FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen

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FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
Juli - Dezember • 2/2021 • Nr. 179

SEELS RGE
BRENNPUNKT                                                           OJC
                               ­ ERATUNG
                  ISCHEN LEBENSB
BEITRäGE ZUR BIBL

                          FAMILIE
 RAUM DER BEWAHRUNG UND DER BEWÄHRUNG
FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
Inhalt

2                          Liebe Mitchristen                                                      Liebe Mitchristen,
                              Rudolf M. J. Böhm
4 Familie – Glanzlicht der Zivilisation                                                           jeder von uns hat eine Ursprungsfamilie. Nie-
                              Rudolf M. J. Böhm                                                   mandem ist die Erfahrung von Familie fremd.
8                        Hör auf dein Herz                                                        Sie ist in der Regel der erste Ort, an dem wir er-
                              Carolin Schneider
                                                                                                  fahren, dass wir geliebt sind und lernen, andere
12     Bei dir Zuhause – in mir Zuhause                                                           zu lieben. Dennoch scheint das Bewusstsein da-
                             Christl R. Vonholdt
                                                                                                  für, dass die Person wie die Gesellschaft aus Fa-
17          Zwei interessante Initiativen                                                         milie erwächst und wächst, immer mehr zu
           Verein Nestbau + Magazin "Sonne im Haus"
                                                                                                  schwinden. Unsere Welt hat sich in den letzten
18      Nestwärme und Reibungswärme                                                               50 Jahren in ihrer äußeren Gestalt wie auch im
                         Manuela Fletschberger
20 Meine Entscheidung für ein viertes Kind                                                        Denken enorm verändert. Der ehemalige Präsi-
                                                                                                  dent des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-­
                                                                   Rahel Rasmussen
                                                                                                  Jürgen Papier, schreibt: „Das Bundesverfas-
23                                   Unschätzbare Ressource                                       sungsgericht hat […] bis zuletzt in seinen Ent-
                                                                     Manfred Spieker
                                                                                                  scheidungen betont, dass eine Ehe im Sinne des
26                    Ab heute selber Sorge tragen                                                Grundgesetzes nur die Vereinigung eines Man-
                                          Matthias Casties
                                                                                                  nes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten
28                            Jesus, Maria und Josef                                              Lebensgemeinschaft ist.“ Bei der „Ehe für alle“
                                            Pia Holzschuh
                                                                                                  habe sich die Politik ganz klar auf „Kollisions-
30                       Susanna Wesley: Starke Frau                                              kurs mit der Verfassung“ befunden.
                                                Pete Greig
32                  Stille Revolution am Wickeltisch                                              Parteien machen sich derzeit stark für neue
                                               Birgit Kelle
36                          Ihr seid mir die richtigen!                                           ­Familienformen: „Ob Patchwork-, Stief- oder
                                                                                                   Regenbogenfamilie – Familien sind vielfältig“.
                                          Birte Undeutsch
38                             Termine und Tagungen                                                „Mehrelternschaft“-Modelle sollen das klassi-
                                                                                                   sche Familienbild ergänzen oder ersetzen, wie
40                   Die Familie ist ein Traum Gottes                                              etwa der „Pakt für das Zusammenleben“ als Idee
                                                                 Papst Benedikt XVI                einer neuen Verantwortungsgemeinschaft. Kas-
                                                                                                   senfinanzierte künstliche Befruchtung für
                                                                                                   „nichteheliche Lebensgemeinschaften und lesbi-

