KINO WELT WIEN - KINO KULTUR HAUS 03/2020 - Filmarchiv Austria
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03/2020 S ULTUR HAU KINO K NEUE AUSSTELLUNG KINO WELT WIEN KINO IM KINO | WOLFRAM PAULUS | CINEMA LIVE!
INHALT AUSSTELLUNG KINO WELT WIEN | 5.3.2020–10.1.2021 04 CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT | 19.3.–26.3. 14 RETROSPEKTIVEN KINO IM KINO | 6.3.–1.4. 22 WOLFRAM PAULUS | 18.3.–29.3. 40 FILM | UNIVERSITÄT ISRAELI LGBTQI CINEMA | 17.3.–31.3. 50 REIHEN CINEMASESSIONS | 6.3.–8.3. 54 KINDER KINO KLASSIKER | 7.3.–29.3. 60 LIVING COLLECTION | 9.3. 62 SECOND LIFE | 10.3.–31.3. 64 JÜDISCHER FILMCLUB WIEN | 11.3. 66 WILD FRIDAY NIGHT | 20.3. 68 SPECIALS CHRISTIAN FROSCH | 9.3. 70 DER DRITTE MANN | 10.3. 72 DAS LANGE WOCHENENDE DER MUSIKFILME | 21.3.–22.3. 74 WALTER KLIER | THOMAS ZWIEFELHOFER | 26.3. 78 KINO ALPIN: REINHOLD MESSNER LIVE! | 30.3. 80 RICHARD NEUTRA | 1.4. 82 FESTIVAL TRICKY WOMEN | 12.3.–15.3. 84 SATYR FILMWELT 88 CLUB 91 SPIELPLAN 92
EDITORIAL K ino Welt Wien – die neue Ausstellung im METRO Kino kulturhaus begibt sich auf kulturgeschichtliche Spuren suche und durchwandert die städtische Kinolandschaft, deren Erscheinungsbild in vielfältiger Weise den Wandel der Gesell schaft reflektiert. Es sind Traumorte, in der sozialen Topo grafie der Bezirke verankert, so verschieden und individuell wie ihre BesucherInnen, deren persönliche Erinnerungen auch in der Ausstellung Platz finden sollen. Ein nicht alltäg liches Kinoerlebnis bietet Cinema Live! mit interaktiven Vorführungen von frühen Filmen aus unserer Sammlung, mit einem historischen Projektor auf die Leinwand gekurbelt. Die erste Begleitretrospektive zur Ausstellung unternimmt indes einen Streifzug quer durch Filmgeschichten, in denen das Kino im Kino eine tragende Rolle spielt. Ein Protagonist des Neuen Österreichischen Films ist Wolfram Paulus, der das heimische Kino der 1980er-Jahre definitiv mitgeprägt hat und dessen HELDENZEITREISE im Rahmen der ihm gewidmeten Schau erstmals in Wien gezeigt wird. Ganz besonders freuen wir uns, wieder in regelmäßigen Abständen im Klangraum des historischen Saals die CinemaSessions zu präsentieren, Stummfilmraritäten live vertont von KünstlerInnen der Wiener Elektronik- und Experimentalmusikszene. Das lange Wochenende der Musikfilme lässt mit Aretha Franklin, den Stones oder Udo Lindenberg den Saal erneut vibrieren. Einen Höhepunkt liefert schließlich auch Reinhold Messner, der anhand von raren historischen Filmdokumenten hinter den Mythos Mount Everest blicken lässt und mit STILL ALIVE – DRAMA AM MT. KENYA seine erste Regiearbeit vorstellt. Ernst Kieninger und das Filmarchiv-Team 3
E LT U RG ESCHICHT E EINE KU HER TRAUMORT DTISC STÄ AUSSTELLUNG VOM 5. MÄRZ 2020 BIS 10. JÄNNER 2021 D as Grundprinzip des Kinos: ein Projektor wirft bewegte Bilder auf die Leinwand und fesselt den Blick der ZuschauerInnen. Für die Dauer des Films sind sie im Kino und doch in einem anderen Raum – der Wirklichkeit, der Fantasie, der Emotion, der Manipulation? Die neue Ausstellung im METRO Kinokulturhaus erzählt die Ge schichte eines magischen Raumes, den Menschen betraten, um ihn verändert zu verlassen. Das Kino eröffnet einen grenzenlosen Raum aus Wünschen, Hoffnungen und Träumen, den jede Generation und jede Stadt auf ihre Weise gestaltet. Zur Eröffnung der von Martina Zerovnik kuratierten Ausstellung findet eine Filmvorführung mit einem historischen Kinoprojektor statt. »Kino Welt Wien« wird auch in den Wiener Bezirks museen und ausgewählten Kinos präsentiert. 4
KINO WELT WIEN | AUSSTELLUNG VOM LADENKINO ZUM MEGAPLEX: EIN SPAZIERGANG DURCH DIE WIENER KINOLANDSCHAFT MARTINA ZEROVNIK D er Kinematograf eroberte nach seiner ersten Präsentation 1896 ganz Wien. Die Leopoldstadt mit dem Prater wies neben der Inneren Stadt die meisten Spiel stätten auf. Neubau entwickelte sich durch Kinos, Film- und Verleihfirmen zum Zent rum der Branche. Auch die Landstraße war kinoreich. Unter den äußeren Bezirken verfügten Ottakring, Meidling, Rudolfsheim-Fünfhaus und Favoriten – mehrheitlich »Arbeiterbezirke« – über besonders viele Kinos. Die Kinos prägten mit ihren leuch tenden Fassaden das Weichbild der Stadt und reflektierten die Träume der Menschen – bis in den 1950er-Jahren das Fernsehen Einzug in die Wohnzimmer hielt. Nach Höchstzahlen von über 200 hatte Wien 1980 nur noch knapp 70 Kinos. Heute sind es gut 30. © Manfred Burger © ORF 6
© Harald Kragora Von der Schaubude und dem Ladenkino zum eleganten Lichtspieltheater, vom Programmkino zum Megaplex zeugt das Kino ebenso von sozialem und technischem Wandel wie von städtischer Kulturpolitik. Als kultureller und sozialer Ballungsraum verhandelt es maßgebliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und im Hintergrund ringen Sensation, Bildung, Kapital, Kunst und Politik um die Gunst des Publikums. Die Ausstellung lädt die BesucherInnen auf zwei Ebenen dazu ein, durch die vergan gene und die heutige Wiener Kinolandschaft zu flanieren und in wesentliche Etappen der Kinogeschichte einzutauchen. Zu sehen sind eine Vielzahl an Grafik-, Foto- und Filmdokumenten sowie Relikte aus Wiener Kinos. Eine zentrale Sammlung bilden Be richte des Publikums. Auch die BesucherInnen der Ausstellung haben die Möglichkeit, Erinnerungen an ihre Kinoerlebnisse zu hinterlassen. AUSSTELLUNGSTEAM Gesamtleitung Ernst Kieninger Bildredaktion/Fotosammlung Kuratorin Martina Zerovnik Aldijana Bećirović Grafik und Gestaltung Christina Zettl, Thomas Öffentlichkeitsarbeit Larissa Bainschab Untersweg, Katharina Hohenwarter, Michael Aufbau Michael Hafner, Daniel Oberthaler Hafner, Julian Lanca Gil (BUERO41A) Ausstellungsmedien Jakob Hütter, Thomas Organisation Anna Högner, Planitzer, Reinhard Pölzl, Michael Guggenbichler, Ernst Kieninger, Martina Zerovnik Johannes Krumböck (Hand mit Auge) Ausstellungsassistenz Möbelsponsor ARPER Timotheus Ueberall 7
KINO DER ERINNERUNGEN SUCHAUFRUF »I m Kino gewesen – geweint«, notierte Franz Kafka 1921 in sein Tagebuch. Was haben Sie im Kino erlebt? Was war oder ist »Ihr« Wiener Kino? Welcher Kinobesuch wird für Sie immer unvergesslich bleiben? Das Filmarchiv Austria sammelt Ihre Kinoerinnerungen – als Notizen, Objekte, Fotos oder Videos. In der Ausstellung »Kino Welt Wien« sowie in den Wiener Bezirksmuseen und ausgewählten Kinos finden Sie dazu Sammelkarten mit Kurzporträts wichtiger Betriebe damals und heute. Hinterlassen Sie Ihre Erinnerungen handschriftlich, per E-Mail oder kontaktieren Sie uns direkt. Wir freuen uns auf Ihre persönliche Kinogeschichte! Sie erreichen uns unter kinoerinnerungen@filmarchiv.at | 0800 220 242 www.filmarchiv.at/kinoerinnerungen 8
