NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV

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NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

  Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer

   Naturgefahrenreport
   2020
NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
02     Inhaltsverzeichnis

                  Einleitung
             03         Editorial

                  Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt
             06         „Ein unsichtbarer Gegner.“ Ein Gespräch mit Risikoexperte Alexander Esser
             08         Von Tag zu Tag, immer neu. Das Corona-Katastrophenmanagement
             13         Stabil durch die Krise. Versicherungsunternehmen in der Corona-Zeit
             17         „Vor die Lage kommen.“ Ein Gespräch mit Management-Coach Klaus Bockslaff
             18         „Gesundheitsschutz ist Naturschutz.“ Leben mit Pandemien
             22         „Wir müssen verhindern, dass sich die Erderwärmung fortsetzt.“
                        Ein Gespräch mit GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen

                  Kapitel zwei: Das Hageljahr. Die Schadenbilanz 2019
             26         Wieder viel zu heiß. Der Jahresrückblick 2019
             28         Schwere Stürme, schwerer Hagel. Die Sachschäden 2019
             32         Extrem teure Schäden. Die Kfz-Schäden 2019
             34         „Eine gewaltige Energie.“ Die Naturgewalt Hagel
             38         Rundumschutz fürs Haus. Hagelprävention

                  Kapitel drei: VorreiterInnen im Wissenstransfer
             42         Präventionsarbeit mit Empathie. Wie Versicherer zu Naturgefahren beraten
             44         Das neu erforschte Nass. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV
             47         Stadt.Land.unter. GDV-Aufklärung über Starkregen
             48         Handout für den Hochwasserschutz. Der neue GDV-Leitfaden
             50         Tool für den Risiko-Check. Das neue Naturgefahrenportal des GDV

                  Anhang
             52         Publikationen und Links
             55         Bildnachweis
             56         Impressum

     Naturgefahrenreport 2020
NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Einleitung            03

Editorial

M
          ehr als 100.000 Menschen ziehen durch
          Berlin, in ganz Deutschland sind es mehr
          als eine Million. Auf ihren Plakaten
schwitzt die Erde, trocknen Flüsse aus, stehen die
Uhren auf 5 nach 12. In ihren Sprechchören for-
dern die jungen Demonstrierenden die Eltern- und
Großeltern­generation zum Handeln auf. Erscheint
Ihnen das auch seltsam weit weg? Das ist erst ein
Jahr her – September 2019. Lassen Sie es mich ganz
deutlich sagen: An der Dringlichkeit den Klimawan-
del zu bremsen, wo es geht, und ihn zu gestalten,
wo er nicht mehr aufzuhalten ist, hat sich nichts
geändert. Im Gegenteil, der Klimawandel bleibt die
Herausforderung dieser und künftiger Generatio-
nen. Und doch beschäftigt uns in diesem Jahr ein
Ereignis, das zwar wie eine Naturgewalt über uns
kommt. Aber eben so viel mehr ist. Die Pandemie
verändert unseren Alltag, unsere Art zu leben, unse-       21. Jahrhunderts, für den Umgang mit dem Klima­
ren Blick auf die Welt.                                    wandel, ableiten? Dieser Naturgefahren­report ist
     Dem kann sich auch unser Naturgefahrenre-             auch für uns Versicherer ein ganz besonderer –
port nicht entziehen. Denn es geht um nicht weni-          in vielerlei Hinsicht. Ich danke dem Team für die
ger als um die Neuordnung der Welt. Klingt pathe-          Erstellung des Reports unter ungewöhnlichen
tisch, finden Sie? Ist es nicht – leider. Die Pandemie,    Bedingungen.
Covid-19, macht in letzter Konsequenz keine Unter-
schiede zwischen den Menschen. Darin ähnelt sie
Naturereignissen wie Überschwemmungen oder
Stürmen. Aber von Corona sind nicht einzelne Land-
striche oder Regionen betroffen, es ist eine globale
Krise. Wie verhalten sich Versicherer in einer sol-
chen – nie dagewesenen – Katastrophenlage? Und                        Jörg Asmussen
was können wir daraus für die Herausforderung des                     (Hauptgeschäftsführer)

Schäden durch Naturgefahren 2019 auf einen Blick

  3,0 Mrd. €
      in der Sach- und                     Sachversicherung
  Kfz-Versicherung 2019         Wohngebäude, Hausrat, Industrie,                                 Kfz-Versicherung
                                   Gewerbe und Landwirtschaft                                    Voll- und Teilkasko

2,1                                1.800
                                   Mio. €
                                                                        300
                                                                       Mio. €
                                                                                             900
                                                                                            Mio. €
                                                                                                                            900
Mrd. €                                                                                                                       Mio. €*

                               1.136.000                       74.000                        330.000                   2.100
                                  Sturm- und              weitere Naturgefahren-                Sturm- und       Überschwemmungs-
                                 Hagelschäden              schäden (Elementar)                 Hagelschäden           schäden

Naturgefahrenreport 2020                                                               * enthalten 9 Mio. EUR für Überschwemmungsschäden
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04   Kapitel eins
NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Die Neuordnung
der Welt
Die Katastrophe Corona gehört zu jenen Zäsuren im Leben, die in Erinnerung bleiben. Das Leben in
ein Davor und Danach teilen. Die Pandemie macht keine Unterschiede zwischen den Menschen –
darin ähnelt sie Naturkatastrophen wie Überschwemmung, Sturm oder Erdbeben. Anders als bei
Naturgefahren ist indes die ganze Welt ein Corona-Risikogebiet.

Anders als bei Naturgefahren agiert auch das Katastrophenmanagement. Es bringt selbst Risiken –
für die gesamte Gesellschaft. Über das Wesen einer Schutzstrategie, die im Jahr 2020 die Welt
neu ordnet. Über die Rolle der Versicherungswirtschaft und Perspektiven eines Lebens mit einer
globalen Gefahr.

Naturgefahrenreport 2020
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06

     Pandemie Corona

     „Ein unsichtbarer Gegner“
     Nie da gewesen seit Generationen, dass ein Virus die ganze Welt erkranken lässt. Nahezu gleichzeitig,
     nahezu ohne Unterschiede. Was ist diese Corona-Pandemie für eine Katastrophe? Was unterscheidet sie
     von Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Sturm? Definitionen des Risikoexperten Alexander Esser
     vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.

     Eine rot-gelb reflektierende Kristallperle, mit stachel­       Worin unterscheiden sich Pandemien wie Corona
     förmigen Auswüchsen. Das Coronavirus ist ein bizarres          von Naturkatastrophen wie Hochwasser oder
     Etwas, das erst millionenfach vergrößert sichtbar wird. Und    Erdbeben?
     seit Jahresbeginn 2020 millionenfach gezeigt und gese-         Erstens: durch die räumliche Auswirkung. Pandemien
     hen wird. Ein Erreger, der – unsichtbar und oft unspürbar –    haben das Potenzial, größere Weltregionen oder gar die
     den Tod bringen kann. Von Wildtieren auf Menschen über-        ganze Welt zu treffen. Naturkatastrophen treten eher
     tragen.                                                        kleinräumiger auf. Zweitens: durch den Zeitfaktor. Durch
                                                                    die Geschehnisse im Frühjahr in Italien war absehbar,
     Herr Esser, was ist Corona für ein Risiko?                     dass es wahrscheinlich eine Frage der Zeit ist, bis die
     Grundsätzlich ist Corona eine Gefahr, die in der Natur         Pandemie sich auch im restlichen Europa weiter aus-
     lauert. Zum Risiko wird sie erst, wenn sie auf den Men-        breitet. Diese Vorlaufzeit ist bei Naturkatastrophen wie
     schen trifft. Die weltweite Pandemie ist ein Risiko, mit       Erdbeben oder Starkregen, die trotz Vorhersagen eher ad
     dem wir bisher in Deutschland kaum Erfahrung haben,            hoc eintreten, nicht gegeben. Drittens: Pandemien dau-
     anders als mit extremen Hochwasser oder Stürmen.               ern länger. Wir reden bei Corona wahrscheinlich über

     Binnen zwei Monaten in der ganzen Welt
     Ausbreitung des Coronavirus seit Ausbruch in Wuhan am 8. Dezember 2019

25.02.: Dutzende
Infizierte nach Kar-        Ab 08.03.:
neval in Heinsberg/         Schnelle
Nordrhein-Westfalen         Ausbreitung                                                              Frankreich
                                                                                                       Frankreich
                            in Deutschland,                                                            25.01.
                            vor allem durch
                                                                                                         25.01.
                            heimreisende Ski-                                           Italien
                                                                                          Italien
                            urlauberInnen aus                                           27.01.
                                                                                           27.01.
                            Ischgl/Südtirol

                                                                                                        Ägypten
                                                                                                          Ägypten              Nepal
                                                                                                                                 Nepal
                                                                                                         14.02.
                                                                                                           14.02.              05.01.
                                                                                                                                 05.01.

