NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer Naturgefahrenreport 2020
02 Inhaltsverzeichnis Einleitung 03 Editorial Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 06 „Ein unsichtbarer Gegner.“ Ein Gespräch mit Risikoexperte Alexander Esser 08 Von Tag zu Tag, immer neu. Das Corona-Katastrophenmanagement 13 Stabil durch die Krise. Versicherungsunternehmen in der Corona-Zeit 17 „Vor die Lage kommen.“ Ein Gespräch mit Management-Coach Klaus Bockslaff 18 „Gesundheitsschutz ist Naturschutz.“ Leben mit Pandemien 22 „Wir müssen verhindern, dass sich die Erderwärmung fortsetzt.“ Ein Gespräch mit GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen Kapitel zwei: Das Hageljahr. Die Schadenbilanz 2019 26 Wieder viel zu heiß. Der Jahresrückblick 2019 28 Schwere Stürme, schwerer Hagel. Die Sachschäden 2019 32 Extrem teure Schäden. Die Kfz-Schäden 2019 34 „Eine gewaltige Energie.“ Die Naturgewalt Hagel 38 Rundumschutz fürs Haus. Hagelprävention Kapitel drei: VorreiterInnen im Wissenstransfer 42 Präventionsarbeit mit Empathie. Wie Versicherer zu Naturgefahren beraten 44 Das neu erforschte Nass. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV 47 Stadt.Land.unter. GDV-Aufklärung über Starkregen 48 Handout für den Hochwasserschutz. Der neue GDV-Leitfaden 50 Tool für den Risiko-Check. Das neue Naturgefahrenportal des GDV Anhang 52 Publikationen und Links 55 Bildnachweis 56 Impressum Naturgefahrenreport 2020
Einleitung 03 Editorial M ehr als 100.000 Menschen ziehen durch Berlin, in ganz Deutschland sind es mehr als eine Million. Auf ihren Plakaten schwitzt die Erde, trocknen Flüsse aus, stehen die Uhren auf 5 nach 12. In ihren Sprechchören for- dern die jungen Demonstrierenden die Eltern- und Großelterngeneration zum Handeln auf. Erscheint Ihnen das auch seltsam weit weg? Das ist erst ein Jahr her – September 2019. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: An der Dringlichkeit den Klimawan- del zu bremsen, wo es geht, und ihn zu gestalten, wo er nicht mehr aufzuhalten ist, hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, der Klimawandel bleibt die Herausforderung dieser und künftiger Generatio- nen. Und doch beschäftigt uns in diesem Jahr ein Ereignis, das zwar wie eine Naturgewalt über uns kommt. Aber eben so viel mehr ist. Die Pandemie verändert unseren Alltag, unsere Art zu leben, unse- 21. Jahrhunderts, für den Umgang mit dem Klima ren Blick auf die Welt. wandel, ableiten? Dieser Naturgefahrenreport ist Dem kann sich auch unser Naturgefahrenre- auch für uns Versicherer ein ganz besonderer – port nicht entziehen. Denn es geht um nicht weni- in vielerlei Hinsicht. Ich danke dem Team für die ger als um die Neuordnung der Welt. Klingt pathe- Erstellung des Reports unter ungewöhnlichen tisch, finden Sie? Ist es nicht – leider. Die Pandemie, Bedingungen. Covid-19, macht in letzter Konsequenz keine Unter- schiede zwischen den Menschen. Darin ähnelt sie Naturereignissen wie Überschwemmungen oder Stürmen. Aber von Corona sind nicht einzelne Land- striche oder Regionen betroffen, es ist eine globale Krise. Wie verhalten sich Versicherer in einer sol- chen – nie dagewesenen – Katastrophenlage? Und Jörg Asmussen was können wir daraus für die Herausforderung des (Hauptgeschäftsführer) Schäden durch Naturgefahren 2019 auf einen Blick 3,0 Mrd. € in der Sach- und Sachversicherung Kfz-Versicherung 2019 Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Kfz-Versicherung Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 2,1 1.800 Mio. € 300 Mio. € 900 Mio. € 900 Mrd. € Mio. €* 1.136.000 74.000 330.000 2.100 Sturm- und weitere Naturgefahren- Sturm- und Überschwemmungs- Hagelschäden schäden (Elementar) Hagelschäden schäden Naturgefahrenreport 2020 * enthalten 9 Mio. EUR für Überschwemmungsschäden
Die Neuordnung der Welt Die Katastrophe Corona gehört zu jenen Zäsuren im Leben, die in Erinnerung bleiben. Das Leben in ein Davor und Danach teilen. Die Pandemie macht keine Unterschiede zwischen den Menschen – darin ähnelt sie Naturkatastrophen wie Überschwemmung, Sturm oder Erdbeben. Anders als bei Naturgefahren ist indes die ganze Welt ein Corona-Risikogebiet. Anders als bei Naturgefahren agiert auch das Katastrophenmanagement. Es bringt selbst Risiken – für die gesamte Gesellschaft. Über das Wesen einer Schutzstrategie, die im Jahr 2020 die Welt neu ordnet. Über die Rolle der Versicherungswirtschaft und Perspektiven eines Lebens mit einer globalen Gefahr. Naturgefahrenreport 2020
06 Pandemie Corona „Ein unsichtbarer Gegner“ Nie da gewesen seit Generationen, dass ein Virus die ganze Welt erkranken lässt. Nahezu gleichzeitig, nahezu ohne Unterschiede. Was ist diese Corona-Pandemie für eine Katastrophe? Was unterscheidet sie von Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Sturm? Definitionen des Risikoexperten Alexander Esser vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Eine rot-gelb reflektierende Kristallperle, mit stachel Worin unterscheiden sich Pandemien wie Corona förmigen Auswüchsen. Das Coronavirus ist ein bizarres von Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Etwas, das erst millionenfach vergrößert sichtbar wird. Und Erdbeben? seit Jahresbeginn 2020 millionenfach gezeigt und gese- Erstens: durch die räumliche Auswirkung. Pandemien hen wird. Ein Erreger, der – unsichtbar und oft unspürbar – haben das Potenzial, größere Weltregionen oder gar die den Tod bringen kann. Von Wildtieren auf Menschen über- ganze Welt zu treffen. Naturkatastrophen treten eher tragen. kleinräumiger auf. Zweitens: durch den Zeitfaktor. Durch die Geschehnisse im Frühjahr in Italien war absehbar, Herr Esser, was ist Corona für ein Risiko? dass es wahrscheinlich eine Frage der Zeit ist, bis die Grundsätzlich ist Corona eine Gefahr, die in der Natur Pandemie sich auch im restlichen Europa weiter aus- lauert. Zum Risiko wird sie erst, wenn sie auf den Men- breitet. Diese Vorlaufzeit ist bei Naturkatastrophen wie schen trifft. Die weltweite Pandemie ist ein Risiko, mit Erdbeben oder Starkregen, die trotz Vorhersagen eher ad dem wir bisher in Deutschland kaum Erfahrung haben, hoc eintreten, nicht gegeben. Drittens: Pandemien dau- anders als mit extremen Hochwasser oder Stürmen. ern länger. Wir reden bei Corona wahrscheinlich über Binnen zwei Monaten in der ganzen Welt Ausbreitung des Coronavirus seit Ausbruch in Wuhan am 8. Dezember 2019 25.02.: Dutzende Infizierte nach Kar- Ab 08.03.: neval in Heinsberg/ Schnelle Nordrhein-Westfalen Ausbreitung Frankreich Frankreich in Deutschland, 25.01. vor allem durch 25.01. heimreisende Ski- Italien Italien urlauberInnen aus 27.01. 27.01. Ischgl/Südtirol Ägypten Ägypten Nepal Nepal 14.02. 14.02. 05.01. 05.01. 28.01.: erster Erkrankter in Deutschland, im Thailand Thailand Landkreis Starn- 14.01. 14.01. Indien Indien berg/Bayern 30.01. 30.01. Brasilien Brasilien 27.01. 27.01. Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 07 mehrere Jahre, bei Naturkatastrophen über Worin liegen die Gemeinsamkeiten von einige Minuten, Tage oder Wochen. Damit Pandemien und Naturgefahren? unterscheiden sich auch die Auswirkungen. Neben der Gefahr für Menschenleben besteht ein Risiko für die kritische Infrastruktur: Inwiefern? Krankenhäuser, Energie- und Wasserver- Naturkatastrophen haben physische, sicht- sorgung. Bei Naturgefahren durch Zerstö- bare Auswirkungen. Sie zerstören Gebäude, rung von baulichen Elementen, bei Pan- Infrastruktur, Landschaften. Corona ist ein demien durch den Ausfall von Personal unsichtbarer Gegner. Die Auswirkungen wegen Krankheit oder Quarantäne. Da sind einer Pandemie sind komplexer und nicht neben einem staatlichen Katastrophenma- unmittelbar absehbar, insbesondere wenn nagement auch die betreffenden Unterneh- es sich um ein neuartiges Virus handelt. Die men gefragt, dafür Strategien zu entwickeln. Gesellschaft ist als Ganzes betroffen, etwa durch Einschränkungen des öffentlichen Sie sagten, mit Pandemien hat Deutsch- Alexander Esser Lebens. Die Folgen sind im Gegensatz zu land bisher kaum Erfahrungen. Gibt es ist Referent für die denen des Sturms oder des Hochwassers weitere bisher unbekannte Risiken? Risikoanalyse im kaum abschätzbar. Die Dürre und Hitze zum Beispiel, die wir 2018 Bevölkerungsschutz und 2019 erlebten. Wer hätte gedacht, dass im Bundesamt für Menschenleben sind in allen Fällen in Deutschland einmal Trinkwasser knapp Bevölkerungsschutz gefährdet. wird, wie es in einigen Regionen geschehen und Katastrophenhilfe. Bei Pandemien sind potenziell mehr Men- ist? Oder Erdbeben. Es gibt zwar immer wie- schen betroffen. Das Phänomen der Unsicht- der leichte Beben in Risikogebieten wie der barkeit, die Komplexität der Symptome Niederrheinischen Bucht. Doch mit kata erschwert den Menschen auch den Umgang strophaleren Beben haben wir noch keine mit der Gefahr. Erfahrung machen müssen. Kanada 27.01. USA Russland 22.01. 07.02. Wuhan Japan 17.01. Vietnam Taiwan 23.01. 21.01. Australien 25.01. Malaysia 25.01.
08 Corona-Katastrophenmanagement Von Tag zu Tag, immer neu Eine nie da gewesene Katastrophe erfordert ein nie da gewesenes Katastrophenmanagement. Die Corona-Krisenbewältigung greift tief in die Gesellschaft ein – und gefährdet sie. Das ist anders als beim Management von Naturkatastrophen. Eine Analyse. E s ist ein historischer Moment und es in Kurzarbeit. Sortiert die Gesellschaft nach wird viel von historisch die Rede sein in Systemrelevanz. den kommenden Wochen und Monaten. Die Grenzen dicht, auf allen Kontinenten. Historisch, das große Wort. Am 18. März 2020 Die globalisierte Welt, das große, stolze Ganze, wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel implodiert in unendlich viele, unendlich ein- per Fernsehansprache an die deutsche Bevöl- same vier Wände. kerung. Die Lage ist ernst, sagt sie, nehmen Shutdown. Das Katastrophenmanage- Sie sie ernst. Bleiben Sie zu Hause, waschen ment gebiert neben neuen Strategien auch Sie gründlich die Hände, halten Sie Abstand neue Begriffe. Zu diesem Zeitpunkt sind zueinander. nahezu 18.000 Menschen in Deutschland mit Vier Tage später fährt auf Geheiß der Bun- dem Virus infiziert, knapp zwei Monate nach desregierung das öffentliche Leben nahezu dem ersten Krankheitsfall. 55 Menschen sind vollständig herunter. Der über Wochen anhal- an Corona gestorben. tende Shutdown schickt Kinder und Erwach- sene ins Homeschooling und Homeoffice, KünstlerInnen, GastronomInnen, die Dienst- Ein heterogenes Team leistungsbranche und den Handel an digitale „Ein Krisenmanagement braucht ein heteroge- Orte, ins To-go-Geschäft oder gleich komplett nes Team, das homogen arbeitet“, sagt Albrecht Chronologie: Flexibles Leben bis zum Impfstoff Fernsehappell der Bundeskanzlerin: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, Krisenstab der Bundesregierung. bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Eine der ersten Maßnahmen: Die Kliniken sollen sich personell Verbot von Versammlungen und Veranstaltungen ab 50 Personen und technisch auf Corona-Fälle vorbereiten. Bundesweite Schulschließungen 27.02. 13.03. 16.03. 18.03.
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 09 Das Prinzip des Corona-Krisenmanagements Ein Krisenstab der Bundesregierung übernimmt am 27. Februar 2020 das Katastrophenmanage- ment. Dazu berechtigt ihn das Katastrophenschutzgesetz, da Gefahr für das ganze Land droht. Das Infektionsschutzgesetz berechtigt zu Prävention wie Einschränken der Grundrechte, Quaran täne, Berufsverbot, Schutzimpfungen. Am 6. Mai gibt die Bundesregierung die Steuerung an die Bundesländer ab, behält sich indes eine erneute Stabsleitung vor. Broemme, Leiter des Zukunftsforums Öffent- es keinen Impfstoff als Schutz gibt, liche Sicherheit. Die Hauptstadt Berlin holt bleibt – als überbrückender Schutz – den erprobten Katastrophenschützer aus dem das Social Distancing. „Abriegeln, Ruhestand, damit er binnen kürzester Zeit ein konsequent“, so sagt es Katastrophen- Corona-Krankenhaus aufbaut. Fachleute wie schützer Broemme. Schotten dicht. Die er gehören zum Team, das er in zwei Stäbe teilt: Widerstehen-Strategie aus dem Natur- einen Fachstab und einen politischen Stab. Das gefahrenschutz – die Gefahr abwehren. unterscheidet sich zunächst gar nicht so sehr Die Bundesregierung geht zunächst einen von Naturkatastrophen. Im Fachstab sitzen anderen Schritt, lässt die Tür noch einen Spalt ExpertInnen aus unterschiedlichen Diszipli- breit offen: Sie spricht Reisewarnungen in Albrecht Broemme nen und des Bevölkerungsschutzes. Der poli- Risikogebiete aus. Sie versucht, Infektions- ist Katastrophenschützer. tische Stab trifft auf Grundlage der Empfeh- ketten nachzuvollziehen, infizierte Menschen lungen des Fachstabes Entscheidungen. und ihre Kontaktpersonen zu isolieren. Das Corona-Management, die beiden Als dies nicht mehr gelingt, als das nord- Stäbe, macht vieles gleichzeitig, parallel. Poli- rhein-westfälische Heinsberg durch ein tik revidiert Entscheidungen im Wochen-, Karnevalsfest zum Hotspot wird, als Skitou- 14-Tagesrhythmus, den immer neuen, tiefe- ristInnen das Virus massenweise aus Öster- ren Erkenntnissen der VirologInnen folgend. reich mitbringen, folgt der zweite Schritt: „Katastrophenmanagement braucht einen Shutdown. Eine nie da gewesene Aktion – die Plan, was mit welcher Priorität zu schützen zum Schutz menschlicher Gesundheit demo- ist“, so Broemme. Zuerst: die menschliche kratische Grundrechte einschränkt. Gesundheit. Was bei Hochwasser der Bau Mit diesem Shutdown am 22. März von Deichen, das Aufstapeln von Sandsäcken macht sich die Bundesregierung zur zentra- und die Evakuierung der Bevölkerung heißt len Krisenmanagerin, reguliert einheitlich die bei Corona: Isolation – innerhalb der Gesell- Katastrophenbedingungen im ganzen Land. schaft und nach außen. Ansteckungsgefahr „Der Staat kann nun eine Steuerungsmacht verhindern oder zumindest mindern. Weil ausüben, bis hin zur Zwangsquarantäne“, Deutschland ordert 37 Mio. Schutzmasken Shutdown – das öffentliche Leben fährt herunter, Bundesweites Portal strikte Kontaktbeschränkungen für die Meldung freier Intensivbetten 22.03. 03.04. 06.04.