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»KINO WELT WIEN« IN DEN BEZIRKSMUSEEN UND WIENER KINOS D ie Ausstellung »Kino Welt Wien« thematisiert auch die Funktion der Kinos als öffentliche Orte, als kulturelle Nahversorger in allen Bezirken der Stadt. Als Referenz an diese einst flächendeckende urbane Infrastruktur ruft das Filmarchiv Austria die lokale Kinogeschichte Wiens in den Bezirksmuseen und in ausgewählten Kinobetrieben wieder in Erinnerung. Dort werden die wichtigsten historischen und aktuellen Kinoorte der jeweiligen Bezirke in Form von Sammelkarten zum Mitnehmen präsentiert. Mit einem aktuellen Ticket eines Partnerkinos erhalten Sie einen vergünstigen Besuch in der Ausstellung »Kino Welt Wien« im METRO Kinokulturhaus. 10
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KINO WELT WIEN | AUSSTELLUNG KULTURVERMITTLUNG IN DER »KINO WELT WIEN« Das Filmarchiv Austria bietet ein abwechslungsreiches Vermittlungsprogramm für Schulen, Gruppen und IndividualbesucherInnen. Alle unsere Angebote können mit dem Kombiticket auch mit einem Kinobesuch verknüpft werden und sind für Gruppen zum Wunschtermin buchbar. Für Anfragen kontaktieren Sie uns unter kulturvermittlung@filmarchiv.at. Für alle Führungen und Workshops gilt eine beschränkte TeilnehmerInnenzahl. Anmeldung erbeten unter reservierung@filmarchiv.at. Weitere Informationen auf www.filmarchiv.at/education. SO 8.3., 15:30 KURATORINNENFÜHRUNG Kuratorin Martina Zerovnik begleitet Sie auf einem vertiefenden Rundgang durch die Geschichte und Topografie der Kinostadt Wien. MO 9.3., 18:00 | MO 16.3., 18:00 ÜBERBLICKSFÜHRUNG In unserer Überblicksführung durchwandern Sie historische und aktuelle Kinogrätzel, erkunden den Apparat Kino und die wechselvolle Wiener Kinogeschichte. SA 21.3., 15:00 KINDERFÜHRUNG UND WORKSHOP Passt ein Film in eine Hosentasche? Und wie funktioniert eigentlich ein Kino? An einem Samstag im Monat sind Kinder zwischen 6 und 13 Jahren eingeladen, das METRO Kino kulturhaus und die Kinogeschichte Wiens zu entdecken. Wir sehen, wie das Kino war, ist und vielleicht einmal sein wird, was es braucht, um einen Film vorzuführen und basteln ein Daumenkino! Dauer: jeweils 50 min | Kosten: 6,– 12
KINO WELT WIEN | AUSSTELLUNG DO 5.3., 19:00 ERÖFFNUNG DER AUSSTELLUNG »KINO WELT WIEN« Eröffnung mit begleitenden Worten von Erika Pluhar, Ernst Kieninger und Martina Zerovnik sowie historischem Kurzfilmprogramm, vorgeführt mit einem originalen Handkurbelprojektor Als die Brüder Lumière 1896 Ringstraße, Kärntner Straße und die Kutschen im Prater filmen – die ersten erhaltenen Aufnahmen von Wien überhaupt – bricht eine neue Ära an. Bunte ANSICHTEN VON SPANIEN AUF POSTKARTEN (F 1907) werden aus ihrem zweidimensionalen Schlaf geholt, LEBENDE BLUMEN (F 1906) beginnen zu tanzen, DIE DREI PHASEN DES MONDES (F 1905) offenbaren jene der Liebe – es sind Lauf bilder von berauschender Farbpracht, trickreiche Geschichten voller Anspielungen und Wendungen, die das Kino in seinen Anfängen bevölkern. Mit dem Imperator, einem Projektor des Dresdner Herstellers Heinrich Ernemann aus dem Jahr 1909, werden diese und weitere Kleinode aus der Sammlung des Filmarchiv Austria in einer hautnah erlebbaren Vorführung auf die Leinwand gebracht – weit über hundert Jahre nach ihrem Entstehen. Eine interaktive Zeitreise zu den Anfängen des Kinos bieten die folgenden Programme von Cinema Live! Frühes Kino handgekurbelt. 13
ENTRÉE DU CINÉMATOGRAPHE Á VIENNE 14
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT INTERAKTIVE FILMVORFÜHRUNGEN VOM 19. BIS 26. MÄRZ 2020 A ufgestellt im Verborgenen, feuersicher abgeschottet, mit Panikschaltern aus gerüstet, ist er auch heute noch das Herz jedes Kinos: der Filmprojektor. Seine Entwicklung hat vom stummen Schwarz-Weiß-Film über die Pracht der Viragen und Kolorierungen zum lippensynchronen Tonfilm geführt, den Naturfarbenfilm etabliert und mit Cinemascope, 3D und Digitalisation immer wieder die Simulation der Wirklichkeit perfektioniert. In Cinema Live! wird die Maschinerie zum Akteur: Aufgestellt im Zuschauerraum, werden mit einem historischen Kinoprojektor aus dem Jahr 1909, originalem Bogenlicht und glühenden Widerständen vier Pro gramme des frühen Kinos in ihrer authentischen Grandeur gezeigt. Historische Technik wird dabei sinnlich vermittelt. Die Filmvorführungen mit historischem Handkurbelprojektor finden mit Einführung und Anleitung von Nikolaus Wostry und Anna Dobringer statt. 15
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT VOM REIZ DES FEUERS NIKOLAUS WOSTRY 1909 brachte die Heinrich Erne mann AG in Dresden mit dem Imperator einen neuen Filmprojek tor heraus, der – ganz in der Idiomatik des Imperialismus – antrat, den Welt markt zu erobern. Fast ein Vierteljahr hundert lang wurde er gebaut und setzte mit einem äußerst ökonomischen Film lauf, einem in Öl eingekapselten Malte serkreuz und seinen Feuerschutzeinrich tungen neue Standards. In Wien gehörte er zu den verbreitetsten Projektoren und wurde nach 1930, nun ausgestattet mit Tongeräten, noch bis in die 1960er-Jahre eingesetzt. Im Rahmen dieser »Kinowerkstatt« wird dem Publikum die Möglichkeit geboten, anhand von aufgeschnittenen Funktions modellen die wichtigsten Bauteile des Imperators zu verstehen, aber auch Filme selbst einzulegen, das Zünden und Ein brennen der Kohlebogenlampe zu beob achten und einiges mehr. Jedem der vier 16
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT Programme ist einer der Wiener Lumière-Filme aus dem Jahr 1896 vorgespannt, bei dem die Blende des Projektors auf das authentische optische System des Cinématogra phe umgestellt wird, um dessen herausragende Qualität, aber auch dessen typisches Flimmern zu demonstrieren und im Anschluss daran die vorbildliche Lösung des Impe rators mit seiner zentrisch-symmetrischen Dreisektorenblende zu veranschaulichen. Das Programm des Kinos der Frühzeit war – dem heutigen Bilderkonsum nicht un ähnlich – auf unmittelbare optische Reize ausgelegt. Mit einer geschickt kontrastie renden Abfolge von Kurz- und Kürzestfilmen entfesselte es ein Feuerwerk an Attrak tionen. In Naturbildern wie in EINE FAHRT DURCH WIEN wurde die Kamera etwa auf Straßenbahnen montiert, oder gar auf ein Floß, um die BLITZFAHRTEN AUF DEM OZU FLUSS im fernen Japan mit delirierenden Viragen und Tonungen nahezubringen. Abenteuer wie EIN DRAMA IN DEN WOLKEN fanden im Zeitraffer in gerade einmal drei Minuten statt, gefolgt von Burlesken, deren emanzipatorische Subversivität wie in DIE VERHÄNGNISVOLLE WIRKUNG oder DAS ERBE DES DIENSTMÄDCHENS gegen geheiligte Institutionen des bürgerlichen Lebens anging, und schließlich erotischen »Herrenfilmen«, die die Moral schlechthin provozierten. Von der Zensur noch kaum gehemmt, wandte sich dieses Kino an ein proletarisches, unterprivilegiertes Publikum und ließ emanzipatorische Verheißungen mitschwingen. In seinem anarchischen Auf begehren ist es auch heute noch in all seiner Frische erlebbar. Sämtliche Filme liegen in ihren historischen, deutsch getitelten österreichischen Verleihfassungen vor und stammen aus den Beständen des Filmarchiv Austria, einer der auch international bedeutendsten Sammlungen zum frühen Film. 17
