Im Scheitern aufhören können - Praktisch-theologische Impulse zum Umgang mit bedeutsamen Verlusten

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                                                   Thema Scheitern. Aufhören.
                                                                  Im Scheitern aufhören können

Im Scheitern aufhören können
Praktisch-theologische Impulse zum Umgang mit bedeutsamen Verlusten

Erfahrungen von Scheitern konfrontieren mit einer Ohnmachtssituation. Etwas existentiell Bedeut-
sames geht verloren, der Tod ragt ins Leben hinein. Wie kann Scheitern gewendet werden? Wo ist
eine Passage im toten Punkt des Scheiterns möglich, die neuen Lebensraum erschließt? Im Span-
nungsraum zwischen Aufhören und Anfangen zeigen sich theoretische und praktische Antworten.
Christian Kern

„Scheitern“ und „Aufhören“ haben etwas             ‚Kunst des Scheiterns‘ besteht darin, im
Gemeinsames. Sie beziehen sich auf einen           Scheitern aufhören zu können, um neu anzu­
Vorgang, in dem ein Handlungszusammenhang          fangen. Eine ‚Pastoral des Scheiterns‘ gestaltet
zu Ende geht. Der Unterschied zwischen ihnen       und ermöglicht diese Passage.
besteht in Aktivität und Passivität: Aufhören
bedeutet, etwas aktiv zu beenden, einer
Handlung selbständig ein Ende zu setzen, auf       SCHEITERN ALS PROZESS
der Grundlage einer Entscheidung. Scheitern
hingegen ist im Wesentlichen ein passives          Ob etwas als Scheitern erscheint, erlebt und
Widerfahrnis. Einem Akteur oder einer              bewertet wird, hängt vom soziokulturellen
Akteurin widerfährt ein Verlust, durch den be­     Referenzrahmen ab. Kulturelle Felder legen
deutsame Handlungs- oder Lebensziele dauer­        Ziele fest, die erstrebt und in raumzeitlichen
haft nicht erreichbar sind. Scheitern nötigt ein   Strukturen erreicht werden sollen, und eta­
Ende auf, ohne dass damit eine vorausgehen­        blieren Normen des Erfolgs. Beispiele dafür
de Entscheidung oder ein aktives Aufhören          sind die Schule mit ihren Lehrplänen und
verbunden ist. Es ist eine Ohnmachtserfahrung.     Klassenordnungen, der Sport mit Leistungs­
Aufgrund dieser Ohnmachtsdimension sind            zielen und Trainingsprogrammen, kirchliche
Widerfahrnisse des Scheiterns ein Thema für        Pastoralplanung mit Rahmenordnungen oder
Theologie und pastorale Praxis. Wie und wo         Familien und Partnerschaften mit gemeinsa­
lässt sich im toten Punkt des Scheiterns neues
Leben finden und die Ohnmachtssituation
wenden?
Die These, die ich in den folgenden Über­                                                  Christian Kern
legungen entfalten möchte, ist: Eine solche           geb. 1981, Dr. theol., Postdoc Fellow an der
Wende wird möglich, wo „Scheitern“ mit                Theologischen Fakultät der Universität Leuven,
                                                      Belgien; Promotion im September 2018 in Salz-
„Aufhören“ zusammengebracht wird, d. h. wo            burg; Titel der Dissertation: „Scheitern einräumen
im Verlust des Scheiterns ein aktives Ende ge­        – eine Theologie der Fallibilität“; Veröffentlichung
wagt und darin ein Anfang gesetzt wird. Eine          in Vorbereitung.