10 kommende Generation. Er stürzt Deutschland in eine tiefe wirtschaftliche Krise, deren Aus- Die Schutzstrategie: Gefahrenkette maß auch Monate nach dem Shutdown nicht Zum Eindämmen einer Masseninfektion mit dem Coronavirus absehbar ist. „Risikoverschiebung“ nennt das greift der Staat zu drastischem Schutz. Rigide Kontaktbeschrän- Reckwitz: „Das Anfangsrisiko – die ungere- kungen bringen wiederum neue gesamtgesellschaftliche Gefah- gelte Infektionskurve – wird im Grad seiner ren. Um die wirtschaftlichen und sozialen Schäden zu mildern, Schwere vom Folgerisiko überholt.“ verschuldet sich der Staat in Milliardenhöhe. Langwierige, flexible Prävention Rund fünf Wochen nach dem Shutdown, drei sagt Andreas Reckwitz, Soziologieprofessor Monate nach dem ersten Infektionsfall in an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Deutschland, der nächste Schritt des Manage- ist anders als bei Naturkatastrophen, deren ments: allmähliche Lockerungen der Isolation. Management in der Regel Kommunal- bzw. Die höchste Gefahr, die Massenerkrankung, Länderaufgabe ist. Neu und anders ist auch scheint vorerst gebannt, der sogenannte R-Fak- der Shutdown an sich. Reckwitz: „Ein extremes tor pendelt sich bei eins ein: Ein infizierter Mittel der Risikominimierung, das in diesem Mensch steckt einen anderen an, nicht mehr Umfang noch nicht zum Einsatz kam.“ drei. Die Zahl der Infizierten liegt bei über Dieser zweite Schritt des Corona-Manage 140.000 Menschen. Es gibt über 4.000 Tote. ments gleicht einer Strategie aus dem Natur- Mit den ersten Lockerungen ab Anfang gefahrenschutz: Nachgeben. Opfern. Um das Mai verlagert sich die Risiko-Waagschale: Wichtigste zu schützen, Schäden des ver- Cafés und Restaurants, FriseurInnen und der meintlich Unwichtigeren in Kauf nehmen. Einzelhandel dürfen wieder öffnen. Kitas und Das Corona-Management wägt Gesundheit Schulen betreuen stundenweise. Es bleibt der versus Gesellschaft und Grundrechte auf. Der soziale Abstand, es bleibt das Verbot größerer Schutz vor dem tödlichen Virus schafft damit Veranstaltungen. Es kommt die Maske. weitere Gefahren: für Wirtschaft, Gesellschaft, Auch der politische Krisenstab plurali- für Gesundheit, Kunst und Kultur. Für die siert sich. Die Bundesregierung zieht sich am Bundesregierung gibt Krisenmanagement an die Bundesländer ab. Weitere Lockerungen mit Option lokaler Lockdowns. Einführung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und im Einzelhandel Konjunkturpaket des Bundes mit 130 Milliarden Euro soll die Gesellschaft Schrittweise Lockerung des Shutdowns vor dem Bankrott bewahren. ab 20.04. 06.05. 03.06.
11 6. Mai als alleinige Entscheidungsträgerin der Krisenmodus. Länger, viel länger als ein zurück, übergibt an die Bundesländer. Die paar Tage oder Wochen Hochwasser oder ein Folge: Jedes Bundesland, von Bayern bis nach paar Tage Orkan. Und möglicherweise wird Mecklenburg-Vorpommern, regelt die Schärfe auch der Weg in eine Zeit ohne Corona länger der Prävention anders. dauern als ein ein-, zweijähriger Wiederauf- Das Corona-Management hält sich Fle- bau einer überschwemmten oder vom Sturm xibilität vor. Es bleibt die Option auf lokale zerstörten Region. Die Katastrophe dauert, Shutdowns und Einschränkungen, sollte das so verlautbart es der politische Führungsstab Virus wieder ausbrechen. Im Juni 2020 fährt aus Bund und Ländern immer wieder seit dem der Landkreis Gütersloh das öffentliche Leben Shutdown, bis es einen Impfstoff gibt. So lange herunter, als ein Schlachthof zum Hotspot bleibt Deutschland, bleibt die Welt im Krisen- wird. Ende September verschärft Bayern die modus. Mit unabsehbaren Folgen. Kontaktbeschränkungen; Nordrhein-West „Katastrophenmanagement braucht trans- falen sagt den Straßenkarneval für 2021 ab. parente Kommunikation und ein Gesicht“, Mit der schrittweisen Rücknahme der sagt Albrecht Broemme. Das Gesicht der Krise sozialen Isolation im Mai beginnt das, was im ist die Bundeskanzlerin und, das zweite: Chris- Naturgefahrenschutz die Strategie des Auswei- tian Drosten, der Chefvirologe der Berliner chens ist. Das Leben mit der Gefahr. Masken- Charité. Politischer Stab und Fachstab. Mit der pflicht, Hygieneregeln, Sicherheitsabstände Abgabe des Katastrophenmanagements an die gleichen dem hochwasserangepassten Bauen Bundesländer erhält die Krise viele regionale hinter Schutzwällen oder auf Stelzen. Das weit- Gesichter. Die Kommunikation wird divers. gehend digitalisierte Wirtschafts-, Arbeits- und Ab Ende Mai klafft die deutsche Gesell- Kulturleben dem Rückzug aus Überschwem- schaft auseinander. Der soziale Zusammenhalt, mungs- oder Erdbeben-Risikogebieten. der sich in sozialer Isolation zeigte – im frei- willig befolgten, staatlich verordneten Social Distancing –, zerbröselt. Die Folgerisiken der Das Ende: Nicht absehbar eingeschränkten Grundrechte und der Wirt- Flexibilität, Ungewissheit, der Zeitfaktor: Die schaftsbeschränkungen. Auf den Straßen und Katastrophe dauert, mit ihr das Management, digital gibt es Protest gegen die Regeln. Unter- Die Bundesregierung hebt Erster lokaler Lockdown im Landkreis Reisewarnungen für europäische Gütersloh nach Infektionsausbruch im Länder zum 15. Juni auf. Schlachthof Bundesregierung und Länder beschließen Start der Ausreisebeschränkungen für lokale Corona-Warn-App bzw. regionale Corona-Hotspots. 04.06. 16.06. 23.06. 16.07.