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT DO 19.3., 19:00 KINO WELT REISEN [WIENER LUMIÈRE-AUFNAHMEN VON 1896. LIEBESTHERMOMETER RINGSTRASSE, EINGANG ZUM CINÉMATOGRAPHE Pathé Frères, F 1906 LUMIÈRE – KÄRNTNER STRASSE, PFERDE KUTSCHEN] EISENBAHNATTENTAT Société Lumière, F 1896 Pathé Frères, F 1906 EINE FAHRT DURCH WIEN DIE MACHT DER HYPNOSE Pathé Frères, F 1906 Saturn-Film, A 1908–1910 IN JAPAN – BLITZFAHRTEN AUF DEM OZU FLUSS EIN GROSSES MALHEUR Pathé Frères, F 1906 Pathé Frères, F 1904 DAS WUNDERBARE STAMMBUCH Gesamtlänge: 627 m | viragiert, koloriert und Pathé Frères, F 1905 s/w, stumm, 35mm Veranstaltungsdauer: ca. 70 min Eine 2.536 Meter lange Reise auf 35mm-Film – beginnend mit den ersten erhaltenen Aufnahmen aus Wien und einem klassischen Phantom Ride mit der Straßenbahn. Doch mit dem Kinematografen lassen sich nun auch fremde Welten erkunden, der Lebensalltag in fernen Ländern ebenso einfangen wie spektakuläre Naturbilder. Fremd, was das Menschliche angeht, ist auch dem frühen Kino nichts – so folgen auf komische Szenen ein Drama um Niedertracht und Rache und erotische Machtspiel chen. Allen gemeinsam: die Faszination der Sinne, die auf bis dahin ungekannte Weise in Rausch versetzt werden. (sb) 18
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT MO 23.3., 19:00 SCHWERE GERÄTE UND FEENSTAUB [WIENER LUMIÈRE-AUFNAHMEN VON 1896. DIE MAUS IN DER KRINOLINE RINGSTRASSE, EINGANG ZUM CINÉMATOGRAPHE Elgé (Leo Gaumont), F 1906 LUMIÈRE – KÄRNTNER STRASSE, PFERDE KUTSCHEN] DIE FEE DER SCHWARZEN FELSEN Société Lumière, F 1896 Pathé Frères, F 1907 DAS HUHN MIT DEN GOLDENEN EIERN DIE JAGD NACH DER PERÜCKE Pathé Frères, F 1905 Pathé Frères, F 1906 ÜBER GEBIRGSPÄSSE DAS SANDBAD Thomas A. Edison, US 1910 Saturn-Film, A 1906–1908 Gesamtlänge: 639 m | viragiert, koloriert und s/w, stumm, 35mm Veranstaltungsdauer: ca. 70 min Sämtliche Programme von Cinema Live! starten mit Aufnahmen der Gebrüder Lumière, um die spezifischen technischen Eigenheiten der Projektoren im Vergleich zu veran schaulichen. Deren Cinématographe stellt eine modifzierte Weiterentwicklung des Kinetoskops von Thomas Alva Edison dar, der hier mit bepackten Lamas über die Pässe der Anden steigt. Eine besondere Spezialität der Franzosen waren auch die zauberhaft viragierten und kolorierten Feerien, in denen grazile Verführerinnen allzu Leichtsinnigen eine Lektion erteilen. Verführerisch auch – nach rasanter Verfolgungs jagd quer durch Paris – der Ausklang am Wiener Gänsehäufel. (sb) 19
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT MI 25.3., 19:00 DIE WELT VOR AUGEN [WIENER LUMIÈRE-AUFNAHMEN VON 1896. ERÖFFNUNG DER ELEKTRISCHEN BAHN RINGSTRASSE, EINGANG ZUM CINÉMATOGRAPHE WIEN – PRESSBURG, A 1914 LUMIÈRE – KÄRNTNER STRASSE, PFERDE KUTSCHEN] DIE FALSCHMÜNZER Société Lumière, F 1896 Pathé Frères, F 1907 DIE GEBURT JESU DIE GROSSE PAUKE Pathé Frères, F 1906 Films und Kinematographen Lux, F 1909 UNTER DEM MIKROSKOP VERBUNDENE LIPPEN Charles Urban, GB 1903 Pathé Frères, F 1906 DER TRAUM DES BILDHAUERS Gesamtlänge: 606 m | viragiert, Saturn-Film, A 1906–1908 koloriert und s/w, stumm, 35mm Veranstaltungsdauer: ca. 70 min Ein in jeder Hinsicht spannender Kontrast: auf äußerst detailgetreu handkolorierte religiöse Szenen folgen wissenschaftliche Bilder und Aktualitäten, die ebenfalls zum Repertoire der kinematografischen Frühzeit gehören. »Wir bringen Ihnen die Welt vor Augen!«, so die Devise von Charles Urban, der mit zoologischen und mikroskopischen Filmen eine neue Gattung begründet hat. Und auch in diesem Programm dürfen Komik, Drama und Pikanterie nicht fehlen. Von den biblischen drei Weisen zu den drei Grazien, in die sich der eigene Schöpfer verliebt – begleitet von Pauken, Tumulten und Fanfaren. (sb) 20
CINEMA LIVE! FRÜHES KINO HANDGEKURBELT DO 26.3., 19:00 WUNSCH UND WIRKLICHKEIT [WIENER LUMIÈRE-AUFNAHMEN VON 1896. BEI DEN TOUAREGS RINGSTRASSE, EINGANG ZUM CINÉMATOGRAPHE Pathé Frères, F 1908 LUMIÈRE – KÄRNTNER STRASSE, PFERDE KUTSCHEN] EIN DRAMA IN DEN WOLKEN Société Lumière, F 1896 Pathé Frères, F 1904 DIE KAISERMANÖVER IN MÄHREN DIE VERHÄNGNISVOLLE WIRKUNG A 1909 Pathé Frères, F 1905 DAS ERBE DES DIENSTMÄDCHENS [DIE ZAUBEREIEN DES MANDARINS] Pathé Frères, F 1905 oder 1906 Saturn-Film, A 1908–1910 DIE FRÜHLINGSFEE Gesamtlänge: 664 m | viragiert, Pathé Frères, F 1906 koloriert und s/w, stumm, 35mm Veranstaltungsdauer: ca. 70 min Vom kaiserlichen Manöverfeld geht es in die großbürgerliche Welt der Doppelmoral, vom Bauernhof ins afrikanische Dorf bis hoch hinaus über die Wolken. Einer bewuss ten, ausgeklügelten Verbindung von Atelier- mit realen Außenaufnahmen stehen die bunten Blüten entfesselter Fantasie und Wunschvorstellungen gegenüber. Von der spektakulär inszenierten Ballonfahrt bis zu Brüsten, die auf Glatzen wachsen – das frühe Kino gleicht einer Expedition, getrieben von Abenteuer-, Experimentierlust und Entdeckergeist. Es versprüht einen Zauber, der vor dem Verschwinden bewahrt werden muss. (sb) 21
KINO IM KINO EIN ORT UND SEINE FILMROLLEN RETROSPEKTIVE VOM 6. MÄRZ BIS 1. APRIL 2020 A nlässlich der neuen Ausstellung »Kino Welt Wien« unternehmen wir einen Streifzug durch die Filmgeschichte und präsentieren eine Auswahl an Spiel- und Dokumentarfilmen, in denen das Kino als Ort des gemeinsamen Sehens und Erlebens selbst ins Bild gerückt wird. 20 Programme laden dazu ein, in allen Farben, Formen und Facetten jene magische Faszination zu entdecken, die die Kinemato grafie seit mittlerweile knapp 125 Jahren auf sein Publikum ausübt. Und wo ließe sich diesem Zauber besser erliegen als am Ort des Geschehens selbst: im dunklen Saal, vor der großen Leinwand. 22
TAXI DRIVER 23
