Psychische Probleme und psychiatrische Versorgung während der Coronavirus-Pandemie
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1 Jahresthema 2021 «Psychische Probleme und psychiatrische Versorgung während der Coronavirus-Pandemie» Erfahrungen und Herausforderungen Ein aktueller Bericht von Dirk Richter, Dr. phil. habil.; Leiter Forschung und Entwicklung UNIVERSITÄRE PSYCHIATRISCHE DIENSTE BERN (UPD) ZENTRUM PSYCHIATRISCHE REHABILITATION Jahresbericht Nr. 141
2 B. Schmutz Pfarrerin, Bern (Präsidentin) Jahresbericht der Präsidentin Liebe Leserin und lieber Leser Pandemie Ein aussergewöhnliches Jahr liegt hinter uns allen. Die Pandemie hatte und hat uns noch im Griff. Personen mit einer Depression oder Angststörung leiden noch mehr als Gesunde unter dem Verlust sozialer Kontakte, welche Menschen stabilisieren. Denn gesell- schaftliche Veränderungen und irritierende Alltagssituationen wirken sich in be- sonderem Masse auf leicht zu verstörende, besonders verletzliche Menschen wie psychisch Erkrankte aus. Sie leben krankheitsbedingt bereits stärker zurückgezogen und sind häufig auf mühsam aufgebaute Routinen angewiesen. Die oftmals wenig erbauliche Krisen- kommunikation der Medien liefert negativen Gedankenspiralen zusätzlich einen idealen Nährboden. Das kann das ohnehin ausgelastete psychiatrische Versor- gungssystem kaum auffangen. Erschwert durch die allgegenwärtigen Kontaktbe- schränkungen nehmen Betroffene die Hilfen ausserdem noch seltener als zuvor in Anspruch, und nach dem Lockdown im Frühling erlebten viele psychisch kranke Menschen aufgrund erschwerter Arzttermine (oft digital) eine Verschlechterung ihrer Krankheit, was zu vermehrten Klinikaufenthalten führte.
3 Arbeit des Vereins Die Zahl der Gesuche hat deutlich zugenommen, und der Verein musste sich ein- gehend mit der Zukunft des Vereins und dem Erhalt des Vermögens auseinander- setzen. Die Budgetierung ist nur ein Instrument dazu. Ein anders ist die Umwand- lung des Vereins in eine Stiftung, welcher die Mitglieder an der Hauptversammlung zugestimmt haben. Zusätzlich zu den Gesuchen liefen die Vorbereitungsarbeiten dafür an und banden viele Kräfte. Dank Allen meinen Vorstandskolleginnen und -kollegen wie auch den Mitgliedern des Unterstützungsausschusses, die sich sehr engagiert für unsre Klient*innen einset- zen, gebührt mein herzlicher Dank für ihr grosses Engagement. Dem Sekretär danke ich für die gute Zusammenarbeit in einem äusserst anspruchs- vollen Umfeld und mit Umständen, die in diesem Jahr viel zusätzliche Arbeit er- forderten, da es dem Vereinsvorstand wichtig ist, den Zweck des Vereins weiterhin zu sichern. Stiftungsgründung Aus diesem Grund wurde der Verein aufgelöst und in eine Stiftung umgewandelt. Die neue «Stiftung zur Unterstützung psychisch kranker Menschen im Kanton Bern» ist die Fortführung des Hilfsvereins. Um über die geforderte hohe Professionalität wie auch die nötigen zukunftsweisenden Strukturen zu verfügen, ist eine Stiftung die beste Rechtsform. Mit diesem Schritt wird ein gesichertes Vermögen dauer- haft dem urpsrünglichen Vereinszweck zugeführt. Barbara Schmutz, Präsidentin