                                                 28.01.: erster
                                                 Erkrankter in
                                                 Deutschland, im                                                                Thailand
                                                                                                                                  Thailand
                                                 Landkreis Starn-                                                                14.01.
                                                                                                                                   14.01.
                                                                                                              Indien
                                                                                                                Indien
                                                 berg/Bayern                                                  30.01.
                                                                                                                30.01.

                                           Brasilien
                                             Brasilien
                                            27.01.
                                              27.01.
     Naturgefahrenreport 2020
NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt         07

           mehrere Jahre, bei Naturkatastrophen über      Worin liegen die Gemeinsamkeiten von
           einige Minuten, Tage oder Wochen. Damit        Pandemien und Naturgefahren?
           unterscheiden sich auch die Auswirkungen.      Neben der Gefahr für Menschenleben besteht
                                                          ein Risiko für die kritische Infrastruktur:
           Inwiefern?                                     Krankenhäuser, Energie- und Wasserver-
           Naturkatastrophen haben physische, sicht-      sorgung. Bei Naturgefahren durch Zerstö-
           bare Auswirkungen. Sie zerstören Gebäude,      rung von baulichen Elementen, bei Pan-
           Infrastruktur, Landschaften. Corona ist ein    demien durch den Ausfall von Personal
           unsichtbarer Gegner. Die Auswirkungen          wegen Krankheit oder Quarantäne. Da sind
           einer Pandemie sind komplexer und nicht        neben einem staatlichen Katastrophenma-
           unmittelbar absehbar, insbesondere wenn        nagement auch die betreffenden Unterneh-
           es sich um ein neuartiges Virus handelt. Die   men gefragt, dafür Strategien zu entwickeln.
           Gesellschaft ist als Ganzes betroffen, etwa
           durch Einschränkungen des öffentlichen         Sie sagten, mit Pandemien hat Deutsch-           Alexander Esser
           Lebens. Die Folgen sind im Gegensatz zu        land bisher kaum Erfahrungen. Gibt es            ist Referent für die
           denen des Sturms oder des Hochwassers          weitere bisher unbekannte Risiken?               Risikoanalyse im
           kaum abschätzbar.                              Die Dürre und Hitze zum Beispiel, die wir 2018   Bevöl­kerungsschutz
                                                          und 2019 erlebten. Wer hätte gedacht, dass       im Bundes­amt für
           Menschenleben sind in allen Fällen             in Deutschland einmal Trinkwasser knapp          Bevölkerungsschutz
           gefährdet.                                     wird, wie es in einigen Regionen geschehen       und Katastrophenhilfe.
           Bei Pandemien sind potenziell mehr Men-        ist? Oder Erdbeben. Es gibt zwar immer wie-
           schen betroffen. Das Phänomen der Unsicht-     der leichte Beben in Risikogebieten wie der
           barkeit, die Komplexität der Symptome          Niederrheinischen Bucht. Doch mit kata­
           erschwert den Menschen auch den Umgang         strophaleren Beben haben wir noch keine
           mit der Gefahr.                                Erfahrung machen müssen.

                                                                     Kanada
                                                                      27.01.

                                                           USA
Russland                                                  22.01.
 07.02.

   Wuhan
                Japan
                17.01.

Vietnam        Taiwan
 23.01.        21.01.

                         Australien
                           25.01.
    Malaysia
     25.01.
NATURGEFAHRENREPORT 2020 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
08

                        Corona-Katastrophenmanagement

                        Von Tag zu Tag, immer neu
                        Eine nie da gewesene Katastrophe erfordert ein nie da gewesenes Katastrophen­management.
                        Die Corona-Krisenbewältigung greift tief in die Gesellschaft ein – und gefährdet sie. Das ist
                        anders als beim Management von Naturkatastrophen. Eine Analyse.

                       E
                               s ist ein historischer Moment und es           in Kurzarbeit. Sortiert die Gesellschaft nach
                               wird viel von historisch die Rede sein in      Systemrelevanz.
                               den kommenden Wochen und Monaten.                  Die Grenzen dicht, auf allen Kontinenten.
                        Historisch, das große Wort. Am 18. März 2020          Die globalisierte Welt, das große, stolze Ganze,
                        wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel             implodiert in unendlich viele, unendlich ein-
                        per Fernsehansprache an die deutsche Bevöl-           same vier Wände.
                        kerung. Die Lage ist ernst, sagt sie, nehmen              Shutdown. Das Katastrophenmanage-
                        Sie sie ernst. Bleiben Sie zu Hause, waschen          ment gebiert neben neuen Strategien auch
                        Sie gründlich die Hände, halten Sie Abstand           neue Begriffe. Zu diesem Zeitpunkt sind
                        zueinander.                                           nahezu 18.000 Menschen in Deutschland mit
                             Vier Tage später fährt auf Geheiß der Bun-       dem Virus infiziert, knapp zwei Monate nach
                        desregierung das öffentliche Leben nahezu             dem ersten Krankheitsfall. 55 Menschen sind
                        vollständig herunter. Der über Wochen anhal-          an Corona gestorben.
                        tende Shutdown schickt Kinder und Erwach-
                        sene ins Homeschooling und Homeoffice,
                        Künst­lerInnen, GastronomInnen, die Dienst-           Ein heterogenes Team
                        leistungsbranche und den Handel an digitale           „Ein Krisenmanagement braucht ein heteroge-
                        Orte, ins To-go-Geschäft oder gleich komplett         nes Team, das homogen arbeitet“, sagt Albrecht

                       Chronologie: Flexibles Leben bis zum Impfstoff
                                                Fernsehappell der Bundeskanzlerin: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit
                                                 dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr,
         Krisenstab der Bundesregierung.        bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“
         Eine der ersten Maßnahmen:
         Die Kliniken sollen sich personell   Verbot von Versammlungen und Veranstaltungen ab 50 Personen
         und technisch auf Corona-Fälle
         vorbereiten.                                     Bundesweite Schulschließungen

     27.02.                                                                               13.03.            16.03.     18.03.
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Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt              09

Das Prinzip des Corona-Krisenmanagements
Ein Krisenstab der Bundesregierung übernimmt am 27. Februar 2020 das Katastrophenmanage-
ment. Dazu berechtigt ihn das Katastrophenschutzgesetz, da Gefahr für das ganze Land droht.
Das Infektionsschutzgesetz berechtigt zu Prävention wie Einschränken der Grundrechte, Quaran­
täne, Berufsverbot, Schutzimpfungen. Am 6. Mai gibt die Bundesregierung die Steuerung an die
Bundesländer ab, behält sich indes eine erneute Stabsleitung vor.

