Pränatale Entwicklungsstörung mit bekannter Ursache

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Pränatale Entwicklungsstörung mit bekannter Ursache
1      Genetische Syndrome

Genetische Syndrome entstehen durch Veränderungen im Genmaterial. Dies kann im
chromosomalen Bereich als Verlust von genetischem Material (z.B. Monosomien), als das zu
häufige Auftreten des Materials (Trisomien), Translokationen von Chromosomenteilen,
Mutationen einzelner oder mehrerer Gene oder auch Mosaikmutationen auftreten. Im nicht-
chromosomalen Bereich sind die Mitochondrien betroffen. Andere Syndrome, wie z.B. das
Fragile-X-Syndrom, entstehen durch eine numerale Veränderung eines Aminosäurenpaares.
Dieses erscheint durch einen Enzymfehler so oft, dass das Chromosom an dieser Stelle
„fragil“ wird.

Die letztendliche Anzahl genetischer Syndrome ist noch nicht ermittelt. Unkontorvers ist,
dass auf jedem Chromosom eine Vielzahl Syndrome angesiedelt sein kann. Insofern sind nur
eine verschwindend geringe Minderheit aller Syndrome in ihren kognitiven Symptomprofilen
bekannt oder erforscht.
Genetische Syndrome treten in stark unterschiedlicher Häufigkeit auf. Eines der häufigsten
Syndrome ist das Down Syndrom, das durchschnittlich eines von 600 Lebendgeburten hat.
Andere Syndrome weisen eine Inzidenz von 1 : 50 000 oder noch weniger auf. Solche
Syndrome sind schon von ihrer bloßen Existenz her so selten, dass eine wissenschaftliche
Dokumentation in der Regel nicht über eine bloße Einzelfallbeschreibung hinauskommt. Über
den Zusammenschluss von Humangenetikern aus aller Welt, dem Human Genome Project
(und Folgeprojekt ENCODE) werden solche Fälle zusammengeführt, so dass weltweit die
Forschung zu diesen höchst seltenen Syndromen koordiniert werden kann.

Zu den relativ bekannten Syndromen gehören neben dem Down Syndrom z.B. das Williams-
Beuren-Syndrom, das Fragile-X-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, Angelman Syndrom,
Turner Syndrom, Noonan Syndrom oder Rett Syndrom. Die meisten der besser erforschten
Syndrome sind häufiger als 1:50 000 und waren durch ihre starke Symptomatik bereits vor
ihrer genetischen Identifikation als einheitliche Krankheit bekannt. So wurde das Williams-
Beuren-Syndrom in den 60er Jahren als kardiologische Krankheit definiert, die eine geistige
Behinderung provoziert (Beuren et al., 1962; Williams et al., 1961).

Die Sprachentwicklung ist bei den meisten genetischen Syndromen mitbetroffen, vor allem,

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wenn die Kognition allgemein durch das Syndrom betroffen ist. In aller Regel ist die Sprache
dann stärker als oder gleich stark betroffen wie die nicht-sprachlichen kognitiven Bereiche.
Down-Syndrom-Kinder        zeigen       typischerweise          ein     nicht-sprachliches           kognitives
Entwicklungsalter, welches ungefähr bei der Hälfte ihres chronologischen Alters liegt. Misst
man ihr Sprachalter, so halbiert sich das nicht-sprachliche kognitive Alter noch einmal
(Fowler, 1998). Das sprachliche Leitsymptom des Down-Syndroms ist die produktive Syntax
(Fowler, 1990). Die rezeptiven Leistungen der Down-Syndrom-Kinder sind wesentlich
besser, so dass innerhalb der Grammatik ein Profil entsteht, in dem zwischen der Produktion
und der Rezeption eine zu große Differenz entsteht. Das Problem des Encodings ist bei vielen
Syndromen ein wichtiger Faktor im sprachlichen Profil, wird jedoch abgesehen vom Down
Syndrom nicht so deutlich als Leitsymptomatik beschrieben.
Aus älteren Quellen geht hervor, dass eine Entwicklungsförderung ab dem 18. Lebensmonat
bei Down-Syndrom-Kindern das Zurückfallen im kognitiven und sprachlichen Bereich
auffangen kann (Guralnick 1998).

