Willkommen in der Kunst - Christian Löffler Mit neuen Perspektiven - bunkverlag
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01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:19 Seite 1 www.kulturnews.de Christian Löffler Mit neuen Perspektiven in die Klassik Kultur in Deutschland | Sonderausgabe 4/2021 Willkommen in der Kunst
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:19 Seite 2 Exklusive Bundles unter eu.kingsroadmerch.com/erik-cohen BEREITS ERHÄLTLICH WWW.ROYALANKER.DE
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:19 Seite 3 April | Inhalt Wissen allein reicht nicht Wer etwas verändern will, muss zunächst verstehen, wie der Ist-Stand ist. Dann geht es darum, was verändert werden soll. Erst danach geht es darum, wie das gelingen kann und in welchem Zeitraum. Dabei hilft auf jeden Fall: die Wissenschaft. Wissenschaftliche Expertise ist ein wichtiges Instrument, wenn es um Erkenntnis geht. Wohlgemerkt: ein wichtiges – jedoch nicht das einzige. Im Nachdenken über unsere postpandemische Gesell- schaft hat auch die Kunst eine wesentliche Funktion. Denn: Wie soll sich das denn anfühlen, was es zu erreichen gilt? Was macht der Weg dahin mit den Menschen? Und kann man den Ist-Stand nicht um so präziser und eindrücklicher verstehen, wenn man ihn auch emotional erlebbar beschreiben kann? Denn genau das kann Kunst – in Bildern, Tönen, Worten. Sie kann übrigens auch die Wissenschaft für sich nutzen. Lesen Sie dazu unser Interview mit der Konzeptkünstlerin Swaantje Güntzel auf Seite 28. 4 Musik 12 Jazz 18 Literatur 21 Krimi 22 Film 26 Kunst Titelfotos: Christian Löffler kulturnews.de kulturmovies.de Kultur bleibt sichtbar Das Kinoprogramm kulturnews | 3
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:19 Seite 4 Musik | Christian Löffler Die Rettung der Moldau Foto: Christian Löffler Christian Löfflers elektronische Verklärungen von Wagner, Beethoven und Co. begeistern auch dann, wenn man von Klassik keine Ahnung hat. Kein Wunder: Bis vor kurzem ging es ihm ähnlich. Christian, für „Parallels“ hast du alte Schellackplatten aus dem Archiv Hast du ihnen erzählt, dass du dich mit Klassik gar nicht so gut auskennst? der Deutschen Grammophon verwendet. Welche Beziehung hast du zu Löffler: (lacht) Das habe ich natürlich geheim gehalten! Aber ich weiß gar klassischer Musik? nicht, ob das eine große Rolle gespielt hätte, weil ich unbewusst mehr Christian Löffler: Ganz ehrlich: Wenn, dann habe ich mich eher mit kannte, als ich gedacht habe. Natürlich waren viele berühmte Themen Neoklassik beschäftigt. Meine Neugier für die Gegenwart, für das Hier dabei, aber genau deshalb habe ich eher nach Momenten gesucht, die und Jetzt, hat mich immer zu sehr in Anspruch genommen. Als ich das nicht so bekannt, aber trotzdem sehr schön sind. Wie viel da drin steckt, Material gesichtet habe – es war ja viel, 35 bis 40 Stücke –, habe ich hat mich sehr überrascht. überlegt: Oh Gott, war es vielleicht ein Fehler, ja zu sagen? Obwohl ich Willst du mit dem Projekt lieber deine Fans motivieren, Klassik zu selbst schon mit Streichquartett aufgetreten bin, war ich noch nie bei hören, oder Klassikfans für deine Musik interessieren? einem klassischen Konzert gewesen! Nur an Wagner konnte ich mich Löffler: Gute Frage. Ich glaube, es ist mir eher ein Anliegen, meinen Fans aus meiner Kindheit erinnern. Mir ist eingefallen, dass meine Mutter ihn mal die Klassik näherzubringen, weil ich nach Shows und Konzerten damals sehr gern gehört hat. immer das Gefühl gehabt habe, dass sie glücklicherweise sehr offen für Wie ist die Deutsche Grammophon auf dich zugekommen? Experimente sind. Auch jetzt habe ich sehr positive Rückmeldungen Löffler: Ganz einfach per Anruf. Es war witzig: Im März 2020 war ich bekommen, obwohl es ja doch viele Momente ohne Beat hat und eher gerade fertig mit meinem letzten Studioalbum, hatte nach Ambient klingt. Und die Klassikhörer*innen in Auftritte in Istanbul und Athen absolviert. Danach der Elektronik? Klar! Ich freue mich über alle, die sollte es weitergehen, aber das ist dann bekanntlich Interesse haben. Aber in erster Linie ging es darum, alles ausgefallen. Es hat sich langsam herauskristalli- etwas zu schaffen, bei dem ich am Ende das Gefühl siert, dass ich auf einmal viel Zeit haben würde. Ich habe: Das macht Sinn, damit habe ich etwas beige- saß also im Studio herum, als mein langjähriger tragen, ohne mich zu wiederholen. Ein Fan hat mir Freund und Manager angerufen hat: Die Deutsche zum Beispiel geschrieben, dass er „Die Moldau“ in Grammophon hat sich gemeldet, die haben diese der Schulzeit etwa ein Jahr lang behandelt hat – da Schellackplatten und würden sie dir gerne einmal hatte er also nicht unbedingt positive Erinnerungen schicken. Es war schön, weil von Anfang an klar war, dran. Aber meine Version fand er richtig gut! Das ist dass ich völlig frei bin und schalten und walten kann, natürlich ein schönes Gefühl. wie ich möchte. Da sind die ersten Bedenken schon Parallels einmal weggefallen. ist gerade erschienen Interview: Matthias Jordan 4 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:19 Seite 5 Szene | Musik NEIL YOUN Y G Positive Vibes WAY DOWN IN THHE RUST BUCKET „Stell dir vor, ein Blues- und ein Popsong bekämen ein sonnenfarbenes Baby“ – so beschreibt Jon Batiste seine Single „I need you“. Man darf sich den Pianisten dabei mit leuchtenden Augen und einem breiten Foto: Justin French Grinsen vorstellen. Batiste, geboren 1986, strahlt stets positive Vibes und eine ungeheure Energie aus – was ihn zum perfekten Bandleader in der Late Show von Stephen Colbert macht. Weitere Gründe für seine minütlich wachsende weltweite Popularität: seine nahezu fanatische Liebe für alle Spielarten der Black Music, sein Kompositions-, Gesangs- und sein instrumentales Talent. All das verschwindet beinahe hinter den vielen Stilen und Gästen auf dem Album „We are“, hinter diversen Batiste-Familienmitgliedern und alten Kumpels wie Trombone Shorty oder der Hot 8 Brass Band. „We are“ ist eine Gospel-Platte, die sich unter einer Pophülle versteckt. Batistes Jazzwurzeln sind stets hörbar, plus Trap, Funk, Soul und Old-School- Rap. Ein herrlich gut gelauntes Mixtape, mit dem Pharrell-Williams-Swing von „I need you“ als Unverzichtbarres Livealbum Höhepunkt – vielleicht schon der Sommerhit 2021. jp der legendären Shoow mit Crazy Horse. Treffsicher Man durchdringt sie vielleicht nicht beim ersten RHIANNON N GIDDENS Zuhören, die kompositorischen Ideen, die Piers Faccini für sein neues Werk „Shapes of the Fall“ ent- WITH FRANCEESCO TURRISI wickelt hat. Aber es findet sich in