Phänomenologie des Konsums - SuchtMagazin

Die Seite wird erstellt Silvia Mann
 
WEITER LESEN
Phänomenologie des Konsums - SuchtMagazin
Phänomenologie des Konsums                                                     03/2020

    Themenschwerpunkt               Warum konsumieren I       Warum konsumieren II
    Motive zum Drogenkonsum         Ayahuasca in Südamerika   Selbstbilder & Selbstbildner
    Zukunft der Suchtpolitik.       Microdosing im Alltag     Spirituelle Erkundungen
    Wir müssen weiterdenken!        Weise Pharma-Greise       Therapie mit Psilocybin
Interdisziplinäre Fachzeitschrift
der Suchtarbeit und Suchtpolitik
Phänomenologie des Konsums - SuchtMagazin
Inhalt

5       Erinnern, vergessen, anpassen, ausbrechen:
        Drogenkonsum und seine Motive
        Robert Feustel

11      Wir müssen weiterdenken!
        Toni Berthel, Silvia Gallego, Marcel Krebs

15      Konsum als spirituelle Erfahrung:
        Ayahuasca-Tourismus in Südamerika
        Tom J. Wolff

22      Psychedelic Microdosing:
        Hintergründe, Motive und Risiken
        Linus Naumann

27      Langzeiterfahrungen mit Psychedelika
        und Empathogenen
        Claude Weill

31      Weise Pharma-Greise
        Paul Parin

35      Behandlung mit Psilocybin
        bei PatientInnen mit Alkoholabhängigkeit
        Katrin H. Preller und Nathalie M. Rieser

41      Selbstbilder und Selbstbildner
        Jörg Scheller

46      Wein als Gewürz
        Peter Brunner und Luana Paladino

48      Fazit.
        ForschungsSpiegel von Sucht Schweiz
        Psychedelika als Wirkstoff für die Psychotherapie von
        Traumafolgestörungen und Suchterkrankungen

47,52,55 Bücher

54      Newsflash

55      Veranstaltungen

56      Bildserie
        Christina Baeriswyl
PHÄNOMENOLOGIE DES KONSUMS

                      Wir müssen weiterdenken!
2020-3                Aus der Perspektive von Public Health, der Suchthilfe und im professionellen
Jg. 46                Tun wird der Konsum psychoaktiver Substanzen meist als potentielles Prob-
S. 11 - 14
                      lem verhandelt. Darauf basierende Strategien pathologisieren damit jegliche
                      Art von Konsum. Begegnen wir aus einer ausschliesslich gesundheitsorien-
                      tierten Perspektive den Konsumphänomenen aber nicht sehr einseitig? Denn:
                      Substanzkonsum ist mehrdeutig, gekennzeichnet durch Ambiguität. Viele
                      Menschen erleben mit dem Konsum positive Wirkungen und nehmen Risiken
                      dafür in Kauf. Gesundheit als alleiniges Kriterium guten Lebens verhindert den
                      konstruktiven Einsatz psychoaktiver Substanzen.

                      TONI BERTHEL
                      Dr. med., Psychiater, Psychotherapeut, Suchtmediziner. Hornweg 19, CH-8700 Küsnacht. toni.berthel@bluewin.ch
                      SILVIA GALLEGO
                      Politologin lic.phil., Leitende Stabsmitarbeiterin, Prozess- und Projektmanagerin, Ärztliche Direktion, Integrierte Psychiat-
                      rie Winterthur − Zürcher Unterland. silvia.gallego@ipw.zh.ch
                      MARCEL KREBS
                      Soziologe M.A., Sozialarbeiter HFS, Dozent am Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit ISAGE der Fachhochschule
                      Nordwestschweiz FHNW; Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Infodrog, Redaktionsleiter SuchtMagazin und Infoset.
                      marcel.krebs@fhnw.ch, www.fhnw.ch/de/personen/marcel-krebs