SEELS RGE
BRENNPUNKT                                                                                         sche Paare“ soll ermöglicht werden sowie die Er-
                                                                 G
                                                                                                   forschung von Reproduktionstechniken, die aus
                               B­ ERATUN
                 LISCHEN LEBENS
BEITRäGE ZUR BIB                                                                                   dem genetischen Material zweier Menschen im
                                                                                                   Labor und künstlicher Gebärmutter neues Le-
Redaktion: Rudolf M. J. Böhm (V.i.S.d.P), Birte Undeutsch, Cornelia Geister, Carolin Schneider,
Pia Holzschuh, Írisz Sipos
                                                                                                   ben entstehen lassen. Die Diskussion über die
Produktion/Layout: Martha Hummel mit B. Undeutsch, C. Geister, Í. Sipos                            Eizellen- und Samenspende, Leihmutterschaft
Bildnachweis: Titel: © sturti / istock ; Rückseite: © bilanol / AdobeStock                         und die Finanzierung von all dem füllen die
Verlag u. Vertrieb: Offensive Junger Christen – OJC e.V.                                           Schlagzeilen. Etliche Feministinnen wollen die
Pf. 1220, 64382 Reichelsheim, Tel.: 06164/9308-0, Fax: 06164/9308-30
                                                                                                   Frau von der „Sklaverei der Fortpflanzung“ be-
Bestellung u. Adressänderung bitte an OJC-Adresse oder E-Mail: versand@ojc.de
                                                                                                   freien.
Druck: Lautertal-Druck Bönsel GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.
Brennpunkt Seelsorge erscheint 2 x pro Jahr und wird kostenfrei weitergegeben.                    In all dem gelangt eine Wahrnehmung vom
Zuschriften an die Redaktion: Brennpunkt Seelsorge, Helene-Göttmann-Straße 22,                    Menschen zum Ausdruck, die de facto leugnet,
64385 Reichelsheim, Tel.: 06164/9308-318, E-Mail: brennpunkt@ojc.de
                                                                                                  dass dieser eine ursprünglich aus der Liebe her-
Spendenkonto: Offensive Junger Christen, Volksbank Odenwald eG                                    vorgehende Bindung braucht, ein Du, mit dem
BIC: GENODE51MIC; IBAN: DE04 5086 3513 0000 1095 50                                               er zutiefst verbunden ist. Bindungen, die mit Se-
Wichtig für Ihre Überweisung: Bitte geben Sie bei Ihrer Spende im Feld „Verwendungszweck“
                                                                                                  xualität und Zuneigung verbunden sind, werden
Ihre Adresse oder Freundesnummer (siehe Adressaufkleber) an. Nur so können wir Ihre Spende        oft wie Konsumgüter verhandelt, deren Sinn
eindeutig zuordnen und Ihnen die Zuwendungsbestätigung ausstellen. Danke!

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FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
Editorial

