Premierenstau - Reformierte Stadtkirche
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Premierenstau Die für die vergangene lückenhaft ausgefallene Spielzeit vorbereiteten Produk- tionen und die in der neuen, beginnenden Saison angesetzten purzeln derzeit im regelrechten Premierenstau übereinander. Mehrfach finden diese derzeit gleichzeitig und parallel an den beiden großen Spielhäusern Wiens statt. Am vergangenen Donnerstag, dem 9. September waren das Grillparzers Medea in der Josefstadt und Shakespeares Richard II. am Burgtheater. So lässt sich dann die eine oder die andere Aufführung erst nach überstandenem Premie- renfieber kennenlernen. Das Theater in der Josefstadt hat sich ein Drama nach dem uralten Mythos der Medea vorgenommen, das in den letzten Jahren mehrfach an den verschiedenen Häusern und von verschiedensten Autoren und Regisseuren aufgelegt wurde, hier und heute in der Vorlage von Franz Grillparzer und un- ter der Regie von Elmar Goerden. Mit dem letzten Stück seiner Trilogie „Das goldene Vlies“ von 1819-21 konzentriert sich Grillparzer auf das katastrophale Ende der „Liebesgeschichte“ von Jason und Medea, das in seiner mythologi- schen Typisierung eine geeignete Folie abgibt für die Ehekrisen seiner streng bürgerlichen und patriarchalen Zeit. Die ihm folgenden Ehedramen von Henrik Ibsen und August Strindberg erfreuen sich gleichfalls vieler Neuinszenierungen. Der Blick durch die alte Brille auf die Gegenwart ist das Thema jeder aktuellen Darstellung. Elmar Goerden chargiert durch die Zeiten im Spiel mit wechselnden Kos- tümen (Lydia Kirchleitner) von zeitloser dörflicher Bekleidung, die an Balkan oder Kaukasus erinnert, über gediegen neuzeitliches Gewand bis hin zur Frei- zeitkluft eines Karibikurlaubs. Vor der von Silvia Merlo und Ulf Stengl spär- lich gehaltenen Kulisse – zeitweilig eine bloße Falltür im leeren dunkle Raum oder mal die Andeutung eines Sommerstrand und nicht zu vergessen die fatale Dusche in unterschiedlicher Funktion und Symbolik – ist genug Raum für die Auseinandersetzungen zwischen dem Ehepaar und mit den angeflehten Gön- nern. Gegensätze ziehen sich an, während die Fremdheit des Herkommens auseinandertreibt. Die Schuldgemeinschaft schweißt das Paares zusammen und spaltet, wo das Asyl für den einen gewährt und der anderen verweigert wird. Jasons Schwäche, der sich nicht einmal die Krawatte binden kann, ent- puppt sich als übelster Charakter, der Medeas Liebe missbraucht und verraten hat. Höhepunkt der Perfidie ist das teuflische Angebot, die Kinder auswählen zu lassen, wer zum Vater und wer zur Mutter will. Dieser „Sorgerechtsstreit“, der auch heute wiederholt zu tödlichen Konsequenzen führt, wird in der Szene durch dramatischen Musikeinsatz (Toneinrichtung Michael Huemer) und Zeit- lupentempo markant und grauenhaft hervorgehoben. Sandra Cervik gibt der Aufführung und dem Abend den prägenden und berührenden, erschütternden Eindruck. Die Suche nach der verlorenen Liebe und einst erfolgreichen Kampfgemeinschaft, die Unterwerfung unter das unge- rechte Urteil im Streit um die Kinder, die Finten gegen den jovial und ambiva- lent agierenden König Kreon und seine hinterhältige Tochter Kreusa und schließlich der Bruch und der Sturz in den Vernichtungsfeldzug werden von ihr mit allen Facetten ausgespielt. Gekrönt von einem publikumswirksamen femi- nistischen Monolog aus Textpassagen der Medea-Verarbeitungen von Ursula Haas und Christa Wolf. Akzentuiert im provokativem Einsatz des Kopftuchs. Joseph Lorenz überzeugt als nicht überzeugender Heimkehrer und Thronan- wärter, der alles und zuallererst seine Frau für seine Zukunft verrät. Wolfgang