4 D. Sperling Pfarrer, Aarburg (Sekretär und Kassier) 141. Rechenschaftsbericht des Sekretärs Operativer Bereich Die Anzahl der eingereichten Gesuche mit 59 entspricht erneut einem Höchststand und bestätigt die Einschätzung, dass die bisherige Entwicklung anhält: Die Zahl der Gesuche steigt ungebrochen um fast einen Fünftel. Wir haben unsere finanzi- ellen Unterstützungsmöglichkeiten vollständig ausschöpfen müssen, um den Men- schen helfen zu können. Gerade in Zeiten der Pandemie ist unsere verlässliche Unterstützung für etliche Menschen und Einrichtungen einer der wenigen Lichtblicke gewesen. Dies wurde wiederum möglich, auch dank der Spendenzuwendungen, allen voran zahlreiche Kirchengemeinden der Reformierten Kirche im Kanton Bern. 19 Einzelpersonen und Einrichtungen konnten wir im letzten Jahr mit Fr. 79 000 unterstützen, wovon wir rund Fr. 15 000 an Einzelpersonen ausbezahlt haben. Da wir in den letzten 25 Jahren meistens mehr Geld für Unterstützungen ausge- geben haben, als dass wir Einnahmen generieren konnten, ging dies zu Lasten ei- ner Verringerung unseres Vermögens. Aus diesem Grunde haben wir zum zweiten Mal ein Budget für Unterstützungen als Finanzinstrument eingesetzt, um die Be- willigung von Unterstützungen unseren finanziellen Möglichkeiten anzupassen. Da wir den grösseren Teil unserer Einnahmen über Vermögenserträge finanzieren, müs- sen wir das Vermögen auf dem heutigen Stand «einfrieren». Ansonsten würde un- ser Verein nach einigen Jahren nicht mehr in der Lage sein, Unterstützungen aus- zuzahlen. So standen uns für 2020 Fr. 49 000 zur Verfügung. Dass Budget wurde zwar mit Fr. 79 000 um Fr. 30 000 deutlich überschritten; das hatte aber damit zu tun, dass wir noch langjährige Unterstützungsverpflichtungen hatten, die wir erst per Ende 2020 beenden konnten. Der Sekretär: Didier Sperling
5 Die nachfolgenden Aufstellungen ergeben einen Überblick über die finanziellen Unterstützungen*: Anzahl Gesuche 60 59 50 40 44 Einzelpersonen 30 Institutionen 30 27 20 Total 20 10 15 12 3 4 4 4 5 8 1 0 Bewilligt Abgelehnt Hängig oder Betreffen das Total zurückgezogen Jahr 2021 Bewilligte Unterstützungen in Franken 100 000 80 000 78 679 Einzelpersonen 60 000 64 000 Institutionen 40 000 Total 20 000 14 679 0 Unterstützte Bereiche 100 000 Medizin Betreuung Therapie 78 679 90 000 Haushalt Einrichtung Wohnen 80 000 Mobilität 70 000 Bildung 60 000 40 500 Veranstaltungen 50 000 Wohngruppen 40 000 Projekte 30 000 14 878 Finanzielle Notlage 20 000 8640 6264 Andere 4500 3510 10 000 387 Total 0 0 0 * Die Beträge entsprechen den effektiven, eingereichten Gesuchen im Berichtsjahr und variieren zu der Jahresrechnung, da Bewilligung und Auszahlung sich zeitlich verschieben können.
6 Jahresrechnung 2020 Ausgaben in CHF Einnahmen in CHF Unterstützungen von Patienten 13 348 Unterstützungen von Institutionen 33 790 Zuschüsse an geschützte Wohnungen und Werkstätten 30 000 Jahresberichte 8 500 Webseite 2 402 Allgemeine Unkosten 13 311 Bankspesen 1 423 Liegenschaftsaufwand 30 967 Gönnerbeiträge 29 258 Kapitalertrag 1 141 Liegenschaftsertrag 86 017 Übrige Erträge 950 Total Ausgaben 133 741 Total Ertrag 117 366 Verlust 16 375 133 741 133 741
7 Revisionsbericht In Ausübung meines Mandates habe ich die Vereinsrechnung vom 1. Januar bis 31. Dezember 2020 und die Bilanz per 31. Dezember 2020 des Kantonal-Berni- schen Hilfsvereins für psychisch Kranke geprüft. Das in der Bilanz ausgewiesene Vermögen ist vorhanden. Die im Laufe des Jahres getroffenen Buchungen sowie die Belege wurden geprüft und als richtig befunden. Bern, 27. Februar 2021 Der Revisor: Johannes Münger
