Praxisnahe Entscheidungshilfen zur Einleitung einer Ernährungstherapie in der Neurogeriatrie

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Praxisnahe Entscheidungshilfen zur                                                                  NeuroGeriatrie 2012; 9 (4): 165 –170
                                                                                                    © Hippocampus Verlag 2012

Einleitung einer Ernährungstherapie
in der Neurogeriatrie
A.-K. zur Horst-Meyer1, J. Adolphsen1, C. Dohle1,2,3

Zusammenfassung
Die Mangelernährung ist, im Gegensatz zur omnipräsenten Volkskrankheit Adipositas, eher unbe-       1
                                                                                                     MEDIAN Klinik Berlin-Kladow;
kannt. Dabei kommt es, bedingt durch die Mangelernährung, in Kliniken, Rehabilitationseinrich-      2
                                                                                                      Centrum für Schlaganfallforschung
tungen und Pflegeheimen zu einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität mit einer damit        Berlin, Charité-Universitätsmedizin
verbundenen, verlängerten Hospitalisierung und Kostensteigerung. Ziel dieses Artikels ist es, die   Berlin;
Problematik der Mangelernährung bewusst zu machen. Damit verbindet sich die Aufforderung,           3
                                                                                                     Professur für Rehabilitations­wissen­
Risikopatienten mit einem schnellen Screening zu identifizieren und zeitnah eine Ernährungsthe-     schaften, Universität Potsdam
rapie einzuleiten, um Komplikationen und Kosten zu vermeiden. Die Durchführung einer fachge-
rechten Ernährungstherapie ist einfach zu erlernen.
Schlüsselwörter: Ernährungsstatus, Mangelernährung, NRS, Ernährungsstandard, Ernährungstherapie

Einleitung                                                  der Körpertemperatur. Mikronährstoffe sind erforderlich
                                                            für den Aufbau von Makromolekülen, als Kofaktor für
Eine ausgewogene Ernährung dient der Aufrechterhal-         essentielle Enzymreaktionen und haben eine antioxida-
tung physiologischer Funktionen und der Leistungs-          tive Wirkung. Unabhängig von den Nährstoffen benötigt
fähigkeit des menschlichen Organismus. Der daraus           der Organismus Wasser, um die Nährstoffe zu transpor-
resultierende Ernährungszustand ist Ausdruck der            tieren bzw. auszuscheiden und die Körpertemperatur zu
Gesundheit. Eine einfache Möglichkeit, den Ernährungs-      regulieren.
zustand darzustellen, ist der Body-Mass-Index (BMI)              Der tägliche Bedarf der Nahrungskomponenten wird
[21], der als Maßzahl für die Bewertung des Körperge-       von verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Akti-
wichts eines Menschen in Relation zu seiner Körpergröße     vität, Krankheiten und Ernährungszustand beeinflusst.
dient. Dabei beschreibt ein BMI zwischen 18,5 und 20 kg/    Bei Veränderung einer der genannten Faktoren ist es
m2 ein Untergewicht und ein BMI unter 18,5 kg/m2 ein        erforderlich, die Nahrung an den Bedarf anzupassen,
schweres Untergewicht. Für Senioren über 65 wird ein        um die Aufrechterhaltung physiologischer Faktoren und
Ziel-BMI zwischen 24 und 29 kg/m2 empfohlen [9]. Nach-      der Leistungsfähigkeit zu gewährleisten. Dieses gilt ins-
teilig ist, dass der BMI weder Statur, Geschlecht noch      besondere im Krankheitsfall, wo sehr schnell die Gefahr
die individuelle Zusammensetzung der Körpermasse aus        besteht, dass die Zufuhr an Nährstoffen den Bedarf
Fett- und Muskelgewebe eines Menschen berücksichtigt.       anhaltend unterschreitet und sich somit eine Fehlernäh-
Somit kann ein Mensch mit einem BMI von 35, der laut        rung im Sinne einer Mangelernährung entwickelt.
Definition eine Adipositas Grad 1–2 bedeutet [28], durch-        Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für
aus mangelernährt sein.                                     Ernährungsmedizin [19] versteht man unter Mangel­
     Voraussetzung für einen guten Ernährungsstatus ist     ernährung (»malnutrition«) einen krankheitsassoziier-
das bedarfsgerechte Angebot an Nährstoffen in einer aus-    ten Gewichtsverlust (»unintended weight loss wasting«)
reichenden Menge. Für den Bedarf wurden Referenzwer-        mit signifikantem Gewichtsverlust mit Zeichen einer
te ermittelt, die sich in der Regel an gesunden Personen    Krankheitsaktivität, einen Eiweißmangel (»protein defi-
orientieren. Zu den Nährstoffen gehören Makronährstof-      ciency«) mit Verringerung des Körpereiweißbestandes
fe (Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette) und Mikronährstoffe      sowie einen spezifischen Nährstoffmangel (»specific nut-
(Mineralstoffe, Elektrolyte, Spurenelemente, Vitamine).     ritional deficiency«) mit einem Defizit an essentiellen
Dabei dienen Eiweiße dem Aufbau von Hormonen, Enzy-         Nährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente,
men, Immun-, Blut- und Gerinnungssystem, dem Aufbau         Wasser, essentielle Fettsäuren).
und der Stabilität von Organen, Knochen und Geweben              Die Ursachen für eine Mangelernährung sind viel-
sowie als Transportproteine. Kohlenhydrate und Fette        fältig [17]. Im Krankheitsfall (Fieber, Infektion, Magen-
sind Energielieferanten für die Funktion der Organe, die    Darm-Erkrankung, Wunden, etc.) kann es zu einem
Stoffwechselvorgänge sowie für die Aufrechterhaltung        krankheitsbedingten, erhöhten Bedarf oder aber auch