12 Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt schiedliche Branchen machen mit Demonstra- Geflüchteten, was für das Rentensystem? Die tionen auf ihre prekäre Situation aufmerksam. gesamte Gesellschaft muss sich neu ordnen. Während das Virus unsichtbar bleibt – und Die Bundesregierung entschließt sich zur unspürbar in jedem Menschen lauern kann –, Absicherung, packt Anfang Juni Milliarden in wird das Ungemach des Krisenmodus sicht- ein Konjunkturpaket, immer mehr Millionen und hörbar. In Stuttgart randalieren in der in Forschungen nach einem Impfstoff. Wirt- Nacht zum 21. Juni Hunderte feiernde Men- schaftliche Hilfsprogramme gibt es bereits schen, plündern, liefern sich Gefechte mit kurz nach dem Shutdown. Der Staat opfert der Polizei. Auf dem Frankfurter Opern- die Schwarze Null im Bundeshaushalt, damit platz eskaliert in der Nacht zum 19. Juli eine die Wirtschaft nicht einbricht. Er wird end- Party mit Hunderten Menschen. Landauf, gültig zum Katastrophenabsicherer. Auch das landab gibt es Massenpartys ohne Abstand ein Unterschied zu Naturkatastrophen. Das und Maske. MinisterpräsidentInnen, Bürger- hat, wie so vieles in dieser Ausnahmezeit, den meisterInnen geben Teile des Katastrophenma- Anschein des Übereilten. Klammer: „Wer am nagements wieder an die Gesellschaft zurück: lautesten schreit, bekommt Geld. Wir brau- Prof. Dr. Ute Klammer „Je mehr wir lockern, desto mehr brauchen chen mehr Systematik.“ Investitionen in Bil- leitet das Duisburger wir die Eigenverantwortung der Menschen“, dung gehören dazu, bessere Bezahlung des Institut für Arbeit und appelliert etwa Berlins Bürgermeister Michael Pflegepersonals, Ausbau klimaneutraler Mobi- Qualifikation. Müller Ende Juli. „An der Bedrohung seit März lität. Nicht nur Subventionen für Airlines. hat sich nichts geändert.“ Durchhalten, bis der Impfstoff kommt. Zu diesem Zeitpunkt sind rund 9.000 Menschen Das Danach in Deutschland mit Corona gestorben. „Es scheint, dass die Corona-Krise ein gesell- schaftliches Trainingsfeld unter Extrem bedingungen dafür ist, was uns in den nächs- Unabsehbare Aspekte der ten Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Risikoverschiebung Klimawandel generell beschäftigen wird“, sagt Die Schäden der Risikoverschiebung werden Soziologe Andreas Reckwitz. Katastrophen- immer größer. „Die Ungleichheit der Gesell- schützer Albrecht Broemme blickt auf das schaft verstärkt sich weiter“, sagt Ute Klam- Management: „Mir kommt es vor, als probten mer, die Direktorin des Duisburger Instituts wir nur für eine echte Pandemie und schon für Arbeit und Qualifikation. Frauen sind die Probe legt alles lahm.“ Und Ute Klammer deutlich stärker belastet als Männer; Gering- schaut auf das Danach: „Diese Pandemie wird verdienende mehr als Besserverdienende. nicht die einzige bleiben.“ Statt nur auf einen „Wir erleben eine Retraditionalisierung der Impfstoff und auf Medikamente zu setzen, Geschlechterrollen.“ Und manche Folgen brauche es eine vorausschauende Stärkung seien erst langfristig sichtbar: „Wie werden der Gesellschaft. Die sollte sich an den Nach- die Kinder aus bildungsfernen Schichten haltigkeitszielen der Vereinten Nationen ori- durch die langen Schulschließungen kom- entieren, zu denen sich die Bundesrepublik men?“ Was bedeutet das begrenzte Leben für verpflichtet hat: sozial, ökologisch und öko- den Arbeitsmarkt, was für die Integration von nomisch gerecht. Erneute Reise Wegen steigender Infektionszahlen beschließen Mit Ende der Sommerferien warnungen für Bund und Länder Obergrenzen für private regulärer Schulbetrieb europäische Regi- Feiern in regionalen Hotspots. unter Hygieneregeln und onen, die wieder mit präventiven Schließun- zu Risikogebieten Der Bundesgesundheitsminister gen bei Corona-Verdacht erklärt werden empfiehlt lokale Fieberzentren für Menschen mit Atemwegserkrankungen. ab 03.08. 15.08. 21.09. 29.09.
13 Versicherungsunternehmen in der Corona-Zeit Stabil durch die Krise Wie schaffen diejenigen in der Krise Sicherheit, deren Kompetenz Schutz und Sicherheit ist – die Versicherungs unternehmen? Mit erprobten Notfallstrategien; engagierten Mitarbeitenden auch in Ausnahmesituationen und Produkten, die schnell und unkompliziert helfen. Zwei Beispiele aus der Branche. F rank Fehlauer ist einer der Ersten in heimischen Schreibtisch aus. Fehlauer: Deutschland, den die Pandemie erwischt. „Auch wenn wir ohnehin relativ papierlos Zurück aus dem Urlaub in Südtirol geht arbeiten, hat unsere IT einen Riesenjob der R+V-Vorstand Ende Februar in häusliche gemacht.“ Quarantäne. Die R+V Versicherungsgruppe Im Juni 2020, vier Monate nach bildet am Firmensitz in Wiesbaden während- Beginn der Ausnahmezeit, verschickt dessen einen Krisenstab und schickt von heute das Management des Industrieversi- auf morgen 16.000 KollegInnen ins Home- cherers FM Global Schokolade an die office. 16.000 Menschen, eine ganze Klein- Mitarbeitenden. Eine besonders aus- stadt, stellt sich binnen Kurzem auf digitales, gefallene, extravagante Sorte: mit gesal- sicheres Arbeiten ein. Der Krisenstab koordi- zenem Krokant. Als kleines Zeichen der niert den Umstieg und justiert, wo nötig, nach. Wertschätzung auch über die Distanz des län- Wer braucht noch einen größeren PC-Bild- derübergreifenden Homeoffice hinweg. „Das Frank Fehlauer schirm? Und: Woher ist schnell entsprechende Wichtigste für den Dienst am Menschen sind ist Vorstand der R+V Hardware zu bekommen, in einer Zeit, in der die Menschen, die diesen Job machen“, sagt Direktversicherung AG. PCs und Monitore in ganz Europa knapp sind? Alexander Lubbadeh, Operations Engineering Als die Krankheit bei Fehlauer ausbricht, Manager von FM Global. Diejenigen, die sich verläuft sie glücklicherweise nur „wie eine kümmern. Verträge abschließen, zur Schaden- leichte Grippe“. Da läuft der Laden längst – prävention beraten, Schäden regulieren, für agieren die R+V-KollegInnen mit ihren besondere Lagen in dieser Krisenzeit beson- KundInnen und untereinander sicher vom dere Lösungen finden. Naturgefahrenreport 2020