8 Jahresthema 2021 «Psychische Probleme und psychiatrische Versorgung während der Coronavirus-Pandemie» Erfahrungen und Herausforderungen Dirk Richter, Dr. phil. habil.; chischen Folgen der Pandemie und zum Leiter Forschung und Entwicklung Stand der psychiatrischen Versorgung ge- UNIVERSITÄRE PSYCHIATRISCHE geben. Ein besonderer Fokus wird auf die DIENSTE BERN (UPD) AG Begleitung von Menschen mit länger an- ZENTRUM PSYCHIATRISCHE dauernden Beeinträchtigungen und ihrer Re- REHABILITATION habilitation in den Bereichen Wohnen und Arbeiten gelegt. Die Coronavirus-Pandemie hat bis Ende März 2021 weltweit 2,8 Millionen Menschenleben Psychische Probleme während grosser gefordert. Durch die Pandemie und die Ein- Epidemien dämmungsmassnahmen sind nahezu alle Die westliche Welt ist seit dem Ende der Menschen global betroffen. Wirtschaftliche 1960er-Jahre nicht mehr von einer Infek- Probleme und soziale Restriktionen haben tions-Pandemie beeinträchtigt worden, die zusätzlich zum Infektionsgeschehen erheb- grosse Teile der Bevölkerung betroffen hat. liche Auswirkungen auf die menschliche Psy- Frühere Infektionsereignisse blieben zu- che und stellen die psychiatrische Versor- meist regional begrenzt wie bei SARS-1 zu gung vor grosse Herausforderungen. Als Teil Beginn der 2000er-Jahre oder betrafen nur des allgemeinen Gesundheitswesens wird bestimmte Personengruppen wie bei HIV/ von der Psychiatrie erwartet, einen wichtigen AIDS während der 1980er- und 1990er- Beitrag zur Infektionskontrolle zu leisten. Jahre. Daher hat man hierzulande nur wenig Gleichzeitig steht das gesamte System bis Erfahrungen hinsichtlich der psychischen auf Weiteres vor dem Dilemma, mit der In- Auswirkungen einer Epidemie solchen Aus- fektionskontrolle die Versorgung und Betreu- masses sammeln können. ung der Nutzenden nicht zu vernachlässigen. In der Forschungsliteratur werden zumeist Nachfolgend wird ein Überblick über den vier zentrale Personengruppen bezüglich der Forschungs- und Wissensstand zu den psy- psychischen Auswirkungen betrachtet: (1)
9 die Allgemeinbevölkerung, (2) Überlebende Pandemie und Lockdown – Auswirkungen der Infektion, (3) Mitarbeitende im Gesund- auf psychische Erkrankungen heitswesen sowie (4) Menschen mit vorbe- Das Infektionsgeschehen und die nachfol- stehenden psychischen Erkrankungen. Hin- genden behördlich verfügten Restriktionen sichtlich der psychischen Reaktionen auf ein wirkten auf die Allgemeinbevölkerung viel- epidemisches Geschehen handelt es sich fach erheblich verunsichernd und beängsti- vornehmlich um Stresserleben, depressive gend. Daher war es verständlich, dass vor Symptomatik sowie Angstreaktionen. Post- allem in den ersten Wochen und Monaten traumatische Belastungen werden naheliegen- während der Pandemie erwartet wurde, psy- derweise eher von Überlebenden berichtet, chische Probleme und auch Suizide würden die zu gewissen Anteilen intensivmedizinisch in der Allgemeinbevölkerung zunehmen und behandelt und beatmet werden mussten und bei Menschen mit psychischen Erkrankun- wo das Überleben infrage stand. Posttrau- gen zu mehr Symptomen und schwereren matische Reaktionen werden ebenfalls von Verläufen führen. Auch wurde erwartet, dass Mitarbeitenden im Gesundheitswesen be- die Risikogruppen für eine Virusinfektion, richtet, die auf Infektionsstationen oder auf etwa ältere Menschen, erheblich mehr psy- Intensivstationen arbeiten. Das Risiko psy- chische Probleme aufweisen würden als jün- chischer Probleme wird hier sowohl durch gere Menschen. das eigene Infektionsrisiko erhöht als auch Die Erfahrungen der letzten Monate und durch das Erleben zahlreicher Todesfälle auch die bisherigen wissenschaftlichen Un- während einer Epidemie. Hinzu kommen tersuchungen dazu haben jedoch gezeigt, Belastungssituationen wie Triageentschei- dass dies nur für einen Teil der betroffenen dungen bei knappen Ressourcen oder aber Menschen und dann zumeist auch nur im die permanente Anspannung und Überfor- Rahmen einer begrenzten Zeit der Fall war. derung, die zu Burnout-Symptomen führen Und insgesamt wurde deutlich, dass die ini- können. tialen Erwartungen hinsichtlich psychischer