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE LEINWANDREFLEXIONEN FLORIAN WIDEGGER | SILVIA BREUSS D as Kino. Ein Mikrokosmos von unendlicher Weite. Sobald das Licht ausgeht, scheint man fast existenzialistisch auf sich zurückgeworfen, unmittelbar mit Bildern, Tönen, Eindrücken konfrontiert, mit eigenen Assoziationen und Emotionen. In der vermeintlichen Einsamkeit des Kinosessels herrscht eine enorme Intimität, und doch gibt es kaum einen vergleichbaren sozialen Erlebnisraum, der – unabhängig irgendwel cher Attribute – allen Menschen offensteht, sie gleichzeitig fesseln, herausfordern, berühren kann. Man lacht zusammen, weint, erschrickt und schreit, ein Saal voller Individuen mit ihren je eigenen Geschichten transzendiert sich zu einem gelegentlich raschelnden, im Rhythmus des Films atmenden Organismus. Kino ist aber auch Betrieb, Umschlagplatz der Kulturproduktion, ausgesetzt den kompromisslosen Mechanismen der Marktwirtschaft. Einige der Lichtspielhäuser, 24
die wir in dieser Retrospektive betreten, haben es nicht geschafft oder prognostizie ren filmisch ihren Untergang. Die technischen und finanziellen Rahmenbedingungen haben sich dramatisch verändert, mit Netflix und Co hat sich das Heimkino in einer gänzlich neuen Dimension etabliert. Kino dagegen lebt, sieht man von den großen Ketten ab, von seinen Menschen – jenen hinter den Kulissen wie jenen im Saal. Auch wenn seine hohe Zeit vorbei zu sein scheint, das Kino immer wieder totgesagt wird: seine Kunst und Faszination bestehen gerade darin, sich aus der Wirkung, die es erzeugt, zu speisen. Nicht selten liefern jene, die vom Virus gepackt sind, die großen Geschichten für die Leinwand: »Wenn mich Leute fragen, ob ich in Filmschulen gegan gen bin, dann sage ich ihnen: Nein, ich bin in Filme gegangen.« (Quentin Tarantino) So entstehen Liebeserklärungen in allen erdenklichen Facetten – wundervoll poetisch wie NUOVO CINEMA PARADISO oder HIMMEL ODER HÖLLE, leidenschaftlich kämpfe risch wie OUT OF PRINT, hymnisch exzessiv wie INGLOURIOUS BASTERDS. Kino ist seit jeher auch ein Ort der Selbstreflexion, an dem Film und Business oft lustvoll pa raphrasiert oder gnadenlos durch die Mangel gedreht werden, wie in SHERLOCK JR. oder SUNSET BOULEVARD. Als Ort jenseits des heimischen TV-Geräts verlangt das Kino, die Komfortzone zu verlassen, sich auf etwas einzulassen. Die Leinwand sprengt die Grenzen der Realität, der Kinosaal flickt sie wieder zusammen. Singuläre Erfahrungen werden unmittelbar mit anderen geteilt. So wird ein Ort zu einem Lebensraum und zum Spiegel der Gesellschaft. 25
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE FR 6.3., 18:30 | MO 30.3., 20:00 VORFILM: [KUNDGEBUNG FÜR KAISER FRANZ JOSEPH VOR DEM BRIGITTENAUER-KINO ANLÄSSLICH SEINES GEBURTSTAGES] | A ca. 1910 | 2 min | s/w, stumm, DCP KINO WIEN FILM Paul Rosdy, A 2018 KAMERA Peter Roehsler, Wolfram Wuinovic, Gabriel Krajanek | MUSIK Gerhard Gruber 97 min | Farbe, dt. OF, DCP Das Kino – ein Ort der Träume und Illusionen, von der Wunschmaschine in der Vor führkammer auf die Leinwand und zum Leben gebracht. Spricht man mit Menschen von »außerhalb«, so sind sie immer ein wenig neidisch auf Wien und seine Kinoszene, der Paul Rosdy mit seinem Film ein sensibles, liebevolles Denkmal setzt. KINO WIEN FILM erzählt von der Blütezeit der städtischen Lichtspielhäuser und von jenen, die sie unter großer Anstrengung am Laufen gehalten haben oder es immer noch tun: Idealisten, Kämpfer, Arbeiter. Er erzählt aber auch vom Wandel der Zeit, von den Herausforderungen, denen sich BetreiberInnen heute stellen müssen, um das Kino als sozialen Ort zu erhalten, und die weit über das Technische hinausgehen. Zum Auftakt: Royales aus längst vergangenen Tagen. (fw) FR 6.3.: In Anwesenheit von Paul Rosdy. 26
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE FR 6.3., 21:00 | DI 10.3., 18:00 OUT OF PRINT WELTWEIT EINZIGE 35MM-KOPIE Julia Marchese, US 2014 KAMERA Alex Simon | MUSIK Peter Marchese MIT Rian Johnson, John Landis, Stuart Gordon, Clu Gulager, Joe Dante, Tom Holland u. v. a. 86 min | Farbe, engl. OF, 35mm* »This ain’t no Multiplex!«, ist der Schlachtruf dieser wunderbaren Liebeserklärung an den Film – natürlich in 35mm –, das Kino im Allgemeinen und das New Beverly in L. A. im Besonderen, das sich entgegen seinem Namen seit 1978 auf die Wiederauf führung von Filmklassikern spezialisiert hat. Neben Kultregisseuren wie Joe Dante, John Landis oder Stuart Gordon kommen auch die wichtigsten Protagonisten dieses Cineastentreffpunkts ausgiebig zu Wort: die Fans und die Menschen hinter den Kulissen. (Günter Pscheider) SA 7.3., 18:00 | FR 27.3., 19:00 BELLARIA – SO LANGE WIR LEBEN! Douglas Wolfsperger, A/D 2002 KAMERA Helmut Wimmer | MUSIK Hans-Jürgen Buchner (Haindling) 100 min | Farbe und s/w, dt. OF, 35mm Ende 2019 musste – für viele überraschend – eine altehrwüdige Wiener Kinoinstitution ihre Pforten schließen: das 1912 eröffnete Bellaria. Gleich hinter dem Volkstheater gelegen, umwehte dieses Kino stets die Aura des Vergangenen, fast war es so, als wäre dort die Zeit stehengeblieben. Regelmäßig trafen sich die LiebhaberInnen alter UFA-Filme und nutzten den Kinosessel als Zeitmaschine. Der Film holt diese Menschen mit ihren Lebensgeschichten vor die Kamera und setzt ihnen ein berührendes wie unterhaltsames Denkmal. (fw) *Print courtesy of the Julia Marchese Collection at the Academy Film Archive 27
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE SA 7.3., 20:30 | FR 20.3., 18:00 VORFILM: AUSTRIA WOCHENSCHAU 1964: WIR VOM KINO | 10 min | s/w, dt. OF, DCP MATINEE Joe Dante, US 1993 BUCH Charlie Haas, Jerico Stone | KAMERA John Hora | MIT John Goodman, Cathy Moriarty, Simon Fenton, Robert Picardo 98 min | Farbe und s/w, engl. OF, 35mm* Florida 1962. Gespannt blickt man auf Kuba, wo die Sowjets ihre Raketen stationieren und der Kalte Krieg heiß zu werden droht. Für Kinobesitzer und Filmproduzent Law rence Woolsey der ideale Zeitpunkt, den neuen Monsterfilm MANT auf sein Publikum loszulassen über eine Kreatur halb Mensch, halb Ameise. Mittels cleverer Marketing strategie und Gimmicks wird die Premiere zum Ereignis. Während draußen der atomare Schrecken lauert, wird auf und vor der Leinwand für wohligen Nervenkitzel gesorgt. Ein toller Film vom Meister der doppelbödigen Unterhaltung. (fw) SO 8.3., 18:00 IM LAUF DER ZEIT Wim Wenders, BRD 1976 BUCH Wim Wenders | KAMERA Robby Müller, Martin Schäfer | MUSIK Improved Sound Ltd., Axel Linstädt u. a. | MIT Rüdiger Vogler, Hanns Zischler, Lisa Kreuzer, Rudolf Schündler 175 min | s/w, dt. OF, DCP Bruno tuckert mit seinem alten Möbelwagen durch die Lande und repariert alte Kinoprojektoren. Auf einer seiner Fahrten trifft er Robert, der gerade seine Frau verlassen hat und Selbstmord begehen will. Der Beginn einer wunderbaren Männer freundschaft, die sie, die deutsch-deutsche Grenze entlang, zu ihren Träumen und Sehnsüchten und schließlich zu sich selbst führt. Zum Großteil improvisiert und ohne festes Drehbuch, vermittelt der Film in seinen knapp drei Stunden ein süchtig machendes Gefühl von Freiheit. (fw) 28 *35mm collection print courtesy of UCLA Film & Television Archive