                                                                                                              NeuroGeriatrie 4 · 2012 | 165
Übersicht                                                                                         A.-K. zur Horst-Meyer, J. Adolphsen, C. Dohle

Practical decision support for initiation of nutritional treatment in neuro-
geriatrics
                                                                                  rung. Eine besonders hohe Prävalenz fand Pirlich in der
A.-K. zur Horst-Meyer, J. Adolphsen, C. Dohle
                                                                                  Geriatrie (56,2 %) und Onkologie (38 %), gefolgt von der
Abstract                                                                          Gastroenterologie (32,2 %) und anderen internistischen
In contrast to the well-known widespread disease of obesity, the phenom-          Fachabteilungen (26,6 %). Erwartungsgemäß waren alte
enom of malnutrition receives less attention. However, malnutrition in            und multimorbide Patienten häufiger von einer Mangel­
hospitals, rehabilitation units and nursing facilities leads to significant       ernährung betroffen. Erkrankte mit einer Mangelernäh-
increase of morbidity and mortality with subsequent prolongation of hos-          rung wiesen in der Arbeit eine 43 %ige Verlängerung des
pitalisation and raising costs. The goal of the present article is to raise the   Krankenhausaufenthaltes auf.
awareness for the phenomenom of malnutrition. Patients at risk should be              Komplikationen fanden sich laut EurOOPS [24] bei
rapidly screened und quickly subjected to nutritional treatment in order to       Patienten mit einer nachgewiesenen Mangelernährung
avoid complications and decrease costs. Professional accomplishment of
                                                                                  in 30,6 %, bei Patienten ohne Mangelernährung in nur
nutritional treatment is rather easy to learn.
                                                                                  11,3 %. Mangelernährte waren dabei signifikant häufi-
Key words: nutritional status, malnutrition, NRS, nutritional standard, nutri-    ger von Gastroenteritiden, Hautinfektionen, Abszessen,
tional therapy                                                                    Pneumonien oder Septitiden betroffen.
NeuroGeriatrie 2012; 9 (4): 165 – 170                                                 Im Rahmen der Cepton-Studie [18] wurden die zusätz-
© Hippocampus Verlag 2012                                                         lichen Kosten durch die Mangelernährung untersucht.
                                                                                  Im Ergebnis fanden sich auf Deutschland bezogen 5
                                                                                  Mrd. Euro/Jahr zusätzliche Behandlungskosten infolge der
                     Verlust an Nährstoffen kommen. Außerdem verursa-             Mangelernährung bedingt durch einen längeren Kranken-
                     chen eine Vielzahl von Medikamenten als Wirkung oder         hausaufenthalt. Hinzu kamen 2,6 Mrd. Euro in der ambu-
                     Nebenwirkung z. B. Geschmacksveränderungen, Appe-            lanten Pflege und 1,3 Mrd. Euro für ambulante Behand-
                     titminderung, Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen           lungen. Bei unveränderter Fortführung des derzeitigen
                     oder Somnolenz. Erschwerend kann eine unzureichende          Ernährungsregimes wurde von der Cepton-Studie [18]
                     Nahrungszufuhr, z. B. bei bestehenden Schluckstörun-         eine Steigerung der Kosten von aktuell 8,9 (5+2,6+1,3) auf
                     gen, hinzukommen. Schließlich können einfache, all-          11 (5,9+3,8+1,3) Mrd. Euro für das Jahr 2020 vorausgesagt.
                     tagspraktische Probleme wie eine Unterbrechung der               Nicht zuletzt aufgrund der genannten klinischen
