FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
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Juli - Dezember • 2/2021 • Nr. 179 SEELS RGE BRENNPUNKT OJC ERATUNG ISCHEN LEBENSB BEITRäGE ZUR BIBL FAMILIE RAUM DER BEWAHRUNG UND DER BEWÄHRUNG
Inhalt 2 Liebe Mitchristen Liebe Mitchristen, Rudolf M. J. Böhm 4 Familie – Glanzlicht der Zivilisation jeder von uns hat eine Ursprungsfamilie. Nie- Rudolf M. J. Böhm mandem ist die Erfahrung von Familie fremd. 8 Hör auf dein Herz Sie ist in der Regel der erste Ort, an dem wir er- Carolin Schneider fahren, dass wir geliebt sind und lernen, andere 12 Bei dir Zuhause – in mir Zuhause zu lieben. Dennoch scheint das Bewusstsein da- Christl R. Vonholdt für, dass die Person wie die Gesellschaft aus Fa- 17 Zwei interessante Initiativen milie erwächst und wächst, immer mehr zu Verein Nestbau + Magazin "Sonne im Haus" schwinden. Unsere Welt hat sich in den letzten 18 Nestwärme und Reibungswärme 50 Jahren in ihrer äußeren Gestalt wie auch im Manuela Fletschberger 20 Meine Entscheidung für ein viertes Kind Denken enorm verändert. Der ehemalige Präsi- dent des Bundesverfassungsgerichtes, Hans- Rahel Rasmussen Jürgen Papier, schreibt: „Das Bundesverfas- 23 Unschätzbare Ressource sungsgericht hat […] bis zuletzt in seinen Ent- Manfred Spieker scheidungen betont, dass eine Ehe im Sinne des 26 Ab heute selber Sorge tragen Grundgesetzes nur die Vereinigung eines Man- Matthias Casties nes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten 28 Jesus, Maria und Josef Lebensgemeinschaft ist.“ Bei der „Ehe für alle“ Pia Holzschuh habe sich die Politik ganz klar auf „Kollisions- 30 Susanna Wesley: Starke Frau kurs mit der Verfassung“ befunden. Pete Greig 32 Stille Revolution am Wickeltisch Parteien machen sich derzeit stark für neue Birgit Kelle 36 Ihr seid mir die richtigen! Familienformen: „Ob Patchwork-, Stief- oder Regenbogenfamilie – Familien sind vielfältig“. Birte Undeutsch 38 Termine und Tagungen „Mehrelternschaft“-Modelle sollen das klassi- sche Familienbild ergänzen oder ersetzen, wie 40 Die Familie ist ein Traum Gottes etwa der „Pakt für das Zusammenleben“ als Idee Papst Benedikt XVI einer neuen Verantwortungsgemeinschaft. Kas- senfinanzierte künstliche Befruchtung für „nichteheliche Lebensgemeinschaften und lesbi- SEELS RGE BRENNPUNKT sche Paare“ soll ermöglicht werden sowie die Er- G forschung von Reproduktionstechniken, die aus B ERATUN LISCHEN LEBENS BEITRäGE ZUR BIB dem genetischen Material zweier Menschen im Labor und künstlicher Gebärmutter neues Le- Redaktion: Rudolf M. J. Böhm (V.i.S.d.P), Birte Undeutsch, Cornelia Geister, Carolin Schneider, Pia Holzschuh, Írisz Sipos ben entstehen lassen. Die Diskussion über die Produktion/Layout: Martha Hummel mit B. Undeutsch, C. Geister, Í. Sipos Eizellen- und Samenspende, Leihmutterschaft Bildnachweis: Titel: © sturti / istock ; Rückseite: © bilanol / AdobeStock und die Finanzierung von all dem füllen die Verlag u. Vertrieb: Offensive Junger Christen – OJC e.V. Schlagzeilen. Etliche Feministinnen wollen die Pf. 1220, 64382 Reichelsheim, Tel.: 06164/9308-0, Fax: 06164/9308-30 Frau von der „Sklaverei der Fortpflanzung“ be- Bestellung u. Adressänderung bitte an OJC-Adresse oder E-Mail: versand@ojc.de freien. Druck: Lautertal-Druck Bönsel GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung. Brennpunkt Seelsorge erscheint 2 x pro Jahr und wird kostenfrei weitergegeben. In all dem gelangt eine Wahrnehmung vom Zuschriften an die Redaktion: Brennpunkt Seelsorge, Helene-Göttmann-Straße 22, Menschen zum Ausdruck, die de facto leugnet, 64385 Reichelsheim, Tel.: 06164/9308-318, E-Mail: brennpunkt@ojc.de dass dieser eine ursprünglich aus der Liebe her- Spendenkonto: Offensive Junger Christen, Volksbank Odenwald eG vorgehende Bindung braucht, ein Du, mit dem BIC: GENODE51MIC; IBAN: DE04 5086 3513 0000 1095 50 er zutiefst verbunden ist. Bindungen, die mit Se- Wichtig für Ihre Überweisung: Bitte geben Sie bei Ihrer Spende im Feld „Verwendungszweck“ xualität und Zuneigung verbunden sind, werden Ihre Adresse oder Freundesnummer (siehe Adressaufkleber) an. Nur so können wir Ihre Spende oft wie Konsumgüter verhandelt, deren Sinn eindeutig zuordnen und Ihnen die Zuwendungsbestätigung ausstellen. Danke! www.ojc.de
Editorial sich in der Befriedigung individueller Bedürfnisse haltlose Utopien und totalitäre Manipulation des in kurzzeitigen Beziehungen erschöpft, während Individuums. So müssen wir uns nicht wundern, man zunehmend blind wird für ihre Bestimmung, wenn sie Angriffsziel moderner Ideologien ist, die die Person aufzubauen und zu ihrer Vollendung die traditionellen Werte der jüdisch-christlichen beizutragen. Deshalb wollen wir mit diesem Heft Kultur und damit den Menschen dekonstruieren, die Bedeutung der Familie wieder hervorheben und indem sie die Gesetzmäßigkeiten der Biologie ver- ihren unersetzbaren und unnachahmlichen Wert neinen und die natürliche Familie, die im dreieini- in Erinnerung rufen. Dabei geht es uns nicht dar- gen Gott verankerte Einheit von Vater, Mutter und um, einem realitätsfernen Familienidyll das Wort Kindern, für verzichtbar erklären. zu reden. Neben vielen freudigen Aspekten von Fa- milie gibt es auch jede Menge Probleme: Konflikte, Damit die Familie zum Vorgeschmack der Liebe Gewalt, Verwundungen, Brüche, Ehescheidung. Gottes werden kann, in der unsere Sehnsucht nach Doch es gibt keinen Ort, an dem die Kraft jener Glück zur Vollendung geführt wird, müssen wir auf Liebe besser kultiviert werden kann, die es ermög- Jesus schauen und das Geschenk seiner Gnade an- licht, dem Bösen gegenzuhalten, das sie bedroht. nehmen. Ihm soll unsre erste Liebe gelten. Von ihm Das christliche Ideal – und besonders von der Fa- lernen wir, einander anzunehmen und zu lieben. So milie – ist Liebe trotz allem. gehört die Erstverkündigung der Vaterliebe Gottes in die Mitte der Familien, wo Menschen erfahren Aktuelle Umfragen belegen, dass es der Traum der und lernen, dass sein Sohn Jesus Christus, der sein meisten jungen Menschen und fester Vorsatz jun- Leben für uns hingegeben hat, jeden Tag lebendig ger Ehepaare ist, sich ein Leben lang in treuer Liebe an unserer Seite ist, um uns zu erleuchten, zu stär- verbunden zu bleiben. Dies steht in schmerzlicher ken und zu befreien. Spannung zu der zunehmenden Skepsis, ob eheli- che Treue möglich und zumutbar ist. Doch bereits Das unveränderliche und immer neue Evangelium die Sehnsucht nach unendlicher Liebe legt nah, Christi kann als lebendige Wirklichkeit an die Fa- dass es sie wirklich gibt und geben sollte. Die eheli- milien unserer Zeit, unserer Welt herangetragen che Liebe ist ein Bild in unserer Seele, das als Ab- werden, wenn in unserem Zusammenleben eine bild Gottes in uns hineingelegt ist. Treue ist uns Kraft und eine Schönheit aufleuchten, die ganz of- möglich, weil Gott treu bleibt. Er wollte die Familie fenbar nicht von uns kommen, aber jeden von uns von Anfang an. Sie ist Seine Erfindung! Die Heilige tragen. So kann das, was eine