14 Unkonventionelles Arbeitsklima Hauptsache Sicherheit Die Schokolade ist nur ein kleines, feines Sicherheit geht vor – für KundInnen und Zeichen, ein Mini-Baustein eines guten Mitarbeitende. Die FM Global schließt im Betriebsklimas. Das für alle Mitarbeitenden März ihre Büros in Deutschland, die in Asien immer wichtig ist, erst recht, wenn sie selbst im schon im Januar. Binnen 24 Stunden läuft die Ausnahmezustand sind. Klar kennen sie Kata- Umstellung von Office auf Home. Beim Global strophen, klar kennen sie solche Ausnahme- Player gehören digitale Kommunikation und situationen wie Hochwasser oder schwere Arbeitsweise ohnehin zum beruflichen Alltag. Stürme. Wenn wochenlang die Telefone nicht Die R+V verlängert ihren Service bis nach stillstehen, sich die E-Mail-Postfächer fül- Beirut. Dort sitzt ein Mitarbeiter fest. Auch len, weil Tausende KundInnen mit schweren er kann binnen kurzer Zeit digital arbeiten, Schäden an Wohnhäusern, Hausrat oder am stabiles Netz und Sicherheitssystem machen Unternehmen Hilfe brauchen. Schnell, unkom- es möglich. „Gefühlt waren die Daten von dort pliziert, professionell. Doch dass der eigene Job mindestens genauso schnell da wie innerhalb und der eigene Arbeitsplatz selbst zur dauer- Deutschlands“, sagt Frank Fehlauer. haften Ausnahme werden, das ist auch für die Das Kerngeschäft sichern – erreichbar, krisenerprobten Mitarbeitenden im Backoffice, ansprechbar, lösungsbereit für die KundInnen in der Schadenabwicklung und vor Ort in den sein – in den zentralen Unternehmensberei- Agenturen der Branche deutschlandweit neu. chen Versicherungsgeschäft und Schaden- Es ist Homeoffice in einem Job, der übli- Risiko-Management. Keine einfache Aufgabe che Bürozeiten ohnehin nicht kennt. „Uns ist für eine Branche, die vom Kontakt von Mensch nicht wichtig, dass die Menschen von 9 bis 17 zu Mensch lebt – face to face. Ob bei der Bera- Uhr arbeiten. Uns sind Empathie und höchste tung zu einer Police, bei der Begutachtung für Flexibilität wichtig“, sagt Alexander Lubbadeh. ein Schutzkonzept oder der Betreuung eines Und auch bei der R+V können Mitarbeitende Schadens durch Sturm oder Brand. Vor Ort – mit oder ohne Kinder – ihre Arbeitszeiten sein gehört zu den Markenzeichen der Bran- entsprechend flexibel gestalten. Das kommt che. Und Vertrauen. Das geht auch digital. den KundInnen am anderen Ende der Leitung Was brauchen die KundInnen jetzt? Wie sogar entgegen, deren Job sich in der Krise bewerten sie den Dienst ihrer Versicherungs- auch nicht auf Kernarbeitszeiten begrenzt. Das unternehmen? Regelmäßig überprüft die R+V gelingt: „Die Produktivität im Homeoffice ist mit Umfragen deren Zufriedenheit mit Bera- hoch“, sagt Fehlauer. tung und Schadenabwicklung. Und bekommt Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 15 auch in der Corona-Ausnahmezeit Bestnoten. Auch den FM Global-Leuten bescheinigen die KundInnen im Ausnahmebetrieb, es laufe wie „business as usual“, wie Alexander Lubbadeh sagt. Was für ein Kompliment in einer Zeit, in der Unternehmen ihre Leute in Kurzarbeit schicken oder Produktionslinien komplett umstellen oder ausfallen lassen müssen. Homeoffice für die vom Innendienst, die beraten und begleiten. Das klingt gut machbar. Doch was ist mit denen, die raus zu den KundInnen gehen? Risikoanalysen erstellen, Schutzkonzepte erarbeiten oder Schäden bewerten? Auch dafür haben die Ver- sicherungsunternehmen Lösungen. Die Inge nieurInnen und GutachterInnen arbeiten in Schutzkleidung draußen. In der Zeit des Shutdowns, als niemand raus kann, arbeiten sie virtuell: Objekte oder Schäden lassen sich auch per Foto oder Video bewerten. Und das bietet zusätzlichen Schutz gegen Unfälle KundInnengespräch dazu findet via Video- im Homeoffice oder für Menschen aus den konferenz statt. Der Arbeitsprozess dauert sogenannten systemrelevanten Branchen an. dadurch nicht länger, teilweise geht es schnel- Via Hotline können sich die Menschen auch ler, effizienter. Lange Reisen entfallen, die über rechtliche Fragen, etwa zur Kurzarbeit, Vor- und Nacharbeiten der Bewertung sind informieren. Die FM Global veröffentlicht kürzer. Leitfäden für sichere Betriebsführung und begleitet KundInnen unkompliziert, die ihre Produktion umstellen, etwa auf Schutzmasken Schneller, neuer Service und -ausstattung. Die Branche kommt ihren Verlässlicher, ununterbrochener KundInnen- KundInnen auch finanziell entgegen: mit indi- Service. Dazu gehört nicht nur der reibungs- viduellen Stundungs- bzw. Ratenlösungen für lose Ablauf. Es gehören auch schnelle neue diejenigen, die durch Betriebsausfall in Liqui- Angebote dazu, die in Corona-Zeiten Sicher- ditätsschwierigkeiten stecken. Sie stocken auf, heit geben, Halt vermitteln. Die R+V etwa wo andere runterfahren müssen. Naturgefahrenreport 2020
16 Erprobte Krisenpläne brauchen die Mitarbeitenden, wir brauchen Den reibungslosen Dienst an KundInnen eine stabile IT“, so Fehlauer, „damit können gewährleisten Krisenpläne. Klar ist darin wir auch im Homeoffice solche Massenschä- festgelegt, wer was wie zu tun hat. Gesund- den effektiv bearbeiten.“ „Wir können weltweit heitlichen Schutz in Corona-Zeiten garantiert auf unsere SpezialistInnen zugreifen, sollte ein stufenweiser Betrieb. Er regelt, wie viele irgendwo Personalnot herrschen“, sagt Alexan- Menschen im Büro arbeiten dürfen. Kri- der Lubbadeh. Das erlaubt verlässlichen Kund senstäbe managen die Ausnahmesitua- Innendienst auch in Zeiten, in denen Krisen tion. Die Kommunikation untereinan- sich überschlagen sollten. der läuft per Videokonferenz, oft sind es Jetzt erst mal stabil durch diese Krise. Ler- mehrere Schalten hintereinander. „Das nen, dauerhaft aufstellen, was neu und gut ist gewöhnungsbedürftig, aber auch effi- läuft. So denkt die R+V beispielsweise über zient“, sagt Alexander Lubbadeh. verstärktes Free Seating nach, mehr mobile Stabil durch jede Krise. Dafür proben Arbeitsplätze – damit noch flexibler Kund Versicherungsunternehmen die Ausnahme Innenwünsche erfüllt werden können. Dass regelmäßig anhand simulierter Situationen. vieles digital effizienter geht, ist auch für die Alexander Lubbadeh FM Global spielt jährlich ein noch unbekann- FM Global eine Corona-Erfahrung. Internatio ist Operations Engineering tes Szenario durch. R+V macht regelmäßige nale KundInnentermine etwa, so Lubbadeh, Manager der FM Global. Testläufe im Notbetrieb. Routine erhält die kann man im Büro intensiver vorbereiten, krisenerprobte Branche zudem durch ihren braucht dann insgesamt weniger Reisezeit, Alltag, echte Katastrophen. Kurz vor Corona, arbeitet konzentrierter und effizienter vor Ort. Anfang Februar, geraten Tausende KundInnen Und: Was fehlt in dieser Ausnahmesitua- durch den schweren Sturm Sabine in Not, tion? Alexander Lubbadeh: „Irgendwann dann brauchen Hilfe – Schadenbewertung, finan- doch live die KollegInnen. Selbst das Gefühl, ziellen Ausgleich. Die Unternehmen verstär- von manchen Dingen ab und zu genervt zu ken Personal, schicken die Mitarbeitenden aus sein.“ Frank Fehlauer: „Ein Corona-Impfstoff.