                     Mahlzeiten durch Visiten, Untersuchungen oder Thera-         Studien, in denen die Konsequenzen einer Mangelernäh-
                     pien, eine fehlende Identifizierung von Risikofaktoren,      rung ausdrücklich aufgezeigt wurden, rückt die Ernäh-
                     eine reduzierte Qualität oder Quantität der Nahrung, die     rungsmedizin zunehmend in das Bewusstsein des medi-
                     Erreichbarkeit des Essens, fehlende Hilfe beim Essen         zinischen Denkens und Handelns. Von der Politik wurde
                     und andere Faktoren zu einer Mangelernährung führen.         die Bedeutung der Mangelernährung im Hinblick auf
                         Die Folgen der Mangelernährung kann man am Ein-          die volkswirtschaftlichen und gesundheitspolitischen
                     drücklichsten am Eiweißmangel darstellen. Dieser führt       Effekte bereits 2003 erkannt, was zur Initiierung von
                     zu einer gestörten Eiweißsynthese und somit zu einem         berufspolitischen Vorgaben führte [7].
                     gestörten Gewebeaufbau, zu Wundheilungsstörungen und
                     zur Entwicklung von Dekubitalulzera. Außerdem kommt          Identifikation von Risikopatienten
                     es zum vermehrten Abbau von Muskel- und Funktionspro-
                     teinen. Der zusätzliche Verlust an Albumin und Enzymen       Zur Einschätzung des Risikos einer Mangelernährung
                     bedingt eine Schwächung des Immunsystems, eine erhöh-        und somit zur Identifikation von Risikopatienten hat sich
                     te Infektanfälligkeit und eine Neigung zu Ödemen.            das von Lochs et al. in der EPSEN-Studie (European Soci-
                         In verschiedenen Studien (EuroOOPS [24], Cepton          ety for Clinical Nutrition and Metabolism) [16] verwan-
                     [18]) konnte dargelegt werden, dass eine Mangeler-           delte »Nutritional Risk Screening (NRS)« [13] bewährt.
                     nährung zu einer erhöhten Komplikationsrate, einer               Dieser besteht aus einem Vorscreening und aus einem
                     verringerten Leistungsfähigkeit und somit zu einem län-      Hauptscreening, welches dann erfolgt, wenn eine der
                     geren Krankenhausaufenthalt mit steigender Morbidität        Fragen im Vorscreening mit »Ja« beantwortet wurde. Im
                     und Mortalität und somit insgesamt deutlich erhöhten         Vorscreening sollen anhand von vier Fragen potentielle
                     Gesundheits- und Pflegekosten führt.                         Risikopersonen identifiziert werden (Tabelle 1).
                                                                                      Beim Hauptscreening wird die Beeinträchtigung
                     Bedeutung der Mangelernährung                                des Ernährungszustandes mittels Gewichtsverlust oder
                                                                                  BMI mit Punkten von 1–3 bewertet. Zudem wird die
                     Europäische Studien fanden in multidisziplinären Abtei-      Krankheitsschwere bewertet. Kein Risiko liegt bei einer
                     lungen eine Mangelernährung bei 18 bis 42  % [1, 6, 12,      Gesamtpunktzahl von 0, ein erhöhtes Risiko bei einer
                     13, 19, 22, 24] der Patienten. Die häufig zitierte deut-     Gesamtpunktzahl von 1–2 und ein hohes Risiko bei einer
                     sche Studie zum Thema Mangelernährung von Pirlich            Gesamtpunktzahl von mehr als 3 Punkten vor (s. Tab. 2).
                     und Mitarbeitern [20] beschrieb bei 1.886 konsekutiv             Bereits bei Aufnahme in die Klinik muss eine Aussage
                     aufgenommenen Patienten in 13 Krankenhäusern in              über das Vorhandensein einer Mangelernährung getrof-
                     Deutschland den Ernährungszustand. Bei 27,4 % der            fen werden. Dies entpuppt sich gerade bei Schwerbe-
                     Untersuchten diagnostizierten sie eine Mangelernäh-          troffenen mit z. B. einer Aphasie oder kognitiven Beein-