Die Kommunikationsfähigkeit ist bei vielen Kindern mit genetischen Syndromen gut (mit
Ausnahme der Kinder, die autistische Züge aufweisen). Geistig behinderte Kinder neigen
meist     eher   zur   Distanzlosigkeit       als     zu     Schüchternheit          und      sind      insofern
kommunikationsbereit. Jedoch ist die Informationsübermittlung sowohl im semantischen als
auch syntaktischen Bereich problematisch. Auch bei recht guten Sprachfähigkeiten wird die
Spontansprache von Jugendlichen als informationsleer und verkürzt beschrieben (Sarimski,
1997). Gerade die Qualität der semantischen Organisation ist ein in der Forschung stark
vernachlässigter Bereich. Hier stoßen Weltwissen und sprachliche Organisation aufeinander.
So ist es schwer, die Lebenswirklichkeit der Betroffenen nicht mit in Betracht zu beziehen.
Ein Beispiel dafür ist die Beobachtung von Rossen und Kollegen, die bei ihren Probanden mit
Williams-Beuren-Syndrom in sogenannten Fluency-Versuchen ein absonderliches Muster
finden.

2         Toxische Einwirkungen

Für alle toxischen Einwirkungen gilt, dass sie den Fötus in jedem Stadium der
Schwangerschaft mitbetreffen.

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2.1      Drogenbedingte Embryopathie (Gruppe der illegalen Drogen)
Pränatale Drogenbelastungen entstehen durch Drogenkonsum der Mutter während der
Schwangerschaft. Neben eigenem Entzug, den das Neugeborene nach der Geburt durchlaufen
muss, entstehen durch die Einwirkung der Drogen übergreifende Entwicklungs-, Emotions-,
und Verhaltens- und physikalische Störungen, deren Profil von Stärke und Art des Konsums
der Mutter abhängig ist. Die Gruppe der betroffenen Kinder ist groß, in den USA werden
Größenordnungen von bis zu 11% aller Neugeborenen diskutiert, pro Jahr werden demnach
mindestens 10-15 000 drogenbelastete Kinder geboren (Schoenbrodt & Smith 1995: 115).
Dabei scheinen die Schichtunterschiede weniger stark zu sein als gemeinhin vermutet. Laut
amerikanischen Statistiken liegt ein besonderes Risiko bei Frauen in Großstädten vor. Die
häufigste unter konsumierten Drogen ist Kokain (auch als CRACK).
Kokain     reduziert   die      Blutversorgung          des      Fötus,      damit      die     Nährstoff-       und
Sauerstoffversorgung. Ebenso wird damit der Abtransport von schädlichen Stoffen reduziert.
Im zentralen Nervensystem des Fötus werden Gefäße verengt, wodurch das Risiko für eine
Blutung steigt. Es liegt ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten vor (Olson & Burgess 1997).
Das Wachstum der Kinder ist prä- und postnatal verzögert und zeigt sich vor allem in der
frühen Kindheit symptomatisch.
Geistige Behinderungen durch eine drogenbedingte Embryopathie sind selten (Sparks 1993).
Die kognitive Problematik bezieht sich mehr auf den Bereich der Spielentwicklung, der bei
Vorschulkindern massiv verzögert erscheint, aber auch im Schulalter als wenig flexibler
Umgang mit unfamiliären Objekten persistiert. Besonders deutlich zeigen sich neuronale
Entwicklungsstörungen in den ersten beiden Lebensjahren (sichtbar ab dem 7. Lebensmonat).
Diese manifestieren sich in schnellem Zurückfallen in der kognitiven Entwicklung.
Babys mit pränataler Drogenbelastung zeigen ein erhöhtes Risiko für Saug- und
Schluckstörungen (dies gilt auch für leichtere Drogen oder Speed; hier wird ausschließlich die
Saugfähigkeit des Neugeborenen reduziert). Neugeborene mit Kokainbelastung schlafen
länger und mehr als andere Babys, so dass sie auch weniger Gelegenheiten zur
Nahrungsaufnahme erhalten. Die Zungenkontrolle ist instabil, es kann zu Tremorbildung in
der Zunge kommen (Tremor ist bei FAS-Kindern ein allgemeines Risiko).
Ein typisches Zeichen, an dem Kinder mit drogenbedingter Embryopathie direkt nach der
Geburt erkannt werden können (unabhängig davon, ob der Drogenkonsum der Mutter bekannt
war) ist das hohe, spitze Schreien. Es liegt die Vermutung vor, dass dies mit Defiziten des
auditiven Systems auf Hirnstammebene verknüpft sein könnte (Schoenbrodt & Smith 1995:
140). Im fortschreitenden Spracherwerb (bis 5 Jahre) wird das angesprochene Defizit mit