jedem Song etwas, Foto: Julien Mignot an das man sich erst einmal anlehnen und dem man konzentriert zuhören kann: zurückhaltende Streicher im Opener „They will gather no Seed“, treibenden THEY‘RE CALLLING ME HOME Rhythmus gepaart mit Call and Response in „Foghorn calling“ oder die arabisch eingefärbten Oud-Klänge und Vocals eines Songs wie „Dunya“. Neben dem marokkanischen Gnawa-Sänger Abdelkebir Merchane hat auch Ben Harper seinem Freund Faccini die Stimme geliehen: Im Trio wird „All aboard“ zu einem fast epischen Dreh- und Angelpunkt des Albums. Nordeuropäisch anmutende Folkmelodien paart der anglo-italienische Songwriter so treffsicher mit nordafrikanischen Klängen, dass an keinem Punkt der Eindruck entsteht, hier wolle jemand einfach nur mal ein bisschen „Weltmusik“ machen. ron FESTIVALTIPP Land der Horizonte Die 6-fach Grammy-nominierte Sängerin mit einem neueen Studioalbum. Foto: Mat Hennek Festivals können der Pandemie auf zwei Weisen be- Exzellenter Folk & Blues. gegnen: stoppen, verschieben, alles so klein wie möglich halten. Oder aufdrehen, vorausschauen, neue Konzepte probieren. Das Schleswig-Holstein Musik Festival hat sich für den zweiten Weg entschieden. 156 Konzerte in 79 Spielstätten an 51 Orten in Norddeutschland sind für 2021 geplant. Coronabedingt liegt der Fokus natürlich auf neu installierten Außenbühnen. Als musikalisches Zentrum dient die Musik von Franz Schubert, als Künstlerin steht die Starpianistin Hélène Grimaud (Foto) mit elf Konzerten ERHÄLTLLICH ALS im Fokus. Aber auch jenseits der Klassik gibt es Auswahl genug: Liedermacher wie Konstantin Wecker und Jazzer wie Nils Landgren treten auf, mit dem „Werftsommer“ kommt sogar ein VINYL, CD, DOWNNLOAD & STREAM brandneues Format für Popmusik hinzu. Zugegeben: Die Kapazitäten mussten ein wenig einge- schränkt werden – die Wartelistenplätze werden also hart umkämpft sein! Das Festival dauert vom 3. Juli bis zum 29. August. mj www.shmf.de kulturnews | 5
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 6 www w.re .reserv vix.de Musik | Szene dein ticke ketportal weit Bundes 90.0n0 0 The Dark Evets! Bis die Bourbongläser Tenor e 21.12.21 bersten Fabrik Seit dem Beginn ihrer Karriere in den 80ern hat sich Hamburg Joanna Connor dem traditionellen Bluesrock ihrer Heimatstadt Chicago verschrieben und offenbar nie größeres Interesse verspürt zu experimentieren. So konzentriert sie sich immer voll auf die beiden Dinge, die sie am besten kann: singen, bis die Bourbongläser bersten, und Bottleneckgitarre spielen, bis die Verstärker abrauchen. Diese Leidenschaft hat wohl einen gewissen Joe Bonamassa dazu bewogen, das aktuelle Album dieser hart schuftenden Bluesröhre zu produzieren und auf seinem Label zu veröffentlichen. Neben Connors gewaltiger Stimme dürfte ihn die Leichtigkeit beeindruckt haben, mit der die Kollegin zur Sache geht. Im Video zur Single „I feel good“ wickelt Connor schnell noch eine neue E-Saite auf ihre ab- Foto: Maryam Wilcher gerockte Les Paul, und dann steht sie wie ein Fels auf der Bühne eines verrauchten Clubs, mit der coolen Attitüde Sister Rosettas und viel frechem Rotz in der Stimme. Diese Atmosphäre durchzieht „4801 South India Avenue“, Connors bislang stärkstes musikalisches Statement. ron „Was, wenn das kein Ende ist?/Sag’, wie viel Willkommen steckt in Goodbye?“ aus: „Willkommen Goodbye“ Gentleman Foto: Paul Huettemann Na klar, auch auf Joris’ drittem Studioalbum „Willkommen 07.11.21 Goodbye“ geht es ums Zwischenmenschliche. Aber gerade in Sporthalle, Hamburg Zeiten des Lockdowns lässt sich das Persönliche nicht vom Politischen trennen – und daher tut sein hoffnungsvoller Seelenbalsampop jetzt besonders gut. Kabellos glücklich 21.10.21 2 Guter Sound für zu Hause und unterwegs: Fabrik Kabellos, edel verarbeitet und mit einer Akkulaufzeit von bis zu 30 Stunden H Hambur g liefert der Supreme On Kopfhörer Musik in CD-ähnlicher Qualität. Der Klang des Kopfhörers zeichnet sich durch www w.re .reserv vix.de seine starken Bässe und klaren Höhen aus und über- zeugt dank seiner effektiven Außenschall- abdämpfung auch in geräuschvollen Umgebungen. Hotline 01806 700 73 33 Per App lassen sich die Frequenzeinstellungen 0,20 € pauschal aus dem deutschen Festn netz, individuell anpassen. Und auch modisch gehört der aus dem Mobilfunknetz 0,60 € Supreme On von Teufel dank seines eleganten Foto: Teufel Designs zu einem gern gesehenen Accessoire. sg Angaben ohne Gewähr 6 | kulturnews A
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 7 Dry Cleaning | Musik CHECKBRIEF BANDMITGLIEDER Florence Shaw (Gesang) Tom Dowse (Gitarre) Lewis Maynard (Bass) Nick Buxton (Schlagzeug) HERKUNFT London GENRE Postpunk KLINGEN WIE Sonic Youth AKTUELLES ALBUM Das von John Parish produzierte Debüt „New Long Leg“ erscheint am 2. April Zähne zeigen Derzeit die coolste Band Englands: Dry Cleaning! Das liegt auch an den Lyrics von Foto: Steve Gullick Sängerin Florence Shaw. Dabei geht es in ihren Texten vor allem ums Essen. Florence, Nick, Tom, habt ihr Dry Cleaning im Jahr 2017 wirklich Shaw: Wenn man ganz nah ranzoomt, schafft das einen Raum, in dem nach einer Karaoke-Party gegründet? die Hörer*innen eine Verbindung herstellen können. Oft sind es gerade Nick Buxton: Dieser Abend wird mehr und mehr zu einem Mythos ver- ganz private Details, die eine Tür öffnen. klärt, aber tatsächlich hat er vieles angestoßen. Die Songauswahl war Dowse: Es sind ja meist ganz kleine Dinge, seltsame Beobachtungen im sehr seltsam, alle waren sehr betrunken, und schließlich haben wir drei Detail, die Wahrheit in sich tragen. Was nützt ein großes Statement, das Jungs einen Song von den Deftones gesungen. dann doch wieder zerfasert, weil es verallgemeinernd ist? Mit den Deftones konntet ihr Florence überzeugen, bei Dry Cleaning Meine Lieblingszeile stammt ja aus dem Titelsong des Albums: „Would als Sängerin mitzumachen? you choose a dentist with a messy back garden like that?