun eine gewisse Annäherung statt. Im Kontext der                       aber auch vor Menschenrechtsverletzungen, Folter,
               Flucht- und Migrationsursachenbekämpfung reiste der                         Verfolgung, Zwangsarbeit etc. – vor der diktatorischen
               Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit                           Schreckensherrschaft im Land. Es darf deshalb bezwei-
               und Entwicklung Gerhard Müller Ende 2015 für eine                           felt werden, ob Entwicklungsfonds an eine diktatori-
               Sondierungsreise nach Eritrea5. Nun unterzeichnete                          sche Regierung wirklich dazu beitragen, die Struktu-
               die EU mit der eritreischen Regierung ein Programm                          ren vor Ort und damit die grundlegenden Ursachen für
               zur Förderung erneuerbarer Energien und des Ausbaus                         Flucht und Migration zu verändern.

               4 Rücküberweisungen und Migration
               Lange Zeit wurde die Bedeutung von Rücküberweisun-                          Bisher sind die Rücküberweisungen von Industrielän-
               gen als wichtiger Entwicklungsfaktor in Rahmen der                          dern in die Herkunftsländer der MigrantInnen recht
               Migrationsforschung verkannt. Dies hat sich geändert,                       kostspielig. Durchschnittlich 8 % des Transferbetrags
               seit der wirtschaftliche Gewinn deutlich geworden ist,                      wird von der Bank einbehalten. Möchte man Geld in
               den die Herkunftsländer aus dem Geldtransfer erzie-                         die Subsahara-Region verschicken, kann das sogar bis
               len, welchen MigrantInnen von ihren neuen Standor-                          zu 12 % des Betrags kosten (Ratha et al. 2016:5). Der
               ten aus veranlassen. Im Jahr 2015 betrug der Wert von                       Markt der Geldtransferinstitute ist klein, was anderen
               Rücküberweisungen in Entwicklungsländer 432 Mrd.                            AnbieterInnen den Eintritt erschwert: Die Preise blei-
               US-Dollar – im Vergleich zum Vorjahr entspricht das                         ben hoch. Die Nachhaltigen Entwicklungsziele (Susta-
               einem Zuwachs von 0,4 %. Seit der weltweiten Finanz-                        inable Development Goals, SDG) und der im November
               krise ist das jedoch, verglichen mit den Vorjahren, die                     von der EU verabschiedete Notfall-Treuhandfonds für
               geringste Wachstumsrate, die verzeichnet wurde.                             Afrika sehen vor, die Kosten für Rücküberweisungen
                                                                                           bis 2030 auf mindestens 3 % und maximal 5 % zu senken
                                                                                           (EC 2015). So würden mehrere Milliarden Dollar nicht
                                                                                           in den Kanälen von Geldtransferunternehmen ver-
                Rücküberweisungen                                                          schwinden, sondern bei den Familien ankommen, für
                                                                                           die die Rücküberweisungen bestimmt sind. Auch digi-
                „Haushaltseinkommen von ausländischen Volks-                               tale Lösungen wären effektiver und würden das Geld
                wirtschaften, die vorwiegend aus der vorüberge-                            zielgerichteter zu den EmpfängerInnen bringen. Das
                henden oder dauerhaften Migration von Menschen                             Beispiel von M-Pesa verdeutlicht, wie durch digitale Lö-
                in entsprechende Volkswirtschaften entstehen.                              sungen die Kosten für transnationale Geldüberweisun-
                Rücküberweisungen umfassen Barmittel und Über-                             gen gesenkt werden können.
                weisungen, die sowohl über formelle Wege wie
                Onlineüberweisungen oder über informelle Wege,
                also in Form von Bargeld oder Gütern, über Gren-
                zen transportiert wird“ (eigene Übersetzung nach
                OECD 2014).

               5 URL: https://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2015/dezember/20151214_pm_102_Fluchtursachen-bekaempfen-neue-Perspektiven-eroeffnen-Bundesmi-
                 nister-Mueller-in-Aegypten-und-Eritrea/index.html (letzter Abruf: 25.5.16)

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