10 Betreiber muss Restaurant nach Coronavirus-Ausbruch schliessen.
11 Probleme oftmals nicht mit den späteren em- Bevölkerungsgruppen. In zahlreichen Studien pirischen Daten übereinstimmten. erwiesen sich ältere Menschen trotz eines In der Allgemeinbevölkerung gab es bezüg- hohen Infektions- und Sterblichkeitsrisikos lich psychischer Probleme einen klaren Zu- als relativ stabil bezüglich ihrer emotionalen sammenhang mit der Anzahl infizierter Per- Reaktionen auf das Virus und die staatlich sonen in der jeweiligen Region und mit dem verordneten Restriktionen. Dabei ist natür- Ausmass der sozialen Restriktionen. Das lich zu beachten, dass es sich um Durch- heisst, je gravierender die Pandemie war und schnittswerte handelt. Selbstverständlich ist je drastischer und länger der Lockdown um- in verschiedenen Gruppen und Settings, gesetzt wurde, desto mehr psychische Pro- etwa in der Langzeitpflege, die psychische bleme waren zu erwarten. In der Schweiz – Belastung deutlich grösser gewesen als in und auch etwa in Deutschland – wo die Bereichen, die weniger von Kontakteinschrän- Pandemie während der ersten Welle relativ kungen betroffen waren. gut in den Griff bekommen wurde und wo Im Verlauf der Pandemie stellten sich zwei der Lockdown deutlich weniger einschrän- Personengruppen als psychisch besonders kend war als in den Nachbarländern Frank- herausgefordert dar: Kinder und Jugendliche reich und Italien, waren daher die Auswir- sowie jüngere Frauen. Bei Kindern und kungen auf die seelische Gesundheit weniger Jugendlichen machten sich die sozialen Ein- stark. schränkungen in der Freizeit und im Schul- Generell stellte man in der psychiatrischen bereich erheblich negativ bemerkbar. Sozial- Epidemiologie eine überraschende Resilienz kontakte sind gerade in jüngeren Jahren von der Bevölkerung westlicher Länder während zentraler Relevanz, und diese konnten trotz der erste Pandemiewelle fest. Die psychi- digitalisiertem Alltag nicht hinreichend kom- sche Belastung nahm eindeutig zu, aber dies pensiert werden. Bei jüngeren Frauen kom- führte nicht wirklich zu einem Anstieg psy- men verschiedene zusätzliche Problemlagen chischer Erkrankungen. Viele Indikatoren zusammen. Zum einen haben junge Frauen wiesen sogar in eine gegenteilige Richtung. im Mittel mehr und mehr unterstützende Die Suizidraten waren vielerorts niedriger als soziale Kontakte als gleichaltrige Männer in den Jahren vor der Pandemie, und auch und sind daher hier besonders betroffen. die Notfalleintritte in psychiatrische Kliniken Zum zweiten arbeiten viele Frauen in Berei- gingen gegenüber früheren Zeiträumen deut- chen, die wirtschaftlich besonders getroffen lich zurück. wurden, etwa in der Gastronomie und im Ebenfalls überraschend war der Befund einer Tourismusbereich. Und zum dritten haben erheblich geringeren Belastung der älteren jüngere Frauen nicht selten eine Doppelbe-
12 lastung erfahren müssen, da sie sich neben Ebenfalls aus früheren Epidemien ist die ihrer Berufstätigkeit auch für das Home grosse psychische Belastung von Mitarbei- Schooling verantwortlich fühlten – was jedoch tenden des Gesundheitswesens bekannt. in der Schweiz angesichts der in der Regel Diese ist nicht nur bei Personen gegeben, geöffneten Bildungseinrichtungen deutlich die direkt mit Covid-19-Betroffenen arbei- weniger relevant war. ten. Eine Situation wie die Coronavirus-Pan- In der Schweiz wurden bis Ende März 2021 demie stellt das gesamte Gesundheitswesen um die 600 000 Fälle mit Coronavirus-In- unter erhebliche Herausforderungen. Mitar- fektionen registriert. Darunter sind bekann- beitende im Gesundheitswesen berichten termassen viele asymptomatische Verläufe daher nicht selten von Depressions-, Angst- gewesen, jedoch auch eine grosse Anzahl und Stresserleben. Erwartbar sind zudem von Menschen mit erheblichen körperlichen Burnout-Phänomene vor allem unter grosser Gesundheitsproblemen. Überlebende einer Belastung, wenig Pausen und Freizeit und Covid-19-Erkrankung berichten in der Akut- einem nicht absehbaren Ende der Belastung phase von Angst- und Depressionssympto- durch permanente Neueintritte. Darüber