christliche Ehe und Schrift beginnt mit der Eheschließung von Adam Familie ausmacht, erneut Teil der menschlichen Er- und Eva und endet mit der Hochzeit des Lammes. fahrung werden. Dies geht immer mit Mühe, mit Gott hat eine Familie in Nazareth erwählt, um auf Freude und Leid, mit vielen Hoffnungen und ent- die Erde zu kommen, um sie schließlich für immer täuschten Erwartungen einher. Kurzum – es ist ein zu verändern. Das Ja von Maria und Joseph waren ein dynamischer Prozess, ein Wachstumsweg, auf Voraussetzungen dafür, dass Christus sein Erlö- dem wir Gott in unseren Familien bewusst Raum sungswerk für uns alle vollenden konnte. Ihre Fa- schaffen, damit er täglich neu den Glauben in uns milie ist keine normale Familie, aber sie ist ein Bild vermehre, die Hoffnung stärke und die Liebe in uns der Sehnsucht für uns. In Maria erfüllt sich alle entzünde – wie es das Gebet von Papst Benedikt Mutterschaft, die Verheißung an Eva, den Sohn zu XVI. (s. Rückseite) formuliert. gebären, der der Schlange den Kopf zertritt. Mit Jesus, dem neuen Adam, bricht ein neues Zeitalter In der Familie Gottes mit Ihnen verbunden der wahren Liebe, der selbstlosen Hingabe an, an Ihr der alle, die ihm als Braut angehören, bereits Anteil haben dürfen: Eheleute und Ehelose gleicher maßen. Es ist diese Revolution der Liebe, die die Rudolf M. J. Böhm Familie als Wirklichkeit widerständig macht gegen Greifswald, den 9. September 2021 Brennpunkt Seelsorge 2/2021 3
Rudolf M. J. Böhm FAMILIE – GLANZLICHT DER ZIVILISATION EIN BIBLISCHES MODELL HAT ZUKUNFT © Kin Li / unsplash 4 www.ojc.de
Grundlagen Familie – Ort der Unfreiheit? lockere und doch vertraute und verantwortungs- Wer öffentlich für die Institution Familie einsteht, volle Verbindungen auf Zeit. Durch ihren tempo- wird als hoffnungslos gestrig wahrgenommen. Es rären Charakter und durch Fluktuationen der wird der Eindruck vermittelt, man würde dafür WG-Mitglieder geben sie natürlich oft nicht den plädieren, dem Einzelnen die Selbstverwirk gleichen Stabilitätsanker wie Familien, das gilt vor lichung zu verwehren. Als ob die Familie ein Ge- allem für die Kinder. Das Ergebnis ist Vereinze- fängnis wäre, ein Ort der Unfreiheit, der bindet lung. Noch nie gab es in Europa so viele allein statt ermöglicht. wohnende junge Menschen. Vier Millionen Män- Im besten Fall ist eine Familie ein konstruktiver ner und Frauen in den Zwanzigern leben in Ort, Ausgangspunkt von Entwicklung und Er- Deutschland allein, das ist in dieser Altersgruppe möglichung. Der Zeitgeist scheint sich selbst zu bereits fast jeder Dritte, Tendenz steigend. Die widersprechen: Auf der einen Seite sehnen sich die Menschen verlieren den Mut und die Fähigkeit zu meisten Menschen nach der großen Liebe, nach verbindlichen, dauerhaften Beziehungen. Glück, Sicherheit und Geborgenheit, beklagen Was dadurch immer mehr fehlt, ist die Fähigkeit Orientierungslosigkeit und Sinnkrise, auf der an- • zum Verzicht zugunsten des anderen, deren Seite wird die Familie als Hort all dieser • zum Aushalten von Konflikten, Werte verschmäht. Tatsächlich gibt es immer we- • zum Erlernen einer gesunden Streitkultur, niger Familien, die mindestens aus Vater, Mutter • zum Erarbeiten von gemeinsamen Lösungen, und Kind bestehen. Dementsprechend werden kurz: die Fähigkeit zum sozialen Frieden. dauerhafte Beziehungen – Stichwort „Ehe“ – Wir steuern auf eine Gesellschaft zu, die erstma- immer seltener erlebt. Familie ist für viele ein ro- lig in der Geschichte der Menschheit nicht mehr mantisches Ideal von emotionaler Geborgenheit auf der Keimzelle Familie beruht. Erstmals findet und heiler Welt; sie wird aber immer mehr zum die Herausbildung der Identität nicht mehr pri- Mythos, etwas, das man niemals erlangt. mär im geschützten Rahmen der Familie statt, sondern in aller Öffentlichkeit: in Kitas, Kinder- Familie – gärten, Schulen, im Fernsehen und im Internet. ein Lernort für den Frieden Damit wachsen Generationen heran, die nicht Der Kern der Familie ist die Paarbeziehung. Fa- mehr in der Familie gelernt haben, wie Gemein- milien kann es nur geben, wenn es Paarbeziehun- schaft funktioniert. Die Folgen? Unabsehbar! gen gibt, die lange genug halten und genügend ge- meinsame Zeit ermöglichen, um Kinder großzu- Familie – ziehen. unverzichtbarer Erlebnisraum In Deutschland sinkt derzeit die Zahl der Schei- „Der göttliche Heilsplan und die Heilsgeschichte dungen. Aber nirgendwo auf der Welt steigt die gehen über die menschliche Familie hinaus“ (Papst Scheidungsrate so stark wie in Europa. Je höher Johannes Paul II.), d. h. die Stellung eines Men- die Scheidungsrate, desto höher ist statistisch schen in der Welt ist zutiefst abhängig von den auch die Zahl der vorehelichen Beziehungen. Die Urbeziehungen in Ehe und Familie. Wie ist das zu Neigung zum immer häufigeren Partnerwechsel, verstehen? egal, ob mit oder ohne Trauschein, ist statistisch • Die Familie ist der Ort, an dem Kinder leben Fakt. So gesehen schreiten wir auf dem Weg zu ei- lernen, an dem ihr Ja zum Leben grundgelegt ner promiskuitiven, bindungslosen Gesellschaft wird, an dem sich ihr Gemüt und die ersten immer weiter voran. Was soll dann am Ende des Bindungen entwickeln, die den sicheren Weges stehen? Stützpunkt vermittelt, damit sie sich für die Welt interessieren und sie erkunden. Man sucht Familienersatz in freieren Formen des • Die Familie ist der Ort, an dem das Gewissen Zusammenlebens: Wohngemeinschaften als seine erste Formung und Bildung erfährt. Brennpunkt Seelsorge 2/2021 5
Damit wird eine Antwort auf die Frage gege- fähigkeit, sondern auch die Bindungsf ähigkeit ei- ben, was gut und was schlecht ist, was hilft, nes Menschen gestört wird, wenn in frühester Gemeinschaft zu leben und mitzugestalten. Kindheit die wichtigste und engste Bindung, die • Die Familie ist der Ort, an dem die Glaubens- ein Mensch haben kann, eingeschränkt wird. entfaltung grundgelegt wird. Wo in der Ehe mit allen ihren Höhen und Tiefen Reifung Das Bemühen des Staates, erwerbstätige Mütter geschieht, vollzieht sich vor allem der Wachs- (durch die Einrichtung von Kitas) zu entlasten, um tumsprozess der menschlichen Urkräfte des deren Potenzial für die persönliche berufliche Ent- Hoffens, Lebens und Glaubens. Die Entfal- faltung und ihren Beitrag zum Wirtschaftswachs- tung eines väterlich und mütterlich liebenden tum besser zu nutzen, ist durchaus verständlich Gottesbildes – leider auch mit all seinen Fehl- und begrüßenswert. Doch leider wurde aus dem formen und Verzerrungen1 – ereignet sich zu- staatlichen Angebot mehr und mehr ein gesell- allererst im Erlebnisraum der Familie. schaftliches Gebot: Betreuung und Kindererzie- • Die in den ersten Entwicklungsphasen ge- hung? Sache des Staates! Definitiv nicht Sache der wonnenen Gefühlserlebnisse sind ausschlag- Eltern und vor allem nicht Sache der Frau. Aus der gebend für die spätere Beziehung des Men- Wahlfreiheit, die zu begrüßen ist, wurde eine neue schen zu sich selbst, zu den Mitmenschen Form von Alternativlosigkeit. Mittlerweile