Phänomenologie des Konsums vs.                 Einfluss das soziokulturelle Setting und            lationen (Public Health Schweiz 2003:
Gesundheitspolitik                             die Persönlichkeit auf das Konsumver-               1). Sie hat die Verbesserung der körper-
Der Konsum psychoaktiver Substanzen            halten und das subjektive Rauscherleben             lichen und psychischen Gesundheit der
ist eine gesellschaftliche Praxis. Die For-    mit Psychedelika haben; nicht zuletzt im            Bevölkerung oder von Bevölkerungs-
men des Konsums sind vielfältig. Eine          Kontext der 1968er-Bewegung zuneh-                  gruppen zum Ziel und will Krankheiten
Ausweitung des Blicks auf eine möglichst       mend für neue, sog. «psychedelische»                vermeiden, um dadurch das Leben zu
vorurteilslose Erfassung dieser Erschei-       Lebensformen (Tanner 2009).                         verlängern. Weiter strebt sie die gerechte
nungsformen, eine «Phänomenologie                  Die Gesundheitsperspektive fokus-               Verteilung und Nutzung der Ressourcen
des Konsums», ist Zweck der vorliegen-         siert hingegen nur auf bestimmte Varian-            im Gesundheitswesen an.
den Ausgabe des SuchtMagazin.                  ten dieser Triade; und zwar ausschliess-                Dem Auftrag von Public Health und
    Schnell wird deutlich, dass eine Re-       lich solche, die zu gesundheitlichen                Health-in-all-Policies ist inhärent, dass
duktion des Verständnisses psychoakti-         Problemen führen (können), während                  sie sich darum bemühen, die Gesund-
ver Substanzen auf Rauschgifte, Gefahr,        die anderen Formen der Aufmerksam-                  heitskosten niedrig zu halten und An-
Absturz und Sucht zu einfach ist und der       keit entzogen und aus dem Diskurs                   reize für wirksame und kostengünstige
Konsumrealität nicht gerecht wird. Die         ausgeschlossen werden. Noch stärker                 Interventionen in jedem Politikfeld zu
von Timothy Leary in den 1960er-Jahren         wird dieser Blick eingegrenzt, wenn er              setzen. Auf einer solchen Basis kann der
eingeführte Triade Substanz, Persönlich-       auf eine Perspektive reduziert wird, die            Konsum von psychoaktiven Substanzen
keit und Gesellschaft (Drug, Set, Setting)     auf rein epidemiologischen Kenntnissen              nur als potentielles Problem wahrge-
wird als Analyseraster zur Erfassung die-      (sprich: Statistiken) beruht. Auf einmal            nommen werden, als ein Risiko für die
ser Phänomenologie missbraucht, wenn           interessieren dann nur noch Fragen, wie             Entstehung von Suchterkrankungen oder
ihre Achsen per se mit Gift, Krankheit         die Einheiten und Achsen dieser Triade              anderen körperlichen und/oder psychi-
und schlechtem sozialem Umfeld ver-            konfiguriert werden müssten, damit die              schen Problemen. Jede Konsumform ist
bunden werden; und damit grundsätzlich         «öffentliche Gesundheit» verbessert                 damit potentiell schädlich und als mög-
nur mit der Frage, wie diese drei Va-          werden kann.                                        licher Kostenfaktor zu verhindern. Heute
riablen in ihrem Zusammenspiel Sucht-                                                              geltende Public Health Strategien, aber
problematiken und Gesundheitsprob-             Public Health I: Konsum als Risiko                  auch die medizinische Diagnostik, kön-
leme herbeiführen. Vielmehr ist dieses         Public Health kümmert sich um die Ver-              nen den Konsum psychoaktiver Substan-
Konzept mittels Studien über Konsum-           besserung der öffentlichen Gesundheit               zen oft ausschliesslich als Pathologien
erfahrungen mit Psychedelika (v. a. LSD)       (Gesundheitsförderung) sowie um die                 oder zumindest als potentiell schädliche
entstanden (Prepeliczay 2019). Leary           Krankheitsbekämpfung und legt den                   Verhaltensweisen wahrnehmen; und die
interessierte sich für die Frage, welchen      Fokus somit möglichst auf ganze Popu-               dazu verwendeten Mittel als gefährlich.