hi- men, viele auch von posttraumatischen Be- naus sind – wie schon erwähnt – posttrau- lastungen. Letztere sind vor allem dann zu matische Belastungssymptome zu erwarten, erwarten, wenn die Krankheit lebensbedroh- wenn die Mitarbeitenden direkt mit vielen lich ist oder sogar eine Beatmung erforder- Sterbefällen sowie mit Triage-Entscheiden lich wird. Neben den psychischen Akutreak- konfrontiert werden. tionen auf die eigene Covid-19-Erkrankung Bei Menschen mit psychischen Erkrankun- erleben zwischen 20 und 50 Prozent der Be- gen hatte die gesamte Entwicklung sehr troffenen eine deutliche Müdigkeit, Abge- unterschiedliche Folgen. Bei vielen, eher af- schlagenheit und Motivationslosigkeit, die fektiv beeinträchtigten Menschen führte die gemeinhin als «Fatigue» bezeichnet wird. Pandemie in der Tat zu mehr Stress- und Be- Diese auch von anderen Viruserkrankungen lastungserleben und auch zu mehr emotio- bekannten Phänomene können Wochen bis nalen Problemen. Andere hingegen konnten Monate anhalten und gehen nicht selten mit mit der Situation deutlich gelassener umge- weiteren körperlichen Symptomen einher, hen. Menschen mit Psychosen etwa, die oh- die mittlerweile zu den «Long Covid»-Folgen nehin vielfach sozial eher isoliert leben, lit- gezählt werden. Bezüglich der Ursachen wird ten oftmals nicht unter den Einschränkungen. eine Kombination aus neurologischen und Manche waren vielleicht auch froh, dass Er- psychiatrischen Beeinträchtigungen ange- wartungen und Anforderungen an ihre Le- nommen. bensführung zurückgingen. Jenseits der Fol-
13 gen für die psychische Erkrankung haben Herbsts und des Winters je nach Infektions- jedoch viele Menschen über den Mangel an lage und kantonalen Bestimmungen diverse Sozialkontakten geklagt sowie darüber, dass Anpassungen und Wechsel in der Versor- sie sich von der psychiatrischen Versorgung gungslandschaft. Mit der Zeit konnte ein ge- ein wenig vernachlässigt gefühlt haben. wisser Gewöhnungs- und Anpassungseffekt festgestellt werden, der dafür sorgte, dass Psychiatrische Versorgung während Infektionsschutz und Bedürfnisse der Nut- der Pandemie zenden in eine – wenn auch nicht ideale – Viele Dienste und Institutionen der Versor- Balance eingepasst wurden. So haben viele gung reagierten unmittelbar nach Ausbruch Kantone auf die sehr strikten Infektions- der Pandemie in der Schweiz (wie auch an- schutzvorgaben für Heimsettings für Men- derswo in der westlichen Welt) mit dem, was schen mit Behinderungen im Laufe der behördlich für das gesamte Land angeord- letzten Monate verzichtet. Hinter den Rest- net wurde: Lockdown sowie Schliessung und riktionen steckte das absolut verständliche Einschränkung der Angebote. Von heute auf Ziel, Infektionscluster in Heimsettings zu morgen waren viele Nutzende nicht mehr in vermeiden. Diese führten in den ersten Wo- der Lage, die für sie zuständigen Stellen zu chen und Monaten der Pandemie zu einer erreichen. Ambulante Dienste reduzierten fast vollständigen Abschottung der Bewoh- den Betrieb oder stellten ihn gar ganz ein. nenden durch Besuchs- und Ausgangsrest- Die stationäre Psychiatrie verfügte vielerorts riktionen. Auf Dauer war dies jedoch nicht Aufnahmesperren für freiwillige Behandlun- angemessen und konnte durchaus auch als gen und reduzierte die Platzkapazitäten, um Diskriminierung von Menschen mit Behinde- Abstand wahren zu können und um poten- rungen betrachtet werden. ziell infizierte Menschen mit psychischen Er- Besondere Problemlagen stellten sich in der krankungen behandeln zu können. Parallel Akutversorgung in den Kliniken. Zum einen zum Abbau der Versorgungsangebote er- wurden die Bettenkapazitäten aufgrund des folgte in verschiedenen Bereichen der Ver- zu erwartenden Infektionsgeschehens in such, die Betreuung und Behandlung über vielen Kliniken deutlich reduziert, um Anste- elektronische Medien wie Telefon oder Video- ckungen zu vermeiden. Zum zweiten muss- konferenzen aufrechtzuerhalten. ten die Akutbereiche reorganisiert werden, Im Laufe des Sommers 2020 kehrten jedoch um infizierte Nutzende von nichtinfizierten viele Versorgungsangebote zu den Betreu- trennen zu können. Und zum dritten erleb- ungsformen von vor der Pandemie zurück. ten viele Kliniken einen deutlichen Einbruch Allerdings erfolgten dann während des bei den Eintritten. Dies geschah vor dem