wurden und zu Gott. gesetzliche Grundlagen geschaffen, durch die jene finanziell indirekt bestraft werden, die ihre Kinder Es gibt noch viele andere Aspekte, die zu benen- lieber Zuhause erziehen, anstatt sie in eine Kita zu nen wären und die den Lern- und Erlebnisraum geben. der Familie als unverzichtbar kennzeichnen. Zu- sammenfassend könnte man sagen: Die Familie Wahrscheinlich werden wir in zwanzig Jahren ist der optimale Ort, an dem junge Menschen ihre feststellen, dass die „Folgekosten“ falsch einge- Beziehungsfähigkeit und Selbstständigkeit ent schätzt worden sind. Diese Frage ist weitgehend decken, erproben und entfalten können. ein gesellschaftliches Tabu. Es wird sogar behaup- tet, dass ausgebildetes Erziehungspersonal die Kinder im Allgemeinen besser erziehen kann als Familie – die eigenen Eltern. Dem hingegen erklären Fach- Grundzelle für die Demokratie leute übereinstimmend, dass die Mutter bei Klein- Damit steht die Familie an erster Stelle, wenn es kindern emotional eine herausragende Stellung um die Frage nach dem Gelingen unserer Bezie- einnimmt, die durch nichts zu ersetzen ist. Der hungen, unseres Lebens und unseres Zusammen- häufige und störungsfreie Kontakt der Mutter lebens geht. Der Staat kann der Familie die Erzie- zum Kleinkind ist die Basis für so komplexe Lei- hung der Kinder nicht abnehmen, vielmehr muss stungen wie die Sprachentwicklung. Wird die er auf den in der Familie gelegten Grundlagen Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind in aufbauen können. Der frühere Richter am Bun- den ersten drei Lebensjahren ständig oder dauer- desverfassungsgericht E.-W. Böckenförde prägte haft unterbrochen, können Sprachentwicklungs- den Satz: „Der demokratische Staat lebt von Vor- störungen sowie Lese- und Schreibbehinderungen aussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann.“ die Folge sein. Wie stark sich das Kind in den er- Die Familie ist der Ort, an dem diese Vorausset- sten Lebensjahren der Nähe zur Mutter versichern zungen erworben und gepflegt werden. Für die muss, als Voraussetzung für seine geistige und Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls emotionale, aber auch die motorische und senso- und einer gesicherten Identität ist es keineswegs rische Entwicklung, wäre ein eigenes Thema. hilfreich, Kinder in den ersten drei Lebensjahren von der Mutter zu trennen. Es müsste jedem intui- Wenn das Fundament der Beziehungen zwischen tiv klar sein, dass nicht nur die Entwicklungs Eltern und Kindern brüchig wird, kann der ganze 6 www.ojc.de
Dieun Gr dlagen Seite Bau unserer Gesellschaft in Gefahr geraten. Und samt und den Menschen als sein Gegenüber in das geschieht derzeit in einem erschreckenden Freiheit und Liebe geschaffen hat. Maß. Demo für den Himmel Familie – in großer Gefahr Als christliche Familien haben wir den Auftrag, Bei realistischer Betrachtung müssen wir heute uns als Zelle der Widerständigkeit zu verstehen zwei schwerwiegende Gefährdungen des Men- und zu formieren, um zeugnishaft der heutigen schen feststellen: Banalisierung des Menschen entgegenzuwirken, der Gott endgültig abschieben will, und munter Zum einen droht dem heutigen Menschen mitten dabei ist, den Menschen abzuschaffen. Demon- im Frieden eine so noch nie dagewesene Vernich- strieren wir, dass wir für den Himmel geschaffen tung seiner Existenz durch Menschen: Vor allem sind, der im Heute beginnt, wenn wir unseren am Anfang (vor der Geburt durch Abtreibung), Glauben leben bzw. wenn wir leben, was wir glau- aber auch am Endes ihres Lebens (durch die sog. ben. aktive Sterbehilfe) sterben heute viele Menschen Der menschgewordene und gekreuzigte Christus durch Menschenhand. wurde in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen. Zum anderen sind die kreatürlichen Grundlagen Dort ist er als unser Hohepriester unsere Hoff- des Menschseins (und damit die menschliche nung. Er ist von der Erde nicht abwesend und hat „Natur“) elementar bedroht durch emanzipatori- uns nicht allein gelassen. Er sendet uns in die sche Ideologien (ganz konkret: Feminismus, Gen- Welt. Und der ganzen Welt soll diese Botschaft derismus). verkündet werden. Die Menschheit wird in die • Bedroht wird die von Gott geschaffene und Entscheidung gerufen. Geht hinaus in die ganze gewollte Zweigeschlechtlichkeit als grund Welt und verkündet das Evangelium der ganzen legende Voraussetzung von Ehe und Familie Schöpfung! Dieser Auftrag beginnt wesenhaft und und damit auch die Würde des Menschen als grundlegend in der Familie. Mann und Frau und als Vater und Mutter Anmerkungen: und 1 Das Versagen unserer eigenen irdischen Väter kann unser Ver- • elementar bedroht ist auch die Schöpfungs ständnis davon, wer Gott der Vater ist und wie er ist, enorm verzer- ordnung von Ehe und Familie und die Hin ren. Wenn unser leiblicher Vater zum Beispiel mit Zorn oder schlechter Laune zu kämpfen hatte, könnten wir daraus den ordnung der Sexualität auf die Weckung Schluss ziehen, dass wir uns jedes Mal, wenn wir sündigen, vor neuen Lebens als unverzichtbare Vorausset- Gott verstecken müssen, weil er wütend auf uns sein wird. Oder wenn unser Vater mit seiner Arbeit oft zu beschäftigt war, um mit zung jeder menschenwürdigen Gesellschaft uns zu spielen oder bei Schulveranstaltungen präsent zu sein, und Zivilisation. könnten wir daraus folgern, dass das tägliche Gebet ohnehin kei- nen Zweck hat, weil Gott sowieso nie Zeit für uns hat. Die Übertra- gung des Versagens unseres Vaters auf Gott ist ein häufiges Pro- Ich kann hier nur umrisshaft deutlich machen, blem, das wir Männer haben. Aber dieses Problem ist nicht nur was für ein unverzichtbarer Wert die Familie ist. schädlich für unsere Beziehung zu Gott, es ist auch von negativer Tragweite für unsere Beziehung zu unseren Kindern. Solche Pro- Vielleicht kann uns das helfen, entschiedener da- jektionen werden unwillkürlich zu Hindernissen, um uns vorbe- für einzustehen: Familie ist und bleibt ein Hot- haltlos – so wie wir sind – von Gott lieben zu lassen. (aus: EXODUS 91/14. Der Vater) spot der Hoffnung. Als Christen stehen wir in Verantwortung vor Gott: Wir sind aufgerufen, uns wieder neu auf die Grundlagen unseres Le- bens und Zusammenlebens zu besinnen. Dazu ge- hört das derzeit umkämpfte Zeugnis der Bibel über den Menschen. Die bibli- JC) ist Seelsorger und sche Offenbarung lässt schon in ihren Rudolf M. J. Böhm (O und arbeitet im Haus ersten Kapiteln (Gen 1-3) keinen Zweifel Sozialpädagoge. Er lebt ld. daran, dass Gott die Schöpfung insge- der Hoffnung in Greifswa Brennpunkt Seelsorge 2/2021 7