Broemme, Leiter des Zukunftsforums Öffent-             es keinen Impfstoff als Schutz gibt,
liche Sicherheit. Die Hauptstadt Berlin holt           bleibt – als überbrückender Schutz –
den erprobten Katastrophenschützer aus dem             das Social Distancing. „Abriegeln,
Ruhestand, damit er binnen kürzester Zeit ein          konsequent“, so sagt es Katastrophen-
Corona-Krankenhaus aufbaut. Fachleute wie              schützer Broemme. Schotten dicht. Die
er gehören zum Team, das er in zwei Stäbe teilt:       Widerstehen-Strategie aus dem Natur-
einen Fachstab und einen politischen Stab. Das         gefahrenschutz – die Gefahr abwehren.
unterscheidet sich zunächst gar nicht so sehr          Die Bundesregierung geht zunächst einen
von Naturkatastrophen. Im Fachstab sitzen              anderen Schritt, lässt die Tür noch einen Spalt
ExpertInnen aus unterschiedlichen Diszipli-            breit offen: Sie spricht Reisewarnungen in          Albrecht Broemme
nen und des Bevölkerungsschutzes. Der poli-            Risikogebiete aus. Sie versucht, Infektions-        ist Katastrophen­schützer.
tische Stab trifft auf Grundlage der Empfeh-           ketten nachzuvollziehen, infizierte Menschen
lungen des Fachstabes Entscheidungen.                  und ihre Kontaktpersonen zu isolieren.
     Das Corona-Management, die beiden                      Als dies nicht mehr gelingt, als das nord-
Stäbe, macht vieles gleichzeitig, parallel. Poli-      rhein-westfälische Heinsberg durch ein
tik revidiert Entscheidungen im Wochen-,               Karnevalsfest zum Hotspot wird, als Skitou-
14-Tagesrhythmus, den immer neuen, tiefe-              ristInnen das Virus massenweise aus Öster-
ren Erkenntnissen der VirologInnen folgend.            reich mitbringen, folgt der zweite Schritt:
     „Katastrophenmanagement braucht einen             Shutdown. Eine nie da gewesene Aktion – die
Plan, was mit welcher Priorität zu schützen            zum Schutz menschlicher Gesundheit demo-
ist“, so Broemme. Zuerst: die menschliche              kratische Grundrechte einschränkt.
Gesundheit. Was bei Hochwasser der Bau                      Mit diesem Shutdown am 22. März
von Deichen, das Aufstapeln von Sandsäcken             macht sich die Bundesregierung zur zentra-
und die Evakuierung der Bevölkerung heißt              len Krisenmanagerin, reguliert einheitlich die
bei Corona: Isolation – innerhalb der Gesell-          Katastrophenbedingungen im ganzen Land.
schaft und nach außen. Ansteckungsgefahr               „Der Staat kann nun eine Steuerungsmacht
verhindern oder zumindest mindern. Weil                ausüben, bis hin zur Zwangsquarantäne“,

                             Deutschland ordert 37 Mio. Schutzmasken

    Shutdown – das öffentliche Leben fährt herunter,                                  Bundesweites Portal
    strikte Kontaktbeschränkungen                                                     für die Meldung freier Intensivbetten

22.03.                                                            03.04.          06.04.
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                                                                              kommende Generation. Er stürzt Deutschland
                                                                              in eine tiefe wirtschaftliche Krise, deren Aus-
     Die Schutzstrategie: Gefahrenkette
                                                                              maß auch Monate nach dem Shutdown nicht
     Zum Eindämmen einer Masseninfektion mit dem Coronavirus                  absehbar ist. „Risikoverschiebung“ nennt das
     greift der Staat zu drastischem Schutz. Rigide Kontaktbeschrän-          Reckwitz: „Das Anfangsrisiko – die ungere-
     kungen bringen wiederum neue gesamtgesellschaftliche Gefah-              gelte Infektionskurve – wird im Grad seiner
     ren. Um die wirtschaftlichen und sozialen Schäden zu mildern,            Schwere vom Folgerisiko überholt.“
     verschuldet sich der Staat in Milliardenhöhe.

                                                                              Langwierige, flexible Prävention
                                                                              Rund fünf Wochen nach dem Shutdown, drei
                        sagt Andreas Reckwitz, Soziologieprofessor            Monate nach dem ersten Infektionsfall in
                        an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das            Deutschland, der nächste Schritt des Manage-
                        ist anders als bei Naturkatastrophen, deren           ments: allmähliche Lockerungen der Isolation.
                        Management in der Regel Kommunal- bzw.                Die höchste Gefahr, die Massenerkrankung,
                        Länderaufgabe ist. Neu und anders ist auch            scheint vorerst gebannt, der sogenannte R-Fak-
                        der Shutdown an sich. Reckwitz: „Ein extremes         tor pendelt sich bei eins ein: Ein infizierter
                        Mittel der Risikominimierung, das in diesem           Mensch steckt einen anderen an, nicht mehr
                        Umfang noch nicht zum Einsatz kam.“                   drei. Die Zahl der Infizierten liegt bei über
                             Dieser zweite Schritt des Corona-Manage­         140.000 Menschen. Es gibt über 4.000 Tote.
                        ments gleicht einer Strategie aus dem Natur-              Mit den ersten Lockerungen ab Anfang
                        gefahrenschutz: Nachgeben. Opfern. Um das             Mai verlagert sich die Risiko-Waagschale:
                        Wichtigste zu schützen, Schäden des ver-              Cafés und Restaurants, FriseurInnen und der
                        meintlich Unwichtigeren in Kauf nehmen.               Einzelhandel dürfen wieder öffnen. Kitas und
                        Das Corona-Management wägt Gesundheit                 Schulen betreuen stundenweise. Es bleibt der
                        versus Gesellschaft und Grundrechte auf. Der          soziale Abstand, es bleibt das Verbot größerer
                        Schutz vor dem tödlichen Virus schafft damit          Veranstaltungen. Es kommt die Maske.
                        weitere Gefahren: für Wirtschaft, Gesellschaft,           Auch der politische Krisenstab plurali-
                        für Gesundheit, Kunst und Kultur. Für die             siert sich. Die Bundesregierung zieht sich am

                         Bundesregierung gibt Krisenmanagement an die
                         Bundesländer ab. Weitere Lockerungen mit Option
                         lokaler Lockdowns. Einführung der Maskenpflicht im
                         öffentlichen Verkehr und im Einzelhandel
                                                                                                  Konjunkturpaket des Bundes mit
                                                                                              130 Milliarden Euro soll die Gesellschaft
     Schrittweise Lockerung des Shutdowns                                                                 vor dem Bankrott bewahren.

ab 20.04.                                     06.05.                                                                                03.06.
11

         6. Mai als alleinige Entscheidungsträgerin         der Krisenmodus. Länger, viel länger als ein
         zurück, übergibt an die Bundesländer. Die          paar Tage oder Wochen Hochwasser oder ein
         Folge: Jedes Bundesland, von Bayern bis nach       paar Tage Orkan. Und möglicherweise wird
         Mecklenburg-Vorpommern, regelt die Schärfe         auch der Weg in eine Zeit ohne Corona länger
         der Prävention anders.                             dauern als ein ein-, zweijähriger Wiederauf-
             Das Corona-Management hält sich Fle-           bau einer überschwemmten oder vom Sturm
         xibilität vor. Es bleibt die Option auf lokale     zerstörten Region. Die Katastrophe dauert,
         Shutdowns und Einschränkungen, sollte das          so verlautbart es der politische Führungsstab
         Virus wieder ausbrechen. Im Juni 2020 fährt        aus Bund und Ländern immer wieder seit dem
         der Landkreis Gütersloh das öffentliche Leben      Shutdown, bis es einen Impfstoff gibt. So lange
         herunter, als ein Schlachthof zum Hotspot          bleibt Deutschland, bleibt die Welt im Krisen-
         wird. Ende September verschärft Bayern die         modus. Mit unabsehbaren Folgen.
         Kontakt­beschränkungen; Nordrhein-West­                 „Katastrophenmanagement braucht trans-
         falen sagt den Straßenkarneval für 2021 ab.        parente Kommunikation und ein Gesicht“,
             Mit der schrittweisen Rücknahme der            sagt Albrecht Broemme. Das Gesicht der Krise
         sozialen Isolation im Mai beginnt das, was im      ist die Bundeskanzlerin und, das zweite: Chris-
         Naturgefahrenschutz die Strategie des Auswei-      tian Drosten, der Chefvirologe der Berliner
         chens ist. Das Leben mit der Gefahr. Masken-       Charité. Politischer Stab und Fachstab. Mit der
         pflicht, Hygieneregeln, Sicherheitsabstände        Abgabe des Katastrophenmanagements an die
         gleichen dem hochwasser­angepassten Bauen          Bundesländer erhält die Krise viele regionale
         hinter Schutzwällen oder auf Stelzen. Das weit-    Gesichter. Die Kommunikation wird divers.
         gehend digitalisierte Wirtschafts-, Arbeits- und        Ab Ende Mai klafft die deutsche Gesell-
         Kulturleben dem Rückzug aus Überschwem-            schaft auseinander. Der soziale Zusammenhalt,
         mungs- oder Erdbeben-Risikogebieten.               der sich in sozialer Isolation zeigte – im frei-
                                                            willig befolgten, staatlich verordneten Social
                                                            Distancing –, zerbröselt. Die Folge­risiken der
         Das Ende: Nicht absehbar                           eingeschränkten Grundrechte und der Wirt-
         Flexibilität, Ungewissheit, der Zeitfaktor: Die    schaftsbeschränkungen. Auf den Straßen und
         Katastrophe dauert, mit ihr das Management,        digital gibt es Protest gegen die Regeln. Unter-

   Die Bundesregierung hebt                                 Erster lokaler Lockdown im Landkreis
   Reise­­warnungen für europäische                         Gütersloh nach Infektionsausbruch im
   Länder zum 15. Juni auf.                                 Schlachthof

                                                                                        Bundesregierung und Länder beschließen
                             Start der                                                     Ausreisebeschränkungen für lokale
                     Corona-Warn-App                                                          bzw. regionale Corona-Hotspots.