“ Buxton: Eigentlich singe ich am liebsten Bruce Springsteen, aber da Shaw: (lacht) Da geht es ganz konkret um eine Zahnarztpraxis in der bekomme ich immer Ärger mit den Partymachern, weil es zu professio- Nähe meiner Wohnung. Von außen sieht sie sehr professionell und auch nell klingt. protzig aus, aber dann bin ich mal in einem Doppeldeckerbus an dem Tom Dowse: Wenn ich nicht so betrunken bin wie an jenem Abend, ist Gebäude vorbeigefahren und konnte den total runtergekommenen Garten meine Geheimwaffe ganz klar Jamiroquai. im Hinterhof sehen. Irgendwie hat mir das Angst gemacht, und ich bin mir Florence Shaw: (lacht) Jamiroquai hätte mich viel schneller überzeugt als ganz sicher, dass dieser Zahnarzt noch sehr viel mehr zu verbergen hat. die Deftones. In den Texten geht es auch andauernd ums Essen. Florence, eigentlich bist du visuelle Künstlerin. Hast du gezögert, dich Shaw: Argh, mir ist das selbst gar nicht aufgefallen, aber ich werde jetzt auf die Musikszene einzulassen? andauernd darauf angesprochen. Es ist mir fast ein bisschen peinlich. Shaw: Anfangs habe ich mich schon gefragt, ob ich mich wirklich über (lacht) Bin ich eine Food-Fetischistin? Tatsächlich ist es ein gutes Tool, Sound statt wie bisher mit Bildern ausdrücken will. Andererseits habe ich um ein Setting zu kreieren und es sehr konkret auszuleuchten. auch schon immer viel mit Text gearbeitet. Aber diese Zweifel gab es nur Du flankierst den Postpunk der Jungs mit oft sehr wütenden und ver- ganz am Anfang, als wir etwa noch die Frage diskutiert haben, ob wir zweifelten Texten, bleibst aber immer beim Sprechgesang. Hast du überhaupt Konzerte spielen wollen. Als es dann so richtig losging, war nicht manchmal das Bedürfnis, einfach loszuschreien? das kein Thema mehr. Shaw: Die Art meines Sprechgesangs ist ja sehr autoritär, er fühlt sich für Deine Texte setzen sich aus sehr spezifischen Szenen zusammen, bei mich sehr lebhaft und kräftig an. Auch bei Konzerten empfinde ich mich denen du dich auch von Kommentarspalten im Internet, Werbeslogans nicht als ruhenden Gegenpol zur Band. Auf der Bühne ist es ein sehr und Alltagsgesprächen inspirieren lässt. Und dabei tauchen immer wieder körperlicher Einsatz, ich stehe die ganze Zeit unter Strom. Bislang ist es Sätze auf, die unser gegenwärtiges Leben auf den Punkt bringen. mir jedenfalls noch nicht passiert, dass ich mich nach einem Konzert im „Do everything, feel nothing“ etwa. Oder auch: „I’m smiling constantly Backstagebereich abreagieren musste. and people constantly step on me.“ Interview: Carsten Schrader kulturnews | 7
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 8 Musik | Szene Muskelspiele Da zieht sich einem ja alles zusammen: Pudeldame. Ein Quartett aus Hamburg und Lübeck, das sich ironiekompatibel hipsterig kleidet und Musik zwischen Neuer Deutscher Welle und Indiepop macht. Erschwerend kommt hinzu, dass Schauspieler Jonas Nay als Sänger einen Starstunt suggeriert. Es ist leicht, Pudeldame und ihr Debütalbum „Kinder ohne Freunde“ ungehört beiseite zu wischen. Foto: Zoe Opratko Sollte man aber nicht: Sie sind zwangloser und laden mehr als all die anderen Neo- schlagerprotagonist*innen zum Tanzen ein. „Bei unserer Musik muss etwas mit meinen Muskeln passieren“, sagt Nay selbst dazu, Foto: Anne Wilk „es muss eine körperliche Reaktion geben.“ Oarschlochsystem Vielleicht ist es daher auch gewollt, dass sich einem erstmal alles zusammenzieht. jl Keine Ahnung, ob Wiener als Melancholiker zur Welt kommen – aber es scheint ihnen zu liegen, ständig auf das große und kleine Elend der Welt zu blicken und schulterzuckend die nächste Flasche aufzumachen. Strippenzieher Max Hauer ist so einer, der sich gern im Themenkanon der Schwarzseher verliert. Tänzelnd und schief lächelnd Aufgemerkt bei diesem glibberig grünen seziert er das „Oarschlochsystem“ in seinen Song- Gebilde: Dahinter verbirgt sich das zweite miniaturen, die er für „Wöd“ gesammelt und im sympa- Album der dänischen Band Communions, thisch-minimalistischen Homerecording-Alleingang die mit zum Sterben schönen Refrains das aufgenommen hat. Hauer firmiert hier unter dem Band- schwächelnde Genre Indierock am Leben s hinocero namen Cler und kann sich wohl berechtigte Hoffnungen halten. Dazu überzeugen auf „Pure Fabri- machen, das Material mit seinen Bühnenkollegen cation“ die Texte der Brüder Martin und mbour irgendwann auch live spielen zu können. Moment: Mads Rehof: Wer zieht bei uns eigentlich Foto: Ta Hoffnung? Ach was, wird doch ohnehin nichts bei all welche Strippen, damit wir in dieser Welt dem Elend in der Wöd. ron bestehen können? cs „I left my soul/on Californian soil/and I left my pride/ with that woman by my side/I never had a willing hand/ and I never had a plan/but I'm glad I found you here“ aus: „Californian Soil“ Nach vier Jahren nimmt es Sängerin Hannah Reid auf „Californian Soil“ mit der eigenen Bandgeschichte von London Grammar auf – und mit der Frauenfeindlichkeit der Musikindustrie, die sie erfahren hat. Foto: Alex Waespi 8 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 31.03.21 11:12 Seite 9 Foto: Warner Music Charlotte Cardin | Musik NEW ALBUM Phoenix in die Bresche SCHILLER Charlotte Cardins Texte sind krass. SUMMER IN BERLIN Trotzdem funktioniert ihr Pop auch im Radio. › Es ist eine zur Genüge bekannte Ge- schichte: das Hadern mit dem Ruhm, mit dem Bild in der Öffentlichkeit, mit sich „Dieses Album hat zwei Jahre gebraucht, weil ich zu Beginn des Schreibprozesses versucht habe, die Kontrolle über das zu erlangen, was selbst. Die gerade mal 26-jährige Singer/- ich zeigen will“, sagt Cardin über ihr erstes Songwriterin Charlotte Cardin aus Quebec Album „Phoenix“, an dem sie bereits 2019 zu modelt, seitdem sie 15 ist, und war das arbeiten begonnen hatte. „Am Ende wurde es Gesicht für das namhafte Modehaus Chanel, jedoch offensichtlich, dass ich die wahren für das sie auch heute noch als Markenbot- Impulse stärker zulassen muss, damit meine schafterin tätig ist. Dass Cardin sich dennoch Musik – und mein Leben – irgendeinen Sinn dazu entschlossen hat, ihr Innerstes mit der ergeben.“ Welt zu teilen, mutet zunächst ganz schlüssig an. Models und Schauspieler*innen, die singen, Welche Früchte es trägt, wenn Cardin Ver- sind schließlich nichts Neues. Auch ihre ziel- letzlichkeit und Widersprüchlichkeiten nicht sichere, radiotaugliche Mischung aus Folk, nur zulässt, sondern ausstellt, zeigen zwei R’n’B und Elektronika suggeriert nicht etwa, Songs, zwischen denen Cardin die ganze dass eine Künstlerin hier auf Messers Schneide Ambivalenz einer Trennung aufspannt. „Halle- zwischen Verletzlichkeit und Starstatus balan- lujah Baby, we’re no longer together“, singt sie ciert. Stattdessen ließe sich beinahe denken, in „Passive aggressive“ und in „Meaningless“ dass die Musik für Cardin ein sicherer Schutz- dann: „I can arrange meeting a stranger, forget raum ist, das Gegengewicht zum Modeln. you a day/but I can’t imagine what even hap- pens beyond the pain.“ „Meaningless“ ist auch Doch dieser Eindruck täuscht: Wer genauer der Song, in dem Cardin sich der Unsicherheit hinhört, wird bemerken, dass Cardin ihre tat- nach der Trennung hingibt – und darin die sächlichen Gefühle nicht hinter tausendmal Freiheit entdeckt: „See the sun leading us/to gehörten Liebes- und Trennungsgeschichten the land of the lost and the reasonless/hear the versteckt. Sie hat die vergangenen Jahre damit drum beating us/I forever surrender, the rest is verbracht, die letzten Schutzmauern einzu- meaningless.“ Von wegen Schutzraum. reißen, die nach ihren millionenfach gestream- ten Debüt-EPs „Big Boy“ (2016) und „Main Jonah Lara Super Deluxe (2CD/2Blu-Ray), Girl“ (2017) noch übrig geblieben waren. Phoenix erscheint am 9. April. Deluxe (2CD), Vinyl (2LP) schillermusik.de kulturnews | 9