                                                       Lebendige Seelsorge 70. Jahrgang 2/2019 (S. 97 – 103)   97
Thema Scheitern. Aufhören.
               Im Scheitern aufhören können

men zeitlichen und räumlichen Rhythmen, der                      Sein Verlust fällt ins Gewicht. Im Unterschied
familiären Ökonomie und Suche nach                               zu Kennzeichnungen wie „Flop“ oder „Miss­
Lebensglück. Innerhalb solcher kultureller                       erfolg“ ruft „Scheitern“ diese Bedeu­    tungs­
Felder treten Akteure auf, werden in ihnen                       dimension und die Härte des mit ihm gegebe­
sichtbar und handeln. Sie unterliegen, we­                       nen Verlusts auf. Zur Härte und Dramatik des
nigstens in Teilen, den Bedingungen der                          Scheiterns gehört darüber hinaus seine
Felder, ihren Erfolgsnormen – ihrem Willen                       Endgültigkeit. Anders als in einer „Krise“ ist
zum Erfolg –, bringen aber auch eigene Werte                     das bedeutsame Gut nicht nur zeitweise ab­
und Zielvorstellungen von anderswoher mit.                       handen oder nur teilweise zugänglich, es geht
Kulturelle Felder spannen ein Netz aus Wissen                    vielmehr dauerhaft und unumkehrbar verlo­
und Praktiken aus, in dem menschliches Leben                     ren. Etwas kommt zu einem wirklichen, nicht
Gestalt gewinnt. Soziale Sichtbarkeit, Erkenn­                   erwarteten Ende.
barkeit und Anerkennung sind durch die                           Unsere heutige Verwendung des Wortes
Normen des Feldes bedingt und bestimmt (vgl.                     „Scheitern“ hat sich diesen Zug der Endgültig­
Butler).                                                         keit und Unwiederbringlichkeit von seiner
Scheitern tritt innerhalb solcher kultureller                    etymologischen Herkunft aus der Seefahrt be­
Felder und ihrer normativen Ordnungen des                        wahrt. Ein hölzernes Schiff, das beispielsweise
Erfolgs auf. Es wird darin sichtbar und erfahr­                  in einem Sturm „zu scheiter geht“, läuft nicht
bar, im Kontrast zu den Erfolgserwartungen                       einfach auf Grund und kann später wieder in
des Feldes und den Erfolgshoffnungen der                         Fahrt gebracht werden, sondern es zerbirst
Akteure: Eine erhoffte, erträumte, erstrebte                     und zerschellt. Es geht unwiederbringlich ver­
Lebensgestalt lässt sich nicht realisieren, die                  loren. In diesem Sinne bedeutet Scheitern ei­
damit verlorene Lebensperspektive erweist                        nen unumkehrbaren Verlust. Eine Lebens­
sich als unmöglich. Handlungstheoretisch be­                     gestalt löst sich auf, eine Lebens­perspektive
trachtet besteht Scheitern im „Verlust der                       stirbt und ist fort. Im Scheitern ragt der Tod
Zugriffsmöglichkeiten auf soziale Strukturen                     ins Leben hinein.
als Handlungsgrundlage“ (John/Langhof, 3).                       Diese Ohnmachtserfahrung hat Wirkungen.
Auf subjektiv-emotionaler Ebene stellt sich im                   Sie konfrontiert einerseits mit einer bedeutsa­
Scheitern die Erfahrung einer weitreichenden                     men Handlungsunfähigkeit, sie erzeugt ande­
Ohnmacht ein: Hände greifen ins Leere, etwas                     rerseits Handlungsdruck, und zwar auf Seiten
Bedeutsames zerrinnt zwischen den Fingern.                       der betroffenen Akteure sowie evtl. auf Seiten
Die sprachliche Verwendung von „Scheitern“                       des Feldes: „Und nun? Was kann jetzt, ange­
im Deutschen hat zwei Konnotationen, die für                     sichts dieses Verlusts und der Unverfügbarkeit
eine adäquate Verwendung des Wortes wichtig                      getan werden?“ Es beginnt eine Suche nach
sind. Die erste besteht in der Bedeutsamkeit,                    anderen Handlungs- und Lebenszusammen­
die mit der verlorenen Lebens- oder Hand­                        hängen. Es kommt gegebenenfalls zu einer
lungs­perspektive verbunden ist. Im Scheitern                    Umstellung innerhalb der Ordnung des Lebens.
geht nicht etwas Beiläufiges, Marginales ver­                    Sie führt über die Verlustsituation hinaus und
loren, sondern etwas, dem eine wirkliche, we­                    überschreitet den bisherigen soziokulturellen
sentliche Bedeutung zugeschrieben wurde.                         Rahmen inklusive seiner Erfolgsnormen.