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE SO 8.3., 21:00 | MI 1.4., 20:00 TAXI DRIVER Martin Scorsese, US 1976 BUCH Paul Schrader | KAMERA Michael Chapman | MUSIK Bernard Herrmann | MIT Robert De Niro, Jodie Foster, Harvey Keitel, Albert Brooks, Cybill Shepherd 114 min | Farbe, engl. OF, 35mm Die Großstadt als Moloch, der im Begriff ist, den Vietnamveteranen Travis Bickle bei lebendigem Leibe aufzufressen. Traumatisiert und alleingelassen, schlägt er sich als Taxifahrer durch, wobei er aufgrund von Schlaflosigkeit vor allem nachts unterwegs ist und New York von der schlechtesten Seite erfährt. Seine Vorstellung von Intimität ist geprägt von Besuchen in Pornokinos, die für ihn nichts Anrüchiges haben, wo er wie jeder andere Kinobesucher Popcorn kauft und wohin er auch sein Date ausführt. Ver schwommene und ausschnitthafte Bilder machen aber deutlich, in welcher Parallelwelt sich Travis bewegt und wie verzerrt sein Weltbild ist. Letzteres gerät immer mehr ins Wanken, mutiert zu einem Wahn, der, als er eine 13-jährige Prostituierte nicht retten kann, in einem Blutbad endet. (kh) 29
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MO 9.3., 21:00 | MI 1.4., 18:00 CINEMANIA Angela Christlieb/Stephen Kijak, D/US 2002 KAMERA Angela Christlieb MUSIK Robert Drasnin, Stereo Total 83 min | Farbe, engl. OmdU, 35mm Roberta, Jack, Eric, Bill und Harvey haben ihr Leben dem Kino verschrieben. Sei es Ernährung, Schlafrhythmus, die Wahl der Unterwäsche oder zwischenmenschliche Beziehungen – alles und jeder wird dem Sehen von Filmen und dem Sammeln von Memorabilien untergeordnet. Kino als Lebensinhalt. Kino als Lebenselixier. Kino als Extremsport. Kino als Obsession. Obwohl es sich hier um ein ganz anderes Level der Filmliebhaberei handelt, stellt sich zwischen Bewunderung und Unwohlsein doch immer wieder die Frage: wie viel dieser Menschen steckt auch in mir? (kh) DI 10.3., 18:30 | DI 24.3., 21:00 THE LAST PICTURE SHOW Peter Bogdanovich, US 1971 BUCH Peter Bogdanovich, Larry McMurtry, nach sei- nem Roman | KAMERA Robert Surtees | MIT Timothy Bottoms, Jeff Bridges, Cybill Shepherd, Ben Johnson 118 min | Farbe, engl. OF, DCP In einer texanischen Kleinstadt fristet eine Gruppe Teenager Mitte der 1950er-Jahre ein trauriges Dasein. Eingespannt zwischen den historischen Konstanten des Zweiten Weltkriegs und der Koreakrise, existieren sie in einem Schwebezustand des Älter werdens und Nicht-erwachsen-werden-Wollens innerhalb einer ernüchternden Welt. Nur die Filme im einzigen Kino der Stadt halten Abend für Abend den Traum davon, dass es auch anders sein könnte, am Leben … Achtfach oscarnominiert, zählt Bogda novichs dritter Film zu den Meisterwerken des New Hollywood. (fw) 30
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MI 11.3., 18:00 | FR 27.3., 20:00 VORFILM: [AUFNAHMEN DES KINO REICHENAU, IN PAYERBACH-REICHENAU] A 1919 | 1 min | s/w, stumm, DCP PHÖNIX AN DER ECKE Peter Patzak, A/BRD 1982 BUCH Peter Patzak | KAMERA Dietrich Lohmann MIT Rainer Egger, Pinkas Braun, Robert Hoffmann 90 min | Farbe, dt. OF, 16mm Rot und verheißungsvoll leuchtet die Neonschrift: Phönix Lichtspiele. Es ist das titelgebende Kino am Eck (Drehort: Breitenseer Lichtspiele). Geistesabwesend sitzt der Filmvorführer vor den ratternden Projektoren. Ein Mann mit Anzug und dunkler Brille geht einen verrucht ausgeleuchteten Korridor entlang, vorbei an Damen in knappen Kostümen. Plötzlich steht der Filmvorführer in der Tür und schießt auf ihn. Eine Szene aus dem Film, der gerade läuft? Peter Patzak lässt seiner Liebe zum surrealen Spiel freien Lauf: Kino passiert hier überall! (red) MI 11.3., 20:00 | DO 26.3., 18:00 VORFILM: [DIE ERÖFFNUNG DES ZENTRAL-KINO, IN BAD VÖSLAU] A 1927 | 1 min | s/w, dt. ZT, DCP WELT SPIEGEL KINO. EPISODE 1–3 Gustav Deutsch, A 2005 93 min | Farbe und s/w, dt. OF, 35mm Wien (1912), Surabaya, Java (1929) und Porto (1930) – die drei Orts- und Zeitangaben definieren die ersten drei Episoden dieses Langzeitprojekts. Zu sehen sind Film aufnahmen von Kinos in ihrem urbanen Umfeld, das Leben auf der Straße, die Passanten, die Schaulustigen und deren Reaktionen auf die Kamera. Einen zweiten Ausgangspunkt bilden jene Filme, die auf den Plakaten in den Schaukästen dieser Kinos beworben werden. So treten die Realität der Straßen und die Welt des Kinos in einen widersprüchlichen, spannungsreichen Dialog. (red) 31
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MO 16.3., 18:45 | SO 29.3., 21:00 SUNSET BOULEVARD Billy Wilder, US 1950 BOULEVARD DER DÄMMERUNG | BUCH Billy Wilder, Charles Brackett, D. M. Marshman Jr. | KAMERA John F. Seitz MUSIK Franz Waxman | MIT Gloria Swanson, William Holden, Erich von Stroheim, Fred Clark, Nancy Olson, Cecil B. DeMille, Buster Keaton, Hedda Hopper 110 min | s/w, engl. OF, 35mm Nicht nur im sozialen Raum, sondern auch ganz schlicht im eigenen Wohnzimmer lassen sich die Laufbilder zum Leben erwecken. Während heutzutage Heimkinos für jeden Geldbeutel erschwinglich sind, war das vor 70 Jahren weitaus aufwendiger. Die vergessene Stummfilmdiva Norma Desmond lebt, zurückgezogen mit ihrem Butler in einer heruntergekommenen Villa, Tag für Tag in ihrer glanzvollen Vergangenheit und wartet auf ihr großes Comeback. Dieses wittert sie, als der wenig erfolgreiche Dreh buchautor Joe Gillis zufällig auf ihrem Anwesen auftaucht … Billy Wilder hält in einem seiner vollkommensten Geniestreiche der Industrie den Spiegel vor. Mit bitterem Sarkasmus wechselt er zwischen Fiktion und tatsächlicher Hollywoodkomparserie, indem er zahlreiche Stars als sie selbst auftreten lässt. (fw) 32