Interview mit Carolin Schneider HÖR AUF DEIN HERZ MIT KINDERN DEN GLAUBEN GESTALTEN Carolin, du bist Mutter von vier Kindern. Wie wie ich es intuitiv für richtig halte. Wir hatten habt ihr ihnen die Liebe Gottes vermitteln können? beide gute Vorbilder in unseren Herkunftsfamili- Zunächst einmal habe ich für sie gebetet, sobald en. Es gab kein bestimmtes Konzept, und doch ich wusste, dass ich schwanger bin. Später haben haben sich aus unserem Alltag heraus Rhythmen wir versucht, unseren Glauben ganz natürlich in und Rituale entwickelt, die über Jahre hinweg die unseren Alltag einfließen zu lassen. Unser Glaube gleichen geblieben sind. lässt sich von unserem Leben gar nicht trennen und unsere Kinder wurden von Anfang an in die- Ziel christlicher Kindererziehung ist ja, dass der sen Zusammenhang hineingenommen. Mensch sich bedingungslos von Gott angenommen und geliebt weiß. Wie habt ihr das umgesetzt? Seid ihr nach einem bestimmten Erziehungskon- Uns war es wichtig, verlässlich für unsere Kinder zept vorgegangen? da zu sein. So stellt sich uns Gott ja auch vor „Ich Als unser erster Sohn Flinn geboren wurde, habe bin, der ich bin da“. Gerade in den ersten Lebens- ich relativ viel in Erziehungsbüchern nachgelesen. jahren unserer Kinder wollten wir diejenigen sein, Die verschiedenen Ratgeber haben mich aber eher die ihre Entwicklung bewusst miterleben und verunsichert, so dass ich irgendwann alle Bücher prägen. Niemand liebt unsere Kinder so, wie wir zugeschlagen habe und mir sagte: Ich werde jetzt das als Eltern tun. Darum sind sie erst mit drei einfach auf mein Herz hören und es so machen, Jahren in den Kindergarten gegangen und das 8 www.ojc.de
Interview auch nur halbtags. Sobald sie sprechen konnten, leicht zu beantworten und auf manche müssen sie haben wir viel mit ihnen geredet, über ihre Ge- mit der Zeit eigene Antworten finden. Wir versu- fühle und das, was sie beschäftigt. Sie sollten mit chen, sie ernst zu nehmen und uns auf eine wert- allem, was sie bewegt, bei uns landen und es ohne schätzende Weise mit ihnen auseinanderzusetzen. Furcht mit uns teilen können. Sie sollten sich ge- Und anders herum hinterfragen wir auch ihr Ver- borgen fühlen und spüren, dass sie immer will- halten. Unser aktuelles Thema: „Denkt ihr, es ist kommen sind – außer in meiner Mittagspause. okay, den Streaming-Account von euren Freun- Uns war wichtig, dass die Kinder bei uns eine si- den kostenlos zu nutzen?“ chere Basis haben, und dabei jedes Kind die Frei- Darüber hinaus sind wir sehr dankbar, dass es au- heit hat, auf seine Weise und in seinem Tempo ßer uns andere Vorbilder gibt, zum Beispiel Ju- loszuziehen und die Welt zu entdecken. Gleichzei- gendleiter, an denen sie sich orientieren können. tig gab es klare Regeln und Grenzen. Ihr gebt euren Kindern viel Freiheit? Eure Kinder sind ihrem Wesen und Charakter Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Es gibt Be- nach sehr verschieden. reiche mit sehr klaren Grenzen und Absprachen. Ja. Die beiden Großen haben, auch als sie noch In anderen Bereichen haben die Kinder viel Ge- klein waren, Glaubensdinge auf unterschiedliche staltungsraum. Je älter sie werden, desto mehr Weise ausgedrückt. Die Rituale in der Familie versuchen wir zu vertrauen, dass das Fundament, blieben gleich, aber die Art und Weise, wie sie mit in das wir investiert haben, trägt. Wir üben, los- Gott geredet haben, war schon damals verschie- zulassen, auch wenn uns das nicht immer gelingt. den. Heute zeigt sich die Unterschiedlichkeit im- mer deutlicher. Die fantasievolle Lina kommuni- Manche Jugendliche überraschen ihre Familie am ziert ganz anders mit Gott als ihr strukturierter Sonntagmorgen mit der Feststellung: „Heute gehe Bruder Flinn. Ihm ist es wichtig, regelmäßig Bibel ich nicht mit in den Gottesdienst.“ Wie geht ihr da- zu lesen. Das macht er ganz nach Plan oder verab- mit um? redet sich dazu online mit Freunden. Lina bringt Tatsächlich gab es bei uns bisher keinen wirkli- alles, was sie auf dem Herzen hat, so wie es in ihr chen Aufstand in dieser Richtung. Wenn eines drin ist und gerade aus ihr herauskommt, zu Jesus unserer pubertierenden Kinder mal ausschlafen und redet mit ihm, als würde er vor ihr sitzen. wollte, haben wir einfach Okay gesagt, weil wir Beide schreiben ihre Gedanken gerne auf. Man- wussten, dass das kein grundsätzliches Dagegen- ches haben sie vielleicht von uns übernommen, sein bedeutet. Unsere Kinder haben in der Ge- anderes ganz eigenständig entwickelt. Wir über- meinde gute Freunde, auf die sie sich jeden Sonn- lassen es ihnen und sind gespannt, wie es sich bei tag freuen. Es war uns immer wichtig, eine Ge- Levi und Annelie entwickeln wird. meinde zu haben, in die unsere Kinder gerne mit- gehen. Wir wollten ihnen frühzeitig gute, prägen- Eure beiden älteren Kinder sind vielen außerhäus- de Gemeinschaftserfahrungen ermöglichen. lichen Einflüssen ausgesetzt. Oft beginnen Jugend- liche, vieles zu hinterfragen. Mehr als durch viele Erklärungen lernen die Kin- Ja, sie haben unterschiedliche Fragen und Daniel der den Wert der Frömmigkeit durch das Beispiel und ich antworten mitunter auch unterschiedlich. der Eltern. Wenn ich keine eindeutige Antwort weiß, sage ich Das denke ich auch. Sie beobachten uns und ihnen das einfach. Manche Fragen sind nicht manchmal hinterfragen sie auch unser Tun, wenn Brennpunkt Seelsorge 2/2021 9
sie den Eindruck haben, dass es nicht mit unserem heit. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir in Reden übereinstimmt. Bei unserer Kleinsten sieht manchen Dingen unterschiedlicher Meinung sind man am deutlichsten, wie sie uns nachahmt. Sie und uns streiten. Wir verbergen das nicht vor un- faltet vor dem Essen sogar die Hände genauso wie seren Kindern, auch wenn wir manche Konflikte wir. Außerdem gibt es weitere Rituale, die unsere bewusst nicht vor ihnen austragen. Bei manchen Kinder prägen. Vor dem Schlafengehen lassen wir Auseinandersetzungen sind die Kinder unver- mit den jüngeren Kindern den Tag Revue passie- meidlich dabei, im Auto oder am Mittagstisch. Es ren, beten und singen mit ihnen. Die beiden Älte- gab auch Momente, wo die Kinder ängstlich nach- ren wollten irgendwann nicht mehr dabei sein. Ich gefragt haben: „Trennt ihr euch jetzt?“ „Nein, auf glaube, sie haben ein eigenes Ritual für sich gefun- gar keinen Fall. Es gehört zum Leben dazu, in Be- den. Neben dem Gottesdienst am Sonntag feiern ziehungen auch mal unterschiedlicher Meinung wir auch die christlichen Feste und sprechen mit zu sein und zu streiten.