sich in der Befriedigung individueller Bedürfnisse       haltlose Utopien und totalitäre Manipulation des
in kurzzeitigen Beziehungen erschöpft, während           Individuums. So müssen wir uns nicht wundern,
man zunehmend blind wird für ihre Bestimmung,            wenn sie Angriffsziel moderner Ideologien ist, die
die Person aufzubauen und zu ihrer Vollendung            die traditionellen Werte der jüdisch-christlichen
beizutragen. Deshalb wollen wir mit diesem Heft          Kultur und damit den Menschen dekonstruieren,
die Bedeutung der Familie wieder hervorheben und         indem sie die Gesetzmäßigkeiten der Biologie ver-
ihren unersetzbaren und unnachahmlichen Wert             neinen und die natürliche Familie, die im dreieini-
in Erinnerung rufen. Dabei geht es uns nicht dar-        gen Gott verankerte Einheit von Vater, Mutter und
um, einem realitätsfernen Familienidyll das Wort         Kindern, für verzichtbar erklären.
zu reden. Neben vielen freudigen Aspekten von Fa-
milie gibt es auch jede Menge Probleme: Konflikte,       Damit die Familie zum Vorgeschmack der Liebe
Gewalt, Verwundungen, Brüche, Ehescheidung.              Gottes werden kann, in der unsere Sehnsucht nach
Doch es gibt keinen Ort, an dem die Kraft jener          Glück zur Vollendung geführt wird, müssen wir auf
Liebe besser kultiviert werden kann, die es ermög-       Jesus schauen und das Geschenk seiner Gnade an-
licht, dem Bösen gegenzuhalten, das sie bedroht.         nehmen. Ihm soll unsre erste Liebe gelten. Von ihm
Das christliche Ideal – und besonders von der Fa-        lernen wir, einander anzunehmen und zu lieben. So
milie – ist Liebe trotz allem.                           gehört die Erstverkündigung der Vaterliebe Gottes
                                                         in die Mitte der Familien, wo Menschen erfahren
Aktuelle Umfragen belegen, dass es der Traum der         und lernen, dass sein Sohn Jesus Christus, der sein
meisten jungen Menschen und fester Vorsatz jun-          Leben für uns hingegeben hat, jeden Tag lebendig
ger Ehepaare ist, sich ein Leben lang in treuer Liebe    an unserer Seite ist, um uns zu erleuchten, zu stär-
verbunden zu bleiben. Dies steht in schmerzlicher        ken und zu befreien.
Spannung zu der zunehmenden Skepsis, ob eheli-
che Treue möglich und zumutbar ist. Doch bereits         Das unveränderliche und immer neue Evangelium
die Sehnsucht nach unendlicher Liebe legt nah,           Christi kann als lebendige Wirklichkeit an die Fa-