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 10 Musik | Blackmore’s Night Natürlich nostalgisch Gemeinsam mit ihrem Mann CHECKBRIEF Ritchie Blackmore musiziert GRÜNDUNG Nicht im Candice Night als Blackmore’s Mittelalter, sondern relativ spät, im Jahr 1997 Night im Stil der Renaissance. DEEP PURPLE Bei der legen- dären Hardrockband war Ritchie Die Moderne mag sie Blackmore bis 1975 Gitarrist trotzdem lieber. ARBEITSTEILUNG Blackmore spielt die Saiteninstrumente und schreibt die Musik, Night singt und schreibt die Texte DISKOGRAFIE Mit „Nature’s Light“ haben Blackmore’s Night Foto: Minstrel Hall Music / Michael Keel mittlerweile elf Alben unter dem Gürtel KOSTÜME Bei ihren Auftritten trägt die Band historische Kleidung aus dem Mittelalter Candice, das neue Album „Nature’s Light“ soll der Natur Tribut zollen. Wir hätten keine Luft zum Atmen, kein Wasser. Die logische Entscheidung Was bedeutet die Natur für dich? ist also, sie zu schützen und zu respektieren. Candice Night: Ich glaube, wegen der Pandemie kehren mehr und mehr Eure Musik ist nostalgisch, aber ihr wollt trotzdem eine moderne Band Leute zur Natur zurück. Wir haben uns schon immer an die Magie der Natur sein. Wie geht das zusammen? gewandt, um unsere Lebensgeister wieder aufzuladen. Indem wir einen Night: Wir bedienen uns gern bei Liedern, die vor Hunderten von Jahren Waldspaziergang gemacht haben, konnten wir dem Alltagsstress entfliehen. geschrieben wurden. Den Geist dieser Originale versuchen wir zu erhalten, Ein Sonnenuntergang, eine Sternennacht, das Gefühl von Wind in den indem wir Instrumente aus der damaligen Zeit in die Songs einbauen, die Haaren, der Klang der Meereswellen – das alles konnte unendlich inspi- wir aus diesen Melodien machen. Also spielen wir etwa Schalmei, Rausch- rierend sein. Aber seit so viele Menschen zu Hause festsitzen und sich ihr pfeife, Krummhorn oder Gemshorn, fügen aber auch moderne Instrumente, Leben drastisch verändert hat, brauchen sie diese Waldspaziergänge, um neue Arrangements und neue Texte hinzu. Auf diese Weise bekommen bei Verstand zu bleiben. Sie werden immer introspektiver, die Natur heilt die alten Lieder neues Leben eingehaucht, und hoffentlich können sich einmal mehr ihre Seelen. Es ist eine der wenigen Sicherheiten, auf die Leute aus unserer Zeit in den Songs und Geschichten wiederfinden. wir uns dieser Tage verlassen können. Als Frontfrau einer Rockband: Rock ist traditionell ein sehr männliches Warum hat euch gerade die Musik der Renaissance inspiriert? Hatten Genre. Ist das in letzter Zeit besser geworden – und was können wir die Leute früher eine bessere Beziehung zur Natur? machen, damit es noch besser wird? Night: Es ist eine der besten Seiten, in der heutigen Night: Es hat schon immer Frauen gegeben, die in die Zeit zu leben: Wir können die Früchte der Vergangen- männerdominierte Rockwelt vorgedrungen sind. heit ernten und entscheiden, was davon in unser heu- Janis Joplin, Stevie Nicks, Tina Turner … Viele haben tiges Leben passt. Ich liebe die Bilder von Jungfrauen, es geschafft, die Mauern einzureißen. Auch in anderen die dem davonreitenden Ritter zum Abschied mit ihrem Genres, wenn man etwa an Dusty Springfield, Dolly Taschentuch zuwinken, während Lagerfeuer die Parton, Cher oder Ronnie Spector denkt. Das mag Silhouetten der Hügel zieren … Aber das ist nicht die nicht Rock gewesen sein, aber in der Industrie hat Realität dieser Zeit. Trotzdem ist es meine Wahr- jede dieser Frauen ihre Spuren hinterlassen und war nehmung, und ich ziehe meine Inspiration eben aus eine unabdingbare Wegbereiterin für die Frauen, die einer Fantasie über diese Ära. Ich glaube, Menschen ihr nachgefolgt sind. Schwestern, Mütter, Großmütter: aller Perioden haben eine gesunde Beziehung zur Wir sind alle verbunden, und der Kreis beginnt von Natur. Anderen wiederum fehlt diese Beziehung – es neuem. Jede Frau macht es ein wenig leichter für die kommt auf die Individuen an. So ist es bis heute. Nature’s Light nächste Generation. Allerdings würden wir ohne die Natur alle sterben. ist gerade erschienen Interview: Matthias Jordan 10 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 11 Szene | Musik www w.re .rese ervix.de dein ticke tick ke etpo tportal rtal weit Bundes 90.0n0 0 ts! Eve Pippo pp Pollina o 16.01.22 Linz (AT) T 18.01.22 Nürnberg 20.01.22 Karlsruhe 21.01.22 Trier 23.01.22 Leipzig Foto: Neil Krug 26.01.22 Berlin ... und weitere Ter e mine e „I come from a small town The Dark Tenor e r 26.11.21 26 21 Krefeld far away/I only mention it ’cause 10.12.21 Kaierslauter en 15.12.21 Baden-Bad den I’m ready to leave LA/ 16.12.21 Bochum 17.12.21 Erfurt and I want you to come“ 21.12.21 Hamburg aus: „Let me love you like a Woman“ ... und weitere Ter e mine e Auf „Chemtrails over the Country Club“ wagt Lana Del Rey den Sprung vom sonnigen Kalifornien in den ländlichen Mittwesten und gibt diesmal den bodenständigen Folkie – ohne dabei auf die für sie typische, prachtvolle Americana zu verzichten. Alte Bekannte 08.10.21 Regensburg 21.11.21 Fulda 05.11.21 Mainz 27.11.21 Lüneburg 14.11.21 Stuttgart ... und weitere Ter e min ne Foto: Dudi Hasson 19.11.21 Potsdam Durchhaltehymnen 24.11.21 Leverkusen n Im Jahr 2017 tauchte die Produzentin, Sängerin und Rapperin aus 25.11.21 Leer Tel Aviv erstmals auf dem Radar auf und thematisierte mit ihrem 26.11.21 Achim Debüt den Krieg und die Konflikte ihrer Heimat. Noga Erez deutete 12.12.21 Hamburg einen ganz und gar eigenen Sound zwischen Contemporary Pop, 22.12.21 Oberhausen n HipHop und sperriger Elektronik an – nur hatte sie sich bei „Off the Radar“ noch zu sehr auf Übersongs wie „Dance while you shoot“ ... und weitere Ter e mine verlassen. Auf „KIDS“ ist die 31-Jährige mutiger, formuliert Ideen radikaler aus – und kommt bei einem Album voller Stand-out-Tracks an. Mit toxischen Beziehungen und Depression sind die Songs ver- www w.re .reserv vix.de meintlich privater, und vielleicht hat ja auch ihre Mutter geholfen, die Hotline 01806 700 73 33 per Sample fordert: „Can we get more sub so he can feel it?“ Zudem 0,20 € pauschal aus dem deutschen Festn netz, Alle Angaben ohne Gewähr ist „KIDS“ auch Lockdown-kompatibel: „I don’t know what really, really aus dem Mobilfunknetz 0,60 € happens at the End of the Road“, sprechsingt Erez – und wir tanzen zu diesem niederschmetternden Eingeständnis. cs kulturnews | 11 / reservix