“ Ich finde es gut, dass un- unseren Kindern über deren Bedeutung. Ab und sere Kinder das miterleben, aber ebenso, dass wir zu feiern wir am Samstagabend eine Sonntagsbe- uns wieder versöhnen. Dasselbe gilt auch bei Aus- grüßung. Unsere Kinder erleben, dass Daniel und einandersetzungen mit den Kindern. Ich habe ich uns morgens immer mit „Stiller Zeit“ abwech- mich schon sehr oft bei ihnen entschuldigen müs- seln und uns diese Zeit gegenseitig ermöglichen, sen. Einheit heißt nicht, immer einer Meinung zu während der andere mit den Kindern frühstückt. sein, auch wenn ich das gerne so hätte. Familienandachten haben wir nie gehalten. Im Lockdown fragte Flinn von sich aus, ob wir mor- Ihr lebt euren Glauben recht offen. Trauen eure gens vor der Schule zusammen beten und einen Kinder sich, zu ihrem Glauben zu stehen und dar- kurzen Lobpreis machen können. Das haben wir über zu reden? dann gemacht, weil die Kinder das wollten. Auch da sind sie verschieden. Flinn ist total offen- siv, redet in großer Freiheit über das, was er glaubt Wie erlebst du den Glauben deiner Kinder? und steckt andere damit an. Auch Lina ist auf ih- Mir ist wichtig, dass meine Kinder nicht mir zu- re Art missionarisch, aber in Gruppen ist sie gene- liebe glauben, sondern eine eigenständige Bezie- rell zurückhaltend. Sie kann gut ihre Gefühle aus- hung zu Gott entwickeln. Sie sollen eigene positi- drücken, schreibt gerne und gibt auf diese Weise ve Erfahrungen machen können. Ich bete oft ihre Überzeugungen in Gedichten oder Kurzge- spontan mit unseren Kindern, wenn ich spüre, schichten, die sie für die Schule schreiben muss, dass sie etwas auf dem Herzen haben. Dann neh- weiter. Levi redet auch hin und wieder mit seinen me ich mir Zeit, setze mich zu ihnen und schlage Freunden über Gott, so wie es seinem Alter ent- ihnen meist folgendes vor: „Sag das jetzt einfach spricht. In unserer Region – hier im Nordosten Jesus, bring es ihm und hör mal, was er dir sagt.“ der Bundesrepublik – wissen viele Kinder vom Kinderherzen sind so offen zu Gott hin. Dadurch christlichen Glauben gar nichts mehr und haben haben sie die Möglichkeit, eine persönliche Erfah- dadurch eine ganz andere Offenheit, sich davon rung mit Jesus zu machen. Ich ermutige sie, das ansprechen zu lassen. Ich bete, dass unsere Kinder Gehörte ernst zu nehmen. in ihrem Umfeld „Salz und Licht“ sein können und dass sie durch ihr Da-Sein etwas verändern. Trotz Versagens und vieler Fehler, die Eltern ma- Es bleibt ein Geschenk, wir haben es nicht in der chen – das Wichtigste, was wir unseren Kindern Hand. weitergeben können, ist, dass wir als Eltern zusam- menhalten. Ist das auch eure Erfahrung? Was wünscht ihr euch für eure Kinder? Das werden wir unsere Kinder fragen müssen, Zuallererst wünschen wir ihnen, dass sie unver- wenn sie mal erwachsen sind. lierbar in ihrem Herzen behalten, dass sie bedin- Aber ja, schon dadurch, dass wir (durch die Ehe) gungslos geliebt sind – unabhängig von ihrer Lei- miteinander verbunden sind, sind wir eine Ein- stung und unabhängig davon, was andere über sie 10 www.ojc.de
Die In rview teSeite denken und sagen. Einer der Texte von Lina endet auch Fragen oder Zweifel auf. Die Teilung des Ro- mit dem ermutigenden Zuspruch: „Du bist genug, ten Meeres lässt sich nicht rational erklären. Mein egal, was du hast; egal, was du hast, aber nicht Pastor hat in einer Predigt dazu ermutigt, dass willst; egal, was du nicht hast: du bist genug! Du – man Zweifel auch zulassen soll; es ist erlaubt, Gott bist – genug!“ Wir wünschen ihnen, dass sie Jesus zu hinterfragen. An dem Punkt, dass ich nicht so sehr kennengelernt haben, dass sie die Freude mehr an Gott glaubte, bin ich noch nie gewesen. daran behalten, mit ihm in einer lebendigen Be- ziehung zu bleiben und gemeinsam mit ihm wei- Lina, du redest mit Jesus wie mit einem Freund. terzugehen: ihre Sorgen und Ängste, ihre Freude Wo hast du das gelernt? und ihren Dank mit ihm teilen und immer wis- Gelernt habe ich das nicht. Aber da wir abends re- sen, dass sie mit allem, was sie bewegt, bei ihm an gelmäßig miteinander gebetet haben, habe ich es der richtigen Adresse sind. Wir wünschen ihnen, dann einfach alleine weitergemacht. Wenn ich am dass sie offen sind für die Menschen, die ihnen Abend das Vaterunser gebetet habe, frage ich begegnen und für die Nöte in der Welt. Wir hof- Gott, ob er mir noch etwas sagen möchte. Dann fen, dass das, was sie bei uns erfahren haben, ih- höre ich solche Sachen wie „Du bist genug!“, „Ich nen hilft, über sich selbst hinauszudenken und finde dich toll!“, etc. dass Gottes Wille sich in ihrem Leben erfüllt. In der Schule seid ihr, was den Glauben angeht, Flinn und Lina kommen zum Interview dazu: eher die Ausnahme. Fühlt ihr euch als Außensei- ter? Flinn, wie hast du Glauben gelernt? Lina: Dass ich mich manchmal allein fühle, liegt Regelmäßig in den Gottesdienst zu gehen und da- eher daran, dass ich einfach ein schüchterner bei mit anderen in meinem Alter zusammen zu Mensch bin. Aber das hat nichts mit meinem sein, hat mir Spaß gemacht. Es war aber nicht so Glauben zu tun. sehr der Sonntagsgottesdienst oder Weihnachten, Flinn: In meiner Klasse wissen eigentlich alle, dass sondern der Glaube wird von Mama und Papa ich Christ bin. Ich habe immer offen darüber ge- wirklich gelebt. Wir haben vor dem Essen und vor redet, mit allen, auch wenn sie nicht gläubig sind. dem Schlafengehen gebetet und gesungen. Wir Einige engagieren sich heute mit mir im Jugend- haben als Kinder mitbekommen, dass unsere El- gottesdienst. tern mit anderen über den Glauben geredet ha- ben, z. B. im Hauskreis. Auch bei Oma und Opa Wenn ihr später selber mal Familie habt, was wür- war der Glaube immer ein Ding, bei Verwandt- det ihr anders machen? schaftsbesuchen haben wir immer miteinander Nichts. Meine Eltern haben einfach ihren Glauben gebetet und gesungen. So wie es morgens, mittags gelebt und das würde ich später genauso machen und abends was zu essen gab, hat das einfach da- wollen. zugehört. Vor kurzem wurden wir auf die recht- mäßige Nutzung von „Netflix“ angesprochen, dass ich, wenn ich den Nutzungsbedingungen Die Fragen stellte Rudolf M. J. Böhm nicht entspreche, von der Bibel her ja betrüge. Darüber habe ich nachgedacht, über Lüge und Ehrlichkeit. Das alles nimmt man natürlich auf und so bildet sich der Glaube. Wenn man so in der Bibel liest, kommen natürlich ist Sozialarbeiterin, Carolin Schneider (OJC) ihrer Familie im Haus sie arbeitet und lebt mit ld. der Hoffnung in Greifswa Brennpunkt Seelsorge 2/2021 11
Christl R. Vonholdt BEI DIR ZU HAUSE – IN MIR ZU HAUSE BINDUNG ALS GRUNDLAGE VON IDENTITÄT © alexandre zveiger / AdobeStock 12 www.ojc.de
Grundlagen Zum reifen, erwachsenen Menschsein gehört es, diejenigen, die dem menschlichen Gesicht am anderen ein Stück „Zuhause“ anbieten zu können, ähnlichsten sind.2 Sein ist immer Bezogensein. anderen Raum zu schaffen, damit sie sein können, Der Mensch braucht das Du, um sein Selbst zu Da-Sein, damit sie wachsen, sich entfalten und ih- entwickeln, um Ich zu werden. re Grenzen annehmen können. Berührt am eigenen Wesenskern Anderen ein Zuhause geben – also ein mütterli- Frühkindliche Bindung cher und väterlicher Mensch sein –, kann am be- In den 1950er Jahren begann sich die Bindungs- sten, wer selbst ein Zuhause in sich gefunden hat. forschung zu etablieren. Sie untersucht die Bedeu- Am leichtesten ist das für Menschen, die schon als tung früher Beziehungen für die Entwicklung des Kleinkind bei ihrer Mutter ein Zuhause erfahren Kindes und für sein Beziehungsverhalten im Er- haben: ein Grundgefühl des Wohl-Seins („ich wachsenenalter. Die Ergebnisse sind heute empi- darf da sein, ich darf Raum einnehmen“), Gebor- risch gut belegt. „Bindung“ meint zunächst die genheit, Sicherheit, Zugehörigkeit. In dieser be- besondere Beziehung des Kindes zu seinen El- ständigen, geborgenen An-Bindung kann das tern.3 Um sein Selbst zu entwickeln, braucht das Kind entspannen und sein; so kann es sein Selbst Kind (zuzeiten auch der Erwachsene!) eine „Bin- am besten umfassend entfalten und wachsen. dungsperson“, eine Person, die „weiser und stär- Martin Buber hat es so ausgedrückt: „Anders (als ker“ ist als es selbst und die dem Kind psychische das Tier) ist der Mensch: von einem mitgeborenen Sicherheit gibt. Sie gibt Fürsorge, Schutz, Wert- Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu schätzung, Trost, Unterstützung und behutsame nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur Herausforderung. Das Bedürfnis nach Bindung von menschlicher Person zu menschlicher Person ist angeboren und für ein Kind so lebensnotwen- werden kann; einander reichen die Menschen das dig wie das Bedürfnis nach Nahrung. Eine „siche- Himmelsbrot des Selbstseins.