dass es sie wirklich gibt und geben sollte. Die eheli-   milien unserer Zeit, unserer Welt herangetragen
che Liebe ist ein Bild in unserer Seele, das als Ab-     werden, wenn in unserem Zusammenleben eine
bild Gottes in uns hineingelegt ist. Treue ist uns       Kraft und eine Schönheit aufleuchten, die ganz of-
möglich, weil Gott treu bleibt. Er wollte die Familie    fenbar nicht von uns kommen, aber jeden von uns
von Anfang an. Sie ist Seine Erfindung! Die Heilige      tragen. So kann das, was eine christliche Ehe und
Schrift beginnt mit der Eheschließung von Adam           Familie ausmacht, erneut Teil der menschlichen Er-
und Eva und endet mit der Hochzeit des Lammes.           fahrung werden. Dies geht immer mit Mühe, mit
Gott hat eine Familie in Nazareth erwählt, um auf        Freude und Leid, mit vielen Hoffnungen und ent-
die Erde zu kommen, um sie schließlich für immer         täuschten Erwartungen einher. Kurzum – es ist ein
zu verändern. Das Ja von Maria und Joseph waren          ein dynamischer Prozess, ein Wachstumsweg, auf
Voraussetzungen dafür, dass Christus sein Erlö-          dem wir Gott in unseren Familien bewusst Raum
sungswerk für uns alle vollenden konnte. Ihre Fa-        schaffen, damit er täglich neu den Glauben in uns
milie ist keine normale Familie, aber sie ist ein Bild   vermehre, die Hoffnung stärke und die Liebe in uns
der Sehnsucht für uns. In Maria erfüllt sich alle        entzünde – wie es das Gebet von Papst Benedikt
Mutterschaft, die Verheißung an Eva, den Sohn zu         XVI. (s. Rückseite) formuliert.
gebären, der der Schlange den Kopf zertritt. Mit
­Jesus, dem neuen Adam, bricht ein neues Zeitalter       In der Familie Gottes mit Ihnen verbunden
 der wahren Liebe, der selbstlosen Hingabe an, an        Ihr
 der alle, die ihm als Braut angehören, bereits Anteil
 haben dürfen: Eheleute und Ehelose gleicher­
 maßen. Es ist diese Revolution der Liebe, die die       Rudolf M. J. Böhm
 Familie als Wirklichkeit widerständig macht gegen       Greifswald, den 9. September 2021

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                                     3
FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
Rudolf M. J. Böhm

    FAMILIE –
    GLANZLICHT DER ZIVILISATION
    EIN BIBLISCHES MODELL HAT ZUKUNFT

    © Kin Li / unsplash

4                                       www.ojc.de
FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
Grundlagen