“ dem Backoffice mit an die Schaden-Hotlines. Deswegen hat er neben seinem Job als Krisen- Auch dies ist klar in Krisenplänen festgelegt. manager noch einen weiteren ehrenamtlichen Damit ist die Branche auch gewappnet, sollte Job. Er lässt sich im Dienst für die Corona- in der Ausnahmesituation Corona auch noch Forschung regelmäßig auf seine Corona- eine Naturkatastrophe dazukommen. „Wir Antikörper testen. Dienstleistungen der Versicherer: Risikoberatung Risikomanagement Präventionsmanagement Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 17 Digitales Krisenmanagement „Vor die Lage kommen“ Das Social-Distancing-Gebot von Corona. Wochen-, monatelang organisieren sich Arbeitsteams und Familien virtuell. Die Bundesregierung trifft sich via PC-Bildschirm, selbst BürgerInnenämter und Rathäuser agieren online. Wie digital kann Krisenmanagement sein? Auskünfte von Krisenmanagement-Coach Klaus Bockslaff. Herr Bockslaff, Sie haben für Krisenmanage- und oft erprobtem Risikomanagement ment ein digitales System entwickelt. Wie eintreten, egal ob in einem Land oder funktioniert es? in einem Unternehmen – ob Hoch- Es ist ein Onlinetool und strukturiert die Arbeit von wasser oder Reaktorunfall. Doch gutes Krisenstäben ab dem Moment, da die Katastrophe Krisenmanagement braucht immer eintritt. In solchen Ausnahmesituationen ist ein eine gute Methodik, damit der Kopf frei methodisches Vorgehen, auch unter Zeitdruck, bleibt. Ziel muss es sein, vor die Lage zu enorm wichtig. Das Tool strukturiert die methodi- kommen – nicht mehr von den Ereignis- schen Schritte – von der Lageerfassung über Sofort- sen getrieben zu werden, sondern selbst Dr. Klaus Bockslaff maßnahmen, Zeitplanungen bis hin zum Abschluss. Impulse setzen zu können. Digitale Tools ist Management- Es beschleunigt die Arbeitsprozesse des Krisenstabs. halten den Rücken frei und helfen, nichts Coach für ganzheit zu vergessen. liches Risiko-, Eine neue Form der Arbeitsteilung Mensch – IT? Kontinuitäts-, Notfall-, Wenn Sie es so nennen wollen, ja. Die schrittweise Für welche Branchen ist digitales Sicherheits- und Methodik erleichtert die Kommunikation, unter- Krisenmanagement wichtig? Krisenmanagement. stützt die Krisenorganisation bei der Erteilung von Da würde ich alle einschließen – Regierun- Aufträgen und gibt einen jeweils aktuellen Überblick gen ebenso wie Unternehmen oder Behör- über die Lage und visualisiert diese am Bildschirm. den. Krisen wird es immer geben, auf ganz Der Krisenstab kann sich auf das Erarbeiten von unterschiedliche Weise. Und jeglicher Krisenstab Lösungen konzentrieren. muss dann stressfrei und kreativ agieren können. Wo im Krisenmanagement hat Digitalisierung Wie funktioniert digitales Krisenmanagement, ihre Grenzen? wenn beispielsweise Strom oder IT ausfallen? Digitalisierung kann ein Krisenmanagement unter- In der Regel über Notstromaggregate und Ersatz- stützen, doch kluge Entscheidungen nicht ersetzen. leitungen, die jedes Risikomanagement vorhal- Dafür braucht es menschliche Lösungsfindungs- ten muss. Zudem empfiehlt sich immer auch ein kompetenz, die Fähigkeit, in Ausnahmesituationen gedrucktes Handbuch, das für alle aus dem Kri- ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen. Mein senstab zugänglich sein sollte. Lieblingsbeispiel dafür ist die Apollo-13-Mission – das Krisenszenario schlechthin. Drei Menschen Durch die Kontaktbeschränkungen der Corona- ohne ausreichend Sauerstoff und Energie in einer Pandemie hat die Digitalisierung des gesamten instabilen Raumkapsel mitten im Weltraum. Ein öffentlichen Lebens und der Arbeitswelt global Großteil der Technik versagt. Und unten, in Hous- einen Schub erlebt. Was wird davon bleiben? ton, sitzt der NASA-Flugdirektor mit einem kompe- Es wird uns in Zukunft leichter fallen, mit digita- tenten Team und findet unter extremem Zeitdruck len Techniken umzugehen. Sie gehören heute zum aus den noch vorhandenen Mitteln an Bord einen Alltag. Möglicherweise verzichten wir auf die eine Weg zur Rettung. oder andere klimaschädliche Reise, weil digitale Meetings zeitsparender sind. Doch ich bin da eher Sind digitale Tools auch bei anderen Krisen wie pessimistisch. Wir Menschen sind nur begrenzt etwa Naturkatastrophen hilfreich? lernfähig und verzichten ungern auf einmal beses- Ja. Zwar ist jede Krise anders und kann trotz gutem sene Bequemlichkeiten. Naturgefahrenreport 2020
18 Pandemie-Anpassung „Gesundheitsschutz ist Naturschutz“ Wie sieht ein gesellschaftliches Leben mit Pandemien wie Corona aus? In einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise. Sie denkt Klimaschutz, Klimaanpassung und Gesundheitsschutz zusammen. Der Schlüsselbegriff: Raum. Die Umrisse einer pandemieangepassten Welt. A bstand halten. Das große, vorbeugende genutzt: Dächer erhalten Pflanzen. Dieses küh- Gebot der Corona-Zeit. Ein Meter fünf- lende frische Grün ist zudem gut fürs Klima. zig zwischen den Menschen Raum las- Es schluckt Kohlendioxid, verwandelt es in sen, damit das Virus keine Chance hat, überzu- Sauerstoff. springen. „Bitte halten Sie Abstand!“ steht seit März 2020 an jedem Supermarkteingang, an jedem Café, an den Rolltreppen und auf den Raum für die Menschen Bahnsteigen von Bus und Bahn. „Bitte, bitte Die Schwammstadt, jenes Modell, das dem Abstand halten.“, klingt gar der Refrain eines Wasser Raum gibt und die Hitze mindert, Popsongs. Die Formel der Pandemie. eignet sich auch für eine pandemieangepasste Raum lassen, ein wesentliches Element Lebensweise. Freiflächen dienen dem mensch- der Klimaanpassung. Im Hochwasserschutz lichen Abstandsgebot. Das wird in Corona- lassen naturnahe Ufer Bächen, Flüssen und Zeiten ausgiebig genutzt. Die Menschen ent- Seen Raum zum Fluten, damit diese nicht decken den natürlichen Raum: für Sport, für Menschen, Gebäude und Infrastruktur über- Begegnung, für Kultur. „Draußenstadt“ beti- schwemmen. Starkregenangepasste Städte telt etwa die Hauptstadt Berlin das öffent halten begrünte Flächen und Mulden im urba- liche Leben, das sich auch in vielen Regionen nen Raum für ein Zuviel an Wasser vor. Für Deutschlands in den Sommermonaten verla- Hitzeresilienz wird selbst der bebaute Raum gert: Theater, Kino, Konzerte, Ausstellungen Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 19 finden outdoor statt. Da, wo das Virus weni- damit rechnen, dass sich die Resilienz der Welt ger Chancen hat als drinnen. GastronomInnen verändert.