“1 In der Regel emp- re Bindung“ des Kindes an seine Eltern – in der fängt das Kind dieses grundlegende „Ja des Sein- Regel zuerst an die Mutter, dann an den Vater – dürfens“ durch die Verbundenheit mit seiner ist ein wichtiges Fundament für seine weitere Ent- Mutter. wicklung. Von Anfang an ist der Mensch also ein soziales Das folgende Beispiel kann die herausragende Be- Wesen. Säuglinge schauen lieber und länger in deutung von Bindung veranschaulichen: menschliche Gesichter als auf unbelebte Muster. In einer älteren Studie wurden Kinder im Alter Beim visuellen Abtasten von Gesichtern zeigen sie zwischen sieben und dreißig Monaten aus einem ein „harmonischeres“ Blick- und Bewegungsver- Waisenhaus in zwei Gruppen aufgeteilt: Die halten. Und selbst bei Mustern bevorzugen sie Gruppe der besser entwickelten Kinder blieb im Brennpunkt Seelsorge 2/2021 13
Waisenhaus. Die Gruppe der geistig zumeist zu- auch nach der Geburt noch am liebsten und häu- rückgebliebenen wurde zu jungen, geistig behin- figsten die Stimme hören, die ihnen schon vor der derten Frauen in ein anderes Heim verlegt. Die Geburt vertraut war: die Stimme der Mutter. Da Frauen bauten eine stabile 1:1-Beziehung auf, die können sie am besten entspannen. Ein wesentli- Kinder erhielten viel emotionale Zuwendung. cher Teil von Bindung verläuft über Sprache: an- Nach zwei Jahren hatte sich die Intelligenzleistung gesprochen werden, hören und antworten. der Kinder bei den geistig behinderten „Pflege- müttern“ deutlich verbessert, die im Waisenhaus Entspannen und ruhen sind wesentliche Voraus- verbliebenen Kinder hatten ein Entwicklungs setzungen dafür, dass sich das kindliche Gehirn defizit.4 gut entwickelt. In den ersten Lebensjahren ist die Gehirnentwicklung rasant: Im Alter von drei Jah- In der sicheren Bindung an Mutter und Vater lernt ren hat das Gehirn 90 Prozent seiner Erwachse- das Kind vertrauen: „Ich bin geborgen, ich werde nengröße erreicht und ein zweijähriges Kind hat gehalten. Ich werde berührt, also bin ich da. Es ist mehr neuronale Verschaltungen als ein Erwachse- so gut, dass es mich gibt, ich bin geliebt, ich werde ner. Viele wesentliche, frühe Entwicklungsprozes- gehört und verstanden.“ Wenn alles gut geht, fül- se laufen über das Gehör, auch schon über den len die Eltern den inneren Raum des Kindes vor- Ton der Stimme, den der Säugling wahrnimmt. wiegend mit Daseinsfreude, Vertrauen und Liebe Bindung, Hören und Sprachentwicklung fördern – eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das sich gegenseitig. Zudem sucht der Säugling aktiv Kind später anderen einen Raum zum Sein und den Blickkontakt zu Mutter und Vater. Genauer: zum Wachsen geben kann. Was die Eltern aus ih- Er sucht in ihren Augen das „Leuchten der Freu- rem eigenen Selbst heraus geben, verinnerlicht das de“, das ihm mitteilt, dass Mutter und Vater so Kind. Was sich in der Verbundenheit zwischen El- gern bei ihm sind. Dies alles sind wesentliche Ent- tern und Kind abspielt, wird zu einem Teil im wicklungsanreize für sein Gehirn. Kind: Freude, Unterstützung, Hilfe, Trost bei Ver- sagen und Annehmen von Grenzen. Ein kleines Kind ist noch nicht in der Lage, seine Gefühlszustände selbst zu regulieren. Es wird Damit ein Kind sich verstanden erlebt – und nur rasch von Gefühlen des Unwohlseins, des Hun- dadurch kann es lernen, auch sich selbst zu verste- gers, der (Todes-)Angst, des Alleingelassenseins hen – müssen die Eltern die Gefühle und sozialen und damit dem Nichts ausgeliefert zu sein, über- Signale des Kindes feinfühlig wahrnehmen und flutet. Erlebt ein Kind weder Empathie noch Un- prompt und fürsorglich beantworten. Damit Bin- terstützung, kann das unerträgliche Ängste, Wut dung gelingt, müssen insbesondere Mutter und und Trauer in ihm auslösen. Auch neue, unbe- Säugling sich aufeinander „einstimmen“. Das ist kannte Situationen können ein Kind überfordern. wie bei einem gemeinsamen Tanz, der beiden Ge- Zweijährige, so aktuelle Studien, brauchen minde- nuss bringt. Das Kind ist dabei ein aktiver Part- stens so viel Nähe zur Mutter wie Einjährige.5 Die ner. Es nimmt wahr, unterscheidet, bevorzugt und mit den belastenden Gefühlen verbundene Erre- lehnt ab. Beispielsweise erkennen wenige Tage al- gung kann das Kind nicht steuern. Es braucht te Säuglinge die Milch ihrer Mutter am Geruch Mutter oder Vater als Bindungsperson, die es – und wenden beim Geruch anderer Milch ihr auch durch ihre Stimme und ihre Worte – beruhi- Köpfchen ab. gen können. Eingestimmt auf das Gegenüber In Stresssituationen schaltet das kindliche Gehirn Das kindliche Gehirn zunächst in den Überlebensmodus. Alle Energie Zum Zuhause-Sein gehört neben dem Vertrauen wird zum Durchhalten gebraucht. Stresshormone das Entspannen und Ruhen. Säuglinge möchten werden freigesetzt, was kurzfristig hilfreich, lang- 14 www.ojc.de
Dieun Gr dlagen Seite fristig aber schädlich ist. Nach der Übererregung eines Grundgefühls des Wohl-Seins erscheint (Weinen und Schreien) fällt das Kind in Erschöp- i hnen ihr innerer Raum leer, trostlos, zu eng zum fung, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Die Da-Sein, voller Verlassenheitsängste und Anspan- Erregung endet in emotionaler Verschließung. nung. Nicht selten ist ihr Leben von einer zwang- Werden belastende Situationen zum Dauerzu- haften Unabhängigkeit oder von emotional ab- stand, kann das Kind nicht mehr entspannen. hängigen Beziehungen geprägt statt von gesunder Längere Stressperioden können das kindliche Ge- Autonomie innerhalb von Beziehungen. hirn auch langfristig beschädigen und seine Ent- wicklung behindern. Häufigste Ursache für unge- Doch immer gibt es hoffnungsvolle Perspektiven. sunden Stress beim Kind ist die Unterbrechung Wenn Kindheitserfahrungen auch im Gehirn ver- seines Bindungssystems: die wiederkehrende und ankert sind, so kann sich das menschliche Gehirn zu frühe Trennung von der Mutter, die Nicht-Ver- doch dank seiner hohen Neuroplastizität lebens- fügbarkeit von Mutter oder Vater, wenn das Kind lang verändern! Anders als das Kind kann der er- sie braucht. Möglicherweise ist es auch eine be- wachsene Mensch sich nun aktiv eine feinfühlige ständige Unfähigkeit der Eltern, die sozialen Si- Bindungsperson suchen; eine Person, die ihm