Hübsch verliert sich ein wenig zwischen der Rolle als sicher taktierender Real- politiker und zynischer Spieler mit dem Schicksal der Abhängigen. Die beiden anderen Frauenrollen: Katharina Klar als verspieltes Königstöchterchen das bunte Vögelchen, das geopfert wird, und Michael König als bunt behängte Amme Gora. Unprätentiös gespielt, wie jede andere ältere Schauspielerin hätte spielen können. Ein Regieeinfall, der wohl als Beitrag zu Gender-, Diversitäts- und Blackfacing-Debatte auf der Bühne gelten könnte. Joseph Lorenz (Jason), Katharina Klar (Kreusa), Michael König (Gora), Sandra Cervik (Medea) Sandra Cervik (Medea) Fotos © Astrid Knie Mit dem Bild des deutungsschwangeren Himmel, der nach Farb- und Formenspielen als drohende Gewitterwolke einbricht und Bauklötzchen auszu- spucken scheint, wird dem tödlichen Ende des Dramas ein absurder Schluss aufgepfropft. Von Zettelchen eingeleitet, die unerkennbare Botschaften an die vier Hauptfiguren aus dem Himmel geworfen haben, schlägt die Szene in eine idyllische Kindergeburtstagsrunde um - alle gesund und munter einschließlich des einst an den Rollstuhl gebundenen Kindes. Der „Vorhang fällt“ und das Licht geht aus mit dem gemeinschaftlichen Ausblasen der Kerzen auf dem Ge- burtstagstörtchen. Ein verzichtbarer Obolus an die Political Correctness, die sich längst schon an Kindermärchen vergreift und das übliche gewaltsame En- de des Bösen hilflos übertüncht. Das brauchte es bei Grillparzer nicht. Das schlägt der Kunst vor den Kopf, die ausspielen darf und muss, was wir uns an- gesichts unerträglicher Schreckensnachrichten von Familiendramen nicht vor- stellen möchten. Der kräftige Applaus gilt den Schauspielerinnen und Schauspielern.
Parallel gab es am Burgtheater die Premiere des Richard II. von Wil- liam Shakespeare, die schon einmal probeweise in Bregenz unter starker Einschränkung der Publikumszahl voraufgeführt und im Stream angeboten wurde. Ein außergewöhnliches Shakespearedrama, das den letzten Thronwech- sel vor dem Ausbruch der Rosenkriege thematisiert. Die Absetzung eines Kö- nigs. Damit hat Shakespeare zur Zeit der Königin Elisabeth, die die Königin Maria Stuart enthaupten lässt, sehr viel riskiert, noch dazu opponierende Lords mit einer Sondervorstellung des Stücks offensichtlich provozieren wollten. Doch die Historisierung verhinderte ernste Folgen. Die Frage, inwieweit Amt und Amtshandlungen an die Person gebunden sind und was aus dem Amts- und Treueeid wird, reicht bis in die Gegenwart. Hatten sich bereits die frühen Christen im Donatisten- und Ketzertaufstreit damit auseinandergesetzt, leistet sich die Römische Kirche derzeit das Problem eines Papstes in selbstgewählter Pension und eines zweiten amtierenden. Derweil werden demokratische Ver- fassungen mehrfach durch gewählte „Führer“ ausgehöhlt, die diese Macht dau- erhaft an ihre eigene Person binden und die Amtsübergabe verweigern wollen. Lukas Haas (Percy), Johannes Zirner (Northumberland), Sarah Viktoria Frick (Heinrich Boling- broke), Martin Schwab (Johann von Gaunt), Stacyian Jackson (Königin Isabel), Jan Bülow (Kö- nig Richard II.), Bardo Böhlefeld (Aumerle), Sabine Haupt (Herzogin von York) ©Lukas Beck Die aktuelle politische Brisanz wird von Regisseur Johan Simons durch- aus aufgezeigt. Die Passagen um Lug und Trug deutlich hervorgehoben. Gleich zum Auftakt stehen Lüge gegen Lüge. Doch der König mag nicht entscheiden und löst mit der Verbannung beider Kläger weiteres Unheil aus. Hofschranzen und Familienverwicklungen im Königshaus befeuern den Unfrieden. Ausplünde- rung des Volkes und sogar der adligen Verwandtschaft für einen Irlandfeldzug schaffen viel böses Blut. Die unerlaubte Rückkehr des verbannten Heinrich Bo- lingbroke, während Richard noch mit dem Irlandkrieg beschäftigt ist, kommt defacto einer Machtübernahme gleich. Er gewinnt das Volk und der überwie-
gende Teil des Hofes läuft zu ihm über. Die anschließende Absetzung Richards – als „freiwilliger“ Akt –, seine Inhaftierung und seine Ermordung durch einen Übereifrigen bringen Bolingbroke als Heinrich IV an die Macht. Allein das Stre- ben und der Wille zur Macht geben ihm, so lässt Shakespeare sagen, recht. Wie überhaupt sich die Gewalt durch ihren Erfolg selbst rechtfertigt. Doch Lo- yalität wird zum wohlfeilen Gut und lässt den Siegreichen vereinsamt zurück: „Hab ich nicht einen Freund, der mich von dieser Furcht befreit?“ Johan Simons ist als experimentier- freudiger Regisseur bekannt, der ein- zelne Stücke wiederholt, aber ganz unterschiedlich auflegt. Hier betont er den Spielbühnencharakter. Das En- semble verlässt die Bühne nicht und wartet im Hintergrund aufgereiht und neu eingekleidet auf den jeweiligen Auftritt. Die zeitweiligen Grunz- und Schmatzgeräusche sowie die Grimas- sen zur Veranschaulichung von ver- borgenen Emotionen sind aber allzu nah am Kasperletheater. Dagegen geht die Anlehnung an Shakespeares pointenreiches Straßentheater zur Volksbelustigung in wenigen auffla- ckernden Kalauern beinahe unter. Einzig Martin Schwab darf mit einem Monolog brillieren, eine Kaskade von Wortspielen lautmalerisch um seinen Namen Gaunt. Die weibliche Beset- zung der Rolle des Usurpators Boling- broke mit Sarah Viktoria Frick noch dazu abwechselnd in Kleid oder Hosen Lukas Haas, Sarah Viktoria Frick angezogen ist die Infragestellung von © Marcella Ruiz Cruz geschlechtsbezogenen Rollenklischees und gibt der Frick ausreichend Gelegenheit, ihr komödiantisches Talent auszu- spielen. Demgegenüber darf Jan Bülow einen unsicheren und unkontrolliert hektisch agierenden Richard geben, der ebenfalls sinnfällig gekleidet zeitweilig in einem zu kurzen und schief hängenden Anzug auftritt als wäre er eben erst aus seinem Knabengewand herausgewachsen. Neben der Kostümwahl (Greta Goiris) zeichnet das Gestänge, das wechselnd neu aufgestellt und umgekippt wird die Fragilität der Szenerie und des Geschehens nach (Bühne Johannes Schütz), wobei der weite, offene Raum sich als akustisches Prob- lem entwickelt. Zur Premiere ohne Micropops haben die Kritiken die Hör- barkeit bemängelt. Doch die in der Folgevorstellung eingesetzten Kopfmikro- phone haben durch Klangirritationen und Störgeräusche den Effekt der gut ge- spielten Zwischentöne beeinträchtigt. Verdienter Applaus für eine interessante Aufführung. Johannes Langhoff
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