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 12 Musik | Jazz + Klassik CHECKBRIEF FRANCESCO TURRISI GEBOREN 1977 CHECKBRIEF KOMMT AUS Turin, Norditalien LEBT IN Irland RHIANNON GIDDENS SPIELT Klavier, Akkordeon, GEBOREN 1977 Laute und Trommeln KOMMT AUS Greensboro, North Carolina ENTDECKT die Musikgeschichte LEBT IN Irland ihrer beider Heimatländer SPIELT Geige, Banjo, Bratsche ARBEITET stets wohlüberlegt ENTDECKT die Musikgeschichte ihrer beider Heimatländer ARBEITET am liebsten spontan Sagt mal, von wo kommt ihr denn her? Foto: Ebru Yildiz Rhiannon Giddens und Francesco Turrisi haben auf den ersten Blick wenig gemein. Doch mit ihrer Mischung aus italienischem, amerikanischem und irischem Folk überwinden sie Zeit und Raum. Rhiannon, für „They’re calling me home“ hast du zum zweiten Mal mit leben, wenn man die Möglichkeit nicht mehr hat, jederzeit nach Hause deinem Partner Francesco Turrisi zusammengearbeitet. Wie habt ihr zu fahren. Vieles an meiner Heimat wusste ich erst zu schätzen, nach- euch kennengelernt? dem ich sie verlassen hatte – das erhält jetzt ganz andere Dimensionen. Rhiannon Giddens: Francesco hat meine Band, die Carolina Chocolate Wir haben versucht, uns unsere Heimat nach Irland zu holen. Ich habe Drops, schon vor Jahren kennengelernt. Er hat mich kontaktiert, weil er gelernt, Gerichte aus dem Süden zu kochen, und Francesco hat sich eine der Meinung war, dass unsere Musik gut zusammen funktionieren Espressomaschine gekauft, um sich ein Little Italy zu erschaffen. (lacht) würde, und weil wir beide in Irland leben. Aber daraus hat sich zunächst Das gleiche haben wir mit der Musik gemacht: Wir haben uns an unsere nichts weiter ergeben. Vor etwas über drei Jahren hat er sich dann wieder musikalischen Anfänge zurückerinnert. bei mir gemeldet, und diesmal standen die Sterne wohl einfach richtig. Dabei seid ihr auf Songs wie „O Death“ gestoßen, die sehr alt sind – Ihr beide setzt euch schon lange intensiv mit ganz unterschiedlichen und die doch nahtlos an die Welt anschließen, wie wir sie heute erleben. Musiktraditionen auseinander. Was habt ihr gemeinsam? Glaubst du, Folkmusik hat ein größeres Potenzial dafür, Menschen mit- Giddens: Im Bezug auf die Stile, die wir spielen, und einander zu verbinden? unsere Biografien gibt es eigentlich gar keine Ge- Giddens: Ja, absolut. Zum einen, weil sie Melodien meinsamkeiten. Aber unter anderen Gesichtspunkten und Strukturen enthält, die überall auftauchen und haben wir doch sehr viel gemein: Wir haben etwa so viel beeinflusst haben. Zum anderen, weil sie beide an Musikhochschulen studiert – er Jazz, was Themen anspricht, die zeitlos sind und uns mit- mein kultureller Background ist, und ich italienische einander und auch mit unserer Vergangenheit ver- Oper, was ja eigentlich sein Ding ist. Für uns ist es binden. Dabei muss ich an einen Song von „They’re aber weniger wichtig, was wir spielen. Was zählt, ist calling me home“ denken: „Waterbound“, ein die Herangehensweise und die Absicht. Traditional aus dem Amerikanischen Süden. Heimat ist ein zentrales Thema auf „They’re calling Francesco und ich haben es zusammen mit Niwal me home“. In der Pandemie hat Heimat allerdings gespielt, unserem Gitarristen, der aus dem Kongo auch eine ganz neue Bedeutung bekommen. stammt und auch in Irland lebt: wir drei, zusammen Giddens: Ja. Durch die Pandemie hat sich unser auf einer Insel, von der niemand von uns stammt. Verhältnis zu unserer Wahlheimat Irland grundlegend They’re calling me Home verändert: Es ist etwas ganz anderes, woanders zu erscheint am 9. April Interview: Jonah Lara 12 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 13 Jazz + Klassik | Musik Nik Bärtsch Entendre ECM SOLO PIANO „Ich wollte mich ambitionslos hingeben“, sagt Nik Bärtsch. „Es ging nicht darum zu zeigen, dass ich Klavier spielen kann.“ Eine solche Leistungsschau wird sicher keiner von einem Pianisten verlangen, der bereits zwölf erfolgreiche Alben veröffentlicht hat. Der Schweizer hat sich im Quartett Ronin einen Namen gemacht, erweitert um ein Streicherensemble heißt die Band Mobile. Nun erscheint sein erste Soloalbum: Der hypnotische „Zen Funk“, der mehr von Minimal Music als vom Modern Jazz zehrt, profitiert von dem natürlichem Raumklang des Konzertsaals, in dem „Entendre“ in first takes aufgenommen wurde. Der Pianist zeigt sich hier eingedampft auf die Essenz. Die kühle Repetition, die finster-groovende Ekstase, der perkussiv eingesetzte Flügel: Bärtsch hypnotisiert mit scheinbar einfachsten Mitteln – und zeigt gerade so seine Meisterschaft. jp BALMORHEA the WIND Jazzrausch Bigband HI GHLI Téchne R G ACT D a s n e u e A l bu m d e s h o ch ge l o b t e n HÖ HT BIGBANDTECHNO Dieser Band fehlt D u o s a u s Te x a s #4 nur eines: Publikum. Zuhörmusik für /2021 couch potatoes war noch nie die Sache der Jazzrausch Bigband – der Sound der Münchner taugt allein zum Abkochen auf der Tanzfläche. Da macht das neue Album „Téchne“ keine Ausnahme: Wuchtige Technobeats und opulent arrangierte Bläsersätze zeichnen das Lockdown-Werk des Jazzrausch-Kollektivs aus. In die Band haben sich ein paar illustre Namen aus der ACT-Familie eingereiht: Nils Landgren und Viktoria Tolstoy sind ebenso am Start wie Gitarrist Kalle Kalima und Drummer Wolfgang Haffner. Textlich sorgen die betörend zu Werk gehenden Sängerinnen Nesrine und Jelena Kuljic für jene Portion Anspruch und Niveau, die das Hirn beim Zappeln weder über- noch unterfordert. Aufgenommen hat das Ensemble den aktuellen Longplayer im Technoclub Harry Klein – allerdings ohne schwitzende Leiber und Stroboblitze. ron WeNeT Neue Heimat Lakeland Records PROGJAZZ Es ist dieser schmatzende Schwulst der Hammondorgel, der wohl jede Musik- produktion mit dem Ausnahmeinstrument in ein ganz spezielles Licht taucht. Aber halt: „Neue Heimat“ ist kein Orgelalbum. Trioleader ist ganz klar der Leipziger Gitarrenprofessor Werner Neumann, der in Ve r e i n t A m b i e n t , K l a s s i k u n d seinen Kompositionen feinfühlig Jazz- und Fusiontraditionen der 70er zelebriert. Mit flinker Finger führung auf Akustikinstrumenten und Amer icana auf T h e W i n d E-Gitarrenpassagen von clean bis extrem effektgetränkt gönnt sich Neumann vertrackte Uptemponummern – und doch ist da auch viel Raum für Lyrisches. Nie bekommt der Zuhörer nur das eine oder das andere: Dieses Trio ist viel zu kreativ, um sich mit dem Konzept „ein Song, eine Stimmung“ abzufinden. Wer Prog und Jazzrock aus der E RHÄLTLIC H AB Oldschool mag, findet hier eine neue Heimat. ron 09 APRIL 2021 kulturnews | 13 store.deutsche-gr ammophon.com