gnale des Kindes emotional aufzunehmen und hilft, alte, belastende Erlebnisse zu verarbeiten feinfühlig zu beantworten, sodass sich das Kind und neue Beziehungserfahrungen zu machen. dadurch in seinem Bindungsbedürfnis immer Sich Hilfe zu suchen ist nicht einfach für ihn, wieder abgelehnt fühlt. Wiederholte und längere denn er erwartet von Beziehungen nicht viel. Es Bindungsunterbrechungen können ein schwer- braucht Mut, sich einzulassen, denn die Erfah- wiegendes Trauma für das Kind darstellen. Unter- rung sagt ihm, dass er emotional nicht „landen“ suchungen an Kleinkindern in ganztägiger Krip- oder sogar neu verletzt wird. Eine geeignete Bin- penbetreuung zeigen, dass viele von ihnen eine dungsperson kann ein guter Freund sein, der Ehe- chronische Erhöhung ihrer Stresshormonspiegel partner, ein einfühlsamer Seelsorger oder – je aufweisen, und zwar auch bei qualitativ sehr guter nach Schwere der erlebten Bindungsverletzungen außerhäuslicher Betreuung. In einer Wiener Stu- – ein geeigneter Therapeut. Wenn Erwachsene die hatten Kinder unter zwei Jahren nach fünf lernen, ihre frühen Erfahrungen und Entbehrun- monatiger qualitativ durchschnittlicher Krippen- gen zu benennen, wenn sie dabei einen gefühls- betreuung Stresshormonwerte, die denen ver- mäßigen Zugang zu den immer noch belastenden gleichbar waren, die in den 1990er Jahren bei Erinnerungen finden, wenn sie das, was sie noch zweijährigen rumänischen Waisenkindern gefun- heute dabei empfinden, sprachlich für sich zu- den wurden.6 gänglich machen können und wenn dies alles in der Verbundenheit mit einem warmherzigen, Bereit, sich anzuvertrauen emotional zugewandten Gegenüber geschieht, Der Erwachsene kann vieles anders werden. Der innere Raum wird Die Bindungsforschung belegt, dass es einen Zu- frei für neue Erfahrungen, Erfahrungen der Freu- sammenhang gibt zwischen den Erfahrungen, die de – und damit wächst die Fähigkeit, anderen ein Kind mit seinen Eltern gemacht hat, und sei- Raum zu geben. ner späteren Fähigkeit, emotional für andere zu- gänglich zu sein und anderen feinfühlig Bindung Berufen in den Bund und Beziehung anzubieten. Für unser Thema Die geistliche Dimension heißt das: Menschen, denen eine ausreichend si- Es gibt noch eine weitere und tiefere Dimension. chere Bindung an Mutter und Vater in der Kind- Lange vor der Bindungsforschung bezeugt die Bi- heit gefehlt hat, haben es als Erwachsene schwerer, bel, dass der Mensch Bindung braucht, dass er ei- ein Zuhause in sich selbst zu finden und damit ne Bindungsperson braucht, die „stärker und wei- auch ein Zuhause für andere anzubieten. Statt ser ist“ als er, dass der Mensch sein Ich über die Brennpunkt Seelsorge 2/2021 15
Verbundenheit mit dem großen Du finden und a llmählich Freude und Zuversicht wachsen und entwickeln kann, dass das Bindungsbedürfnis dass er irgendwann auch anderen – ohne selbst dem Nahrungsbedürfnis gleichgestellt ist und leer zu werden – ein Zuhause anbieten kann. dass Bindung wesentlich auch über Sprache ge- Anmerkungen: schieht, über angesprochen werden, hören und 1 Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, 1978, S. 37. antworten. So heißt es beispielsweise in der Heili- 2 Vgl. Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, 1992. gen Schrift: „Der Mensch lebt nicht vom Brot 3 Vgl. Karin und Klaus Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychi- scher Sicherheit, 2004. allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus 4 Vgl. die Studie von Harold M. Skeels, 1966. Auch als Erwachsene gab dem Mund Gottes geht“ (5 Mo 8,3; Mt 4,4). Gott es noch große Unterschiede bei den sozialen Kompetenzen, Bil- dungsabschlüssen und Verheiratetsein. In allen Bereichen schnit- bietet dem Menschen Beziehung an, einen Bund. ten die Kinder mit den Pflegemüttern besser ab. In der Verbundenheit mit ihm, in der Bindung an 5 Vgl. Laura Lindsey Porter, The Science of Attachment: The Biological ihn, den Schöpfer und Erlöser seiner Schöpfung, Roots of Love, www.naturalchild.org. 6 Siehe Rainer Böhm, Die dunkle Seite der Kindheit, FAZ 4.4.2012. findet der Mensch sein tiefstes Zuhause. Das ist 7 Abraham Heschel, Die ungesicherte Freiheit, 1985, S. 130. ein großer Trost für viele: dass niemand bei dem 8 Penny Roker, Homely Love – Julian of Norwich, 2006, S. 96. 9 Zit. nach Andreas Kusch, Liebe, ich will dich lieben, 2012, S. 40. stehen bleiben muss, was er in der Kinderzeit er- lebt hat. Gott, der alles in allem war, hat sich zu- rückgenommen, um Raum für den Menschen Aus: Salzkorn 2/2013, S. 74-77, aktualisiert (und die Schöpfung) zu schaffen, damit der Mensch da sein und wachsen kann. In einer viel tieferen Weise als Mutter oder Vater es je können, hat Gott dem Menschen „etwas von seinem eige- nen Selbst“7 gegeben, etwas von sich selbst in ihn hineingelegt. Gott selbst will im Menschen woh- nen. In einem englischen Gebet heißt es, dass Gott in dem Menschen, der sich ihm öffnet, sein „schönstes Zuhause“ hat („his homeliest home“), seinen „Ruheplatz“ („God’s resting place“)8, der es auch dem Menschen ermöglicht zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Johannes vom Kreuz betet Jesus mit den Worten an: „O du lebendige Liebesflamme… sanft und liebend wachst du in meinem Herzen ...“9 Wenn ein Mensch anfängt, sich immer wieder neu für diese Wirklichkeit zu öffnen, durch Lesen der Heiligen Schrift, in Gebet und Abendmahl, wird er allmählich entdecken, dass der Raum des „Zuhause“ bei ihm und in ihm wächst, dass Kinder- und nholdt, Fachärztin für Dr. med. Christl R. Vo uts chen Instituts für 7 Leiterin des De Jugendmedizin, bis 201 eld er: Bindu ng , kindliche t. Themenf Jugend und Gesellschaf olo . gie , Ehe, Familie, Anthrop Entwick lung, Sexualität 16 www.ojc.de
initiativ Sonne im Haus – ein Magazin für Mütter Mit stärkenden, bereichernden Texten und Zeug- nissen wollen die Herausgeberinnen Manuela Fletschberger und Tatjana Schnegg den Blick auf Nestbau e. V. das Positive und Schöne im Leben einer Mutter lenken und Müttern Rückenwind geben. Sie ha- Der Chemnitzer Verein hat es sich zum Anliegen ben es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen die Wich- gemacht, dass Muttersein in seinen vielen tigkeit und Kostbarkeit ihres Tuns vor Augen zu Facettenwertgeschätzt und auf die Bedeutung führen, ihnen eine große Wertschätzung für ihre von gelebter Mütterlichkeit für die Familie und Aufgabe zu vermitteln und sie in ihrer Berufung unsere Gesellschaft hingewiesen wird. Die Mitar- zu stärken. Die Vision ist es, das Image des Mut- beiterinnen von Nestbau e.V. ermutigen und un- terseins wieder neu und positiv zu beleben. terstützen Mütter, die ihre Kinder in den ersten Ehrliche, inspirierende Texte, praktische Alltags- sensiblen Lebensjahren Zuhause betreuen wollen Tipps und die liebevolle Gestaltung machen diese und begleiten sie in ihrem Alltag. Sie schaffen ei- Zeitschrift zu einem echten Schatz. Sie erscheint ne Lobby, die sonst kaum noch zu finden ist. Auf viermal im Jahr. ihrer Homepage findet man viele Impulse, hilfrei- che Tipps für den Alltag und auch weiterführen- Mehr unter www.sonneimhaus.at de Literatur zum Thema. Über sich selbst schreiben sie: „Wir machen uns stark für ein wertgeschätztes Muttersein und freuen uns, wenn Frauen ihre Berufung als Müt- ter entdecken, leben und gestalten! Wir glauben, dass begeisterte Mütter letztlich auch Väter begei- stern und dass Kinder von begeisterten Eltern beste Startbedingungen haben!“ Mehr über den Verein auf www.nestbau-familie. de. Kontakt: kontakt@nestbau-familie.de, Tel.: 037209 81744 Brennpunkt Seelsorge 2/2021 17