166 | NeuroGeriatrie 4· 2012
Praxisnahe Entscheidungshilfen zur Einleitung einer Ernährungstherapie in der Neurogeriatrie                                                        Übersicht

trächtigungen ohne erreichbare Angehörige als sehr               Vorscreening
schwierig. Anamnestische Angaben über Gewichtsver-               n Ist der Body-Mass-Index < 20,5 kg/m2?                            ❏ Ja   ❏ nein
lust oder Essverhalten sind nicht möglich. Nur in Ein-           n Hat der Patient in den vergangenen drei Monaten
zelfällen gibt es diesbezüglich Informationen aus den               an Gewicht verloren?                                          ❏ Ja     ❏ nein
Epikrisen oder Pflegeüberleitungsbögen der Akuthäuser.           n War die Nahrungszufuhr in der vergangenen
                                                                    Woche vermindert?                                             ❏ Ja     ❏ nein
Trotzdem ist es erforderlich, ein schnelles, einfaches
                                                                 n Ist der Patient schwer erkrankt
Screening in Anlehnung an den NRS zu eta­blieren, um                (z.B. Intensivtherapie)?                                     ❏ Ja      ❏ nein
Risikopatienten für eine Mangelernährung zu identifi-
                                                                 → Wird eine dieser Fragen mit »Ja« beantwortet, wird mit dem Hauptscreening fortgefahren
zieren.
    In unserer Einrichtung hat sich hierfür folgendes            → Werden alle Fragen mit »Nein« beantwortet, wird der Patient wöchentlich neu gescreent
Vorgehen bewährt. Durch die Pflegekräfte werden bei              → Wenn für den Patienten z. B. eine große Operation geplant ist, sollte ein präventiver Ernäh-
                                                                   rungsplan verfolgt werden, um dem assoziierten Risiko vorzubeugen
Aufnahme ein standardisiertes Körpergewicht und die
Körpergröße erhoben. Standardisiert bedeutet dabei,              Tab. 1: Vorscreening Nutritional Risk Screening (NRS) [13]
dass z. B. Schwerbetroffene der Phase B am Morgen
im Nachthemd, ohne Windel im Lifter mit eingebauter
Waage gewogen werden. Bei Rollstuhlpatienten muss                Störung des Ernährungszustands         Punkte      Krankheitsschwere                  Punkte
angegeben werden, ob mit oder ohne Rollstuhl gewogen
                                                                 Keine			                                  0        Keine			                               0
wurde und dieses Gewicht entsprechend subtrahiert
werden. Mobile Patienten sollten in leichter Kleidung            Mild			                                 1          Mild			                                1
und ohne Schuhe gewogen werden. Risikopatienten                  Gewichtsverlust > 5 %/2 Mo. oder Nahrungs-         Z. B. Schenkelhalsfraktur, chronische Erkran-
                                                                 zufuhr < 50 –75 % des Bedarfes in der ver-         kungen besonders mit Komplikationen:
sollten in Folge 1x/Woche mit der gleichen Methode
                                                                 gangenen Woche                                     Leberzirrhose, chronisch obstruktive Lun-
standardisiert gewogen werden. Das Wiegeverfahren, die                                                              generkrankung, chronische Hämodialyse,
Waage, das Gewicht und die Körpergröße werden in der             Mäßig			                                2
                                                                                                                    Diabetes, Krebsleiden
                                                                 Gewichtsverlust > 5 %/2 Mo. oder BMI 18,5–
Patientenkurve und auf dem Stammblatt dokumentiert.
                                                                 20,5 kg/m2                                         Mäßig			                                 2
Ärztlicherseits wurde in die vegetative Anamnese bei             und reduzierter Allgemeinzustand (AZ)              Z.B. große Bauchchirurgie, Schlaganfall,
Aufnahme die Frage nach dem Gewichtsverlust von > 5 %            oder Nahrungszufuhr 25 – 50 % des Bedarfs          schwere Pneumonie, hämatologische
in den letzten 3/2/1 Monaten und die Ermittlung des BMI          in der vergangenen Woche                           Krebserkrankung
fest etabliert. Die Krankheitsschwere ergibt sich aus der        Schwer			                               3          Schwer			                                3
die Aufnahme in eine geriatrische Klinik begründenden            Gewichtsverlust > 5 %/1 Mo. (>15 %/3 Mo.)          Z.B. Kopfverletzung, Knochenmarkstrans-
Diagnose. Ergänzend erfolgt im Routinelabor die Bestim-          oder BMI  10)
                                                                 in der vergangenen Woche
    Patienten mit einem erhöhten oder gar hohen Risiko
für eine Mangelernährung können so bereits am Auf-
nahmetag identifiziert und einer entsprechenden Ernäh-                                           + 1 Punkt, wenn Alter ≥ 70 Jahre
rungstherapie zugeführt werden. Patienten ohne Risiko
einer Mangelernährung werden nach Bedarf kontrolliert.           ≥ 3 Punkte		              Ernährungsrisiko liegt vor, Erstellung eines Ernährungsplans
Im Verlauf der Rehabilitation ist es unabdingbar, den            < 3 Punkte		              wöchentlich wiederholtes Screening. Wenn für den Patienten z. B. eine
Erfolg einer eingeleiteten Ernährungstherapie wöchent-           		                        große Operation geplant ist, sollte ein präventiver Ernährungsplan
                                                                 		                        verfolgt werden, um das assoziierte Risiko zu vermeiden
lich zu kontrollieren und gegebenenfalls anzupassen.
                                                                Tab. 2: Hauptscreening Nutritional Risk Screening (NRS) [13]
Einleitung einer Ernährungstherapie