04.06.                                16.06.           23.06.                                                               16.07.
12        Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt

                             schiedliche Branchen machen mit Demonstra-              Geflüchteten, was für das Rentensystem? Die
                             tionen auf ihre prekäre Situation aufmerksam.           gesamte Gesellschaft muss sich neu ordnen.
                             Während das Virus unsichtbar bleibt – und                    Die Bundesregierung entschließt sich zur
                             unspürbar in jedem Menschen lauern kann –,              Absicherung, packt Anfang Juni Milliarden in
                              wird das Ungemach des Krisenmodus sicht-               ein Konjunkturpaket, immer mehr Millionen
                                und hörbar. In Stuttgart randalieren in der          in Forschungen nach einem Impfstoff. Wirt-
                                 Nacht zum 21. Juni Hunderte feiernde Men-           schaftliche Hilfsprogramme gibt es bereits
                                  schen, plündern, liefern sich Gefechte mit         kurz nach dem Shutdown. Der Staat opfert
                                  der Polizei. Auf dem Frankfurter Opern-            die Schwarze Null im Bundeshaushalt, damit
                                 platz eskaliert in der Nacht zum 19. Juli eine      die Wirtschaft nicht einbricht. Er wird end-
                                 Party mit Hunderten Menschen. Landauf,              gültig zum Katastrophenabsicherer. Auch das
                               landab gibt es Massenpartys ohne Abstand              ein Unterschied zu Naturkatastrophen. Das
                             und Maske. MinisterpräsidentInnen, Bürger-              hat, wie so vieles in dieser Ausnahmezeit, den
                             meisterInnen geben Teile des Katastrophenma-            Anschein des Übereilten. Klammer: „Wer am
                             nagements wieder an die Gesellschaft zurück:            lautesten schreit, bekommt Geld. Wir brau-
 Prof. Dr. Ute Klammer       „Je mehr wir lockern, desto mehr brauchen               chen mehr Systematik.“ Investitionen in Bil-
   leitet das Duisburger     wir die Eigenverantwortung der Menschen“,               dung gehören dazu, bessere Bezahlung des
  Institut für Arbeit und    appelliert etwa Berlins Bürgermeister Michael           Pflegepersonals, Ausbau klimaneutraler Mobi-
            Qualifikation.   Müller Ende Juli. „An der Bedrohung seit März           lität. Nicht nur Subventionen für Airlines.
                             hat sich nichts geändert.“
                                  Durchhalten, bis der Impfstoff kommt. Zu
                             diesem Zeitpunkt sind rund 9.000 Menschen               Das Danach
                             in Deutschland mit Corona gestorben.                    „Es scheint, dass die Corona-Krise ein gesell-
                                                                                     schaftliches Trainingsfeld unter Extrem­
                                                                                     bedingungen dafür ist, was uns in den nächs-
                             Unabsehbare Aspekte der                                 ten Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem
                             Risikoverschiebung                                      Klimawandel generell beschäftigen wird“, sagt
                             Die Schäden der Risikoverschiebung werden               Soziologe Andreas Reckwitz. Katastrophen-
                             immer größer. „Die Ungleichheit der Gesell-             schützer Albrecht Broemme blickt auf das
                             schaft verstärkt sich weiter“, sagt Ute Klam-           Management: „Mir kommt es vor, als probten
                             mer, die Direktorin des Duisburger Instituts            wir nur für eine echte Pandemie und schon
                             für Arbeit und Qualifikation. Frauen sind               die Probe legt alles lahm.“ Und Ute Klammer
                             deutlich stärker belastet als Männer; Gering-           schaut auf das Danach: „Diese Pandemie wird
                             verdienende mehr als Besserverdienende.                 nicht die einzige bleiben.“ Statt nur auf einen
                             „Wir erleben eine Retraditionalisierung der             Impfstoff und auf Medikamente zu setzen,
                             Geschlechterrollen.“ Und manche Folgen                  brauche es eine vorausschauende Stärkung
                             seien erst langfristig sichtbar: „Wie werden            der Gesellschaft. Die sollte sich an den Nach-
                             die Kinder aus bildungsfernen Schichten                 haltigkeitszielen der Vereinten Nationen ori-
                             durch die langen Schulschließungen kom-                 entieren, zu denen sich die Bundesrepublik
                             men?“ Was bedeutet das begrenzte Leben für              verpflichtet hat: sozial, ökologisch und öko-
                             den Arbeitsmarkt, was für die Integration von           nomisch gerecht.

                                        Erneute Reise­                               Wegen steigender Infektionszahlen beschließen
      Mit Ende der Sommerferien         warnungen für                                   Bund und Länder Obergrenzen für private
     ­regulärer Schul­­­betrieb         europäische Regi-                                           Feiern in regionalen Hotspots.
      unter Hygieneregeln und           onen, die wieder
      mit präventiven Schließun-        zu Risikogebieten                         Der Bundesgesundheitsminister
      gen bei Corona-Verdacht           erklärt werden                            empfiehlt lokale Fieber­zentren für
                                                                                  Menschen mit Atemwegserkrankungen.

ab 03.08.                           15.08.                                                              21.09.                 29.09.
13

Versicherungsunternehmen in der Corona-Zeit

Stabil durch die Krise
Wie schaffen diejenigen in der Krise Sicherheit, deren Kompetenz Schutz und Sicherheit ist – die Versiche­rungs­
unternehmen? Mit erprobten Notfallstrategien; engagierten Mitarbeitenden auch in Aus­nah­me­situationen
und Produkten, die schnell und unkompliziert helfen. Zwei Beispiele aus der Branche.

F
      rank Fehlauer ist einer der Ersten in       heimischen Schreibtisch aus. Fehlauer:
      Deutschland, den die Pandemie erwischt.     „Auch wenn wir ohnehin relativ papierlos
      Zurück aus dem Urlaub in Südtirol geht      arbeiten, hat unsere IT einen Riesenjob
der R+V-Vorstand Ende Februar in häusliche        gemacht.“
Quarantäne. Die R+V Versicherungsgruppe               Im Juni 2020, vier Monate nach
bildet am Firmensitz in Wiesbaden während-        Beginn der Ausnahmezeit, verschickt
dessen einen Krisenstab und schickt von heute     das Management des Industrieversi-
auf morgen 16.000 KollegInnen ins Home-           cherers FM Global Schokolade an die
office. 16.000 Menschen, eine ganze Klein-        Mitarbeitenden. Eine besonders aus-
stadt, stellt sich binnen Kurzem auf digitales,   gefallene, extravagante Sorte: mit gesal-
sicheres Arbeiten ein. Der Krisenstab koordi-     zenem Krokant. Als kleines Zeichen der
niert den Umstieg und justiert, wo nötig, nach.   Wertschätzung auch über die Distanz des län-
Wer braucht noch einen größeren PC-Bild-          derübergreifenden Homeoffice hinweg. „Das      Frank Fehlauer
schirm? Und: Woher ist schnell entsprechende      Wichtigste für den Dienst am Menschen sind     ist Vorstand der R+V
Hardware zu bekommen, in einer Zeit, in der       die Menschen, die diesen Job machen“, sagt     Direkt­versicherung AG.
PCs und Monitore in ganz Europa knapp sind?       Alexander Lubbadeh, Operations Engineering
    Als die Krankheit bei Fehlauer ausbricht,     Manager von FM Global. Diejenigen, die sich
verläuft sie glücklicherweise nur „wie eine       kümmern. Verträge abschließen, zur Schaden-
leichte Grippe“. Da läuft der Laden längst –      prävention beraten, Schäden regulieren, für
agieren die R+V-KollegInnen mit ihren             besondere Lagen in dieser Krisenzeit beson-
KundInnen und untereinander sicher vom            dere Lösungen finden.