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MO 16.3., 19:30 | DO 26.3., 20:00 LAST ACTION HERO John McTiernan, US 1993 BUCH Shane Black, David Arnott, nach einer Geschichte von Zak Penn und Adam Leff KAMERA Dean Semler | MIT Arnold Schwarzenegger, F. Murray Abraham, Austin O’Brien, Anthony Quinn 130 min | Farbe, engl. OmdU, 35mm Der 11-jährige Danny verbringt jede freie Minute in einem New Yorker Kino. Sein bester Freund ist Vorführer Nick, sein Idol der Leinwandheld Jack Slater, ein muskel bepackter, tougher L. A. Cop. Als Danny von Nick eine besondere Eintrittskarte er hält, werden die Regeln des Kinos außer Kraft gesetzt. Danny landet mitten in der Actionszenerie von JACK SLATER IV und im Kampf gegen die Bösewichte. LAST ACTION HERO ist eine klischeegeladene Parodie auf das Genre, die mit zahlreichen Filmzitaten unterhält und das Kino zum magischen Ort erklärt. (kh) MO 16.3., 21:00 | DI 31.3., 18:00 THE PURPLE ROSE OF CAIRO Woody Allen, US 1985 BUCH Woody Allen | KAMERA Gordon Willis MUSIK Dick Hyman | MIT Mia Farrow, Jeff Daniels, Danny Aiello, Dianne West, Van Johnson 82 min | Farbe und s/w, engl. OF, 35mm Amerika zur Zeit der Depression. Leidenschaftlich gern flieht Kellnerin Cecilia vom trostlosen Alltag ins Kino. Vor allem der Film THE PURPLE ROSE OF CAIRO gefällt ihr so sehr, dass sie ihn sich immer und immer wieder ansieht. Bis sie eines Tages sogar Protagonist Baxter auffällt, der kurzerhand von der Leinwand zu ihr ins Auditorium hinabsteigt – und sich in sie verliebt. Mit ungeahnten Folgen … Woody Allens bittersüße Liebeserklärung an das Kino und seine Stars reflektiert auf doppelbödige Weise die Traumfabrik Hollywood. Kritikerpreis in Cannes! (fw) 33
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE DI 17.3., 20:15 | MO 30.3., 18:00 VORFILM: CARMEN | Anja Salomonowitz, A 1999 BUCH Anja Salomonowitz | KAMERA Hannes Anderwald | MUSIK Samir Zeciri 23 min | s/w, dt. OF, DigiBeta HIMMEL ODER HÖLLE Wolfgang Murnberger, A 1990 BUCH Wolfgang Murnberger | KAMERA Fabian Eder | MUSIK Robert Stiegler, Kurt Hintermayr | MIT Adi Murnberger, Fabian Weidinger, Johannes Habeler, Lukas Habeler, Ines Ledwinka 75 min | Farbe und s/w, dt. OF, 16mm Das Kino – Ort der (Zu)Flucht, der Fantasie- und Parallelwelten, aber auch schlicht ein Lebensraum. In seiner hymnisch gefeierten Kindheitserinnerung HIMMEL ODER HÖLLE erzählt Wolfgang Murnberger mit viel Hingabe von seinem Leben im elter lichen Dorfkino im Burgenland, vom Großwerden zwischen Schlachthof, Großeltern schlafzimmer und Filmvorführung. Kino als Umschlagplatz kindlicher Neugier und Abenteuerlust: ein poetisch-assoziativer, in seiner (Alltags-)Beobachtung genau gezeichneter Bilderbogen, der ganz nah an der Perspektive seiner jungen Protago nisten bleibt. Von der Liebe zum Kino berichtet auch Anja Salomonowitz in ihrem Dokuporträt CARMEN über eine Kinomitarbeiterin, die nicht nur im Kinosaal schläft, sondern ihm sogar einen Heiratsantrag macht. Intimer kann ein Ort nicht sein. (red) DI 17.3.: In Anwesenheit von Wolfgang Murnberger und Anja Salomonowitz. 34
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MI 18.3., 18:00 | MI 25.3., 20:30 THE ARTIST Michel Hazanavicius, F/B/US 2011 BUCH Michel Hazanavicius | KAMERA Guillaume Schiffman | MUSIK Ludovic Bource MIT Jean Dujardin, Bérénice Bejo, John Goodman, James Cromwell, Penelope Ann Miller 100 min | s/w, engl. OF, 35mm Hollywood, Mitte der 1920er-Jahre. Stummfilmstar George Valentin steht am Höhe punkt seiner Karriere, als er mit der aufstrebenden jungen Schauspielerin Peppy eine verhängnisvolle Affäre beginnt. Der persönlichen Krise folgt alsbald eine berufliche, denn mit der Einführung des Tonfilms ist George plötzlich nicht mehr gefragt, wäh rend Peppy einen fulminanten Erfolg nach dem anderen hinlegt … Hazanavicius’ Hommage an das »Hollywood von gestern« (und zugleich Gegenentwurf zu SINGIN’ IN THE RAIN) ist mit extremer Detailverliebtheit gestaltet und wusste bei Erscheinen Kritiker (u. a. fünf Oscars, drei Golden Globes und sieben BAFTA Awards) und Publi kum gleichermaßen zu begeistern – nicht nur, aber auch wegen Jack-Russell-Terrier Uggie, der den Schauspielern immer wieder die Show stiehlt. (fw) 35
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MI 18.3., 20:00 | MI 25.3., 18:00 THE SMALLEST SHOW ON EARTH Basil Dearden, GB 1957 BUCH John Eldrige, nach einer Geschichte von William Rose | KAMERA Douglas Slocombe MIT Virginia McKenna, Bill Travers, Margaret Rutherford, Peter Sellers, Bernard Miles 80 min | s/w, engl. OF, digital Ein Kino in der Nähe des Bahnhofs einer kleinen Provinzstadt. Die Belegschaft des Bijou Kinema, genannt »Flea Pit«, besteht aus drei Alten: einer Klavierspielerin, die an der Kassa sitzt, einem Schuhmacher mit einer Schwäche für Whisky und einem Portier und Handwerker. Als Matt und Jean das baufällige Lichtspieltheater erben, wollen sie es zunächst verkaufen, doch der Erlös würde nicht einmal für die Schulden reichen. Also entschließen sie sich zu einem Bluff: Sie geben vor, das Kino wieder zueröffnen, in der Hoffnung auf bessere Angebote ... (red) FR 27.3., 21:00 CHILLERAMA Adam Green/Joe Lynch/Adam Rifkin/ Tim Sullivan, US 2011 BUCH Adam Green, Joe Lynch, Adam Rifkin, Tim Sullivan | KAMERA Will Barratt | MIT Eric Roberts, Lin Shaye, Ray Wise, Tania Raymonde 120 min | Farbe, engl. OmdU, digital Ein letztes Mal will ein Autokinobesitzer sein Publikum mit vier Trashfilmen verwöh nen, bevor die Lichter für immer ausgehen. Doch während die Zuschauer mit men schenfressenden Killerspermien, homosexuellen Werbären und einem von Hitler erschaffenen Golem konfrontiert sind, breitet sich durch verseuchtes Popcorn eine Zombieepidemie aus … Dieser Inhalt spricht wohl für sich: zwei Stunden Leinwand exzess, wie man ihn nur noch selten zu sehen bekommt. Eine saftige, überdrehte und total unterhaltsame Hommage an die Glory Days des Genrekinos. (fw) 36
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE DO 19.3., 20:00 | SA 28.3., 20:30 VORFILM: [EIN K.U.K. FELDKINO-ZUG WÄHREND DES ERSTEN WELTKRIEGES] A 1917 | 2 min | s/w, dt. ZT, DCP INGLOURIOUS BASTERDS Quentin Tarantino, US/D 2009 BUCH Quentin Tarantino | KAMERA Robert Richardson | MUSIK Ennio Morricone, Nick Perito u. a. MIT Brad Pitt, Mélanie Laurent, Christoph Waltz, Eli Roth, Michael Fassbender, Diane Kruger 153 min | Farbe, engl. OmdU, 35mm Aus seiner Filmvernarrtheit hat Quentin Tarantino nie einen Hehl gemacht. Dem Kino als Ort, in dem nicht nur Geschichte geschrieben, sondern auch kraft der eigenen Imagination umgeschrieben werden kann, setzt er in INGLOURIOUS BASTERDS – auf historische Korrektheit pfeifend – ein fulminantes Denkmal. Die jüdische Kinobesitzerin Shosanna, die in der genialen Anfangsszene der tödlichen »Spürnase« eines gewis sen Hans Landa nur knapp entkommt, plant für Hitlers Einzug in Paris, der von der Premiere eines Propagandastreifens gekrönt werden soll, für die NS-Granden einen feurigen Empfang in ihrem Lichtspielhaus. Währenddessen verbreitet ein jüdischer Soldatentrupp unter den Deutschen Angst und Schrecken – und wittert für die Film vorführung ebenfalls seine große Chance. (fw) 37