Familie – Ort der Unfreiheit?
                                                        l­ockere und doch vertraute und verantwortungs-
Wer öffentlich für die Institution Familie einsteht,     volle Verbindungen auf Zeit. Durch ihren tempo-
wird als hoffnungslos gestrig wahrgenommen. Es           rären Charakter und durch Fluktuationen der
wird der Eindruck vermittelt, man würde dafür            WG-Mitglieder geben sie natürlich oft nicht den
plädieren, dem Einzelnen die Selbstverwirk­              gleichen Stabilitätsanker wie Familien, das gilt vor
lichung zu verwehren. Als ob die Familie ein Ge-         allem für die Kinder. Das Ergebnis ist Vereinze-
fängnis wäre, ein Ort der Unfreiheit, der bindet         lung. Noch nie gab es in Europa so viele allein
statt ermöglicht.                                        wohnende junge Menschen. Vier Millionen Män-
Im besten Fall ist eine Familie ein konstruktiver        ner und Frauen in den Zwanzigern leben in
Ort, Ausgangspunkt von Entwicklung und Er-               Deutschland allein, das ist in dieser Altersgruppe
möglichung. Der Zeitgeist scheint sich selbst zu         bereits fast jeder Dritte, Tendenz steigend. Die
widersprechen: Auf der einen Seite sehnen sich die       Menschen verlieren den Mut und die Fähigkeit zu
meisten Menschen nach der großen Liebe, nach             verbindlichen,      dauerhaften      Beziehungen.
Glück, Sicherheit und Geborgenheit, beklagen             Was dadurch immer mehr fehlt, ist die Fähigkeit
Orientierungslosigkeit und Sinnkrise, auf der an-        • zum Verzicht zugunsten des anderen,
deren Seite wird die Familie als Hort all dieser         • zum Aushalten von Konflikten,
Werte verschmäht. Tatsächlich gibt es immer we-          • zum Erlernen einer gesunden Streitkultur,
niger Familien, die mindestens aus Vater, Mutter         • zum Erarbeiten von gemeinsamen Lösungen,
und Kind bestehen. Dementsprechend werden                kurz: die Fähigkeit zum sozialen Frieden.
dauerhafte Beziehungen – Stichwort „Ehe“ –               Wir steuern auf eine Gesellschaft zu, die erstma-
­immer seltener erlebt. Familie ist für viele ein ro-    lig in der Geschichte der Menschheit nicht mehr
 mantisches Ideal von emotionaler Geborgenheit           auf der Keimzelle Familie beruht. Erstmals findet
 und heiler Welt; sie wird aber immer mehr zum           die Herausbildung der Identität nicht mehr pri-
 Mythos, etwas, das man niemals erlangt.                 mär im geschützten Rahmen der Familie statt,
                                                         sondern in aller Öffentlichkeit: in Kitas, Kinder-
Familie –                                                gärten, Schulen, im Fernsehen und im Internet.
ein Lernort für den Frieden                              Damit wachsen Generationen heran, die nicht
Der Kern der Familie ist die Paarbeziehung. Fa-          mehr in der Familie gelernt haben, wie Gemein-
milien kann es nur geben, wenn es Paarbeziehun-          schaft funktioniert. Die Folgen? Unabsehbar!
gen gibt, die lange genug halten und genügend ge-
meinsame Zeit ermöglichen, um Kinder großzu-            Familie –
ziehen.
                                                        unverzichtbarer Erlebnisraum
In Deutschland sinkt derzeit die Zahl der Schei-        „Der göttliche Heilsplan und die Heilsgeschichte
dungen. Aber nirgendwo auf der Welt steigt die          gehen über die menschliche Familie hinaus“ (Papst
Scheidungsrate so stark wie in Europa. Je höher         Johannes Paul II.), d. h. die Stellung eines Men-
die Scheidungsrate, desto höher ist statistisch         schen in der Welt ist zutiefst abhängig von den
auch die Zahl der vorehelichen Beziehungen. Die         Urbeziehungen in Ehe und Familie. Wie ist das zu
Neigung zum immer häufigeren Partnerwechsel,            verstehen?
egal, ob mit oder ohne Trauschein, ist statistisch      • Die Familie ist der Ort, an dem Kinder leben
Fakt. So gesehen schreiten wir auf dem Weg zu ei-            lernen, an dem ihr Ja zum Leben grundgelegt
ner promiskuitiven, bindungslosen Gesellschaft               wird, an dem sich ihr Gemüt und die ersten
immer weiter voran. Was soll dann am Ende des                Bindungen entwickeln, die den sicheren
Weges stehen?                                                Stützpunkt vermittelt, damit sie sich für die
                                                             Welt interessieren und sie erkunden.
Man sucht Familienersatz in freieren Formen des         • Die Familie ist der Ort, an dem das Gewissen
Zusammenlebens: Wohngemeinschaften als                       seine erste Formung und Bildung erfährt.