                                                                      11
PHÄNOMENOLOGIE DES KONSUMS

Public Health II: Die vermeintliche           Die utilitaristische Perspektive bietet       das Individuum mehrere Bedeutungen
Unschuld des Utilitarismus                    insgesamt zwar legitime Möglichkeiten         gleichzeitig haben kann: Es verbindet
Public Health folgt oft – aber nicht aus-     einer Kosten-Nutzen-optimierten-Ge-           mit dem Konsum sowohl positive als
schliesslich1 – einem «gesundheitsbezo-       sundheitsförderung: das grösste Glück         auch negative Erfahrungen.
genen Utilitarismus» (Rauprich 2008:          der grossen Zahl. Das ist prinzipiell nicht       Die Menschen praktizieren den
142), d. h. es geht um die beste Gesund-      falsch. Allerdings muss man sich bewusst      Konsum psychoaktiver Substanzen oder
heit der grössten Zahl: Wo investieren        sein, dass es sich dabei um einen Selek-      exzessiver Verhaltensweisen, weil sie
wir wie viel, damit eine möglichst grosse     tionsvorgang handelt und dass dieser          mit diesen auch positive Erfahrungen
Zahl von Menschen davon profitieren           für die Nicht-Selektierten (hier: Minder-     machen. Sie erzielen damit Heilwirkung,
kann? Dieses Prinzip einer utilitaris-        heiten, Benachteiligte) Konsequenzen          Entspannung, Steigerung von Wohlbe-
tischen Nutzenmaximierung kann für            hat. Eine utilitaristische Gesundheits-       finden, Kreativität, Leistung, kognitive
einen grossen Gerechtigkeitsausgleich         förderung existiert nicht unabhängig als      Freiheit, Entgrenzung, Erkenntniserwei-
sorgen, definiert aber gleichzeitig immer     etwas «Neutrales», «Übergeordnetes»,          terung und vieles mehr – der Leadarti-
auch Grenzen, weil es jene Menschen           «Alternativloses», sondern beruht auf         kel von Robert Feustel in diesem Heft
benachteiligt, «die das Pech haben,           dem politischen Entscheid, die Ressour-       zeigt die ganze Breite dieser positiven
mehr Ressourcen für einen bestimmten          cen nach bewusst definierten Kriterien        Konsumphänomenologie auf. Mit dem
Nutzen zu benötigen bzw. aus einer be-        (also dem utilitaristischen Nutzen) auf       Konsum psychoaktiver Substanzen ge-
stimmten Menge an Ressourcen weniger          aggregierter Ebene zu verteilen.              hen immer Erlebnisse einher, von denen
Nutzen ziehen zu können» (ebd.: 145).                                                       Menschen potentiell einen Gewinn
    Aus einer utilitaristischen Perspek-      Gesundheit ist nicht alles                    haben. Fast immer geht das gut, das «Eli-
tive lässt sich bspw. leicht argumen-         Die Anerkennung von Sucht als Abhän-          xier» trägt zum gelingenden Leben bei,
tieren, dass es sinnvoller sei, die finan-    gigkeitserkrankung ist essentiell. Aber       nur wenige Menschen entwickeln grös-
ziellen Mittel der Schadensminderung          begegnen wir aus einer ausschliesslich        sere Probleme.
für die Tabakprävention zu verwenden,         gesundheitsorientierten Perspektive den           Die Ambiguität wird bewusst in Kauf
weil mit der gleichen Menge an Mitteln        Konsumphänomenen nicht sehr einseitig         genommen: Obwohl der Konsum poten-
der allgemeine Gesundheitszustand der         und lassen damit wichtige Aspekte der         tiell gesundheitsschädlich sein kann,
Bevölkerung stärker verbessert werden         Konsumrealität weg? Was bedeutet es           werden die positiven Erfahrungen als
kann, als für teure Einzelfälle oder im       für unseren Umgang mit psychoaktiven          bedeutender betrachtet als die poten-