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE MO 23.3., 20:30 | SO 29.3., 18:30 NUOVO CINEMA PARADISO Giuseppe Tornatore, I/F 1988 CINEMA PARADISO | BUCH Giuseppe Tornatore, Vanna Paoli | KAMERA Blasco Giurato | MUSIK Ennio Morricone MIT Philippe Noiret, Jacques Perrin, Marco Leonardi, Salvatore Cascio, Leopoldo Trieste 123 min | Farbe, ital. OmeU, 35mm Schon in seiner frühesten Kindheit verbringt Salvatore jede freie Minute im Cinema Paradiso, wo sich nach dem Krieg Abend für Abend die ganze Dorfgemeinschaft trifft, um sich in fremde Welten entführen zu lassen. Der grummelige, aber umso liebenswertere Vorführer Alfredo mutiert dabei zum Ersatzvater für den kleinen »Toto«, der später Karriere als Filmregisseur machen wird. Er weist ihn nicht nur in die Kunst des Überblendens, sondern anhand zensierter Schnipsel aus den Klassikern auch in die Geheimnisse des Vorführens ein … Giuseppe Tornatores (in seinem sizilia nischen Heimatort gedrehte) vielfach ausgezeichnete Liebeserklärung ans Kino: eine der schönsten, vielleicht auch treffendsten Geschichten, die die Macht und Faszination der Laufbilder einzufangen vermag. (fw) 38
KINO IM KINO | RETROSPEKTIVE SA 28.3., 18:45 VORFILME: WIE SICH DER KIENTOPP RÄCHT Gustav Trautschold, D 1912 | 18 min | s/w, dt. ZT, 35mm IDEALE FILMERZEUGUNG Ludwig Schaschek, A 1914 | 7 min | s/w, dt. ZT, DCP SHERLOCK JR. Buster Keaton, US 1924 SHERLOCK HOLMES DER ZWEITE | BUCH Clyde Bruckman, J. C. Havez, J. A. Mitchell | KAMERA Elgin Lessley, Byron Houck | MIT Buster Keaton, Kathryn McGuire, Joe Keaton, Erwin Connelly, Ward Crane 53 min | s/w, engl. ZT, DCP Das frühe Kino im Kino: in Gustav Trautscholds WIE SICH DER KIENTOPP RÄCHT wird ein Moralapostel und strikter Gegner der Kinematografie selbst zum abschreckenden Beispiel für sittenverderbendes Verhalten. DIE IDEALE FILMERZEUGUNG macht als filmhistorisches Dokument den Film mittels Stop-Motion erstmals selbst zum Haupt darsteller, bevor Buster Keaton in seinem komisch-poetischen Meisterwerk SHERLOCK JR. als Filmvorführer traumwandlerisch zum Meisterdetektiv mutiert. Der Kinobesucher wird Zeuge davon, wie das Kino Vergeltung übt und wie es einen Blick hinter seine Kulissen gewährt. Wie es zwar dem Chaos nicht immer Einhalt gebieten kann, dafür aber die Grenzen von Wirklichkeit und Realität verschwimmen lässt, um die Liebe zu retten. (kh) 39
WOLFRAM PAULUS RETROSPEKTIVE VOM 18. BIS 29. MÄRZ 2020 V ielleicht ist Wolfram Paulus einer der großen, noch zu entdeckenden Wegbereiter dessen, was man heute als Neuen Österreichischen Film bezeichnet. Mit seinem Regiedebüt HEIDENLÖCHER und auch den nachfolgenden Filmen hat er dem heimi schen Kino in den 1980er-Jahren definitiv einen eigenen Stempel aufgesetzt. Paulus ist einer jener Filmemacher, die »zeigen, was sie kennen und lieben«. Nicht umsonst sind viele seiner Filme in und um Salzburg herum entstanden, jener Region, in der er geboren und aufgewachsen ist, bis heute lebt und arbeitet. Es ist längst an der Zeit, die eigensinnigen wie sanften Arbeiten dieses Regisseurs wiederzuentdecken, für den Filmemachen immer ein großes Abenteuer ist. Wolfram Paulus wird vom 18. bis 22. März bei den Vorstellungen anwesend sein. Zwei seiner Filme werden auch im Rahmen der Reihe Kinder Kino Klassiker gezeigt. 40
Setfoto NACHSAISON 41
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE »ICH NEHME MIR DIE GESCHICHTEN AUS MEINEM LAND … FLORIAN WIDEGGER … und ich erzähle sie von innen heraus.« Schon in seiner Kindheit ist der 1957 in Großarl im Pongau geborene Paulus fasziniert vom Kino. Mit 15 Jahren beginnt er, angesteckt von seinem filmaffinen Vater, auf Super-8 Kurzfilme zu drehen. Darin geht es um Kindheit, ums Aufwachsen am Land, um die Arbeit der Bergbauern. Man könnte sagen: Themen, die Wolfram Paulus bis heute nicht losgelassen haben. WOCHENEND, sein Abschlussfilm an der Filmakademie in München, verdeutlicht nicht nur sein Interesse an »ländlichen« Stoffen, sondern auch sein Faible für die Arbeit mit Laiendarstellern. Seine Vorbilder sind Pasolini und (der damals bereits aus der Mode gekommene) Robert Bresson, den er noch kennenlernen durfte: »Beobachte, sammle Eindrücke, nimm auf, so viel du kannst!«, gab ihm der französische Meister mit auf den Weg. In den 1980er-Jahren, kurz nach Einrichtung einer öffentlichen Filmförderung, ist das heimische Kino auf der Suche nach einer neuen Identität. Paulus’ Langfilmdebüt HEIDENLÖCHER trifft einen Nerv: karge Schwarz-Weiß-Bilder, sparsamer Dialog, nahezu dokumentarischer Gestus – ein gegen den Strich gebürsteter »Heimatfilm«, 42
der allerdings zum größten Teil mit finanzieller Beteiligung aus Deutschland entsteht. Mit den beiden nachfolgenden Filmen NACHSAISON und DIE MINISTRANTEN komplet tiert er seine »Salzburger Trilogie«, die seitdem zum Kanon der jüngeren österreichi schen Filmgeschichte gehört. Letzterer offenbart eine weitere, wesentliche Seite im Schaffen des Autors, Cutters und Regisseurs Wolfram Paulus, nämlich Geschichten mit und aus der Sicht von Kindern zu zeigen. Für nicht wenige von ihnen stellt die Arbeit mit Paulus den Karrierestart vor der Kamera dar, für ihn ergibt sich umgekehrt die Möglichkeit, Geschichten aus einem neuen Blickwinkel zu erzählen. Oft lässt er dabei eigene Erfahrungen (etwa in RENNLAUF) bzw. die Biografien seiner Darsteller (z. B. seines Bruders Albert in NACHSAISON) in seine Filme einfließen. In den 1990er-Jahren ist Paulus immer noch viel beschäftigt und dreht jedes Jahr einen Film. Doch scheint es, als hätten sowohl sein Wechsel zum Fernsehen, wo er regelmäßig mit Erfolg Stoffe unterbringt, und seine Festlegung als Kinderfilmregis seur (zwei Filme werden auch im Rahmen der Reihe Kinder Kino Klassiker gezeigt) es ihm im regulären Kinobetrieb schwer gemacht. Man sollte sich allerdings nicht täuschen lassen: denn bis heute haben seine Arbeiten an Energie, Witz und Risiko bereitschaft sogar noch gewonnen. Sein bis dato letztes Projekt HELDENZEITREISE, das im Rahmen dieser Retrospektive erstmals in Wien präsentiert wird, ist dafür ein leuchtendes Beispiel. 43