“ erobern sich Parkplätze und den Straßenraum, Je näher die Menschen der Wildnis und damit sie ihre Gäste an ausreichend Tischen Wildtieren rücken, umso größer die Gefahr, mit ausreichend Distanz bewirten können. dass tödliche Viren überspringen – das Corona In vielen deutschen Städten entstehen tem- virus stammt vermutlich von Fledermäusen. poräre Radwege auf Fahrbahnen, damit die Je näher Menschen an Flüssen bauen, desto Menschen mehr Platz für gesunde Mobilität höher ihr Überschwemmungsrisiko. Durch bekommen. Straßen werden auch zeitweise die globalisierte Wirtschaft, durch Handel und gesperrt, damit Kinder darauf spielen können. Tourismus verbreiten sich Erreger, Tier- oder „Stadtgrün in unmittelbarer Wohnungs- Pflanzenarten weltweit. In der neuen Lebens- nähe ist enorm wichtig für das Wohlbefinden welt sind dann die Menschen nicht auf sie vor- der Menschen – besonders in Krisenzeiten, bereitet, es gibt auch keine natürlichen Feinde. aber auch jenseits von Ausgangsbeschrän- Das Ökosystem gerät aus dem Gleichgewicht. kungen“, postuliert das Leibniz-Institut für Das birgt neue Risiken. ökologische Raumentwicklung, das sich mit Corona wird nicht das letzte globale Virus zahlreichen wissenschaftlichen Programmen bleiben, so viel scheint sicher. Die entspre- klimaresilienten, nachhaltigen Städten wid- chende Risikoanalyse von Robert Koch-Institut met. Im freien Grün besteht nicht nur gerin- und Bundesamt für Bevölkerungsschutz und gere Infektionsgefahr. „Leistungen der Natur, Katastrophenhilfe rechnet mit einer – statisti- sogenannte Ökosystemleistungen, mindern schen – Wiederkehr ähnlicher Pandemien alle auch Stress und Ängste, das Gefühl der Ein- 100 bis 1.000 Jahre. Mahrenholz zählt vier Fak- samkeit und Depressionen.“ Die Forschenden toren auf, die Voraussetzung für ein Leben mit erproben dafür u. a. eine App, mit der sich jeglichem Risiko sind, ob Naturgefahr oder glo- Grün in Wohnortnähe je nach individuellen bale Krankheit. Erstens: „Wir müssen das Risiko Bedürfnissen finden und erkunden lässt. Wie verstehen“ – durch Analysen, die das Ausmaß das Leibniz-Institut sind derzeit viele Wissen- der Gefährdung zeigen; durch Information und schaftlerInnen dabei, ein Leben mit der Pande- Bildung. Zweitens: „Öffentliche Institutionen mie zu definieren. Und werden in Klimaschutz- müssen gestärkt und vernetzt werden“ – von und Klimaanpassungskonzepten fündig. der Stadtplanung bis hin zu Gesundheits ämtern und ÄrztInnen. Für eine angepasste, und das heißt immer auch nachhaltige Lebens- Raum für die Natur weise, „braucht es kein Denken von A nach B. „Gesundheitsschutz ist Naturschutz“, sagt Es braucht integrierte Lösungen.“ Drittens: „Es auch Petra Mahrenholz, Klimaanpassungs- muss vorab in Vorsorge investiert werden, nicht strategin des Umweltbundesamtes (UBA). Für erst, wenn die Katastrophe bereits im vollen ein Leben mit Pandemien brauche es keine Gang ist.“ Dafür bietet diese Pandemie nach neuen Modelle: „Das Wissen ist da. Es muss ihrer Weltpremiere nun die Chance: Was kann nur angewandt werden.“ An erster Stelle steht vorausschauender gemacht werden? Und vier- das Wissen um die Ursachen. Mahrenholz: tens: „Katastrophenfälle müssen auch in Nicht- „Wer natürliche Ressourcen ausbeutet, muss Katastrophen-Zeiten geprobt werden.“ Naturgefahrenreport 2020
20 „Das Wissen, wie mit jeglichen Risiken umzugehen ist, ist vorhanden. Wie bei der Klimaanpassung sollte auch Mischwäldern wachsen statt zu verletzbaren für eine Pandemieresilienz nicht nur auf Monokulturen. Das zweite: „Wasser in der Flä- technischen Schutz gesetzt werden – wie che halten“, also Moore, Feuchtgebiete erhal- etwa auf Hochwasserschutztore oder eben ten. Als natürliche Räume für Artenreichtum einen Impfstoff und Intensivstationen. und Klimaschutz, die wiederum widerstands- Es braucht, so Mahrenholz, für eine ange- fähiger gegen Klimaextreme sind. passte Lebensweise auch eine lernfähige Gesellschaft: auf Händeschütteln verzichten; die Maske tragen; monatelanges Homeoffice. Raum für Stadt und Land Freiwillig verzichten Millionen Deutsche auf Raum geben, das Corona-Gebot des Abstands. tradierte kulturelle Werte. Auch Forschende des Deutschen Instituts für Petra Mahrenholz Es braucht zudem und vor allem „natur- Urbanistik (Difu) knüpfen die Pandemie- leitet das Kompetenz- basierte“ Lösungen. Der Natur ihren Raum Formel an mehr freie Flächen in Städten, zentrum Klimafolgen lassen. Mit einer globalen Biodiversitätsstra- die wiederum Klimaschutz und -anpassung und Anpassung des tegie, wie sie Bundesumweltministerin Svenja zugutekommen. „Zu lernen aus der Corona- Umweltbundesamtes. Schulze plant. Natürliche Lebensräume und Krise“, so die Difu-WissenschaftlerInnen ihre Artenvielfalt sollen erhalten bzw. neu Anne Roth, Jens Hasse und Jan Walter, wäre geschaffen werden, damit Abstand zu gefähr- nun „die Sensibilisierung und Eigenvorsorge lichen Erregern bleibt. Damit zudem die grüne von Bevölkerung und Unternehmen sowie Lunge der Welt weiter für uns alle atmen kann. eine integrierte Hitze-, Starkregen- und Die Wildnis global, das ländliche und städti- Trockenheitsvorsorge“. Dafür müssten zum sche Grün national. Zwei solcher naturbasier- Beispiel auch die Gesundheitsämter „drin- ten Lösungen empfiehlt das UBA aktuell. Zum gend mit mehr Kapazitäten und ausreichend einen: das Wiederaufforsten von Wäldern, die umweltmedizinischer Expertise ausgestattet von Sturm oder Dürre zerstört sind, zu soge- werden“. nannten „klimaplastischen“ Wäldern. Einhei- Möglicherweise gibt es gar eine Flucht mische Bäume sollen zu widerstandsfähigen aufs Land, weil die Pandemie die Sehnsucht Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 21 Wir müssen es nur anwenden.“ Petra Mahrenholz, Klimaanpassungsstrategin beim Umweltbundesamt der GroßstädterInnen nach Freiraum ver- Erfahrungen dieser Krise nun die größere stärkt. Befördern könnte dies das Digitale, seit Krise angehen, den Klimawandel. Alle staatli- Corona das Arbeitsmittel schlechthin über jeg- chen, wirtschaftlichen und bürgerschaftlichen liche Distanzen hinweg. Orte in sogenannten Bestrebungen darauf fokussieren. Nachhaltig. strukturschwachen Regionen in Brandenburg, Das UBA verweist die Bundesrepublik mit Mecklenburg oder Bayern werben seit Jahren seinem Programm „Nachhaltige Wege aus der mit freien Flächen, günstigem Wohnraum und Wirtschaftskrise“ erneut auf das Pariser Kli- guter sozialer Infrastruktur – und eben der maschutzabkommen. Der 15-Punkte-Aktions- digitalen Anbindung. „Es wird viele ländliche plan reicht vom forcierten Ausbau erneuerba- Gemeinden geben, die sich als Alternative zur rer Energien über Steuern auf umweltschäd dicht bevölkerten Stadt etablieren und dabei liche Technologien bis hin zu Investitionen in mit neuen Antworten auf die Fragen des täg- grüne Jobs und grüne Wirtschaft. Einer der lichen Lebens punkten“, prognostiziert etwa Punkte: „die gezielte Förderung von Maßnah- Difu-Stadtplaner Stefan Schneider, „für einige men des Klimaschutzes, zur Anpassung an den Großstädte könnte sich dadurch der Wachs- Klimawandel und zum Ausbau der grünen tumsdruck verringern – der Beginn einer Infrastruktur“. umfassenden Transformation.