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                                     5
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Damit wird eine Antwort auf die Frage gege-       fähigkeit, sondern auch die Bindungs­f ähigkeit ei-
        ben, was gut und was schlecht ist, was hilft,     nes Menschen gestört wird, wenn in frühester
        Gemeinschaft zu leben und mitzugestalten.         Kindheit die wichtigste und engste Bindung, die
    •   Die Familie ist der Ort, an dem die Glaubens-     ein Mensch haben kann, eingeschränkt wird.
        entfaltung grundgelegt wird. Wo in der Ehe
        mit allen ihren Höhen und Tiefen Reifung          Das Bemühen des Staates, erwerbstätige Mütter
        geschieht, vollzieht sich vor allem der Wachs-    (durch die Einrichtung von Kitas) zu entlasten, um
        tumsprozess der menschlichen Urkräfte des         deren Potenzial für die persönliche berufliche Ent-
        Hoffens, Lebens und Glaubens. Die Entfal-         faltung und ihren Beitrag zum Wirtschaftswachs-
        tung eines väterlich und mütterlich liebenden     tum besser zu nutzen, ist durchaus verständlich
        Gottesbildes – leider auch mit all seinen Fehl-   und begrüßenswert. Doch leider wurde aus dem
        formen und Verzerrungen1 – ereignet sich zu-      staatlichen Angebot mehr und mehr ein gesell-
        allererst im Erlebnisraum der Familie.            schaftliches Gebot: Betreuung und Kindererzie-
    •   Die in den ersten Entwicklungsphasen ge-          hung? Sache des Staates! Definitiv nicht Sache der
        wonnenen Gefühlserlebnisse sind ausschlag-        Eltern und vor allem nicht Sache der Frau. Aus der
        gebend für die spätere Beziehung des Men-         Wahlfreiheit, die zu begrüßen ist, wurde eine neue
        schen zu sich selbst, zu den Mitmenschen          Form von Alternativlosigkeit. Mittlerweile wurden
        und zu Gott.                                      gesetzliche Grundlagen geschaffen, durch die jene
                                                          finanziell indirekt bestraft werden, die ihre Kinder
    Es gibt noch viele andere Aspekte, die zu benen-      lieber Zuhause erziehen, anstatt sie in eine Kita zu
    nen wären und die den Lern- und Erlebnisraum          geben.
    der Familie als unverzichtbar kennzeichnen. Zu-
    sammenfassend könnte man sagen: Die Familie           Wahrscheinlich werden wir in zwanzig Jahren
    ist der optimale Ort, an dem junge Menschen ihre      feststellen, dass die „Folgekosten“ falsch einge-
    Beziehungsfähigkeit und Selbstständigkeit ent­       schätzt worden sind. Diese Frage ist weitgehend
    decken, erproben und entfalten können.                ein gesellschaftliches Tabu. Es wird sogar behaup-
                                                          tet, dass ausgebildetes Erziehungspersonal die
                                                          Kinder im Allgemeinen besser erziehen kann als
    Familie –                                             die eigenen Eltern. Dem hingegen erklären Fach-
    Grundzelle für die Demokratie                         leute übereinstimmend, dass die Mutter bei Klein-
    Damit steht die Familie an erster Stelle, wenn es     kindern emotional eine herausragende Stellung
    um die Frage nach dem Gelingen unserer Bezie-         einnimmt, die durch nichts zu ersetzen ist. Der
    hungen, unseres Lebens und unseres Zusammen-          häufige und störungsfreie Kontakt der Mutter
    lebens geht. Der Staat kann der Familie die Erzie-    zum Kleinkind ist die Basis für so komplexe Lei-
    hung der Kinder nicht abnehmen, vielmehr muss         stungen wie die Sprachentwicklung. Wird die
    er auf den in der Familie gelegten Grundlagen         Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind in
    aufbauen können. Der frühere Richter am Bun-          den ersten drei Lebensjahren ständig oder dauer-
    desverfassungsgericht E.-W. Böckenförde prägte      haft unterbrochen, können Sprachentwicklungs-
    den Satz: „Der demokratische Staat lebt von Vor-      störungen sowie Lese- und Schreibbehinderungen
    aussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann.“     die Folge sein. Wie stark sich das Kind in den er-
    Die Familie ist der Ort, an dem diese Vorausset-      sten Lebensjahren der Nähe zur Mutter versichern
    zungen erworben und gepflegt werden. Für die          muss, als Voraussetzung für seine geistige und
    Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls          emotionale, aber auch die motorische und senso-
    und einer gesicherten Identität ist es keineswegs     rische Entwicklung, wäre ein eigenes Thema.
    hilfreich, Kinder in den ersten drei Lebensjahren
    von der Mutter zu trennen. Es müsste jedem intui-     Wenn das Fundament der Beziehungen zwischen
    tiv klar sein, dass nicht nur die Entwicklungs­       Eltern und Kindern brüchig wird, kann der ganze