Naturgefahrenreport 2020
14

                         Unkonventionelles Arbeitsklima                      Hauptsache Sicherheit
                         Die Schokolade ist nur ein kleines, feines          Sicherheit geht vor – für KundInnen und
                         Zeichen, ein Mini-Baustein eines guten              Mitarbeitende. Die FM Global schließt im
                         Betriebsklimas. Das für alle Mitarbeitenden         März ihre Büros in Deutschland, die in Asien
                         immer wichtig ist, erst recht, wenn sie selbst im   schon im Januar. Binnen 24 Stunden läuft die
                         Ausnahmezustand sind. Klar kennen sie Kata­-        Umstellung von Office auf Home. Beim Global
                         strophen, klar kennen sie solche Ausnahme-          Player gehören digitale Kommunikation und
                         situationen wie Hochwasser oder schwere             Arbeitsweise ohnehin zum beruflichen Alltag.
                         Stürme. Wenn wochenlang die Telefone nicht          Die R+V verlängert ihren Service bis nach
                         stillstehen, sich die E-Mail-Postfächer fül-        Beirut. Dort sitzt ein Mitarbeiter fest. Auch
                         len, weil Tausende KundInnen mit schweren           er kann binnen kurzer Zeit digital arbeiten,
                         Schäden an Wohnhäusern, Hausrat oder am             stabiles Netz und Sicherheitssystem machen
                         Unternehmen Hilfe brauchen. Schnell, unkom-         es möglich. „Gefühlt waren die Daten von dort
                         pliziert, professionell. Doch dass der eigene Job   mindestens genauso schnell da wie innerhalb
                         und der eigene Arbeitsplatz selbst zur dauer-       Deutschlands“, sagt Frank Fehlauer.
                         haften Ausnahme werden, das ist auch für die             Das Kerngeschäft sichern – erreichbar,
                         krisenerprobten Mitarbeitenden im Backoffice,       ansprechbar, lösungsbereit für die KundInnen
                         in der Schadenabwicklung und vor Ort in den         sein – in den zentralen Unternehmensberei-
                         Agenturen der Branche deutschlandweit neu.          chen Versicherungsgeschäft und Schaden-
                              Es ist Homeoffice in einem Job, der übli-      Risiko-Management. Keine einfache Aufgabe
                         che Bürozeiten ohnehin nicht kennt. „Uns ist        für eine Branche, die vom Kontakt von Mensch
                         nicht wichtig, dass die Menschen von 9 bis 17       zu Mensch lebt – face to face. Ob bei der Bera-
                         Uhr arbeiten. Uns sind Empathie und höchste         tung zu einer Police, bei der Begutachtung für
                         Flexibilität wichtig“, sagt Alexander Lubbadeh.     ein Schutzkonzept oder der Betreuung eines
                         Und auch bei der R+V können Mitarbeitende           Schadens durch Sturm oder Brand. Vor Ort
                         – mit oder ohne Kinder – ihre Arbeitszeiten         sein gehört zu den Markenzeichen der Bran-
                         entsprechend flexibel gestalten. Das kommt          che. Und Vertrauen. Das geht auch digital.
                         den KundInnen am anderen Ende der Leitung                Was brauchen die KundInnen jetzt? Wie
                         sogar entgegen, deren Job sich in der Krise         bewerten sie den Dienst ihrer Versicherungs-
                         auch nicht auf Kernarbeitszeiten begrenzt. Das      unternehmen? Regelmäßig überprüft die R+V
                         gelingt: „Die Produktivität im Homeoffice ist       mit Umfragen deren Zufriedenheit mit Bera-
                         hoch“, sagt Fehlauer.                               tung und Schadenabwicklung. Und bekommt

     Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt   15

auch in der Corona-Ausnahmezeit Bestnoten.
Auch den FM Global-Leuten bescheinigen die
KundInnen im Ausnahmebetrieb, es laufe wie
„business as usual“, wie Alexander Lubbadeh
sagt. Was für ein Kompliment in einer Zeit,
in der Unternehmen ihre Leute in Kurzarbeit
schicken oder Produktionslinien komplett
umstellen oder ausfallen lassen müssen.
     Homeoffice für die vom Innendienst,
die beraten und begleiten. Das klingt gut
machbar. Doch was ist mit denen, die raus
zu den KundInnen gehen? Risikoanalysen
erstellen, Schutzkonzepte erarbeiten oder
Schäden bewerten? Auch dafür haben die Ver-
sicherungsunternehmen Lösungen. Die Inge­
nieurInnen und GutachterInnen arbeiten
in Schutzkleidung draußen. In der Zeit des
Shutdowns, als niemand raus kann, arbeiten
sie virtuell: Objekte oder Schäden lassen sich
auch per Foto oder Video bewerten. Und das        bietet zusätzlichen Schutz gegen Unfälle
KundInnengespräch dazu findet via Video-          im Homeoffice oder für Menschen aus den
konferenz statt. Der Arbeitsprozess dauert        sogenannten systemrelevanten Branchen an.
dadurch nicht länger, teilweise geht es schnel-   Via Hotline können sich die Menschen auch
ler, effizienter. Lange Reisen entfallen, die     über rechtliche Fragen, etwa zur Kurzarbeit,
Vor- und Nacharbeiten der Bewertung sind          informieren. Die FM Global veröffentlicht
kürzer.                                           Leitfäden für sichere Betriebsführung und
                                                  begleitet KundInnen unkompliziert, die ihre
                                                  Produktion umstellen, etwa auf Schutzmasken
Schneller, neuer Service                          und -ausstattung. Die Branche kommt ihren
Verlässlicher, ununterbrochener KundInnen-­       KundInnen auch finanziell entgegen: mit indi-
Service. Dazu gehört nicht nur der reibungs-      viduellen Stundungs- bzw. Ratenlösungen für
lose Ablauf. Es gehören auch schnelle neue        diejenigen, die durch Betriebsausfall in Liqui-
Angebote dazu, die in Corona-Zeiten Sicher-       ditätsschwierigkeiten stecken. Sie stocken auf,
heit geben, Halt vermitteln. Die R+V etwa         wo andere runterfahren müssen.

Naturgefahrenreport 2020
16

                             Erprobte Krisenpläne                                brauchen die Mitarbeitenden, wir brauchen
                             Den reibungslosen Dienst an KundInnen               eine stabile IT“, so Fehlauer, „damit können
                             gewährleisten Krisenpläne. Klar ist darin           wir auch im Homeoffice solche Massenschä-
                             festgelegt, wer was wie zu tun hat. Gesund-         den effektiv bearbeiten.“ „Wir können weltweit
                              heitlichen Schutz in Corona-Zeiten garantiert      auf unsere SpezialistInnen zugreifen, sollte
                                ein stufenweiser Betrieb. Er regelt, wie viele   irgendwo Personalnot herrschen“, sagt Alexan-
                                  Menschen im Büro arbeiten dürfen. Kri-         der Lubbadeh. Das erlaubt verlässlichen Kund­
                                   senstäbe managen die Ausnahmesitua-           Innendienst auch in Zeiten, in denen Krisen
                                   tion. Die Kommunikation untereinan-           sich überschlagen sollten.
                                   der läuft per Videokonferenz, oft sind es         Jetzt erst mal stabil durch diese Krise. Ler-
                                   mehrere Schalten hintereinander. „Das         nen, dauerhaft aufstellen, was neu und gut
                                  ist gewöhnungsbedürftig, aber auch effi-       läuft. So denkt die R+V beispielsweise über
                                zient“, sagt Alexander Lubbadeh.                 verstärktes Free Seating nach, mehr mobile
                                   Stabil durch jede Krise. Dafür proben         Arbeitsplätze – damit noch flexibler Kund­
                             Versicherungsunternehmen die Ausnahme               Innenwünsche erfüllt werden können. Dass
                             regelmäßig anhand simulierter Situationen.          vieles digital effizienter geht, ist auch für die
     Alexander Lubbadeh      FM Global spielt jährlich ein noch unbekann-        FM Global eine Corona-Erfahrung. Internatio­
ist Operations Engineering   tes Szenario durch. R+V macht regelmäßige           nale KundInnentermine etwa, so Lubbadeh,
    Manager der FM Global.   Testläufe im Notbetrieb. Routine erhält die         kann man im Büro intensiver vorbereiten,
                             krisenerprobte Branche zudem durch ihren            braucht dann insgesamt weniger Reisezeit,
                             Alltag, echte Katastrophen. Kurz vor Corona,        arbeitet konzentrierter und effizienter vor Ort.
                             Anfang Februar, geraten Tausende KundInnen              Und: Was fehlt in dieser Ausnahmesitua-
                             durch den schweren Sturm Sabine in Not,             tion? Alexander Lubbadeh: „Irgendwann dann
                             brauchen Hilfe – Schadenbewertung, finan-           doch live die KollegInnen. Selbst das Gefühl,
                             ziellen Ausgleich. Die Unternehmen verstär-         von manchen Dingen ab und zu genervt zu
                             ken Personal, schicken die Mitarbeitenden aus       sein.“ Frank Fehlauer: „Ein Corona-Impfstoff.“
                             dem Backoffice mit an die Schaden-Hotlines.         Deswegen hat er neben seinem Job als Krisen-
                             Auch dies ist klar in Krisenplänen festgelegt.      manager noch einen weiteren ehrenamtlichen
                             Damit ist die Branche auch gewappnet, sollte        Job. Er lässt sich im Dienst für die Corona-
                             in der Ausnahmesituation Corona auch noch           Forschung regelmäßig auf seine Corona-
                             eine Naturkatastrophe dazukommen. „Wir              Antikörper testen.