Bereich anderer Substanzen (z. B. in der      Substanzen, wenn Public-Health Denk-          tiellen Risiken. Ambiguität heisst nicht
Heroinverschreibung). Der mögliche            ansätze handlungsleitend werden?              Ambivalenz, geht also nicht unbedingt
Preis dafür wäre dann, dass bestimmte,            Der Umgang mit menschlichen Ver-          mit einer inneren Zerrissenheit einher,
gerade bedürftigere und sozial schwä-         haltensweisen, die mehrdeutig und viel-       sondern die Risiken werden zugunsten
chere Bevölkerungsgruppen nicht mehr          fältig sind und die gesamte Gesellschaft      von positiven Erfahrungen bewusst in
die notwendige Unterstützung erhalten         betreffen, kann nicht einseitig über den      Kauf genommen. Die Massnahmen der
(z. B. Menschen mit einer Heroinab-           Handlungsstrang Gesundheit und de-            Schadensminderung sind hier ein gutes
hängigkeit). Mit utilitaristischem Kalkül     ren ExpertInnen definiert werden. Wir         Beispiel. Ihr Ziel ist ja gerade, einen Kon-
könnte man in Bezug auf dieses Beispiel       sind in diesem Spannungsfeld in einem         sum zu ermöglichen mit möglichst klei-
noch einen Schritt weitergehen: Das           gemeinsamen Lern- und Entwicklungs-           nem und möglichst bekanntem Risiko.
Geld aus der Schadensminderung soll           prozess gefordert, einen Weg zu finden,       Sie versucht, einen rationalen Umgang
nicht einfach pauschal in die Tabakprä-       der auf der einen Seite zur erfolgreichen     mit Ambiguität zu ermöglichen.
vention verlagert, sondern auf eine Ziel-     Umsetzung von Public Health Strategien            Der Konsum psychoaktiver Subs-
gruppe angewendet werden, bei der der         beiträgt und Suchterkrankungen verhin-        tanzen an sich kann damit nicht nur als
grösste Nutzen zu erwarten ist, die also      dert, andererseits aber auch allen Men-       (gesundheits-)gefährdend eingestuft
sensibel auf Gesundheitsinformationen         schen grundsätzlich ermöglicht einen          werden. Aus einer kritischen Perspektive
reagiert (z. B. Bildungsprivilegierte). Auf   selbstgewählten Umgang mit psychoak-          werden deshalb folgende Hypothesen in
diese Weise würden Massnahmen der             tiven Substanzen und ihren Wirkungen          den Raum gestellt:
Public Health sogar soziale Ungleichheit      zu suchen und zu finden; und zwar auch        – Eine Public Health Strategie, welche
vergrössern.                                  unter der Voraussetzung, dass der Wert           die für die Menschen gewinnbringen-
    Das Beispiel zeigt: Orientiert sich       Gesundheit weniger stark gewichtet wird          den Eigenschaften des Substanzkon-
Public Health in ihren Gerechtigkeitsur-      als andere Werte.                                sums nicht im Auge behält, greift zu
teilen am utilitaristischen Nutzen, kann                                                       kurz, mag sie noch so sehr das Gute
mitunter kein plausibles Kriterium ge-        Die Realität: Ambiguität der Kon-                wollen.
funden werden, welches das vermeidbare        sumphänomene                                  – Das Primat der Gesundheitswissen-
Leiden einer Minderheit verbietet, wenn       Mit der Ambiguität der Konsumformen              schaften bei der Regulierung des
die Population gesamthaft davon profi-        ist ihre Mehrdeutigkeit gemeint (Bauer           Konsums verhindert einen mögli-
tiert (Bittlingmayer & Ziegler 2012: 21).     2018: 13), dass also der Konsum für              cherweise gewinnbringenden, diffe-