6                                                                                               www.ojc.de
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Dieun
                                                                                                              Gr    dlagen
                                                                                                                  Seite

Bau unserer Gesellschaft in Gefahr geraten. Und      samt und den Menschen als sein Gegenüber in
das geschieht derzeit in einem erschreckenden        Freiheit und Liebe geschaffen hat.
Maß.
                                                     Demo für den Himmel
Familie – in großer Gefahr                           Als christliche Familien haben wir den Auftrag,
Bei realistischer Betrachtung müssen wir heute       uns als Zelle der Widerständigkeit zu verstehen
zwei schwerwiegende Gefährdungen des Men-            und zu formieren, um zeugnishaft der heutigen
schen feststellen:                                   Banalisierung des Menschen entgegenzuwirken,
                                                     der Gott endgültig abschieben will, und munter
Zum einen droht dem heutigen Menschen mitten         dabei ist, den Menschen abzuschaffen. Demon-
im Frieden eine so noch nie dagewesene Vernich-      strieren wir, dass wir für den Himmel geschaffen
tung seiner Existenz durch Menschen: Vor allem       sind, der im Heute beginnt, wenn wir unseren
am Anfang (vor der Geburt durch Abtreibung),         Glauben leben bzw. wenn wir leben, was wir glau-
aber auch am Endes ihres Lebens (durch die sog.      ben.
aktive Sterbehilfe) sterben heute viele Menschen     Der menschgewordene und gekreuzigte Christus
durch Menschenhand.                                  wurde in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen.
Zum anderen sind die kreatürlichen Grundlagen        Dort ist er als unser Hohepriester unsere Hoff-
des Menschseins (und damit die menschliche           nung. Er ist von der Erde nicht abwesend und hat
„Natur“) elementar bedroht durch emanzipatori-       uns nicht allein gelassen. Er sendet uns in die
sche Ideologien (ganz konkret: Feminismus, Gen-      Welt. Und der ganzen Welt soll diese Botschaft
derismus).                                           verkündet werden. Die Menschheit wird in die
• Bedroht wird die von Gott geschaffene und          Entscheidung gerufen. Geht hinaus in die ganze
     gewollte Zweigeschlechtlichkeit als grund­      Welt und verkündet das Evangelium der ganzen
     legende Voraussetzung von Ehe und Familie       Schöpfung! Dieser Auftrag beginnt wesenhaft und
     und damit auch die Würde des Menschen als       grundlegend in der Familie.
     Mann und Frau und als Vater und Mutter
                                                     Anmerkungen:
     und                                             1
                                                       Das Versagen unserer eigenen irdischen Väter kann unser Ver-
• elementar bedroht ist auch die Schöpfungs­          ständnis davon, wer Gott der Vater ist und wie er ist, enorm verzer-
     ordnung von Ehe und Familie und die Hin­          ren. Wenn unser leiblicher Vater zum Beispiel mit Zorn oder
                                                       schlechter Laune zu kämpfen hatte, könnten wir daraus den
     ordnung der Sexualität auf die Weckung            Schluss ziehen, dass wir uns jedes Mal, wenn wir sündigen, vor
     neuen Lebens als unverzichtbare Vorausset-        Gott verstecken müssen, weil er wütend auf uns sein wird. Oder
                                                       wenn unser Vater mit seiner Arbeit oft zu beschäftigt war, um mit
     zung jeder menschenwürdigen Gesellschaft          uns zu spielen oder bei Schulveranstaltungen präsent zu sein,
     und Zivilisation.                                 könnten wir daraus folgern, dass das tägliche Gebet ohnehin kei-
                                                       nen Zweck hat, weil Gott sowieso nie Zeit für uns hat. Die Übertra-
                                                       gung des Versagens unseres Vaters auf Gott ist ein häufiges Pro-
Ich kann hier nur umrisshaft deutlich machen,          blem, das wir Männer haben. Aber dieses Problem ist nicht nur
was für ein unverzichtbarer Wert die Familie ist.      schädlich für unsere Beziehung zu Gott, es ist auch von negativer
                                                       Tragweite für unsere Beziehung zu unseren Kindern. Solche Pro-
Vielleicht kann uns das helfen, entschiedener da-      jektionen werden unwillkürlich zu Hindernissen, um uns vorbe-
für einzustehen: Familie ist und bleibt ein Hot-       haltlos – so wie wir sind – von Gott lieben zu lassen. (aus: EXODUS
                                                       91/14. Der Vater)
spot der Hoffnung. Als Christen stehen wir in
Verantwortung vor Gott: Wir sind aufgerufen,
uns wieder neu auf die Grundlagen unseres Le-
bens und Zusammenlebens zu besinnen. Dazu ge-
hört das derzeit umkämpfte Zeugnis
der Bibel über den Menschen. Die bibli-
                                                                        JC) ist Seelsorger und
sche Offenbarung lässt schon in ihren             Rudolf M. J. Böhm (O
                                                                          und arbeitet im Haus
ersten Kapiteln (Gen 1-3) keinen Zweifel          Sozialpädagoge. Er lebt
                                                                           ld.
daran, dass Gott die Schöpfung insge-             der Hoffnung in Greifswa

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Interview mit Carolin Schneider