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 14 Musik | Platten Die beste Musik # 4/2021 Floating Points Pharoah Sanders + The London Symphony Orchestra Promises Luaka Bop/!K7 ELEKTRONIKA Ein kurzes, fragendes Motiv aus sieben Noten ist das erste, was wir hören. Es kehrt immer wieder, zieht sich wie ein Puls durch das neue Album von Floating Points und Pharoah Sanders. In Wahrheit ist „Promises“ aller- Foto: Moritz Hagedorn dings eine lange Komposition, die neun Foto: Iiri Poteri Teile gehen nahtlos ineinander über. Messer & Toto Belmont Fünf Jahre haben Sam Shepherd alias Floating Points, bekannt für seine elek- tronischen Jazzcollagen, und Saxofon- No Future Dubs Postpunksounds für Messer und durchschritt legende Sanders daran getüftelt. Heraus- Trocadero persönliche Erinnerungen anhand räumlicher gekommen ist ein Stück, das den unein- Haltegriffe: eine Kartografie der Vergangenheit. deutigen Charakter der Anfangsfigur auf- DUB Vorschlag für einen Selbstversuch: Legt Diese Haltegriffe werden hier nun ganz in greift und über 47 Minuten in der euch auf eure Couch oder einen Teppich, aber einem Dub aufgelöst, in dem Postpunk nur Schwebe hält. Obwohl auch das London nicht aufs Bett – der Ort muss unvertraut sein. noch spurenhaft enthalten ist. Übrig bleiben Symphony Orchestra mit ein paar Schließt eure Augen und hört Messers viertes die Gefühle, die das Schwesteralbum herauf- Streichern zu hören ist, vermeidet Album „No Future Days“. Dann versucht einzu- beschworen hat – in Reinform. Damit schaffen „Promises“ die gängigen Neoklassik- schlafen. Wenn ihr daraufhin Messer nicht nur das schier klischees, indem sich – außer besagtem träumt, wird sich dieser Traum so Unmögliche, indem sie mit Motiv – fast nichts wiederholt. Statt- anfühlen, wie „No Future Dubs“ weniger Kohärenz und fetzen- dessen ergänzen Sanders’ Improvisatio- klingt, das Remixalbum, das hafteren Texten noch transporta- nen und Shepherds ausgeklügelte Klang- Messer gemeinsam mit ihrem bler werden. Sie gehen zugleich teppiche sich zu einem erstaunlich orga- finnischen Produzentenfreund den nächsten Schritt nach ihrer nisch klingenden Ganzen: Wenn „Parallels“ Toto Belmont gezaubert haben. kartografischen Erinnerungs- in der Mitte zu einem schwelgerischen „No Future Days“ war die Erkun- aufarbeitung: ein Heimkommen, Höhepunkt anschwillt, fühlt es sich fast dung eines neuen, dubaffinen bei dem doch alles anders ist. jl an wie ein lebendes, atmendes Wesen. mj Xiu Xiu beschissenen Menschen bei 60/40 liegt, und nicht, wie ich immer geglaubt habe, bei 1/99.“ Oh No Wirkliche Ausreißer stehen allerdings nicht auf der Polyvinyl Gästeliste: am ehesten noch George Lewis Jr. alias Twin Shadow – doch auch den holen sie mit der NOISEPOP Seit vielen Jahren verstecken sie ganz angeschrägten Pathoshymne „Saint Dymphna“ große Popmomente hinter verzerrten Gitarren und auf die dunkle Seite. Wie erwartet sind „Sad nervenzersägender Elektronik. Und weil Mezcalita“ mit Sharon Van Etten und „I dream of Xiu Xiu nun ein Dutzend Veröffentlichungen voll- someone else entirely“ mit Owen Pallett matches bracht haben, gönnt sich die kalifornische Band made in hell. Und dann ist ist da auch noch diese ein Album voller Duette. Für Mastermind Jamie großartige Coverversion von „One Hundred Years“: Stewart ist das durchaus auch mit einem thera- Im Verbund mit Chelsea Wolfe vervielfachen peutischen Effekt verbunden: „Unsere Gäste haben Xiu Xiu die abgründige Dringlichkeit des Cure- mir gezeigt, dass das Verhältnis von schönen zu Klassikers. cs 14 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 15 Platten | Musik Godspeed You! Black Emperor G_d’s Pee AT STATE’S END! Constellation POSTROCK In einer Zeit, in der man jedes einzelne selbst- ernannte Corona-Statement eines Künstlers oder einer Künstlerin fürchten muss, sind Godspeed You! Black Emperor eine seltene Ausnahme. Zum einen, weil die Band es sichtlich ernst meint: Schon seit dem Debütalbum von 1997 hat ihr dystopischer Postrock eine politische Dimension. Ein Statement zur Lage der Nation (oder deren Ende) ist für sie kein hohler Opportunismus. Zum anderen: Weil ihre Musik instrumentell ist, kommen sie ohne Klischees oder Verkürzungen aus – bei Stücken, die sich regelmäßig auf eine Länge von 15 bis 20 Minuten einpen- deln, ist eher das Gegenteil der Fall. Und daher ist „G_d’s Pee AT STATE’S END!“ auch so eine willkommene, ja, herbeigesehnte Platte. Die neue politische Realität und ihre Unsicherheiten haben Godspeed You! Black Emperor neu belebt. So ist ihr nunmehr siebtes Studio- album vor allem auf seiner ersten Hälfte deutlich reduzierter und rok- kiger als bisher – und allen Widrigkeiten der Gegenwart zum Trotz lädt die zweite, triumphal orchestrale Hälfte mehr als alle bisherigen Alben der Quebecer*innen dazu ein, hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft zu blicken. jl OPTIMISTISCH NACH VORN The Antlers Green to Gold Transgressive SLOWCORE Mit „Hospice“ aus dem Jahr 2009 haben The Antlers die wohl traurigste Platte aller Zeiten veröffentlicht, und auch nach dem Konzeptalbum über Tod und Verlust ging es in den Texten von Sänger Peter Silberman ans Eingemachte – wurde aber vom immer erhabeneren Songwriting und unwiderstehlichen Melodien abgemildert. Wie übergroß wird nun also das Drama, wenn die New Yorker Band nach sieben Jahren zurückkehrt und Silberman in dieser Zeit mit einem schweren Hörsturz, Stimmproblemen und Schreibblockaden zu kämpfen hatte? Tatsächlich ist „Green to Gold“ aber eine Aussöhnung, die die Schwere der Vergangenheit nicht leugnet und all jenen Hörer*innen einen optimistischen Blick nach vorn anbietet, die auch nach mehr als zehn Jahren noch den Schmerz von „Hospice“ fürchten. Sicher, es braucht den Mut des Älterwerdens, um sich bei „Just one Sec“ und „It is what it is“ an Americana anzulehnen oder den sanft groovenden Lauf der Jahreszeiten im siebenminütigen Titelstück zu verfolgen. Und ganz ohne Tränen geht es auch nicht – ganz besonders dann, wenn sich Silberman in „Solstice“ an einen unbeschwerten Sommer seiner Jugend erinnert. cs kulturnews | 15