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Scheitern ist ein Prozess                         Selbständigkeits- und Autonomieideals als
                                                  Kompetenz voraussetzt. Das Ideal und die
aus Position, Negation und                        Pflicht, jederzeit neu anfangen zu können
Transgression.                                    (vgl. Kant, 18-19), ist an eine Grenze geraten.
                                                  Die Wende im Scheitern wird nicht mit
Vor diesem Hintergrund lässt sich Scheitern       Notwendigkeit initiiert, sie erfolgt nicht mit
zusammenfassend als ein Prozess beschreiben,      dialektischer Gewissheit aus der Spannung
der drei Momente in sich enthält. Es tritt ers­   von Position und Negation. Ebenso wenig ent­
tens auf als Negation, als unumkehrbarer          springt sie der Originalität und Kraft von
Verlust einer bedeutsamen Lebensperspektive       Einzelnen. Sie hat vielmehr den Charakter ei­
und -gestalt. Diese Negation erscheint zwei­      ner Emergenz und Gabe. Konkret ergibt sie
tens innerhalb der Erfolgspositionen eines        sich an spezifischen Orten mit besonderer
kulturellen Referenzrahmens als klaffender        Qualität, und zwar dort, wo sich ein Raum des
Riss. Möglicherweise und gegebenenfalls wird      Anderen erschließt, der im Wechselspiel von
darin drittens eine Transgression möglich, ei­    subjektivem Innen und sozialem Außen über
ne Überschreitung des bisherigen Rahmens in       die Ohnmachtssituation hinausführt.
neue Lebenszusammenhänge hinein. Scheitern        Eine solche Wende im Scheitern lässt sich an
ist ein Prozess aus Position, Negation und        konkreten Orten beobachten, die in einem kri­
Transgression.                                    tischen Verhältnis zur normativen Erfolgs­
                                                  ordnung in einem Feld oder einer Gesellschaft
                                                  insgesamt stehen und soziokreativ sind, an
IM SCHEITERN ANFANGEN KÖNNEN                      Heterotopien. Konkrete Beispiele dafür sind:
                                                  Bahnhofsmissionen (vgl. Lutz u. a.), Einrich­
Die Ohnmacht im Scheitern erzeugt Hand­           tungen für Seelsorger oder Sozialarbeiter in
lungsdruck. Sie initiiert die Suche, wie eine     Krisensituationen wie z. B. das Recollectio-
Wende der Situation dennoch möglich wird.         Haus in Münsterschwarzach (vgl. Müller)
Diese Wende muss nicht aus der eigenen Kraft      ebenso wie Künstlerateliers oder Schreibtische
von Individuen erfolgen, sozusagen aus einer      von Dichtern (vgl. Enzensberger) oder Impro­
verbliebenen Rest-Souveränität heraus. Sie        theater (vgl. Johnstone, 97f). Es sind Orte, wo
kann dies auch nicht, wenn im Scheitern et­       Menschen sich mit Erfahrungen von Verlusten,
was wirklich Wesentliches und Weitreichen­des     Handlungsunfähigkeit,        Nicht-mehr-weiter-
verloren gegangen ist, sodass Handlungs­          wissen, Krisen konfrontieren und – implizit
alternativen nicht ad hoc in den Blick geraten.   oder explizit – Fragen nach Scheitern berüh­
Eventuell ist das Widerfahrnis des Scheiterns     ren.
auch derart an die persönliche Substanz ge­       Zu den Charakteristiken der Wende im
gangen, dass die Kräfte fehlen, es aus eigenem    Scheitern zählt erstens kritisches Wissen. An
Antrieb zu wenden (vgl. Ehrenberg). Es gibt in    den genannten Orten spiegeln sich die norma­
dieser Lage dann keine individuelle               len, gültigen Ordnungen des Lebens eines kul­
Souveränität mehr, wie sie die abendländische     turellen Feldes, einer Gesellschaft und deren
Moderne im Rahmen ihres aufgeklärten              implizite oder explizite Erfolgsnormen. Ex

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Thema Scheitern. Aufhören.
              Im Scheitern aufhören können