Manuela Fletschberger NESTWÄRME UND REIBUNGSWÄRME KINDERN EIN ZUHAUSE SCHENKEN © Sunny Studio /AdobeStock Meine Kinder kennen das schon von mir: gerne jedes Mal, wenn wir sie besuchen. Oder sie erzählt stelle ich ihnen nebenbei Fragen über das Leben, etwas aus ihrer Kindheit. Was, genauer betrachtet, genauer gesagt über unser Leben. Solche Fragen doch ziemlich erstaunlich ist. Diese demente, alte, bringen meistens überraschende Antworten, aus liebenswürdige Frau erzählt nichts von ihrer sech- denen sich ab und zu gute Gespräche ergeben. Vor zigjährigen Ehe, nichts von ihrem Ehemann, einiger Zeit fragte ich beim Mittagstisch: „Findet nichts von ihren drei Kindern, Enkelkindern und ihr unser Zuhause eigentlich gemütlich?“ Einhel- Urenkeln, sondern nur und immer wieder Dinge liges Ja erklang. „Und was genau findet ihr gemüt- aus längst vergangenen Tagen. Das zeigt uns, wie lich?“ Da meinte mein Neunjähriger kurz und groß und wichtig unsere Berufung als Eltern bündig: „Dich!“ Auf diese Antwort war ich nicht unseren Kindern gegenüber ist. Gleichzeitig kann gefasst, deshalb traf sie mich so ins Herz. es sein, dass es auf unsere Schultern eine Last legt, wissen wir doch um unsere Schwächen und Wohlig warm bis klirrend kalt Fehler. „Zuhause“ ist ein großes Wort. Da werden Gefüh- le geweckt und Namen sind unzertrennlich mit Kindern mit einem Zuhause ein gutes Fundament dem Wort verknüpft. Der eine oder andere von für ihr Erwachsenwerden zu bieten, ist die große uns kann es förmlich riechen, schmecken, fühlen. Challenge des Elternseins. Wer jedoch glaubt, dem Der Ort, der beim Wort Zuhause in uns präsent Nachwuchs alles bieten zu müssen oder zu kön- wird, ist etwas Besonderes. Er ruft in jedem etwas nen, wird mürbe und unter dieser Last womöglich anderes wach. Das Gefühlsspektrum reicht von zerbrechen. Wir können nicht immer nett und wohlig warm bis klirrend kalt. Es kann sein, dass freundlich sein, nicht immer alles perfekt im Griff wir im Erinnern an unser Zuhause Dankbarkeit haben. Das wäre nicht menschlich und vor allem und Liebe verspüren, aber genauso, dass da nicht gut für unsere Kinder. Menschsein heißt, Schmerz, Trauer oder Wut in uns hochsteigen. Fehler zu machen, auch mal zu scheitern. Mensch- sein heißt aber auch, nach einem Fehlschlag wie- „Ich war Zuhause immer die Dumme!“ erzählt der aufzustehen, wenn nötig, Versöhnung zu su- die mittlerweile 96-jährige Oma meines M annes chen und dann mutig neu zu beginnen. 18 www.ojc.de
Aus dem Leben Ein Nest voller Wärme Empfinden, ein Umeinander-Sorgen, ein Ineinan- Vogelnester haben mich schon immer fasziniert. der-Vertrauen, ein Miteinander-Geduld-Haben, Sie thronen teils hoch oben in schwindliger Höhe. dann macht uns das lebensmutig. Ihr Baumaterial wird von den Besitzern unter Das beste Zuhause ist nicht die perfekte Wohl- großen Anstrengungen und Geschick zu einem fühloase. Ein Zuhause, das von den Kindern im kuschelig weichen Nest geflochten. Auch wir El- Rückblick als gut empfunden wird, ist jenes, das tern bauen ein Nest für unsere Kinder. Alles ein verlässlicher Ort ist, wie ein Leuchtturm im startklar machen für das neue Leben. Es gilt, ein Meer des Lebens: beständig, zuverlässig, unzer- Zuhause zu schaffen, das ein Stützpfeiler ist, auf störbar, bergend, Ruhe schaffend. Es ist der Inbe- dem das Leben der Kinder und unser eigenes griff von fester Zugehörigkeit und Angenommen- ruht. Es ist der Raum, wo unser aller Dasein ge- sein. Ich weiß: Dort bin ich immer willkommen, formt, gebildet, ausgerichtet wird. dort kann ich all meine Lasten hintragen, dort Durch Nestwärme, die sich aus Liebe und Gebor- darf ich ich sein. genheit nährt, und die ein Daheim so wirkmäch- tig macht, werden aus Kindern Erwachsene mit Nicht im Paradies Profil. Durch das, wie Zuhause gelebt wird, wel- Wir leben nicht im Paradies, deswegen können che Haltungen hier vertreten werden, welchen wir unseren Kindern auch nicht das Paradies auf Umgang die Familie miteinander pflegt, wird ihr Erden schenken. Unsere Welt ist gebrochen. Es innerer Kompass ausgerichtet. gibt viele Wunden. Keiner ist ohne Schwäche. Wir leben im Chaos – mal mehr, mal weniger. Je- Zuhause wird Urvertrauen aufgebaut und der der ist irgendwo verwundet und jeder verletzt sei- „Liebestank“ gefüllt. Aber die Sache mit dem Ur- ne Mitmenschen hier und da. Aber Gott will für vertrauen beginnt schon viel früher: im ersten uns das Paradies. Das ist das Geheimnis, das von Zuhause eines jeden Menschen, im Leib der Mut- Ostern nachklingt: Auferstehung, Neuanfang. ter. Erik H. Erikson bezeichnet Urvertrauen als Mit Gott können wir darauf vertrauen, dass er „ein Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens“. Deshalb einen guten Plan für unsere Familie hat und dass entscheidet sich an diesem Ort, ob man dem Le- er auch unsere Schwächen einkalkuliert. Er will ben vertraut oder ob man ständig misstrauisch uns immer wieder neue Wege aufzeigen, wie wir ist. „Von dort ausgehend nimmt das Kind wahr, das Miteinander besser gestalten können. ob das Leben ein guter oder ein schlechter Ort für Wir Eltern sind dazu gemacht, in einer perfekten es ist. Urvertrauen bedeutet, das Leben kann, männlich-weiblichen Symbiose unseren Kindern trotz schwieriger Umstände, gelingen. Es heißt: ein Zuhause zu schenken. Darauf dürfen wir ver- Ich kann mich verlassen.“* trauen. Es geht nicht um Perfektionismus, son- dern um Liebe. Und wir können immer wieder Vom Wert gemeinsamen Lebens neu anfangen, dieses Zuhause mit Liebe zu füllen. Es tut gut, mit Menschen, mit denen wir durch Anmerkung: ein Band der Liebe verbunden sind, zu leben, zu *vgl. Reinbacher, Kurt: Kinder brauchen ein Nest. Sie brauchen Schutz essen, zu ruhen, zu spielen, zu lachen, zu weinen. und Führung, in: Familie – Weg der Kirche (2020), Nr. 01/20. S. 3 Und nicht nur das: sich zugehörig zu fühlen zu ei- ner ganz einzigartigen kleinen Keimzelle des Le- bens ist etwas, das uns innerlich derart nährt, Aus: Sonne im Haus, Nr. 2/2021, gekürzt dass wir so manche berufliche, gesellschaftliche oder freundschaftliche Hungersnot überstehen können. Erleben wir zuhause immer wieder einmal ein Füreinander-Einste- ist verheiratet und hen, ein Miteinander-Gehen, ein Anein- Manuela Fletschberger ilienassistentin setzt ander-Freuen, ein Zueinander-Liebe- vierfache Mutter. Als Fam e von üttern ein. M sie sich für die Belang Brennpunkt Seelsorge 2/2021 19
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