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rezeptiven phonologischen Störungen (Störungen der Diskrimination von Lauten) in
Zusammenhang gebracht. Insgesamt zeigen fünfjährige Kinder dieser Population häufig
Auffälligkeiten auf verschiedenen sprachlichen Ebenen mit stärkeren Störungsausprägungen
in der Produktion. Im lexikalischen Bereich sind sowohl Aufbau des Wortschatzes als auch
Zugriff auf das Lexikon betroffen. Olson und Burgess (1997: 117) sprechen von
„unorganisierter Sprache“, was auf eine Wortfindungsstörung hindeuten könnte. Auch die
semantische Struktur ist beeinträchtigt, teilweise dadurch bedingt, dass der einzelne
semantische Eintrag sehr grob und oberflächlich bleibt. Reorganisation von semantischen
Einträgen findet spontan nicht oder nur unzureichend statt.
In der Entwicklung der Syntax ist ein verminderter MLU zu beobachten.

Einen besonderen Status nehmen heroin-bedingte Embryopathien ein; diese Kinder stagnieren
häufig vor der Produktion des ersten Wortes, verbleiben im kanonischen Lallen; auch die
Gebärdensprache kann von ihnen nur sehr fragmentarisch umgesetzt werden.
Kinder, die pränatal Opium ausgesetzt wurden, zeigen ein generelles Entwicklungsdefizit,
welches direkt auf das Opium zurückgeführt wird.

Generell wird darauf hingewiesen, dass nicht alle betroffenen Kinder langzeitliche
Auswirkungen des mütterlichen Drogenkonsums aufweisen. D.h., bei einigen Kindern ist
nach dem Entzug nach der Geburt keine weitere Auffälligkeit feststellbar. Bisher ist unklar,
ob z.B. die Einnahme gemischter Drogen die Auswirkungen auf den Fötus verstärken.
Insofern wird auch für diese Gruppe auf die große Heterogenität innerhalb der Population
hingewiesen, wobei die Auswirkungen auf das jeweilige Kind nicht direkt aus dem Verhalten
der Mutter ablesbar sind. Für den Erfolg von Therapien ist das soziale Umfeld dieser Kinder
besonders zu berücksichtigen. Sollten sie noch bei ihrer genetischen Mutter leben, so könnte
ein Entzugsprozess den Alltag des Kindes stark beeinflussen oder auch ein persistierender
Drogenkonsum (auch bei leichteren Drogen). Kinder in Pflegefamilien werden mit gestörtem
Bindungsaufbau zu den Bezugspersonen konfrontiert. Insofern kann die Konzeption der
Therapie nur von der Lebenswirklichkeit des Einzelfalls aus geschehen.

2.2    Alkoholembryopathie (Fötales Alkoholsyndrom, FAS)

Die Häufigkeit von Kindern mit Alkoholembryopathie wird in den USA mit 1-6 in 1000