­negativo wird der herrschende kulturelle, sozi­                  IM SCHEITERN AUFHÖREN KÖNNEN
 ale Wille zum Erfolg eines Feldes sichtbar.
 Durch diese Aufklärung wird zugleich frag­                       Die passive Gabe, im Scheitern neu anfangen
 lich, ob dieser so selbstverständlich gültig ist,                zu können, steht in Verbindung mit einer
 wie es scheinen mag, oder ob Alternativen                        Aktivität: mit dem Alten aufhören können.
 denkbar sind. Die Infragestellung der normativen                 Der Aufbruch in eine neue Lebensgestalt wird
 Ordnung des Erfolgs öffnet Suchbewegungen                        nur möglich, wenn man das Alte gehen lassen
 für Anders-Mögliches.                                            kann. Das klingt banal und selbstverständlich,
                                                                  ist es aber im Widerfahrnis des Scheiterns
Der Aufbruch wird nur möglich,                                    nicht. Denn das, was im Scheitern verloren ge­
wenn man das Alte gehen lassen                                    gangen ist, behält weiterhin Macht über dieje­
                                                                  nigen, die von seinem Verlust betroffen sind.
kann.
                                                                  Es bindet an sich.
Eine zweite Charakteristik der Wende ist eine                     Ein erster Grund für diese Bindung besteht in
Aktivität des sharings. Menschen artikulieren                     der subjektiven Bedeutsamkeit des Verlorenen.
bisweilen ihre eigenen Grenzerfahrungen und                       Es handelt(e) sich dabei ja um etwas, dem von
konstitutiven Verluste. Es beginnt ein gemein­                    den Akteuren ein großer Wert zugemessen wur­
sames Betrachten, Bedenken, Besprechen oder                       de. Diesen Wert verliert es nicht, wenn es verlo­
Bebildern der bisherigen Situation. In diesem                     ren geht; im Gegenteil, im Verlust wird der Wert
sharing, das auch Ohnmachtserfahrungen nicht                      umso mehr spürbar als das, was fehlt. Das
ausspart, wird wie in einem Prisma Neues                          Verlorene drängt dazu, es nicht aufzugeben, es
sichtbar. Es erschließen sich Denk-, Glaubens-,                   hält in der Beziehung zu sich fest. Diese Macht
Gestaltungs- und Lebensvarianten, die bisher                      des Verlusts in der Gegenwart derer, denen der
außen vor lagen. Das sharing im Scheitern                         Verlust widerfahren ist, hat durch die subjekti­
initiiert eine Dynamik der Entdeckung, es er­                     ve Bedeutung auch eine soziale: Das erstrebte
schließt einen Raum, in dem sich andere                           Ziel gab den Akteuren eine Präsenz im Feld, mit
Lebensmöglichkeiten zeigen.                                       ihm waren Erkennbarkeit, Sichtbarkeit und
Das kritische Wissen und das sharing im                           Anerkennung verbunden. Weil Akteurinnen
Scheitern verbinden sich mit einer dritten                        und Akteure in einem Feld dieses soziale Da-
Charakteristik: dem Glauben an eine offene                        Sein aufrechterhalten wollen, kann das
Zukunft, dem belief, dass die aktuelle Situation                  Erstrebte, aber Verlorene nicht einfach aufge­
überschreitbar ist. An solchen Orten lässt sich                   geben werden. Es gewinnt in seiner Qualität als
nachzeichnen, wie sich eine Wende im Scheitern                    sozialer Ort und als Möglich­       keit sozialer
ergibt: in einem Raum des Anderen, der um                         Zugehörigkeit die Kraft, an sich zu binden.
die Kontingenz des herrschenden Erfolgs­                          Es ist deshalb alles andere als selbstverständ­
rahmens weiß, der vom Glauben an eine offe­                       lich und leicht, im Scheitern mit dem früheren
ne Zukunft beseelt und in konkreten Praktiken                     Erstreben eines Zieles bzw. einer Lebensgestalt
geteilten Lebens inklusive geteilter Ohn­                         einfach aufzuhören und das Verlorene aufzu­
machts­  erfahrungen aufgespannt ist. Darin                       geben. Im Gegenteil: der Verlust kann eine
wird die Wende im Scheitern möglich.                              umso intensivere (Ver-)Bindung erzeugen, je