                                                                  12
SUCHTMAGAZIN              03/2020

  renzierten und vielfältigen Einsatz       betrachtet, besetzt Ambiguitätsintole-          Wir müssen anerkennen, dass der
  psychoaktiver Substanzen im risiko-       ranz immer eine Seite des Pols. In einer    Mensch neben dem Bedürfnis nach
  armen Bereich.                            ambiguitätsintoleranten Gesellschaft        Gesundheit und Unversehrtheit auch
– Die oberste Maxime Gesundheit kann        erhält eine einzige Funktion das Primat     nach spirituellen, freiheitlichen, psyche-
  für einige, vielleicht auch viele Men-    gegenüber allen anderen potenziellen        delischen, leistungsorientierten oder
  schen ein Mittel zum gelingenden Le-      Funktionen. Hinsichtlich psychoaktiver      entgrenzten Lebenserfahrungen strebt.
  ben sein, aber nicht ausschliesslich.     Substanzen kann man ein Ambiguitäts-        Um den Menschen gerecht zu werden,
  Wer nur in Kategorien der Gesund-         kontinuum zwischen den Polen «Kon-          müssen diese Motive bei der Regulierung
  heit, der Gefahr und der Sicherheit       sumverzicht» und «Sucht» aufspannen:        psychoaktiver Substanzen in unserer Ge-
  denkt, erstarrt. Zu einer gelingenden     Ist mit dem Pol Verzicht die alleinige      sellschaft mitgedacht werden.3
  Lebensführung tragen auch andere,         Unterordnung unter das Primat der Ab-           Public Health Strategien engen uns
  potentiell riskantere Verhaltens-         stinenz und damit Autoritäten aus der       und unser professionelles Handeln ein.
  weisen bei. Gerade sie – denkt man        Welt des Gesundheitswesens oder der         Gesundheit als alleiniges Kriterium
  an die Überwindung von Gefahren,          Moral verknüpft, so ist der Pol Sucht mit   guten Lebens verhindert den konstruk-
  Grenzverschiebungen, Entwicklung,         potentiellem Gesundheits-, Welt- und        tiven Einsatz und Umgang mit diesen
  Unabhängigkeit, Sorglosigkeit und         Kontrollverlust verknüpft. Die Ambigui-     Substanzen. Gutes Leben heisst, eine
  Leichtigkeit – unterstützen Entwick-      tät nimmt aber beide Pole in den Blick      Vielfalt von Erfahrungsmöglichkeiten
  lungen.                                   und bringt sie miteinander in Verbin-       zuzulassen.
                                            dung.                                           Es wussten schon die alten Griechen:
Aushalten und Verhandeln von Am-                Was also ist aus dieser Sicht zu tun?   «Wenn die Macht sich keinen Zweck
biguität                                    Zwischen dem Primat Verzicht/Absti-         gibt, der über sie hinausreicht, wenn ihre
«Es ist […] nicht einfach, einen Zustand    nenz, dem Kontrollverlust und der Welt-     Gesetze nicht auf das gute Leben der
der Ambiguität aufrechtzuerhalten, weil     flucht spannt sich in der Sucht ein Feld    Bürger ganz allgemein gerichtet sind, wie
Menschen ihrer Natur nach nur be-           auf, in dem eine Vielzahl von Konsum-       auch immer es aussehen mag, dann gibt
schränkt ambiguitätstolerant sind und       motiven und -zielen möglich werden.         es keine Politik und kann es auch keine
eher danach streben, einen Zustand der      Es gilt, die Ambiguität zu tolerieren, zu   Demokratie geben» (Perikles 431/30 v.
Eindeutigkeit herzustellen, als Vieldeu-    erhalten und für die freie Wahl auf der     Chr., zit. in Zagrebelsky & Schmitt 2017:
tigkeit auf Dauer zu ertragen» (Bauer       Achse des Kontinuums zu kämpfen.            5).
2018: 19). Das Aushalten von Ambigui-
tät und damit der Mehrdeutigkeit des        Konsumphänomenologie jenseits
Konsums ist eine Herausforderung für        des Gesundheitsdiskurses                    Literatur
                                                                                        Bauer, T. (2018): Die Vereindeutigung der Welt:
die Gesellschaft (ihre Institutionen) und   Will man die Vielfalt des Konsums im
                                                                                           über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Viel-
das Ich, die beide stets nach Stabilität,   Blick behalten, sind Suchtfachleute gut        falt. Ditzingen: Reclam.