“ Für diese ist Raum geben. Der Natur, den Menschen. dann das „integrierte Denken“ von kommu- Die Leibniz-Forschenden haben für eine ange- nalen Köpfen, Stadt- und Verkehrsplanenden passte Lebensweise mit Mehrwert für Gesund- gefragt. Damit das Wachstum von Gemeinden heit und Klima noch ein weiteres, lokales nicht Freiräume frisst, damit es die vorhande- Konzept ausgemacht: die essbare Stadt. Der nen vorausschauend nutzt. natürliche Raum von Streuobstwiesen, Bee- rensträuchern oder Gemüseflächen in und um Städte ist zudem ein kleiner Vorrat hei- Raum für Wachstum mischer Ressourcen – sollten in Krisenzeiten Wie weiter mit und nach Corona? Die Ant- Lieferketten unterbrochen oder Lebensmittel worten von Difu und UBA lauten: mit den knapp werden. Naturgefahrenreport 2020
22 Interview „Wir müssen verhindern, dass sich die Erderwärmung fortsetzt“ Der Kampf gegen den Klimawandel ist das Gebot der Stunde. Welche Ideen haben die Versicherer für eine klimafreundliche Wirtschaft? Ein Gespräch mit Jörg Asmussen. Die Folgen des Klimawandels werden auch in Wetterereignissen zum Normalfall wird. So etwas Deutschland spürbarer, aktuell haben wir das vergisst man leicht angesichts unterdurchschnitt- dritte Dürrejahr in Folge erlebt. Werden die licher Schadenjahre wie 2019. Dort lagen wir mit Schäden durch Naturgewalten versicherbar drei Milliarden Euro Naturgefahrenschäden in bleiben? Deutschland unter dem langjährigen Mittelwert Ja, bis auf weiteres können wir den Klimawandel von 3,7 Milliarden. und die daraus entstehenden Schäden schultern. Das geben unsere Studien und Risikomodelle her. Wie geht die Branche mit dieser Erkenntnis um? Aber wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung Sich mit den Klimaschutz zu beschäftigen ist gut unter dem 2-Grad-Ziel des Pariser Klimagipfels zu und richtig – das reicht aber angesichts der bereits halten, dann werden wir etwa die Versicherung eingetretenen Erderwärmung nicht aus. Daher von Naturgefahren nicht in der bestehenden Form haben wir schon vor Jahren einen Schwerpunkt fortführen können. Die Weltbank hat schon 2012 unserer Arbeiten auf den Schutz vor den Folgen in einem Bericht darauf aufmerksam gemacht, dass des Klimawandels gelegt. Klimafolgenanpassung eine +4-Grad-Welt nach traditionellen Maßstäben ist notwendig – hier und jetzt. Ein Beispiel: Wenn nicht mehr versicherbar sein wird. Wir müssen Starkregen und Hagelschlag in zunehmender Weise verhindern, dass die Erderwärmung sich unge- die Bausubstanz bedrohen, muss auch das Baupla- bremst fortsetzt und die Häufung von extremen nungs- und Bauordnungsrecht angepasst werden – Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt 23 Jörg Asmussen, seit 1. Oktober 2020 Hauptgeschäfts- führer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) Jede Branche spricht über Nachhaltigkeit, was verstehen die Versicherer darunter? Wir orientieren uns an den 17 Nachhaltigkeitszie- len der Vereinten Nationen. In der Finanzbranche wird Nachhaltigkeit oft beschrieben mit: ökologisch, sozial und gute Unternehmensführung. Versiche- rer denken und handeln langfristig, dadurch ist die und zwar heute. Denn jetzt werden die Wohnun- Branche heute schon bei vielen Nachhaltigkeits gen gebaut, die den klimatischen Bedingungen in themen gut aufgestellt. Da wir selbst von den Fol- 50 Jahren standhalten müssen. Sprich: Je später wir gen der Klimaerwärmung stark betroffen sind, müs- mit den Anpassungsmaßnahmen beginnen, desto sen wir uns aber beim Thema Ökologie noch mehr größer wird der volkswirtschaftliche Schaden in der ins Zeug legen. Und auch als Arbeitgeber können Zukunft ausfallen. Daran können auch staatliche Versicherer zukunftsfähiger werden, ich denke da Hilfen im Katastrophenfall nichts ändern. besonders an mehr Diversity in den Unternehmen und auch im Verband. Allein Verordnungen lösen sicher nicht das Problem, oder? Welche Aufgaben kommen damit konkret auf Nein, das ist ein Baustein. Ein weiterer sind Auf- die Branche zu? klärung und Prävention, um künftige Schäden in Das fängt bei den eigenen Gebäuden und Geschäfts- Grenzen zu halten und Naturgefahren auch in prozessen an, die CO2-neutral werden müssen. Zukunft versichern zu können. Wie in anderen Dann sind die Kapitalanlagen der Versicherer von Ländern auch, muss der deutsche Staat die vor- immerhin 1,7 Billionen Euro ein mächtiger Hebel, „Dann sind die Kapitalanlagen der Versicherer von immerhin 1,7 Billionen Euro ein mächtiger Hebel, um die Transformation zu einer klimafreundlichen Wirtschaft zu unterstützen.“ handenen Informationen zu Naturgefahren und um die Transformation zu einer klimafreund klimatischen Veränderungen bündeln und der lichen Wirtschaft zu unterstützen. Denn wir legen Öffentlichkeit in einem zentralen und leicht ver- meist langfristig an und „geduldiges Geld“ wird für ständlichen Online-System zugänglich machen. Transformationsprojekte gebraucht. Als Investoren Wir setzen uns daher nachdrücklich für ein bun- können wir auf mehr Klimaschutz und Ressourcen desweites Naturgefahrenportal ein – im Idealfall effizienz drängen. Und schließlich können wir mit mit begleitenden Informationskampagnen. Die unseren Produkten und der Schadenregulierung Versicherer sind bereits vor Jahren in Vorleistung vieles gestalten: Neue Technologien und nachhal- getreten und haben mit der Machbarkeitsstudie tige Geschäftsmodelle brauchen Versicherungslö- „Kompass Naturgefahren“ beispielhaft gezeigt, sungen und die haben wir sehr schnell entwickelt, wie dieser Gedanke umgesetzt werden kann. Wir wie für Windparks, Solaranlagen oder Car-Sharing. haben vor kurzem mit dem „Naturgefahren-Check“ Aber wir müssen uns auch fragen: Welchen Versi- nachgelegt, aber all das kann ein zentrales Infor- cherungsschutz bieten wir z. B. klimaschädlichen mationssystem der öffentlichen Hand nicht erset- Unternehmen noch an? Wie können unsere Pro- zen. Standortgenaue Informationen über Gefähr- dukte umweltfreundlicheres Verhalten fördern? dungen durch Hochwasser, Starkregen, Blitz und Wie kann eine nachhaltige Altersvorsorge aus- Überspannung sowie Sturm und Hagel sollten in sehen? Die Antworten darauf zu finden, wird ein der digitalen Gesellschaft selbstverständlich sein. Kraftakt. Aber es gibt keine Alternative. Naturgefahrenreport 2020
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