Mit den ESPEN- [3, 15, 16, 25, 26] den DGEM- und den AKE-        festgelegt und kontinuierlich optimiert. Dies muss durch
Leitlinien [4, 14, 23, 27] wurden klare Angaben für die Ein-     regelmäßige Schulungen für die verschiedenen Berufs-
leitung einer enteralen/parenteralen Ernährungstherapie          gruppen flankiert werden.
für Intensivmediziner, Chirurgen, Onkologen, Gastroen-               Das so geschulte Personal definiert, wenn möglich
terologen und Geriater entwickelt. Für die neurologischen        mit dem Patienten und dessen Angehörigen, nach
Krankheitsbilder finden sich in den AWMF-Leitlinien [2]          dem oben beschriebenen und erhobenen Screening
Angaben für die enterale Ernährung von Schlaganfallpati-         und Assesment gemeinsame Ernährungsziele, erstellt
enten, die sich derzeit in Überarbeitung befinden. Hervor-       einen Therapieplan, leitet entsprechende Maßnahmen
gehoben wurden hier das Dysphagie-Screening und die              ein und kontrolliert den Erfolg. Bei den Zielen kann
Erfassung von Ernährungsdefiziten.                               es sich entweder um eine Gewichtsstabilisierung, um
    Optimal für die Durchführung einer Ernährungs-               eine Gewichtszunahme, oder auch um eine gewünschte
therapie ist die Etablierung eines Ernährungsteams.              Gewichtsreduktion ohne Induktion einer Mangelernäh-
Dieses sollte aus Ärzten, Pflegepersonal, Logopäden und          rung handeln.
Mitarbeitern der Küchen bestehen. Im Team werden, ent-               Nachdem bei einem Risikopatienten die Entschei-
sprechend den aktuellen Leitlinien, Richtlinien für die          dung für eine gezielte Ernährung gefallen ist, muss ent-
Durchführung des Ernährungsmanagements im Haus                   schieden werden, wie diese zu verabreichen ist. Optimal

                                                                                                                                  NeuroGeriatrie 4 · 2012 | 167
Übersicht                                                                                                         A.-K. zur Horst-Meyer, J. Adolphsen, C. Dohle