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bedeutsamer das Verlorene war. Zur Ohn­             weitergehen. Gut, dieser Begriff Scheitern ist
machtssituation im Scheitern gehört es also         auch sehr massiv, ist auch sehr belastend für
nicht nur, der Macht des Verlusts, sondern          Menschen. Und manchmal trifft er gar nicht
auch der Macht einer ungelösten Verbindung          zu. Da kann man ihn auch ganz anders deu­
ausgesetzt zu sein. Sie führt dazu, nicht auf­      ten. Oder eben auch tatsächlich mit Scheitern
hören und deshalb auch nicht einfach neu an­        sich auseinandersetzen, wie gehe ich damit
fangen zu können.                                   um? Ist Scheitern jetzt das Ende oder kann es
In dieser Weise erzeugt Scheitern eine              auch zu einer Kraftquelle werden, zu einer
Spannungssituation, die etwas Verzweifeltes         neuen Lebensquelle, weil ich einfach etwas ins
hat, weil sie nicht einfach lösbar ist. Es führt    Auge fassen muss.“
in die Spannung aus Anfangen-müssen und             Was hier beschrieben wird, sind Bewegungen
Nicht-aufhören-können, aus Altem und                in einem Zwischenraum. Es wird einerseits ab­
Neuem, Vermögen und Unvermögen. Diese               geklärt, was es an Lebensentwürfen gibt, von
Pole sind miteinander wechselseitig ver­            denen einige eventuell weitergehen, andere
schränkt. Es gibt ein Neu-anfangen-müssen           aber an ein Ende gekommen sind. Wo hat sich
und zugleich Nicht-können, ein Altes-               ein Verlust ereignet, in dem etwas unwieder­
Aufhören-müssen und ebenfalls Nicht-                bringlich verloren ist und aufgegeben werden
können. Man kann nicht einfach neu anfan­           muss? Wo zeigt sich möglicherweise Neues?
gen, weil man dafür mit dem Alten aufhören          So geht es hin und her zwischen dem Abwägen
müsste, und mit dem Alten wiederum kann             des Alten und dem Erkunden des Neuen.
man nicht einfach aufhören, weil man dafür          Dieser Prozess drängt auf eine Entscheidung
mit etwas Neuem anfangen müsste, das zum            hin: die Entscheidung, mit etwas bedeutungs­
Aufgeben des Alten führte – und so weiter hin       vollem Altem aufzuhören – sich davon zu
und her. Die Erfahrung des Scheiterns führt in      trennen – und sich etwas Neuem zuzuwenden.
eine aporetische Situation. Sie provoziert ein
Ringen mit einem bedeutsamen Verlust, der           Die Passivität des Scheiterns wird
aufgegeben werden muss und zugleich nicht           zur Aktivität des Aufhörens.
aufgegeben werden kann. Es handelt sich in
diesem Ringen um einen mitunter verzweifel­         Wo diese Entscheidung gewagt wird, ereignet
ten Versuch, den Tod im Scheitern zu umschif­       sich eine Art Durchquerung, ein Durchgang
fen.                                                bzw. eine Passage. Die Wende zum Neuen be­
Die oben genannten Orte bearbeiten diese            deutet, das Alte gehen zu lassen. Darin findet
Spannung. Eine Mitarbeiterin im Recollectio-        ein Tausch statt: Im Aufgeben des Alten wird
Haus, Sylvia Platte, beschreibt diesen Vorgang      dessen Verlust angenommen. Aufgeben und
in einem Gespräch im Juni 2016: „Häufig […]         Aufnehmen durchdringen einander, ohne mit­
häufig auch oft das Gefühl, ich bin gescheitert.    einander vermischt zu werden. Jetzt erst wird
Wo man dann auch nochmal genau hinschau­            das Verlorene wirklich zum Verlust. Die
en kann. Was heißt das eigentlich und ist der       Lebensgestalt stirbt. Jetzt steht fest, „etwas ist
Mensch wirklich gescheitert? Vielleicht ir­         gescheitert“. Im Zulassen des Verlusts weicht
gendwelche Lebensentwürfe, die dann nicht           man dem toten Punkt nicht mehr aus, sondern