Sicherheit und Gewissheiten rufen. In       beraten, die Regulierung der psychoak-      Bittlingmayer, U./Ziegler, H. (2012): Public-He-
letzter Zeit sind Stimmen laut geworden,    tiven Substanzen nicht ausschliesslich         alth und das gute Leben: Der Capabili-
                                                                                           ty-Approach als normatives Fundament
die für verschiedene Herausforderungen      einer gesundheitspolitischen Perspektive
                                                                                           interventionsbezogener Gesundheitswissen-
besondere Massnahmen einfordern. Es         zu überlassen. Vielmehr muss bedacht           schaften? 2012-301. Berlin: Wissenschafts-
wird gewünscht, dass per Dekret regiert     werden:                                        zentrum Berlin für Sozialforschung.
werden solle, dass ExpertInnenmei-          – Substanzkonsum ist mehrdeutig,            Domenig, D./Cattacin, S. (2015): Sind Drogen
                                                                                           gefährlich? Gefährlichkeitsabschätzungen
nungen rasch und ohne demokratische            kann negative und positive Wirkun-
                                                                                           psychoaktiver Substanzen. Genève: Institut
Legitimation umgesetzt werden. In Aus-         gen sowie Funktionen haben.                 de recherches sociologiques.
nahmesituation und damit einhergehend       – Potentielle Gesundheitsrisiken wer-       EKSF – Eidgenössische Kommission für Sucht-
sind ausserordentliche Massnahmen              den zugunsten positiver Wirkungen           fragen (2019): 10 Jahre Betäubungsmittelge-
                                                                                           setz BetmG. Überlegungen für die Zukunft.
notwendig. Wir sehen dies bspw. in der         bewusst in Kauf genommen.
                                                                                           https://tinyurl.com/y8agam8m, Zugriff
Diskussion der Klimafrage und sahen         – Substanzkonsum ist nicht immer und           04.06.2020.
dies teilweise auch in der Lösung der          vor allem nicht nur ausschliesslich      EWS – Expertengruppe Weiterbildung Sucht
Folgen des unkontrollierten Umgangs            aus gesundheitlicher Perspektive re-        (2014): SuchtAkademie. Konsumkompetenz
                                                                                           zwischen individueller und kollektiver Ver-
mit psychoaktiven Substanzen. Alle             levant, sondern bietet den Menschen
                                                                                           antwortung. https://tinyurl.com/y7q5mwhj,
emotional aufgeladenen Themen können           Perspektiven und Erfahrungsmöglich-         Zugriff 04.06.2020.
so eine Eigendynamik erlangen.                 keiten jenseits der Dimension von        Prepeliczay, S. (2019): Freizeitgebrauch von
    Ambiguität und damit Vielfältigkeit        Gesundheit und Krankheit.                   LSD und Psilocybin-Pilzen. S. 511-29 in: R.
                                                                                           Feustel/H. Schmidt-Semisch/U. Bröckling
aber werden verhindert, wenn einem          – Zur Erlangung von Konsumkompe-
                                                                                           (Hrsg.), Handbuch Drogen in sozial- und kul-
Phänomen nur eine einzige oder aber            tenz braucht es mehr als eine alleini-      turwissenschaftlicher Perspektive. Wiesba-
gar keine Bedeutung zugeschrieben wird         ge Orientierung an Gesundheit und           den: Springer.
(Bauer spricht dann von Gleichgültig-          Krankheit und somit mehr als die         Public Health Schweiz (2003): Leitbild Public
                                                                                           Health Schweiz. https://tinyurl.com/y7gz-
keit, ebd.: 36). Auf einem Kontinuum           Fähigkeit, die eigene Gesundheit zu
                                                                                           gaef, Zugriff 04.06.2020.
                                               erhalten.2