 Gesunde                                                         0,8 g x kg Körpergewicht [8]     Der Aktivitätsfaktor wird nach MDS [5] bzw. Physical
                                                                                                  Level nach DACH [8] wie folgt angegeben:
 Ältere (> 60 Jahre)                                             0,9 – 1,1 g/kg KG pro Tag [13]
                                                                                                  a. Vollständig immobil, ausschließlich sitzende/liegen-
 chron. Niereninsuffizienz                                       0,6 – 0,8 g/kg KG pro Tag           de Lebensweise: 1,2
 leichte Infektionen, kleinere Operation                         1,1 – 1,2 g/kg KG pro Tag        b. Leichte Aktivität, sitzende Tätigkeit, wenig/keine Frei-
 Niereninsuffizienz, Hämodialyse                                 1,2 – 1,4 g/kg KG pro Tag           zeitaktivität: 1,4 – 1,5
                                                                                                  c. Mittlere Aktivität, sitzende, zeitweilige gehende/ste-
 tiefere Wunden (z. B. Dekubitus Grad III), größere Operati-     1,5 g/kg KG pro Tag
 onen, schwere Verletzungen                                                                          hende Aktivität: 1,6 – 1,75
                                                                                                  d. Überwiegend gehende/stehende Aktivität: 1,8 – 1,9
 sehr große, tiefe Wunden (z. B. Dekubitus Grad IV), Rehabili-   bis zu 2,0 g/kg KG/Tag
 tation nach Unterernährung                                                                       e. Schwere Aktivität, körperlich anstrengende, berufli-
                                                                                                     che Arbeit: 2,0 – 2,4
Tab. 3: Täglicher Proteinbedarf in Abhängigkeit vom Körpergewicht und Gesundheitszu-
stand
                                                                                                  Beim Stressfaktor finden sich nachfolgende Multiplikato-
                       ist eine hochkalorische Normalkost oder Trinknahrung,                      ren nach AKE [9]:
                       die oral verabreicht werden kann. Ist die orale Aufnahme                   a. Fraktur großer Knochen: 1,15 – 1,3
                       nicht möglich oder nicht ausreichend, sollte zeitnah über                  b. Verbrennungen: 1,2 – 2,0
                       eine enterale Ernährung per naso-gastraler Sonde oder                      c. Schwere Infektionen: 1,1 – 1,3
                       (bei Ernährung über einen nicht absehbaren, längeren                       d. Onkologische Erkrankungen: 1,1 – 1,3
                       Zeitraum), per PEG/PEJ entschieden werden. Wenn es                         e. Peritonitis/Sepsis: 1,1 – 1,3
                       auch hierunter zu keiner ausreichenden Energiezufuhr
                       kommt, sollte passager eine zusätzliche parenterale Nah-                   Tabellarische Richtwerte für den Gesamtenergiebedarf
                       rung erwogen werden.                                                       kann man auch der einschlägigen Literatur entnehmen
                            Für jeden enteral/parenteral Ernährten wird ein                       [5, 8, 10, 28].
                       Ernährungsplan erstellt. Er beinhaltet neben basalen                           Der tägliche Proteinbedarf (angegeben in g/kg KG
                       demographischen Daten Angaben zur aktuellen Größe,                         pro Tag) richtet sich nach dem Körpergewicht und dem
                       zum Gewicht und zum BMI. Zudem erfolgen im Ankreuz-                        Gesundheitszustand (s. Tab. 3).
                       verfahren Angaben über den Ernährungszustand, die                              Die täglich benötigte Zufuhr von Wasser liegt bei
                       Mobilität, die aktuelle Verdauung, die Stoffwechselsitu-                   19–50-Jährigen zwischen 30 und 35 ml/kg KG [28]. Bei
                       ation und Wundverhältnisse.                                                den über 65-Jährigen liegt die täglich benötigte Gesamt-