14 Hintergrund, dass Patientinnen und Patien- Wohnunterstützung während ten mit einem freiwilligen Aufenthalt diesen der Pandemie oftmals gemieden haben, ganz ähnlich wie Die gerade benannten Umstände für die Ver- in der Langzeitpflege, wo zahlreiche verfüg- sorgung im Allgemeinen und für das Erleben bare Plätze nicht genutzt wurden. Insgesamt von Menschen mit psychischen Erkrankun- stellt die Pandemie und ihre Auswirkungen gen galten selbstverständlich auch für die die stationäre psychiatrische Versorgung vor Wohnunterstützung. Allerdings waren die massive finanzielle Probleme durch Mehr- Folgen und der Umgang mit der Pandemie belastungen hinsichtlich Schutzmassnah- sehr unterschiedlich in den verschiedenen men und Mindereinnahmen durch Betten- Bereichen. In der stationären Versorgung schliessungen und durch den Rückgang bei haben kantonale Behörden vielerorts eine den Eintritten. Abschottung in dem Sinne verfügt, dass der Demgegenüber stieg die Nachfrage nach Zugang und das Verlassen der Heimareale ambulanter Versorgung bei psychiatrischen stark eingeschränkt oder sogar komplett ver- und psychotherapeutischen Fachpersonen hindert wurde. In der Regel erfolgte dieser deutlich an. Dies war insbesondere während Entscheid vor dem Hintergrund, dass Heime der zweiten Infektionswelle zu spüren. In Tei- ein grosses Risiko für einen Infektionsaus- len konnte die Nachfrage kaum befriedigt bruch tragen, der für viele Menschen gleich- werden. Allerdings wurden telemedizinische zeitig zur Covid-19-Erkrankung führen kann. resp. telefonische Konsultationen zuneh- Angesichts der körperlichen Gesundheit vie- mend akzeptiert und schliesslich auch von ler Bewohnender, die nicht selten beein- den Behörden als abrechnungsfähig dekla- trächtigt ist, kann dies nachvollzogen wer- riert. Allerdings sind die telemedizinischen den. Kritisch zu sehen ist jedoch, dass in Konsultationen nicht für alle Nutzenden glei- verschiedenen Kantonen nicht zwischen chermassen geeignet. Abgesehen von einer Heimen für ältere Menschen und Settings gewissen digitalen Grundkompetenz braucht für Menschen mit Behinderungen unter- es hier auch entsprechende technische Ge- schieden wurde. räte, die wiederum an notwendige finanzielle Etwas anders stellte sich die Sachlage in der Ressourcen gebunden sind. Insbesondere aufsuchenden Wohnunterstützung dar. Die Menschen mit schweren psychischen Er- zentrale Herausforderung war hier, den Kon- krankungen leben jedoch zu einem beträcht- takt zwischen Nutzenden und Mitarbeiten- lichen Teil an oder unter der Armutsgrenze, den weiterzuführen, ohne dass es zu einer sodass hier unter Umständen die Vorausset- Infektion kam. Anfänglich bestanden auf zungen nicht gegeben waren. beiden Seiten Bedenken und möglicherweise
15 auch Ängste. Mit der Zeit, so zeigten die Er- dener Länder während der ersten Wochen fahrungen jedoch, arrangierte man sich mit der Pandemie geschehen war, ist hier nicht den Bedingungen, hielt den Abstand ein, gegeben. Hinzu kommt, dass der Körperab- setzte Masken auf oder traf sich ausserhalb stand in der aufsuchenden Versorgung leich- geschlossener Räumlichkeiten. Zusätzlich ter einzuhalten war als in einem Wohnheim, wurden die elektronischen Kontaktmöglich- wo man sich unweigerlich (zu) nahekommt. keiten verstärkt genutzt. Allerdings ist die Gefahr der Infektion nicht Aus Sicht der Infektionskontrolle war die auf- ausgeschlossen, wie verschiedene Studien suchende Wohnunterstützung weitaus bes- gezeigt haben, welche das Risiko der Virus- ser für die psychiatrische Versorgung ge- übertragung durch Mitarbeitende in der am- eignet als ein Heimsetting. Das Risiko, ein bulanten Versorgung untersucht haben. Da- Infektionscluster auszulösen, wie das in gegen steht der klare Vorteil von Heimsettings zahlreichen Heimen und Kliniken verschie- während einer Lockdown-Situation, nämlich Fernunterricht während der Coronavirus-Pandemie.