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 16 Musik | Plattenchat SOUND OF KULTURNEWS listen on kulturnews.de Auflegen oder aufregen? Platten, die man im April hören muss – oder eben nicht. INTERNATIONAL MUSIC CHANTAL ACDA SERPENTWITHFEET TITEL TITEL TITEL Ententraum Saturday Moon Deacon VÖ VÖ VÖ 23. 4. gerade erschienen gerade erschienen Jonathan: Ich verneige mich vor der abge- Jonathan: Das Album strahlt für mich insge- Jonathan: Hier fällt es mir irgendwie schwerer, drehten Kreativität – sowohl lyrisch wie auch samt eine getragene Eleganz aus, harmonisch eine Verbindung herzustellen. Ich kann die musikalisch. Dass der Ententraum vor Referenz- durchsetzt von melancholischen wie auch Scheibe problemlos hören, aber sie ist fast und Inspirationsvielfalt nur so sprüht und das verspielteren Momenten. Als Hörer finde ich in schon zu locker und leicht, was die Arrange- Ganze mit einem Augenzwinkern präsentiert, jedem Stück genug Raum, um die Gedanken ments betrifft … oder vielleicht trifft es „zu ist sehr charmant. Aber ich ziehe surreale schweifen zu lassen, mich auf den Song ein- minimalistisch“ besser? Hängen bleibt wenig. Bilder (auch im Museum) einer entsprechend zulassen und Chantal Acda auf dieser Reise Carsten: Anfangs dachte ich auch, mir würden anmutenden Musik vor. Deshalb überlasse ich zu begleiten. Aber es ist keine Platte, die ich die Abgründe vom Debüt fehlen – aber genau es meinen Mitchattenden, ob die Band hier immer, sondern nur in passenden Momenten dieser Verzicht ist seine Selbstermächtigung. den träumenden Vogel tatsächlich abschießt. hören würde. Josiah Wise feiert schwule Liebe mit wunder- Mitja: Also ich reiche die Vogelflinte weiter nach Verena: Ich höre ja wirklich gerne und viel schönen R’n’B-Songs wie „Hyancinth“ oder hinten durch, International Music sprechen Folk, auch den, der eher gestrig als retro ist, „Amir“, und für mich ist in diesem Monat mich überhaupt nicht an. Was ist das über- aber Chantal Acdas musikalischer Ansatz niemand schöner. haupt für Musik? Altherren-Psychrock? Sorry, erschließt sich mir null. Kaum zu glauben, Verena: Mir geht es wie Jonathan, das zweite aber mein Humor ist das nicht. dass sie mit Nils Frahm und Peter Broderick Album des New Yorkers löst nicht wirklich Verena: Mich verbindet mit den gebürtigen zusammengearbeitet hat und hier so ein post- etwas bei mir aus. Das ambitionierte Konzept Essenern eine leidenschaftliche Hass-Liebe: folkrockig unausgegorenes Werk präsentiert – hinter der Platte ist super, aber das ausge- den vermeintlichen Apfel der Erkenntnis auf und wer bitte erlaubt noch minutenlang nerven- rechnet mit mittelmäßigem 90er-R’n’B zu tun, dem Cover präsentieren und ihn dann mit de Gitarrensoli. Für mich leider nur langweilig. den selbst Blackstreet mitreißender hinbekom- einem schrägen Mix aus Intellektpop und Carsten: Ich mag „Disappear“ trotz Gitarren- men haben … Schade, aber Harmlosigkeit Postschlagerpunk zerlegen. Respekt! Keine gegniedel – weil Mimi Parker von Low mitsingt. kann ja auch betören. Ahnung, ob ich hier grässlich unterhalten oder Und in schwachen Momenten bin ich auch Mitja: Wie meint Jonathan das bloß? Ein „zu herrlich verarscht werde. Ziemlich gut das! für das schmonzige „The Letter“ anfällig. minimalistisch“ gibt es für mich eigentlich gar Carsten: Bin da bei Verena. Inhaltlich unter- Mitja: Nach einer Ladung Tune-Yards ist das nicht. Hatte wie Verena ein bisschen die stütze ich „Spiel Bass“, weil ich mich schon hier gut zum Runterkommen. Aber wenn Befürchtung, dass mir das alles zu aufgesetzt so lange mit einem Bassisten verpartnern parallel nicht die Tune-Yards drohen, vermisse ist. Aber 90er und Blackstreet? Ich finde, Wise möchte. Musikalisch liegt mir aber eher die ich diese Platte auch nicht. Da bin ich dann holt den R’n’B absolut ins Jetzt. Also feier ich „Insel der Verlassenheit“. Noch Fragen? ganz bei Verena und tue diese Platte als lahmes mit Carsten die Platte ab. Gut, dass wir das Gedudel ab. Schlusslied auflegen! 16 | kulturnews
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 17 Plattenchat | Musik GASTHÖRER Foto: Elisabeth Graf Gatterburg Foto: privat Foto: privat Foto: privat VERENA REYGERS MITJA STEFFENS CARSTEN SCHRADER JONATHAN GESCHWILL hat so viel Aufregung wie in ist genervt, dass immer noch weitet ab einer Inzidenz von verstärkt das kulturnews-Team seit März dieser Chatrunde lange nicht der Corona-Blues gespielt 350 seine Verpartnerungsliste als Sales Manager im Bereich Urbane erlebt: Sind International Music werden muss. Aber wie sagte aus: Neben den üblichen Kultur. Hier und jetzt wagt er sich aber doof oder genial, klingt Indie- schon Franz Schubert? „Wer Bassisten stehen da dann aus seinen eigenen musikalischen Ikone Jenn Wasner wie eine die Musik liebt, kann nie ganz auch Josiah Wise und Wohlfühlnischen heraus und schaut, kanadische Pianofee, und darf unglücklich werden.“ Jenn Wasner drauf. Und ob es etwas Neues zu entdecken gibt. auch schwule Liebe einfach Passend dazu kann man dank Mitja – wenn er sich einen nur langweilig sein – wer Plattenchat nun auch zu Hause Bass besorgt :) braucht noch Netflix, wenn mit Modeselektor feiern. er den Chat haben kann? Es geht also aufwärts! FLOCK OF DIMES TUNE-YARDS MODESELEKTOR TITEL TITEL TITEL Head of Roses Sketchy. Extended VÖ VÖ VÖ gerade erschienen gerade erschienen 9. 4. Jonathan: Irgendwie hatte ich bei Flock of Jonathan: Oooookay, das ist ungewöhnlich. Jonathan: Dieses „Mixtape“ hat mir viel Freude Dimes und Chantal Acda das Gefühl, dass Definitiv experimentell, mit einem Schuss bereitet. Elektronische Klangwelten, bei denen sich die Platten ähneln. Nicht zwingend musi- Funk hier und einer Prise Soul da (unter man sich treiben lassen kann. Modeselektor kalisch, sondern eher von der Intention und anderem). Die Songs haben mich ab und zu können kurz und lang, ambient und aggro Motivation her, solche Alben entstehen zu lassen zum dezenten Kopfnicken eingeladen, und ich und die ganze Palette dazwischen. Hut ab vor (dem eigenen Instinkt folgen) – aber musika- würde sogar sagen, dass die Platte für die diesen gelungenen Soundtüfteleien. lisch könnte man Parallelen bei den ruhigeren Tanzfläche taugt. Mitja: Wenn ich Modeselektor höre, muss ich Stücken sehen. Jenn Wasner weiß jedenfalls Carsten: Für mich haben Merrill Garbus und unweigerlich an eine meiner schönsten Klub- mit ihrer ganz eigenen Eingängigkeit zu gefallen. Nate Brenner vor drei Jahren ihr Meisterwerk nächte überhaupt denken: im Club 11 zum Oh, und an vereinzelten Stellen habe ich mich veröffentlicht – was neben den politischen Sonnenaufgang über den Dächern Amsterdams. an Sarah McLachlan erinnert gefühlt. :-) Texten vor allem auch am Popappeal gelegen Der rohe Mixtape-Charakter bringt einiges Verena: Äh, Jonathan – von welchem Planeten hat. Das hier ist nicht so ganz mein Sound, vom