                                                               13
Rauprich, O. (2008): Utilitarismus oder Kommu-         Einen ganz anderen normativen Zugang           problematischen Konsums vorzubeugen,
  nitarismus als Grundlage einer Public-He-            zu Public Health bieten übrigens Ansätze       ohne die risikoarm konsumierende Bevöl-
  alth-Ethik? Bundesgesundheitsblatt 51:               des egalitären Liberalismus, wie z. B. die     kerung unnötig einzuschränken, muss der
  137-150.                                             Gerechtigkeitstheorie von John Rawls oder      Umgang mit psychoaktiven Substanzen
Steuergruppe der drei Eidg. Kommissionen               der Capability-Approach nach Amartya Senn      geregelt werden» (Domenig & Cattacin 2015:
  für Alkoholfragen, für Drogenfragen und für          und Martha Nussbaum. Vgl. dazu ausführlich     96). Und die Eidgenössische Kommission für
  Tabakprävention (2010): Herausforderung              Bittlingmayer und Ziegler (2012).              Suchtfragen ESKF verlangte in ihrem Bericht
  Sucht. Grundlagen eines zukunftsfähigen          2
                                                       Vgl. im Gegensatz dazu das Dokument Sucht-     10 Jahre Betäubungsmittelgesetz BetmG,
  Politikansatzes für die Suchtpolitik in der          Akademie. Konsumkompetenz zwischen             Überlegungen für die Zukunft (2019: 33):
  Schweiz. Kurzfassung. https://tinyurl.com/           individueller und kollektiver Verantwortung    «Das derzeitige BetmG mit dem Fokus auf
  yasmeg9t, Zugriff 04.06.2020.                        (EWS 2014). Dort wird Konsumkompetenz          illegale Substanzen muss in ein kohärentes
Tanner, J. (2009): «Doors of perception» versus        hauptsächlich auf die Fähigkeit reduziert,     Bundesgesetz überführt werden, das alle
  «Mind control». Experimente mit Drogen               «das Konsumverhalten so zu gestalten,          psychoaktiven Substanzen und potentiell
  zwischen kaltem Krieg und 1968. S. 340-372           dass die eigene körperliche, geistige und      abhängig machenden Verhaltensweisen ein-
  in: B. Griesecke/M. Krause/K. Sabisch (Hrsg.),       soziale Gesundheit, aber auch die Gesund-      bezieht» (2019: 33). Dabei muss die Gesetz-
  Kulturgeschichte des Menschenversuchs im             heit des Umfelds erhalten wird» (ebd.: 5).     gebung den Fokus auf die Konsumpraxis, die
  20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.          Entsprechend heisst es auch: «Der Begriff      Schadensminderung sowie die Gesundheits-
Zagrebelsky, G./Schmitt, C. (2017): Gegen die          der Konsumkompetenz ist den Leitlinien des     förderung legen statt auf die Abstinenz. Die
  Diktatur des Jetzt: Gründe für ein Gespräch          Public-Health-Ansatzes verpflichtet» (ebd.).   EKSF stellt in diesem Papier auch mögliche
  über Mittel und Zweck. Berlin: Matthes &         3
                                                       Als Weg zu einer pluralistischen Politik       Zukunftsszenarien zur Diskussion. Neben ei-
  Seitz.                                               der psychoaktiven Substanzen hat die           ner Cannabisrevision und einer Totalrevision,
                                                       Steuergruppe Herausforderung Sucht             wird die Aufhebung des BetmG in der heuti-
Endnoten                                               (Steuergruppe der drei Eidg. Kommissionen      gen Form vorgeschlagen. Wobei der Umgang
1
  Wir wollen damit nicht behaupten, dass               für Alkoholfragen, für Drogenfragen und        mit psychoaktiven Substanzen und abhängig
  im Public Health Bereich Interventionen              für Tabakprävention 2010) eine kohären-        machenden Verhaltensweisen im Rahmen
  grundsätzlich und immer nach utilitaristi-           te Suchtpolitik und die Orientierung am        von anderen schon bestehenden Gesetzen
  schen Gesichtspunkten begründet werden.              Schädlichkeitspotential gefordert. Die Eidg.   geregelt wird. Zusätzlich sollen geeignete
  Doch uns scheint, dass dieser Ansatz zu oft          Kommission für Drogenfragen forderte: «Um      Regulierungsmodelle geprüft werden.
  noch als «Alternativlos» behauptet wird.             gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden

                                                                          14
Lieferbare Nummern
Bestellungen                        2020                              2019                                  2018
abo@suchtmagazin.ch
Alle verfügbaren Ausgaben           1 Rituale                         1   Wohnen, Wohnungsnot, Sucht        1   Human Enhancement
finden Sie unter                    2 Frau und Sucht                  2   Digitalisierung                   2   Verhalten und Sucht
www.suchtmagazin.ch                 3 Phänomenolgie des Konsums       3   Arbeit am Sozialen                3   Vulnerable Jugendliche
                                                                      4   Genetik                           4   Lebenskompetenzen
                                                                      5   Sucht im Alter                    5   Chancengleichheit
                                                                      6   Schadensminderung, Sucht-         6   Rauchstopp, Digitalisierung,
                                                                          politik, Suchthilfe konkret           Prävention

                                    2017                              2016                                  2015

                                    1 Freizeit                        1   Rückfälle                         1 Kooperation
                                    2 Suchthilfe im deutsch-          2   Sterben und Tod                   2 Aufwachsen heute
                                      sprachigen Raum                 3   Gesundheitsförderung              3 Qualität
                                      (Doppelnummer 2&3/2017)         4   Internationale Suchtpolitik       4 Selbst- vs. Fremd-
                                    4 Alkohol                         5   Behandlung                          verantwortung
                                    5 Diversität                      6   Sport, Soziale Arbeit,            5 Suchthilfe und Polizei
                                    6 Konsum, Prävention,                 Motivational Interviewing,        6 Häusliche Gewalt, Wirksamkeit,
                                      Behandlung                          Alkoholabgabe                       Prävention

Impressum
Erscheinungsweise                   Abonnemente                       Redaktionsleitung                     Layout
6 Ausgaben pro Jahr, 46. Jahrgang   abo@suchtmagazin.ch               Marcel Krebs                          Roberto Da Pozzo
                                    www.suchtmagazin.ch

Druckauflage                        Jahresabonnement                  Redaktionskomitee                     Druck/Vertrieb
1000 Exemplare                      CHF/€ 90.–                        Toni Berthel, Rainer Frei, Stefanie   Werner Druck & Medien AG
                                                                      Knocks, Marianne König, Marc          4001 Basel
                                    Unterstützungsabonnement          Marthaler, Markus Meury, Corina
Kontakt                             CHF/€ 120.–                       Salis Gross
Redaktion, Marcel Krebs,                                                                                    Bankverbindung
Telefon +41 (0)62 957 20 91,        Kollektivabonnement                                                     Gesundheitsstiftung Radix,
info@suchtmagazin.ch,               (ab 5 Exemplaren)                Gestaltung                            Infodrog, CH-8006 Zürich,
www.suchtmagazin.ch                 CHF/€ 70.–                        Marcel Krebs, Toni Berthel, Silvia    PostFinance, Mingerstrasse 20,
                                                                      Gallego                               CH-3030 Bern
                                    Einzelnummer                                                            Kto-Nr. 85-364231-6
Herausgeber                         Print: CHF/€ 18.– (exkl. Porto)                                         IBAN CH9309000000853642316
Infodrog, Eigerplatz 5,             PDF: CHF/€ 15.–                   Rubrik «Fazit»                        BIC POFICHBEXXX
CH-3007 Bern                                                          Sucht Schweiz,                        Clearing: 09000
                                                                      fazit@suchtschweiz.ch
                                    Kündigungsfrist                   Sabine Dobler, Gerhard Gmel,
Inserate                            1 Monat, Kündigung jeweils        Markus Meury, Monique Port-           ISSN
www.suchtmagazin.ch/inserate        auf Ende Kalenderjahr             ner-Helfer, Stephanie Stucki          1422-2221
info@suchtmagazin.ch

                                                                      Lektorat
Inserateschluss Ausgabe 4/2020                                        Marianne König, Sandra Bärtschi
25. Juli 2020                                                         Gabriele Wolf
Kommende
Schwerpunkte
Nr. 4/2020 — Jugendliche
Inserateschluss: 25. Juli 2020
erscheint im August 2020

Nr. 5/2020 — Die Klientel der Suchtarbeit
Inserateschluss: 25. September 2020
erscheint im Oktober 2020

Nr. 6/2020 — Aktuelle Themen
Inserateschluss: 25. November 2020
erscheint im Dezember 2020

Redaktion & Inserate
info@suchtmagazin.ch
www.suchtmagazin.ch/inserate

Abonnemente
abo@suchtmagazin.ch

              www.suchtmagazin.ch
Sie können auch lesen