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE MI 18.3., 19:00 | MO 23.3., 20:00 VORFILM: WOCHENEND Wolfram Paulus A/BRD 1981 | 31 min | s/w, dt. OF, 35mm HEIDENLÖCHER Wolfram Paulus, A/BRD 1986 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Wolfgang Simon | MUSIK Bert Breit | MIT Florian Pircher, Albert Paulus, Helmut Vogel, Matthias Aichhorn, Rolf Zacher 100 min | s/w, dt. OF, 35mm Ein Deserteur versteckt sich während des Zweiten Weltkriegs in den Höhlen nahe einem Bergdorf. Nachts wagt er sich ins Freie, um sich bei seiner Frau zu versorgen, doch die Gestapo und die örtliche Polizei sind ihm dicht auf den Fersen. Wolfram Paulus’ beeindruckendes Spielfilmdebüt ist nicht nur einer der ersten österreichi schen Filme, die im Berlinale-Wettbewerb um einen Goldenen Bären rittern, sondern auch eine der ersten »Vorzeigeproduktionen« des neuen, jungen österreichischen Films der 1980er-Jahre. »Ein asketischer Heimatfilm, in dem sich ein Western ver steckt«, vermutet Die Zeit. Bereits mit seinem Abschlussfilm WOCHENEND macht der Salzburger Filmemacher mit unverkennbarer Handschrift auf zahlreichen Film festivals von sich reden. (fw) MI 18.3.: In Anwesenheit von Wolfram Paulus. Freier Eintritt für FAA-Clubmitglieder (mit Begleitung). 44
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE DO 19.3., 20:30 | MO 23.3., 18:00 NACHSAISON Wolfram Paulus, A/BRD 1988 BUCH Wolfram Paulus, Uli Neulinger | KAMERA Christian Berger | MUSIK Bert Breit, Marin Marais, MIT Albert Paulus, Daniela Obermeir, Mercedes Echerer, Günther Maria Halmer, Michael Reiter, Marika Green 88 min | Farbe, dt. OF, 35mm Seine besten Zeiten scheint der mondäne Kurort, in dem Lenz als Masseur mehr schlecht als recht sein Auskommen findet, lange hinter sich zu haben. Mit seinen Hän den knetet und walkt er die Körper, sein Leben selbst bekommt er aber nicht in den Griff. Von seiner Frau und seinem Kind hat er sich entfremdet, und als er die Tänzerin Nurit kennenlernt, gerät sein Leben vollends aus dem Gleichgewicht. Nicht nur Lenz taumelt, auch Hotelier Fussek, dessen protzige Anlage für frischen Wind im Ort sorgen sollte: Mit Verlust ist zu rechnen. Paulus’ zweiter Langfilm: eine in jeder Hinsicht ver dichtete Charakterstudie, die von enttäuschten Illusionen und folgenlosem Glück er zählt und bei ihrer Uraufführung auf dem Filmfestival in Venedig Aufsehen erregte. (fw) DO 19.3.: In Anwesenheit von Wolfram Paulus, Christian Berger, Mercedes Echerer und Marika Green. 45
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE DO 19.3., 18:00 | SA 28.3., 20:00 DIE MINISTRANTEN Wolfram Paulus, BRD/A 1990 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Volker Tittel MIT Christoph Schnell, Gerald Bachler, Nikolaus Dobrowolsky, Stefan Steger, Franz Brandauer, Johannes Thanheiser 87 min | Farbe, dt. OF, 35mm Tamsweg, Anfang der 1960er-Jahre. Wie so viele hier, sind auch die jungen Filmhelden Ministranten in der Dorfpfarrei – und passionierte Bandenmitglieder. Die fünf »Wölfe« wollen zu den Stärksten im Lungau werden und die Rivalen aus dem Nachbarort besiegen. Regeln werden aufgestellt, nach den Anleitungen von Karl May wird strate gisch trainiert. Während der Karwoche beginnen die letzten Vorbereitungen für das Kräftemessen, das für Ostersonntag angesagt ist. In das große Abenteuer Kindheit schleicht sich so langsam, aber sicher der Ernst des Lebens ein. (red) FR 20.3., 19:00 | DI 24.3., 20:00 DU BRINGST MICH NOCH UM Wolfram Paulus, A 1995 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Wolfgang Simon MUSIK Peter Valentin | MIT August Zirner, Gabriela Benesch, Katja Flint, Georg Schuchter, Louise Martini 98 min | Farbe, dt. OF, 35mm Vielleicht ist es ihr weißer Mantel, der Simon auf Helga anspringen lässt, als er sie zum ersten Mal erblickt. Jedenfalls begegnet er ihr bald öfters, spricht sie an, verabredet sich mit ihr, verliebt sich in sie. Und sie erwidert seine Avancen. Doch beide haben Familien mit den falschen Partnern, leben im falschen Leben. Wolfram Paulus schildert diese »verhängnisvolle« Affäre in hohem Tempo und mit viel Witz, ohne dabei je die Ernsthaftigkeit der Situation aus den Augen zu verlieren: unaufgeregt, immer wieder brodelnd. Ein echtes Kleinod. (fw) 46
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE FR 20.3., 21:00 | SO 29.3., 20:00 RENNLAUF Wolfram Paulus, A/BRD 1997 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Hans Selikovsky MUSIK Peter Valentin | MIT Johanna Wölfl, Franka Potente, Fritz Egger, Ludwig Dornauer, Dietmar Mössmer 90 min | Farbe, dt. OF, digital Dem Geschwindigkeitskick folgt – auf der Piste wie im Leben – oft der Abschwung: Nach einer Verletzung will sich Ski-Ass Andrea aus dem aktiven Sport zurückziehen. Als sie zufällig auf ihren ehemaligen Trainer trifft, kann er sie dazu überreden, noch eine Saison weiterzumachen. Es dauert nicht lange, bis ihr Feuer entbrennt ... Paulus, als Jugendlicher selbst im Kader, weiß, wovon er in rasanten wie präzisen Bildern, immer nahe an seiner Protagonistin, erzählt. In einer Nebenrolle: Franka Potente, kurz vor ihrem Durchbruch mit LOLA RENNT. (fw) SA 21.3., 18:00 | SO 29.3., 18:00 BLUTSBRÜDER TEILEN ALLES Wolfram Paulus, A/D/RO 2012 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Tudor Mircea MIT Lorenz Willkomm, Johannes Nussbaum, Bernhard Schir, Udo Samel, Susanne Lothar 88 min | Farbe, dt. OF, digital Wien 1944. Alex und Ferry sind unzertrennlich. Als Ferry zum Schutz vor den alliierten Angriffen aufs Land geschickt wird, schließt sich ihm Alex gegen den Willen seiner Eltern an. In ihrer neuen Umgebung machen die beiden 13-Jährigen erste amouröse Erfahrungen. Ihre Freundschaft wird allerdings auf eine harte Probe gestellt, als Alex’ jüdische Herkunft ans Licht gerät … Neben »alten Hasen« brillieren die beiden Jungschauspieler in ihren ersten Hauptrollen und zeugen vom guten Riecher, den Wolfram Paulus bei der Besetzung an den Tag legt. (fw) 47
WOLFRAM PAULUS | RETROSPEKTIVE SA 21.3., 20:00 | MI 25.3., 20:00 HELDENZEITREISE Wolfram Paulus, A 2017 BUCH Wolfram Paulus | KAMERA Michael Seidl | MIT Luke von Geusau, Franz Froschauer, Peter Raffalt, Karin Seifried, Daria Trenkwalder 120 min | Farbe, dt. OF, DCP Paulus’ bisher letzte Regiearbeit ist erneut ein waghalsiges wie ambitioniertes Projekt: In sechs Episoden erzählt er von Menschen, die in schwierigen Situationen mit Mut und Zivilcourage für ihre Ideale und ihr Gewissen eintreten – von der Römerzeit über das Mittelalter bis hin zum 20. und sogar 21. Jahrhundert. Der Salzburger Filmemacher arbeitet hier im benachbarten Oberösterreich mit Schülern und Laien, die teilweise auch an der Entstehung des Drehbuchs beteiligt sind. Für nur 5.000 Euro entsteht so ein bemerkenswerter »Heimatfilm« – das »größte Abenteuer meines bisherigen filmischen Schaffens«, so der Regisseur selbst, in dem nicht die historische Genauig- keit im Vordergrund steht, sondern die Auseinandersetzung mit den Werten unserer Gesellschaft. (fw) SA 21.3.: In Anwesenheit von Wolfram Paulus. 48
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