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Lebendgeburten angegeben. Für die leichtere Form (Kinder mit fötalen Alkoholeffekten, FAE)
wird eine wesentlich größere Dunkelziffer vermutet, diese Gruppe ist jedoch kaum erfassbar
(Schoenbrodt & Smith 1995: 115). Unklar ist, wie lange und in welchem Maß Alkohol
konsumiert werden muss, um nachweisliche Symptome beim Fötus zu hinterlassen (Olson &
Burgess 1997).
Alkohol reduziert die Proteinsynthese des Fötus, wodurch weniger Neurotransmitter
produziert werden. Darüber hinaus interferiert Alkohol mit Wachstum und Migration der
Neuronen sowie der Myelinisierung der Nervenbahnen. Durch eine häufig bestehende
Mikrozephalie wird eine verkleinerte Gehirngröße diskutiert. Alkohol kann Fehlbildungen
beim   Fötus     erzeugen      (prä-     und     postnatale       Wachstumsstörungen,              Dysmorphien,
neurobehaviorale Auffälligkeiten). Kinder mit FAS sind klein und dünn, können eine
Mikrozephalie mit verschiedenen facialen Dysmorphien (z.B. kurze Lidspalte, dünne Lippen,
flache(s) Mittelgesicht und Nasenwurzel) aufweisen, ebenso Anomalien an den Ohren (Olson
& Burgess 1997). Daraus resultierend werden häufig myofunktionelle Störungen beobachtet.
Im kognitiven Bereich führt eine Alkoholembryopathie in der Regel zu einer milden bis
mittelschweren geistigen Behinderung (Schoenbrodt & Schmitt 1995: 132, Olson & Burgess
1997: 114). Im Schulalter tritt (unabhängig von dem Vorliegen einer geistigen Behinderung)
ein Defizit im abstrakten Denken auf, was sich später in Schwierigkeiten bei abstrakten
Gedankengängen fortsetzt. Gedächtnisstörungen sind zudem häufig. Im Bereich der
Lernstörungen liegt der Schwerpunkt in der Regel auf der Dyskalkulie. In starken Fällen von
FAS sind diffuse Dysfunktionen des ZNS nachweisbar, die pro Kind unterschiedlich in
Erscheinung treten (Olson & Burgess 1997).
Im Bereich der Nahrungsaufnahme zeigen FAS-Kinder typischerweise nur wenig Interesse an
Nahrung an sich. Das Desinteresse an der Nahrungsaufnahme ist meist schon beim
Neugeborenen sichtbar und persistiert durch die gesamte Kindheit. Darüber hinaus kann es zu
Auffälligkeiten beim Saugen kommen, verbunden mit hypotoner orofacialer Muskulatur.
Häufig kommt es daher zu Verzögerungen bei der Umstellung auf feste Nahrung. Sie zeigen
häufig Zahnfehlstellungen.
Der Spracherwerb ist verzögert, sowohl die Produktion der ersten Wörter als auch die ersten
Wortkombinationen werden typischerweise verspätet erreicht. Vielen Kindern gelingt es
jedoch durch ihre guten sozialen Fähigkeiten und Sprachgewandtheit, die Stärke ihrer
Sprachstörung in den Hintergrund zu drängen, so dass keine oder zu späte Intervention
stattfindet. Aufgrund von Gedächtnisbeeinträchtigungen ist vor allem die produktive Sprache
auffällig, auch in Form von Aussprachestörungen mit stark phonetischem Charakter. Dieses

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Profil bleibt durch das Vorschul- und Grundschulalter bestehen. Im Schulalter neigen FAS-
Kinder zu überhäufigem Fragen als Kommunikationsstrategie. Die Kinder weisen ein
erhöhtes Risiko für Aufmerksamkeitsstörungen auf, was gekoppelt mit Hyperaktivität auftritt.
In schweren Fällen kann es zur Entwicklung von autistischen Zügen kommen.

2.3 Nikotinbedingte Embryopathie

Direkte Symptome sind bei diesen Kindern noch nicht ermittelt worden. Alle Korrelationen
zwischen Entwicklungsauffälligkeiten der Kinder und dem Rauchen der Mutter sind schwach.
Erste Evidenzen werden aufgeführt für fünfjährige Kinder, die pränatal Nikotin ausgesetzt
waren. Für diese Altersgruppe bestehen Diskussionen über kognitive und sprachliche
Auffälligkeiten, die in schlechterer Schulbildung dieser Kinder resultieren (Olson & Burgess
1997). Ein weiterer Problemkomplex, der sich als erhöhtes Risiko herausstellen könnte sind
Störungen in der Aufmerksamkeit (auch ADHS).
Die Entwicklung eines Symptomkatalogs für nikotinbedingte Embryopathien wird durch das
gemeinsame Auftreten mit illegalen Drogen und Alkohol behindert. Nikotin wird in solchen
Fällen als „Begleitdroge“ klassifiziert, als Folge können Symptome, die durch Nikotin
verursacht sein könnten, nicht darauf zurückgeführt werden.

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