16 die geringere Wahrscheinlichkeit von Isola- dung sind. Die Schul- und Lehrangebote sind tion und Einsamkeit. Und auch die Versor- seit geraumer Zeit in verschiedener Hinsicht gung mit dem täglichen Bedarf ist dort eher eingeschränkt. Hinzu kommen Beeinträch- sicherzustellen als in einer Einzelwohnung. tigungen im motivationalen Bereich und bei der Tagesstruktur vieler Nutzender, die zu- Arbeits- und Ausbildungsrehabilitation dem kognitiv oder emotional beeinträchtigt während der Pandemie sind. Darüber hinaus ist die Stellensituation Die psychiatrische Arbeitsrehabilitation ist sowohl im Bereich der Berufslehre als auch nicht nur von den behördlichen Massnahmen anschliessend im ersten Arbeitsmarkt zuneh- während der Pandemie beeinträchtigt wor- mend unsicher. Es bedarf vermutlich einer den, sondern zusätzlich von der wirtschaft- grösseren gesellschaftlichen Anstrengung, lichen Entwicklung. Dies betraf sowohl den um junge Menschen generell, aber vor allem ersten wie auch den zweiten Arbeitsmarkt. auch junge Menschen mit psychischen Pro- Im ersten Arbeitsmarkt gingen die zur Ver- blemen auf längere Sicht im Arbeitsmarkt zu fügung stehenden Job-Angebote für Men- integrieren. schen mit psychischen Erkrankungen er- heblich zurück im Laufe der Monate. Dies Schlussfolgerungen betraf – wie nicht anders zu erwarten – ins- Die Coronavirus-Pandemie hat die psychiat- besondere den Dienstleistungsbereich, und rische Versorgung vor Herausforderungen im hier wiederum vor allem Gastronomie und Hinblick auf die Infektion und die psychi- Tourismus. Aber auch in anderen Sektoren, schen Folgen generell gestellt. Angesichts die ökonomische Probleme erleben mussten, der nicht absehbaren Entwicklung der Pan- sank die Bereitschaft, Menschen mit psy- demie, die trotz der Impfkampagne vermut- chischen Problemen neu einzustellen. Der lich noch über einen längeren Zeitraum anhal- zweite Arbeitsmarkt, etwa in Werkstätten für ten wird, bedarf es nunmehr Anstrengungen Menschen mit psychischen Beeinträchtigun- nicht nur mit den akuten Folgen, sondern gen, war hingegen indirekt betroffen. Hier auch mit den langfristigen Konsequenzen entfielen oftmals Aufträge aus den Betrie- umzugehen. Neben der Versorgung der bis ben, da die Wirtschaftsleistung insgesamt anhin betreuten Personen stellen sich sehr zurückging. wahrscheinlich Herausforderungen bei vie- Perspektivisch wird sich vermutlich ein er- len jüngeren Menschen ein, die vom den so- hebliches Problem für jüngere Menschen mit zialen Restriktionen besonders betroffen psychischen Problemen einstellen, die ak- wurden. Vollkommen unbekannt ist aktuell tuell in schulischer oder beruflicher Ausbil- noch, wie sehr sich die Langzeitfolgen der
17 Covid-19-Erkrankung mit Auswirkungen wie Dirk Richter: War der Coronavirus-Lockdown Fatigue auch im psychiatrischen Bereich be- notwendig? Versuch einer wissenschaftli- merkbar machen. Möglicherweise entsteht chen Antwort. Bielefeld: Transcript-Verlag hier ein neuer Bedarf hinsichtlich der ambu- 2021 lanten Versorgung sowie der Arbeitsrehabi- litation. Die Pandemie wird die psychiatri- In englischer Sprache sche Versorgung selbst nach Abklingen des Simeon Zürcher et al.: Prevalence of Mental Infektionsgeschehens noch viele Jahre be- Health Problems During Virus Epidemics in schäftigen. the General Public, Health Care Workers and Survivors: A Rapid Review of the Evidence. Frontiers in Public Mental Health. 2020, 8:560389 Veröffentlichungen der Forschungsgruppe Dirk Richter et al.: Therapeutic alliance, so- des Zentrums Psychiatrische Rehabilitation cial inclusion and infection control – towards der UPD Bern zu den Folgen der Pandemie pandemic-adapted mental healthcare ser- auf psychische Probleme, die psychiatrische vices in Switzerland. Swiss Archives of Neu- Versorgung und die Entstehung der Pan- rology, Psychiatry and Psychotherapy. 