                            In einem zweiten Schritt werden der zum Erhalt des                    Flüssigkeitsmenge bei 1,5 Liter für die ersten 20 kg KG
                       derzeitigen Gesundheitszustandes erforderliche Energie-                    [9]. Hinzu kommen 15 ml für jedes weitere kg KG. Bei
                       bedarf, der Eiweißbedarf sowie der Gesamtflüssigkeits-                     oral Ernährten stammt etwa 1/3 der Gesamtflüssigkeit
                       bedarf pro Tag berechnet. Grundlage der Berechnung                         aus der festen Nahrung und 2/3 aus Getränken. Im Falle
                       ist für alle drei Maße das angestrebte Körpergewicht                       einer enteralen Sondenernährung liegt der Wasseranteil
                       (Sollgewicht).                                                             der Sondennahrung bei 75 – 85 ml/100 ml und kann der
                            Der Gesamtenergiebedarf (in kcal/d) setzt sich zusam-                 Beschreibung des jeweils verwendeten Produktes ent-
                       men aus dem Grundumsatz (Energiebedarf in Ruhe)                            nommen werden. Ein erhöhter Bedarf an Wasser besteht
                       und dem Aktivitäts-/Stressfaktor, der dem zusätzlichen                     bei vermehrten Flüssigkeitsverlusten wie z. B. Infektionen,
                       Energieverbrauch für körperliche Aktivität/Krankheit                       Erbrechen, Durchfall, Schwitzen u. v. m. Ebenso muss bei
                       entspricht. Bei Abweichungen vom Normalgewicht, im                         bestimmten Krankheiten (z. B. Niereninsuffizienz ohne
                       Sinne einer Mangelernährung, ist eine Korrektur nach                       Dialyse, Herzinsuffizienz) an eine Reduktion der Flüssig-
                       oben um 10 – 20 % erforderlich.                                            keitsmenge gedacht werden.
                            Für die Berechnung des Grundumsatzes gibt es ver-                         Mit den genannten Grundlagen erfolgt zur Verdeutli-
                       schiedene Formeln und Vorgehensweisen.                                     chung beispielhaft die Erstellung eines Ernährungspla-
                       1. Schätzformel nach AKE 2004 [9]:                                         nes (s. Tab. 4).
                           a. Bis 64 Jahre – 25 kcal/kg KG/d
                           b. Ab 65 Jahre – 20 kcal/kg KG/d                                       Nahrungsaufbau
                       2. Berechnung nach der WHO für Patienten > 60 Jahre [28]:
                           a. Männer: (0,0491 x Körpergewicht (kg) + 2,46) x 239                  Beim Essen gelangen normalerweise kleine Portionen
                              (in kcal/Tag)                                                       durch die Speiseröhre in den Magen, wo eine erste enzy-
                           b. Frauen: (0,0377 x Körpergewicht (kg) + 2,75) x 239                  matische Aufbereitung erfolgt, um den Nahrungsbrei in
                              (in kcal/Tag)                                                       den Dünndarm zur weiteren Aufbereitung und Resorpti-
                       3. Berechnung nach Harris/Benedict (AKE/DGEM) [11]:                        on weiterzuleiten. Dieser Vorgang wird beim Gesunden
                           a. Männer: 66, 5 + 5,00 x Körpergröße (cm) + 13,8 x                    durch den Geruch der Nahrung und das bewusste Essen
                              Gewicht – 6,8 x Alter (in kcal/Tag)                                 aktiviert und entsprechende Sekrete bereitgestellt. Das
                           b. Frauen: 666,1 + 1,85 x Körpergröße (cm) + 9,6 x                     entfällt bei der Sondennahrung, die zudem auch nur
                              Gewicht – 4,7 x Alter (in kcal/Tag)                                 aus einer Konsistenz besteht. Aus diesem Grund sollte
                                                                                                  der Nahrungsaufbau mit einer Sondennahrung langsam