          Dienstleistungen der Versicherer:

                    Risikoberatung                         Risikomanagement                      Präventionsmanagement

         Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt           17

Digitales Krisenmanagement

„Vor die Lage kommen“
Das Social-Distancing-Gebot von Corona. Wochen-, monatelang organisieren sich Arbeitsteams
und Familien virtuell. Die Bundesregierung trifft sich via PC-Bildschirm, selbst BürgerInnenämter
und Rathäuser agieren online. Wie digital kann Krisenmanagement sein? Auskünfte von
Krisenmanagement-Coach Klaus Bockslaff.

Herr Bockslaff, Sie haben für Krisenmanage-             und oft erprobtem Risikomanagement
ment ein digitales System entwickelt. Wie               eintreten, egal ob in einem Land oder
funktioniert es?                                        in einem Unternehmen – ob Hoch-
Es ist ein Onlinetool und strukturiert die Arbeit von   wasser oder Reaktorunfall. Doch gutes
Krisenstäben ab dem Moment, da die Kata­strophe         Krisenmanagement braucht immer
eintritt. In solchen Ausnahmesituationen ist ein        eine gute Methodik, damit der Kopf frei
methodisches Vorgehen, auch unter Zeitdruck,            bleibt. Ziel muss es sein, vor die Lage zu
enorm wichtig. Das Tool strukturiert die methodi-       kommen – nicht mehr von den Ereignis-
schen Schritte – von der Lageerfassung über Sofort-     sen getrieben zu werden, sondern selbst        Dr. Klaus Bockslaff
maßnahmen, Zeitplanungen bis hin zum Abschluss.         Impulse setzen zu können. Digitale Tools       ist Management-
Es beschleunigt die Arbeitsprozesse des Krisenstabs.    halten den Rücken frei und helfen, nichts      Coach für ganzheit­
                                                        zu vergessen.                                  liches Risiko-,
Eine neue Form der Arbeitsteilung Mensch – IT?                                                         Kontinuitäts-, Notfall-,
Wenn Sie es so nennen wollen, ja. Die schrittweise      Für welche Branchen ist digitales              Sicherheits- und
Methodik erleichtert die Kommunikation, unter-          Krisenmanagement wichtig?                      Krisenmanagement.
stützt die Krisenorganisation bei der Erteilung von     Da würde ich alle einschließen – Regierun-
Aufträgen und gibt einen jeweils aktuellen Überblick    gen ebenso wie Unternehmen oder Behör-
über die Lage und visualisiert diese am Bildschirm.     den. Krisen wird es immer geben, auf ganz
Der Krisenstab kann sich auf das Erarbeiten von         unterschiedliche Weise. Und jeglicher Krisenstab
Lösungen konzentrieren.                                 muss dann stressfrei und kreativ agieren können.

Wo im Krisenmanagement hat Digitalisierung              Wie funktioniert digitales Krisenmanagement,
ihre Grenzen?                                           wenn beispielsweise Strom oder IT ausfallen?
Digitalisierung kann ein Krisenmanagement unter-        In der Regel über Notstromaggregate und Ersatz-
stützen, doch kluge Entscheidungen nicht ersetzen.      leitungen, die jedes Risikomanagement vorhal-
Dafür braucht es menschliche Lösungsfindungs-           ten muss. Zudem empfiehlt sich immer auch ein
kompetenz, die Fähigkeit, in Ausnahmesituationen        gedrucktes Handbuch, das für alle aus dem Kri-
ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen. Mein           senstab zugänglich sein sollte.
Lieblingsbeispiel dafür ist die Apollo-13-Mission –
das Krisenszenario schlechthin. Drei Menschen           Durch die Kontaktbeschränkungen der Corona-
ohne ausreichend Sauerstoff und Energie in einer        Pandemie hat die Digitalisierung des gesamten
instabilen Raumkapsel mitten im Weltraum. Ein           öffentlichen Lebens und der Arbeitswelt global
Großteil der Technik versagt. Und unten, in Hous-       einen Schub erlebt. Was wird davon bleiben?
ton, sitzt der NASA-Flugdirektor mit einem kompe-       Es wird uns in Zukunft leichter fallen, mit digita-
tenten Team und findet unter extremem Zeitdruck         len Techniken umzugehen. Sie gehören heute zum
aus den noch vorhandenen Mitteln an Bord einen          Alltag. Möglicherweise verzichten wir auf die eine
Weg zur Rettung.                                        oder andere klimaschädliche Reise, weil digitale
                                                        Meetings zeitsparender sind. Doch ich bin da eher
Sind digitale Tools auch bei anderen Krisen wie         pessimistisch. Wir Menschen sind nur begrenzt
etwa Naturkatastrophen hilfreich?                       lernfähig und verzichten ungern auf einmal beses-
Ja. Zwar ist jede Krise anders und kann trotz gutem     sene Bequemlichkeiten.

Naturgefahrenreport 2020
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     Pandemie-Anpassung

     „Gesundheitsschutz ist Naturschutz“
     Wie sieht ein gesellschaftliches Leben mit Pandemien wie Corona aus? In einer nachhaltigen Lebens-
     und Wirtschaftsweise. Sie denkt Klimaschutz, Klimaanpassung und Gesundheitsschutz zusammen.
     Der Schlüsselbegriff: Raum. Die Umrisse einer pandemieangepassten Welt.

                         A
                                 bstand halten. Das große, vorbeugende      genutzt: Dächer erhalten Pflanzen. Dieses küh-
                                 Gebot der Corona-Zeit. Ein Meter fünf-     lende frische Grün ist zudem gut fürs Klima.
                                 zig zwischen den Menschen Raum las-        Es schluckt Kohlendioxid, verwandelt es in
                         sen, damit das Virus keine Chance hat, überzu-     Sauerstoff.
                         springen. „Bitte halten Sie Abstand!“ steht seit
                         März 2020 an jedem Supermarkteingang, an
                         jedem Café, an den Rolltreppen und auf den         Raum für die Menschen
                         Bahnsteigen von Bus und Bahn. „Bitte, bitte        Die Schwammstadt, jenes Modell, das dem
                         Abstand halten.“, klingt gar der Refrain eines     Wasser Raum gibt und die Hitze mindert,
                         Popsongs. Die Formel der Pandemie.                 eignet sich auch für eine pandemieangepasste
                             Raum lassen, ein wesentliches Element          Lebensweise. Freiflächen dienen dem mensch-
                         der Klimaanpassung. Im Hochwasserschutz            lichen Abstandsgebot. Das wird in Corona-
                         lassen naturnahe Ufer Bächen, Flüssen und          Zeiten ausgiebig genutzt. Die Menschen ent-
                         Seen Raum zum Fluten, damit diese nicht            decken den natürlichen Raum: für Sport, für
                         Menschen, Gebäude und Infrastruktur über-          Begegnung, für Kultur. „Draußenstadt“ beti-
                         schwemmen. Starkregenangepasste Städte             telt etwa die Hauptstadt Berlin das öffent­
                         halten begrünte Flächen und Mulden im urba-        liche Leben, das sich auch in vielen Regionen
                         nen Raum für ein Zuviel an Wasser vor. Für         Deutschlands in den Sommermonaten verla-
                         Hitzeresilienz wird selbst der bebaute Raum        gert: Theater, Kino, Konzerte, Ausstellungen

     Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt   19

finden outdoor statt. Da, wo das Virus weni-      damit rechnen, dass sich die Resilienz der Welt
ger Chancen hat als drinnen. GastronomInnen       verändert.“
erobern sich Parkplätze und den Straßenraum,           Je näher die Menschen der Wildnis und
damit sie ihre Gäste an ausreichend Tischen       Wildtieren rücken, umso größer die Gefahr,
mit ausreichend Distanz bewirten können.          dass tödliche Viren überspringen – das Corona­
In vielen deutschen Städten entstehen tem-        virus stammt vermutlich von Fledermäusen.
poräre Radwege auf Fahrbahnen, damit die          Je näher Menschen an Flüssen bauen, desto
Menschen mehr Platz für gesunde Mobilität         höher ihr Überschwemmungsrisiko. Durch
bekommen. Straßen werden auch zeitweise           die globalisierte Wirtschaft, durch Handel und
gesperrt, damit Kinder darauf spielen können.     Tourismus verbreiten sich Erreger, Tier- oder
    „Stadtgrün in unmittelbarer Wohnungs-         Pflanzenarten weltweit. In der neuen Lebens-
nähe ist enorm wichtig für das Wohlbefinden       welt sind dann die Menschen nicht auf sie vor-
der Menschen – besonders in Krisenzeiten,         bereitet, es gibt auch keine natürlichen Feinde.
aber auch jenseits von Ausgangsbeschrän-          Das Ökosystem gerät aus dem Gleichgewicht.
kungen“, postuliert das Leibniz-Institut für      Das birgt neue Risiken.
ökologische Raumentwicklung, das sich mit              Corona wird nicht das letzte globale Virus
zahlreichen wissenschaftlichen Programmen         bleiben, so viel scheint sicher. Die entspre-
klimaresilienten, nachhaltigen Städten wid-       chende Risikoanalyse von Robert Koch-Institut
met. Im freien Grün besteht nicht nur gerin-      und Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
gere Infektionsgefahr. „Leistungen der Natur,     Katastrophenhilfe rechnet mit einer – statisti-
sogenannte Ökosystemleistungen, mindern           schen – Wiederkehr ähnlicher Pandemien alle
auch Stress und Ängste, das Gefühl der Ein-       100 bis 1.000 Jahre. Mahrenholz zählt vier Fak-
samkeit und Depressionen.“ Die Forschenden        toren auf, die Voraussetzung für ein Leben mit
erproben dafür u. a. eine App, mit der sich       jeglichem Risiko sind, ob Naturgefahr oder glo-
Grün in Wohnortnähe je nach individuellen         bale Krankheit. Erstens: „Wir müssen das Risiko
Bedürfnissen finden und erkunden lässt. Wie       verstehen“ – durch Analysen, die das Ausmaß
das Leibniz-Institut sind derzeit viele Wissen-   der Gefährdung zeigen; durch Information und
schaftlerInnen dabei, ein Leben mit der Pande-    Bildung. Zweitens: „Öffentliche Institutionen
mie zu definieren. Und werden in Klimaschutz-     müssen gestärkt und vernetzt werden“ – von
und Klimaanpassungskonzepten fündig.              der Stadtplanung bis hin zu Gesundheits­
                                                  ämtern und ÄrztInnen. Für eine angepasste,
                                                  und das heißt immer auch nachhaltige Lebens-
Raum für die Natur                                weise, „braucht es kein Denken von A nach B.
„Gesundheitsschutz ist Naturschutz“, sagt         Es braucht integrierte Lösungen.“ Drittens: „Es
auch Petra Mahrenholz, Klimaanpassungs-           muss vorab in Vorsorge investiert werden, nicht
strategin des Umweltbundesamtes (UBA). Für        erst, wenn die Katastrophe bereits im vollen
ein Leben mit Pandemien brauche es keine          Gang ist.“ Dafür bietet diese Pandemie nach
neuen Modelle: „Das Wissen ist da. Es muss        ihrer Weltpremiere nun die Chance: Was kann
nur angewandt werden.“ An erster Stelle steht     vorausschauender gemacht werden? Und vier-
das Wissen um die Ursachen. Mahrenholz:           tens: „Katastrophenfälle müssen auch in Nicht-
„Wer natürliche Ressourcen ausbeutet, muss        Katastrophen-Zeiten geprobt werden.“

Naturgefahrenreport 2020
20

          „Das Wissen, wie mit jeglichen Risiken umzugehen ist, ist vorhanden.

          
                               Wie bei der Klimaanpassung sollte auch     Mischwäldern wachsen statt zu verletzbaren
                            für eine Pandemieresilienz nicht nur auf      Monokulturen. Das zweite: „Wasser in der Flä-
                             technischen Schutz gesetzt werden – wie      che halten“, also Moore, Feuchtgebiete erhal-
                              etwa auf Hochwasserschutztore oder eben     ten. Als natürliche Räume für Artenreichtum
                              einen Impfstoff und Intensivstationen.      und Klimaschutz, die wiederum widerstands-
                              Es braucht, so Mahrenholz, für eine ange-   fähiger gegen Klimaextreme sind.
                             passte Lebensweise auch eine lernfähige
                          Gesellschaft: auf Händeschütteln verzichten;
                         die Maske tragen; monatelanges Homeoffice.       Raum für Stadt und Land
                         Freiwillig verzichten Millionen Deutsche auf     Raum geben, das Corona-Gebot des Abstands.
                         tradierte kulturelle Werte.                      Auch Forschende des Deutschen Instituts für
   Petra Mahrenholz            Es braucht zudem und vor allem „natur-     Urbanistik (Difu) knüpfen die Pandemie-
leitet das Kompetenz-    basierte“ Lösungen. Der Natur ihren Raum         Formel an mehr freie Flächen in Städten,
 zentrum Klimafolgen     lassen. Mit einer globalen Biodiversitätsstra-   die wiederum Klimaschutz und -anpassung
   und Anpassung des     tegie, wie sie Bundesumweltministerin Svenja     zugutekommen. „Zu lernen aus der Corona-
 Umweltbundesamtes.      Schulze plant. Natürliche Lebensräume und        Krise“, so die Difu-WissenschaftlerInnen
                         ihre Artenvielfalt sollen erhalten bzw. neu      Anne Roth, Jens Hasse und Jan Walter, wäre
                         geschaffen werden, damit Abstand zu gefähr-      nun „die Sensibilisierung und Eigenvorsorge
                         lichen Erregern bleibt. Damit zudem die grüne    von Bevölkerung und Unternehmen sowie
                         Lunge der Welt weiter für uns alle atmen kann.   eine integrierte Hitze-, Starkregen- und
                         Die Wildnis global, das ländliche und städti-    Trockenheitsvorsorge“. Dafür müssten zum
                         sche Grün national. Zwei solcher naturbasier-    Beispiel auch die Gesundheitsämter „drin-
                         ten Lösungen empfiehlt das UBA aktuell. Zum      gend mit mehr Kapazitäten und ausreichend
                         einen: das Wiederaufforsten von Wäldern, die     umweltmedizinischer Expertise ausgestattet
                         von Sturm oder Dürre zerstört sind, zu soge-     werden“.
                         nannten „klimaplastischen“ Wäldern. Einhei-          Möglicherweise gibt es gar eine Flucht
                         mische Bäume sollen zu widerstandsfähigen        aufs Land, weil die Pandemie die Sehnsucht

     Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt   21

Wir müssen es nur anwenden.“
                                         Petra Mahrenholz, Klimaanpassungsstrategin beim Umweltbundesamt