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Thema Scheitern. Aufhören.
              Im Scheitern aufhören können

geht durch ihn hindurch. Er wird jetzt nicht                      Eine Pastoral im Scheitern öffnet einen
mehr umschifft, sondern gewagt – ein                              Spannungsraum, in dem klärende Bewegun­gen
Zugrundegehen im Zulassen und Aufgeben.                           zwischen Aufhören und Anfangen stattfinden.
Im selben Moment ist dieses Annehmen des                          Was ist unwiederbringlich verloren und muss
Aufgebens-Müssens      eine    Wende:    Die                      aufgegeben werden? Wo ergibt sich etwas
Passivität des Scheiterns wird zur Aktivität                      Neues, spielt sich von außen zu und ermög­
des Aufhörens. Das Annehmen der Ohnmacht                          licht innen eine Überschreitung in neue
im Verlust wird zum Durchgangspunkt für ein                       Räume? In diesem Spannungsfeld können
eigenes Handeln. Es befreit von der Bindung                       Entscheidungen reifen, mit etwas Früherem
an das Alte und ermöglicht das Aufnehmen                          aufzuhören, darin einen aktiven Anfang zu
des Neuen. Der tote Punkt im Scheitern, der                       setzen und sich Neuem zuzuwenden.
Verlust einer bedeutsamen Lebensperspektive,                      Lebendige Seelsorge im Sinne einer Pastoral
wird im Aufhören zur Passage, in der ein                          im Scheitern findet dort statt, wo sich dieser
Anfang gesetzt wird und sich Leben eröffnet.                      Durchgang ereignet, d. h. wo sich im Tod des
                                                                  Scheiterns ein neuer Lebensraum erschließt,
                                                                  indem im Aufhören angefangen wird. Dafür
PASSAGEN IM SCHEITERN GESTALTEN                                   lassen sich konkrete Gestalten finden und ent­
                                                                  wickeln. Die oben erwähnten Orte zählen da­
Diese Grammatik der Wende im Scheitern, das                       zu, weil sich in ihren Sozialräumen und im
paradoxe Zusammenspiel des Anfangens im                           sharing des Scheiterns kritische und kreative
Aufhören, lässt sich in konkreten Praktiken                       Wenden im Umgang mit Scheitern ergeben.
finden und entwickeln. Seelsorgerinnen und                        Eine weitere mögliche Gestalt bilden ‚Rituale
Seelsorger kommen in ihrer Praxis mit                             des Scheiterns‘. Alle Sakramente und viele
Scheitern in Kontakt, in der Begegnung mit                        Sakramentalien haben in ihren Ritualen kon­
einzelnen      Menschen,      Gruppen     oder                    stitutiv immer Bezüge zu Ohnmacht und
Organisationen, implizit oder explizit, als                       Verlusten. „Scheitern“ steht dort im Raum, al­
Feststellung, Zuschreibung oder Frage: „ge­                       lerdings implizit und am Rand. Was sinnvoll
scheitert?!“. Für einen möglichen Umgang mit                      ist und entwickelt werden kann, sind Rituale,
Scheitern möchte ich vorschlagen, die beiden                      welche Scheitern explizit thematisieren und
Momente „anfangen“ und „aufhören“ glei­                           seine Macht/Ohnmacht bearbeiten. In ihnen
chermaßen als Orientierungspunkte zu ver­                         könnte die Wende von der Passivität des Verlusts
wenden.                                                           hin zur Aktivität des Aufhörens/Anfangens eine
Eine ‚Pastoral im Scheitern‘ kann Menschen                        konkrete Gestalt gewinnen und vollzogen wer­
dabei unterstützen, im Scheitern aufhören zu                      den. Eine Vielfalt von Lebenserfahrungen von
können, um darin anfangen zu können. Gefragt                      Menschen in der Welt von heute würde darin
ist dann nicht nur eine Wende hin zum Neuen,                      Resonanz finden: zerbrochene Beziehungen und
sondern ebenfalls, Tuch­fühlung aufzunehmen                       Partnerschaften, zerplatzte Träume, die Aufgabe
mit dem, was verloren ist, aufgegeben werden                      von Lebens­ formen, gescheiterte Arbeits- oder
müsste, aber (zunächst) in seinen Bann schlägt                    For­schungs­projekte, verlorene künstlerische, fa­
und festhält.                                                     miliäre oder unternehmerische Vorhaben.