2021, demie. Die Arbeiten stehen als PDF über DOI: 10.4414/sanp.2021.03158 die angegebenen Links zur Verfügung. Dirk Richter et al.: Mental health problems in the general population during and after In deutscher Sprache the first lockdown phase due to the SARS- Dirk Richter & Simeon Zürcher: Psychiatri- Cov-2 pandemic: Rapid review of multi-wave sche Versorgung während der Covid-19-Pan- studies. Epidemiology and Psychiatric Sci- demie. Psychiatrische Praxis, 2020, 47: ences, 2021, 30: 1–17 173–175 Dirk Richter & Simeon Zürcher: The Epide- Steffi Riedel-Heller & Dirk Richter: COVID- mic Failure Cycle hypothesis: Towards un- 19-Pandemie trifft auf Psyche der Bevöl- derstanding the global community’s recent kerung: Gibt es einen Tsunami psychischer failures in responding to an epidemic. Soc- Störungen? Psychiatrische Praxis, 2020; Arxiv, 2021, DOI: 10.31235/osf.io/pbwhx 47:452–456 Steffi Riedel-Heller & Dirk Richter: Psychi- sche Folgen der COVID-19 Pandemie in der Bevölkerung. Public Health Forum, 2021, 29 (1):54–56
18 Stiftung zur Unterstützung psychisch kranker Menschen im Kanton Bern Wer wir sind Die Stiftung zur Unterstützung psychisch kranker Menschen im Kanton Bern wurde 2021 gegründet und ist die Weiterentwicklung des Kantonal-Bernischen Hilfsver- eins für psychisch Kranke, der 1880 von Berner Pfarrern gegründet und viele Jahr- zehnte durch kirchennahe Strukturen getragen wurde. Bis Ende 2020 war er ein konfessionell unabhängiger Verein, aber aufgrund seiner Geschichte mit einer en- gen Verbindung zu den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Dem ehemaligen Vereinsvorstand war es wichtig, über eine hohe Professionalität wie auch zukunftsweisende Strukturen zu verfügen, um das Vermögen dauerhaft dem ehemaligen Vereinszweck zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde wurde der Verein aufgelöst und in eine Stiftung umgewandelt. Was wir anbieten • Wir unterstützen Menschen finanziell, die infolge einer psychischen Erkrankung in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, mit dem Ziel, ihre Lebensqualität und Integration zu verbessern. • Wir fördern Projekte, Einrichtungen, Gruppen und Institutionen, die Begleitung, Unterstützung und Integration psychisch kranker Menschen anbieten. • Diese Unterstützungen erstrecken sich ausschliesslich auf das Berner Kantonsgebiet.
19 Richtlinien für Unterstützungsgesuche 1. Grundsatz Unser Verein gewährt dort Unterstützungen, wo keine anderen Geldgeber zu- ständig oder vorhanden sind und ungedeckte Restbeträge anstehen. Dies be- deutet, dass der Hilfsverein keine Leistungen ausrichtet, wenn Sozialfürsorge, IV, Krankenkasse, der Kanton, das Bundesamt für Sozialversicherungen oder Ergänzungsleistungen für finanzielle Unterstützung zuständig ist. Eine Eigen- leistung der Gesuchsteller wird ebenfalls geprüft. 2. Gesuche Es müssen eine Notlage oder ein grundlegender Mangel bestehen, die das Ge- sundwerden oder das erreichte Lebensniveau eines psychisch kranken Men- schen gefährden. Wir unterstützen Methoden, Behandlungen und Vorhaben, die der Gesundung und Wiedereingliederung dienen, aber anderweitig nicht finan- zierbar sind, ebenso einmalige Mitfinanzierung rehabilitativer Aktivitäten. Thera- peutische Leistungen, die durch die Krankenkassen nicht anerkannt und finan- ziert werden, übernimmt unser Verein in der Regel nicht. Gesuche können online NEU auf der Webseite der «Stiftung zur Unterstützung psychisch kranker Menschen im Kanton Bern» www.stiftung-psk-be.ch einge- reicht werden. Organisation Stiftungsrat: Barbara Schmutz Pfarrerin, Bern (Präsidentin) Béatrice Wälti Gümligen (Vizepräsidentin) Didier Sperling Pfarrer, Zug (bis 30.6.2021) Claudia Hubacher Bern, Vertreterin des Synodalrates der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (ab 1.7.2021) Sekretariat: Christine Krebs-Eberhart Bern Unterstützungs- ausschuss: Dr. Walter Gekle Bern Dr. Dieter Hofer Bern Mirjam Walser Pfarrerin, Meiringen Barbara Schmutz Pfarrerin, Bern
20 h tung- psk-be.c w w w.stif Gesuche einreichen: Gesuche können auf unserer Webseite eingereicht werden.
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