     der GroßstädterInnen nach Freiraum ver-            Erfahrungen dieser Krise nun die größere
     stärkt. Befördern könnte dies das Digitale, seit   Krise angehen, den Klimawandel. Alle staatli-
     Corona das Arbeitsmittel schlechthin über jeg-     chen, wirtschaftlichen und bürgerschaftlichen
     liche Distanzen hinweg. Orte in sogenannten        Bestrebungen darauf fokussieren. Nachhaltig.
     strukturschwachen Regionen in Brandenburg,             Das UBA verweist die Bundesrepublik mit
     Mecklenburg oder Bayern werben seit Jahren         seinem Programm „Nachhaltige Wege aus der
     mit freien Flächen, günstigem Wohnraum und         Wirtschaftskrise“ erneut auf das Pariser Kli-
     guter sozialer Infrastruktur – und eben der        maschutzabkommen. Der 15-Punkte-Aktions-
     digitalen Anbindung. „Es wird viele ländliche      plan reicht vom forcierten Ausbau erneuerba-
     Gemeinden geben, die sich als Alternative zur      rer Energien über Steuern auf umweltschäd­
     dicht bevölkerten Stadt etablieren und dabei       liche Technologien bis hin zu Investitionen in
     mit neuen Antworten auf die Fragen des täg-        grüne Jobs und grüne Wirtschaft. Einer der
     lichen Lebens punkten“, prognostiziert etwa        Punkte: „die gezielte Förderung von Maßnah-
     Difu-Stadtplaner Stefan Schneider, „für einige     men des Klimaschutzes, zur Anpassung an den
     Großstädte könnte sich dadurch der Wachs-          Klimawandel und zum Ausbau der grünen
     tumsdruck verringern – der Beginn einer            Infra­struktur“.
     umfassenden Transformation.“ Für diese ist             Raum geben. Der Natur, den Menschen.
     dann das „integrierte Denken“ von kommu-           Die Leibniz-Forschenden haben für eine ange-
     nalen Köpfen, Stadt- und Verkehrsplanenden         passte Lebensweise mit Mehrwert für Gesund-
     gefragt. Damit das Wachstum von Gemeinden          heit und Klima noch ein weiteres, lokales
     nicht Freiräume frisst, damit es die vorhande-     Konzept ausgemacht: die essbare Stadt. Der
     nen vorausschauend nutzt.                          natürliche Raum von Streuobstwiesen, Bee-
                                                        rensträuchern oder Gemüseflächen in und
                                                        um Städte ist zudem ein kleiner Vorrat hei-
     Raum für Wachstum                                  mischer Ressourcen – sollten in Krisenzeiten
     Wie weiter mit und nach Corona? Die Ant-           Lieferketten unterbrochen oder Lebensmittel
     worten von Difu und UBA lauten: mit den            knapp werden.

     Naturgefahrenreport 2020
22

              Interview

              „Wir müssen
              verhindern, dass sich
              die Erderwärmung
              fortsetzt“
              Der Kampf gegen den Klimawandel ist das Gebot der Stunde.
              Welche Ideen haben die Versicherer für eine klimafreundliche
              Wirtschaft? Ein Gespräch mit Jörg Asmussen.

              Die Folgen des Klimawandels werden auch in          Wetterereignissen zum Normalfall wird. So etwas
              Deutschland spürbarer, aktuell haben wir das        vergisst man leicht angesichts unterdurchschnitt-
              dritte Dürrejahr in Folge erlebt. Werden die        licher Schadenjahre wie 2019. Dort lagen wir mit
              Schäden durch Naturgewalten versicherbar            drei Milliarden Euro Naturgefahrenschäden in
              bleiben?                                            Deutschland unter dem langjährigen Mittelwert
              Ja, bis auf weiteres können wir den Klimawandel     von 3,7 Milliarden.
              und die daraus entstehenden Schäden schultern.
              Das geben unsere Studien und Risikomodelle her.     Wie geht die Branche mit dieser Erkenntnis um?
              Aber wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung        Sich mit den Klimaschutz zu beschäftigen ist gut
              unter dem 2-Grad-Ziel des Pariser Klimagipfels zu   und richtig – das reicht aber angesichts der bereits
              halten, dann werden wir etwa die Versicherung       eingetretenen Erderwärmung nicht aus. Daher
              von Naturgefahren nicht in der bestehenden Form     haben wir schon vor Jahren einen Schwerpunkt
              fortführen können. Die Weltbank hat schon 2012      unserer Arbeiten auf den Schutz vor den Folgen
              in einem Bericht darauf aufmerksam gemacht, dass    des Klimawandels gelegt. Klimafolgenanpassung
              eine +4-Grad-Welt nach traditionellen Maßstäben     ist notwendig – hier und jetzt. Ein Beispiel: Wenn
              nicht mehr versicherbar sein wird. Wir müssen       Stark­regen und Hagelschlag in zunehmender Weise
              verhindern, dass die Erderwärmung sich unge-        die Bausubstanz bedrohen, muss auch das Baupla-
              bremst fortsetzt und die Häufung von extremen       nungs- und Bauordnungsrecht angepasst werden –

     Naturgefahrenreport 2020
Kapitel eins: Die Neuordnung der Welt   23

Jörg Asmussen,
seit 1. Oktober 2020 Hauptgeschäfts-
führer des Gesamtverbandes der
Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)
                                                           Jede Branche spricht über Nachhaltigkeit, was
                                                           verstehen die Versicherer darunter?
                                                           Wir orientieren uns an den 17 Nachhaltigkeitszie-
                                                           len der Vereinten Nationen. In der Finanzbranche
                                                           wird Nachhaltigkeit oft beschrieben mit: ökologisch,
                                                           sozial und gute Unternehmensführung. Versiche-
                                                           rer denken und handeln langfristig, dadurch ist die
     und zwar heute. Denn jetzt werden die Wohnun-         Branche heute schon bei vielen Nachhaltigkeits­
     gen gebaut, die den klimatischen Bedingungen in       themen gut aufgestellt. Da wir selbst von den Fol-
     50 Jahren standhalten müssen. Sprich: Je später wir   gen der Klimaerwärmung stark betroffen sind, müs-
     mit den Anpassungsmaßnahmen beginnen, desto           sen wir uns aber beim Thema Ökologie noch mehr
     größer wird der volkswirtschaftliche Schaden in der   ins Zeug legen. Und auch als Arbeitgeber können
     Zukunft ausfallen. Daran können auch staatliche       Versicherer zukunftsfähiger werden, ich denke da
     Hilfen im Katastrophenfall nichts ändern.             besonders an mehr Diversity in den Unternehmen
                                                           und auch im Verband.
     Allein Verordnungen lösen sicher nicht das
     Problem, oder?                                        Welche Aufgaben kommen damit konkret auf
     Nein, das ist ein Baustein. Ein weiterer sind Auf-    die Branche zu?
     klärung und Prävention, um künftige Schäden in        Das fängt bei den eigenen Gebäuden und Geschäfts-
     Grenzen zu halten und Naturgefahren auch in           prozessen an, die CO2-neutral werden müssen.
     Zukunft versichern zu können. Wie in anderen          Dann sind die Kapitalanlagen der Versicherer von
     Ländern auch, muss der deutsche Staat die vor-        immerhin 1,7 Billionen Euro ein mächtiger Hebel,

              „Dann sind die Kapitalanlagen der Versicherer von immerhin
         1,7 Billionen Euro ein mächtiger Hebel, um die Transformation zu
                      einer klimafreundlichen Wirtschaft zu unterstützen.“

     handenen Informationen zu Naturgefahren und           um die Transformation zu einer klimafreund­
     klimatischen Veränderungen bündeln und der            lichen Wirtschaft zu unterstützen. Denn wir legen
     Öffentlichkeit in einem zentralen und leicht ver-     meist langfristig an und „geduldiges Geld“ wird für
     ständlichen Online-System zugänglich machen.          Transformationsprojekte gebraucht. Als Investoren
     Wir setzen uns daher nachdrücklich für ein bun-       können wir auf mehr Klimaschutz und Ressourcen­
     desweites Naturgefahrenportal ein – im Idealfall      effizienz drängen. Und schließlich können wir mit
     mit begleitenden Informationskampagnen. Die           unseren Produkten und der Schadenregulierung
     Versicherer sind bereits vor Jahren in Vorleistung    vieles gestalten: Neue Technologien und nachhal-
     getreten und haben mit der Machbarkeitsstudie         tige Geschäftsmodelle brauchen Versicherungslö-
     „Kompass Naturgefahren“ beispielhaft gezeigt,         sungen und die haben wir sehr schnell entwickelt,
     wie dieser Gedanke umgesetzt werden kann. Wir         wie für Windparks, Solaranlagen oder Car-Sharing.
     haben vor kurzem mit dem „Naturgefahren-Check“        Aber wir müssen uns auch fragen: Welchen Versi-
     nachgelegt, aber all das kann ein zentrales Infor-    cherungsschutz bieten wir z. B. klimaschädlichen
     mationssystem der öffentlichen Hand nicht erset-      Unternehmen noch an? Wie können unsere Pro-
     zen. Standortgenaue Informationen über Gefähr-        dukte umweltfreundlicheres Verhalten fördern?
     dungen durch Hochwasser, Starkregen, Blitz und        Wie kann eine nachhaltige Altersvorsorge aus-
     Überspannung sowie Sturm und Hagel sollten in         sehen? Die Antworten darauf zu finden, wird ein
     der digitalen Gesellschaft selbstverständlich sein.   Kraftakt. Aber es gibt keine Alternative.

     Naturgefahrenreport 2020
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