Charme der älteren Alben mit, das gefällt genau hast du dich zugeschaltet? ;) Jenn Wasner trotzdem funktioniert der Anschluss für mich, mir. Ist sauber zusammengemixt und somit überzeugt nicht nur als Multiinstrumentalistin weil sich die beiden so wunderbar verdreckt optimal für die Party daheim. und bessere Hälfte des Indieduos Wye Oak, und eben unberechenbar auf rockigen Carsten: Schon, allerdings komme ich mit der auch solo finde ich sie großartig. Auf ihrem Retrosoul beziehen. Tanzt du mit, Mitja? Mixtape-Idee nicht so gut klar. 27 Stücke in zweiten Album sogar noch mehr, was sicherlich Mitja: Eigentlich ja, aber meistens driftet mir 66 Minuten. Ich warte da wohl eher auf die daran liegt, mit welcher Hingabe sie Lärm mit das zu sehr ins abgedrehte Geplärre ab. So nun folgenden monatlichen EPs mit Remixen, Intimität verbindet. Und dank Sylvan-Esso- auch hier: Was wäre „hold yourself“ doch für Vertiefungen und sicherlich spannenden Gästen. Produzent Nick Sanborn ist „Head of Roses“ ein schöner Retrohit, sogar mit Saxofon. Aber Verena: Hm, mittanzen würde ich derzeit auch noch eine extrem tanzbare Platte. zum Ende hin wird es mir zu virtuos. Und überall, aber nicht zu jeder Musik. Und obwohl Mitja: Ich stimme Verena zu: eine starke Platte. andere Tracks gehen ja direkt so wild los, ich als Technolaie Modeselektor durchaus Manche Songs erinnern mich an Imogen Heap, dass ich Herzrasen bekomme. schätze, scheint mir die Mixtape-Idee aus der aber Wasner offenbart viel mehr Persönlichkeit. Verena: „Sketchy“ überrascht mich mit orga- Coronanot geboren. Für mich ergibt sich kein Carsten: Das sehr heterogene Album hat nischem Alternativerock-HipHop-Funk, in dem homogenes Set, sondern sehr isoliert und auch Hänger, aber „Price of Blue“ reicht für sich Garbus und Brenner bei aller Toserei monoton gehaltene Beats, die mir außerdem mich schon fast an den Wye-Oak-Überhit überzeugend eingerichtet haben. Ganz groß- zu hart und nüchtern sind. Wenn wieder „Civilian“ ran. artig auch der Jazzschwenk in „Hypnotized“ Klubs, dann bitte aus dem Vollen schöpfen. mit bestehend eingängiger Hook. kulturnews | 17
01-32_kulturnews_04_2021-jw-1k.qxp_01-32_kulturnews_04_2021 30.03.21 15:20 Seite 18 Buch | Literatur Abb.: Hanser Verlag Hasst du dich lieb, Charlie Kaufman? Mit Drehbüchern wie „Being John Malkovich“ hat er das Kino revolutioniert. Jetzt nimmt sich Carlie Kaufman die Literaturwelt vor – und erzählt in seinem Debütroman von einem weißen alten Mann. › „Being John Malkovich“, „Vergiss mein nicht!“, „Synechdoche, New York“: In den Nullerjahren war der Drehbuchautor und Regisseur Charlie Kaufman Exkursen unterbrochen wird, sondern mit fortschrei- tender Handlung auch immer mehr zerfasert. Wenn Rosenberg versucht, seine Erinnerung mit Hilfe von nicht nur Kritikerliebling, sondern auch an der Kinokasse Psychiatrie und Hypnose anzukurbeln, nimmt die sehr erfolgreich. Doch weil die Studios immer weniger Handlung vollkommen aberwitzige Wendungen und bereit sind, abgedrehte und kostspielige Filme zu wagen, verlagert sich an obskure Schauplätze wie Hirn- weicht der 62-jährige New Yorker jetzt auch auf die windungen, Himmelsleitern und geheimnisvolle Literatur aus, wo er keine Budgeteinschränkungen Höhlen. Wer aber ist dieser neurotische Intellektuelle fürchten muss und komplett frei drehen kann: Sein B. Rosenberg, der einem Woody-Allen-Film entsprungen Debütroman kommt auf stolze 864 Seiten. Und der sein könnte? Rosenberg brüstet sich nicht nur ständig Plot toppt den Irrsinn seiner Drehbücher, während er mit der Tatsache, dass er eine afroamerikanische zugleich vertraute Motive aufgreift wie etwa das Freundin hat, sondern er weiß auch ganz genau, wie Löschen und Wiederholen von Erinnerungen. Antiheld er sich bezüglich Identitätspolitik und Diversity zu ver- von „Ameisig“ ist der Endfünfziger B. Rosenberg, ein halten hat. Lacht der alte weiße Leser, wenn Diskurse Filmfreak, der abseitige Kritiken und Bücher schreibt, Charlie Kaufman Ameisig über genderneutrale Sprache immer wieder auftauchen die kaum jemand liest, und der sich als Dozent so Hanser, 2021, 864 S., 34 Euro und karikiert werden? Dann bleibt ihm das Lachen im gerade eben in New York über Wasser halten kann. Aus d. Engl. v. Stephan Kleiner Halse stecken, denn Rosenberg schont auch sich Als er für eine Recherche nach St. Augustine reist, lernt selbst nicht und stellt in seinen Monologen die eigene er den 119-jährigen Afroamerikaner Ingo Cutbirth Erbärmlichkeit offen aus. Natürlich hadert er mit dem kennen, der seit 90 Jahren an einem Film arbeitet. Rosenberg wittert die Verfall der Kunst; zugleich ist er ein Opportunist, der sich die Haltungen Chance seines Lebens: Womöglich ist das dreimonatige Epos der wich- aneignet, die es vermeintlich braucht, um innerhalb des Kulturbetriebs tigste Film aller Zeiten! Tatsächlich erklärt Cutbirth sich bereit, ihm das doch noch Anerkennung zu finden. Woran glaubt er wirklich, wem fühlt er Werk vorzuführen – doch dann verstirbt der Regisseur während der Vor - sich verpflichtet und was befeuert seine Leidenschaft? Kaufman nutzt den führung. Rosenberg hält sich nicht an die Absprache, den Film nach des- Erzähler auch als Vehikel für seinen Selbsthass und lässt Rosenberg über sen Tod zu zerstören. Wie gebannt schaut er ihn bis zum Ende und ist das filmische Schaffen eines gewissen Charlie Kaufman ätzen. Ein Begreifen immer euphorisierter. Doch als er das Werk für weitere Sichtungen nach gibt es in „Ameisig“ nicht. Mit fast 900 Seiten ist Kaufmans Debütroman New York überführen will, geht der Laster mit dem hochsensiblen mit all den aberwitzigen Exkursen, Referenzen und narrativen Brüchen ein Material in Flammen auf. Zudem erleidet Rosenberg bei seinem nahezu unendlicher Spaß. Den alten weißen Männern, dem Problem der Rettungsversuch heftige Brandverletzungen und fällt in ein mehrmonati- kulturellen Aneignung und den vielen Fragen der Identitätspolitik kann der ges Koma. So ist nicht nur das vermeintliche Meisterwerk verloren, son- Roman mit neuen Antworten nicht beikommen – wohl aber mit neuen dern auch Rosenbergs Erinnerung an den Inhalt. Perspektiven aus den absurdesten Blickwinkeln. Zwischen Selbsthass und Kulturkritik verliert sich der Roman analog zum Hauptplot in erkenntnis- Soweit der zentrale Plot, der nicht nur von dem unfassbar geschwätzigen reicher Uneindeutigkeit. Was nicht schlimm ist, denn am Ende kann uns ja Protagonisten immer wieder mit seitenlangen und oft brüllend komischen immer noch die Apokalypse retten. Carsten Schrader 18 | kulturnews
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