168 | NeuroGeriatrie 4· 2012
Praxisnahe Entscheidungshilfen zur Einleitung einer Ernährungstherapie in der Neurogeriatrie                                                    Übersicht

erfolgen. Der Körper muss sich erst an            Name:                         Geburtstag:           Diagnose:                Datum:
die neue Nahrung gewöhnen. Hinzu                  Mager, Mangel                 10.10.1939            A. cerebri media Infarkt 30.09.2012
kommt, dass das Verdauungssystem                                                                      rechts am 09.09.2012
bei verschiedenen Erkrankungen eine               Größe:                        Gewicht:              BMI:                     Sollgewicht:
verminderte Resorptionsleistung auf-              172 cm                        55 kg                 18,6 kg/m2               60 kg
weist und somit die Nahrung nur in                Ernährungszustand:            Mobilität:            Verdauung:               Stoffwechsel:      Dekubitus:
kleinsten Mengen bei kontinuierlicher             normal                        normal                normal                   normal             nein
Zufuhr vertragen wird.                            untergewichtig                eingeschränkt         eingeschränkt            pathologisch
                                                  übergewichtig                 bettlägerig
     Empfehlenswert ist ein Nahrungs-
aufbau nach Anlage einer PEG über                 Energiebedarf:                Eiweißbedarf:         Flüssigkeitsbedarf:
eine Pumpe bei z B. der oben genann-              1.729+10%=2.025kcal           58–86  g/Tag          2.025 ml/Tag
                                                  (1.729 kcal für 55 kg +10 % (1–1,5 g/Tag)
ten Musterpatientin Frau Mager Man-               Gewichtszunahme)
gel, wie in Tabelle 5 dargestellt. Die
                                                  Ernährungstherapie
nächsthöhere Geschwindigkeit der
Nahrung kann appliziert werden,
                                                  Orale Aufnahme:               Ernährungssonde:      Sondenlage:
wenn die Nahrung 24 Stunden vertra-
                                                  nicht möglich                 transnasal            gastral
gen wurde.                                        möglich                       perkutan              duodenal
     Prinzipiell ist auch die Gabe der            Energie ca. … kcal/d          Sondenstärke 15 CH    jejunal
Sondennahrung und des Wassers per                 Flüssigkeit ca. … ml/d        Hersteller xyz        Erstanlage: 20.09.2012
Schwerkraft möglich. Dabei sollte die             Sondennahrung:                Menge in ml/d:        Zusätzliche
Geschwindigkeit am Überleitungs-                  XYZ                           2.000 ml              Flüssigkeit:
system reguliert werden. Die Fluss-                                             (in 2.000 ml Nahrung 345 ml (einschließlich
geschwindigkeit ist auf diese Art und                                           XYZ sind 2.000 kcal,  Wasser für die Medika-
                                                                                76 g Eiweiß und       mentengabe und zum
Weise nur bedingt regulierbar und                                               1.680 ml Wasser)      Spülen der Sonde)
sollte nur für kleine Nahrungsmengen
                                                  Anordnung:                    Applikation Nahrung:  Applikation Wasser:
verwendet werden.
                                                                                Bolus                 Bolus
     Eine weitere Variante ist die Gabe                                         Kontinuierlich mit    Kontinuierlich mit
per Bolus. Hierbei werden portions-                                             100 ml/h              250 ml/h
weise Mengen an Nahrung verab-
                                                 Tab. 4: Beispiel: Ernährungsplan
reicht. Es besteht dabei die Gefahr,
eine zu große Menge an Nahrung zu
schnell zu applizieren. Als Folgen treten Völlegefühl,                   Erfolgskontrolle
Übelkeit, Erbrechen und Durchfälle auf. Ebenso gibt es
hygienische Bedenken, da die Kontaminationsgefahr                        Entscheidend ist es, das Ergebnis einer Ernährungsthera-
u. a. durch die Spritze höher ist als bei einer konti-                   pie mindestens 1x/Woche zu kontrollieren. Hiefür emp-
nuierlichen Applikation. Lediglich bei Patienten mit                     fiehlt sich (z. B. auf der Rückseite des Ernährungsplanes)
völlig funktionstüchtigem Verdauungstrakt kann die                       die in Tabelle 6 aufgeführten Parameter z. B. im Rahmen
Bolusgabe vorteilhaft sein, weil sie mehr den gewohn-                    der Visite zu dokumentieren.
ten Essgewohnheiten entspricht. Prinzipiell sollte eine                      Bei einer längerfristigen Ernährungstherapie können
Applikation auch per Bolusgabe immer mit Schwerkraft                     mit Hilfe der Dokumentation erforderliche Anpassungen
erfolgen, damit eine zu schnelle Gabe verhindert wird. Es                an den aktuellen Ernährungsstatus durchgeführt wer-
sollte mit kleinen Mengen (20 – 50 ml in 20 min) begon-                  den.
nen werden und dann, entsprechend der Verträglichkeit,
gesteigert werden. Die maximale Bolusgabe sollte 250 ml                  Zusammenfassung
in 20 min nicht übersteigen. Anschließend sollte eine
Pause von 1,5 Stunden eingehalten werden [10].                           Voraussetzung für eine sinnvolle Ernährungstherapie
                                                                         ist das Erkennen einer Mangelernährung. Pirlich et al.
                                                                         [20] zeigten in ihrer Untersuchung, dass bei etwa einem
                                                                         Viertel der Patienten in der Klinik eine Mangelernährung
 Tag            Nahrung (ml) ml/h Wasser (ml) ml/h Infusion (ml)
                                                                         vorliegt. Risikogruppen für eine Mangelernährung sind
 0, Beginn                             500       50        500           vor allem ältere und multimorbide Patienten sowie Pati-
 nach Ansage
                                                                         enten mit Tumorleiden und gastrointerstinalen Erkran-
 1–2                500       25      1.000    250         250           kungen. Mangelernährung führt zu einer eine erhöhten
 3–4               1.000      50      1.000    250           0           Komplikationsrate und Mortalität. Daher sollte das allge-
 5–6               1.500      75       740     250           0           meine Bewusstsein für eine Mangelernährung geschärft
                                                                         werden. Insbesondere sollten Ernährungsteams gebildet
 >7                2.000     100       345     250           0
                                                                         werden, die die bestmögliche Ernährung in den geriatri-
Tab. 5: Beispiel: Nahrungsaufbau nach PEG-Anlage                         schen Einrichtungen managen.

                                                                                                                                  NeuroGeriatrie 4 · 2012 | 169
Übersicht                                                                                                     A.-K. zur Horst-Meyer, J. Adolphsen, C. Dohle

 Datum         Gewicht         BMI          Mobilität         Dekubitus       Stuhlgang     Verträglichkeit   SONDE           Ernährungs-     Unterschrift
                               1-unter      1-normal          0               0-normal      0-gut             0-keine         therapie
                               0-normal     2-eingeschränkt   1               1-fest        1-Übelkeit        1-Auffällig-    0-keine
                               2-über       3-bettlägerig     2               2-breiig      2-Völlegefühl     keiten          1-Änderung
                                                              3               3-flüssig     3-Blähungen
 07.10.12     56kg             0–2          2                 0              0              0                 0               0               xyz

Tab. 6: Erfolgskontrolle der Ernährungstherapie

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170 | NeuroGeriatrie 4· 2012
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