102   Lebendige Seelsorge 2/2019   Im Scheitern aufhören können
Solche Rituale sind eine pastorale Leerstelle       Zur Kirche insgesamt gehört eine Glaubens­
und ein Desiderat. Gefragt sind Rituale, in de­     schwachheit (vgl. de Certeau), die derzeit noch
nen etwas Vergangenes aufgegeben, zu Grabe          von den Souveränitäts- und Erfolgs­
getragen werden kann und zugleich das Neue          bestrebungen der neuzeitlichen societas perfecta
begrüßt wird; „rites de passage“, in denen eine     und ihrer klerikalistischen Verfassung überla­
Durchquerung stattfindet, wo sich im toten          gert ist. Es ist nun aber, wo sich die schattigen
Punkt eines Scheiterns neuer Raum öffnet und        Risse dieser Kirchenform zeigen, an der Zeit,
ein Anfang gesetzt wird.                            die österliche Schwäche und Ge­      brochen­ heit
Eine solche Gestaltspiritualität im Scheitern       wiederzuentdecken. Rites de Passage geben ihr
ist österlich. Denn Ostern konfrontiert mit         eine Gestalt und bezeugen im Tod menschli­
Scheitern, zugleich öffnet sich dort ein solcher    chen Scheiterns den Gott des Lebens Jesu.
Spannungs- und Durchgangsraum, der zu ei­
nem Anfang im Aufhören des Scheiterns wird.
                                                    LITERATUR
Jesus erscheint zwar, aber das frühere Leben
mit ihm ist für die Jüngerinnen und Jünger          Butler, Judith, Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben, in: Dies.,
                                                    Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt
trotzdem nicht mehr möglich. Dorthin führt          a. M. [u. a.] 2010, 9-38.
kein Weg zurück, so bedeutsam es war. Im            Certeau, Michel de, GlaubensSchwachheit (ReligionsKulturen, 2),
Ostermorgen gibt es kein reset des Früheren.        Stuttgart 2009.
                                                    Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesell-
Ostern ist deshalb keine Geschichte eines ma­
                                                    schaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 22012.
kellosen Erfolgs, sondern von einer Erfahrung       Enzensberger, Hans Magnus, Meine Lieblings-Flops. Gefolgt von
des Scheiterns durchzogen und konstituiert.         einem Ideen-Magazin, Berlin 2011.
Zugleich aber ereignet sich in dieser Ohnmacht      John, René/Langhof Antonia, Die heimliche Prominenz des
                                                    Scheiterns, in: John, René/Langhof, Antonia (Hg.), Scheitern – ein
des unumkehrbaren Verlusts eine Wende. Das          Desiderat der Moderne? Wiesbaden 2014, 1-7.
Aufhören des früheren Lebens mit Jesus              Johnstone, Keith, Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und
(„Halte mich nicht fest!“) ist das Aufnehmen        Theatersport, Berlin 112018.
                                                    Kant, Immanuel, Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Ab-
des Neuen in der Praxis der Nachfolge. Ostern       sicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8., Neudr. hg. v. Preußische
ist eine Passage. Darin wird die Abwesenheit        Akademie der Wissenschaften, Berlin [u. a.] 1923, 15-32.
Jesu zugelassen, die Passivität seines Entzugs      Lutz, Bernd/Nikles, Bruno W./Sattler, Dorothea (Hg.), Der Bahn-
                                                    hof – Ort gelebter Kirche, Ostfildern 2013.
und das Scheitern, ihn festhalten zu können,
                                                    Müller, Wunibald (Hg.), Deine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
in die Aktivität des Anfangens im Aufhören          Impulse aus dem Recollectio-Haus Münsterschwarzach,
gewendet.                                           Münsterschwarzach 2016.

                                                   Lebendige Seelsorge 2/2019     Im Scheitern aufhören können        103
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