              HÖR AUF DEIN HERZ
              MIT KINDERN DEN GLAUBEN GESTALTEN

    Carolin, du bist Mutter von vier Kindern. Wie        wie ich es intuitiv für richtig halte. Wir hatten
    habt ihr ihnen die Liebe Gottes vermitteln können?   beide gute Vorbilder in unseren Herkunftsfamili-
    Zunächst einmal habe ich für sie gebetet, sobald     en. Es gab kein bestimmtes Konzept, und doch
    ich wusste, dass ich schwanger bin. Später haben     haben sich aus unserem Alltag heraus Rhythmen
    wir versucht, unseren Glauben ganz natürlich in      und Rituale entwickelt, die über Jahre hinweg die
    unseren Alltag einfließen zu lassen. Unser Glaube    gleichen geblieben sind.
    lässt sich von unserem Leben gar nicht trennen
    und unsere Kinder wurden von Anfang an in die-       Ziel christlicher Kindererziehung ist ja, dass der
    sen Zusammenhang hineingenommen.                     Mensch sich bedingungslos von Gott angenommen
                                                         und geliebt weiß. Wie habt ihr das umgesetzt?
    Seid ihr nach einem bestimmten Erziehungskon-        Uns war es wichtig, verlässlich für unsere Kinder
    zept vorgegangen?                                    da zu sein. So stellt sich uns Gott ja auch vor „Ich
    Als unser erster Sohn Flinn geboren wurde, habe      bin, der ich bin da“. Gerade in den ersten Lebens-
    ich relativ viel in Erziehungsbüchern nachgelesen.   jahren unserer Kinder wollten wir diejenigen sein,
    Die verschiedenen Ratgeber haben mich aber eher      die ihre Entwicklung bewusst miterleben und
    verunsichert, so dass ich irgendwann alle Bücher     prägen. Niemand liebt unsere Kinder so, wie wir
    zugeschlagen habe und mir sagte: Ich werde jetzt     das als Eltern tun. Darum sind sie erst mit drei
    einfach auf mein Herz hören und es so machen,        Jahren in den Kindergarten gegangen und das

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Interview

auch nur halbtags. Sobald sie sprechen konnten,       leicht zu beantworten und auf manche müssen sie
haben wir viel mit ihnen geredet, über ihre Ge-       mit der Zeit eigene Antworten finden. Wir versu-
fühle und das, was sie beschäftigt. Sie sollten mit   chen, sie ernst zu nehmen und uns auf eine wert-
allem, was sie bewegt, bei uns landen und es ohne     schätzende Weise mit ihnen auseinanderzusetzen.
Furcht mit uns teilen können. Sie sollten sich ge-    Und anders herum hinterfragen wir auch ihr Ver-
borgen fühlen und spüren, dass sie immer will-        halten. Unser aktuelles Thema: „Denkt ihr, es ist
kommen sind – außer in meiner Mittagspause.          okay, den Streaming-Account von euren Freun-
Uns war wichtig, dass die Kinder bei uns eine si-     den kostenlos zu nutzen?“
chere Basis haben, und dabei jedes Kind die Frei-     Darüber hinaus sind wir sehr dankbar, dass es au-
heit hat, auf seine Weise und in seinem Tempo         ßer uns andere Vorbilder gibt, zum Beispiel Ju-
loszuziehen und die Welt zu entdecken. Gleichzei-     gendleiter, an denen sie sich orientieren können.
tig gab es klare Regeln und Grenzen.
                                                      Ihr gebt euren Kindern viel Freiheit?
Eure Kinder sind ihrem Wesen und Charakter            Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Es gibt Be-
nach sehr verschieden.                                reiche mit sehr klaren Grenzen und Absprachen.
Ja. Die beiden Großen haben, auch als sie noch        In anderen Bereichen haben die Kinder viel Ge-
klein waren, Glaubensdinge auf unterschiedliche       staltungsraum. Je älter sie werden, desto mehr
Weise ausgedrückt. Die Rituale in der Familie         versuchen wir zu vertrauen, dass das Fundament,
blieben gleich, aber die Art und Weise, wie sie mit   in das wir investiert haben, trägt. Wir üben, los-
Gott geredet haben, war schon damals verschie-        zulassen, auch wenn uns das nicht immer gelingt.
den. Heute zeigt sich die Unterschiedlichkeit im-
mer deutlicher. Die fantasievolle Lina kommuni-       Manche Jugendliche überraschen ihre Familie am
ziert ganz anders mit Gott als ihr strukturierter     Sonntagmorgen mit der Feststellung: „Heute gehe
Bruder Flinn. Ihm ist es wichtig, regelmäßig Bibel    ich nicht mit in den Gottesdienst.“ Wie geht ihr da-
zu lesen. Das macht er ganz nach Plan oder verab-     mit um?
redet sich dazu online mit Freunden. Lina bringt      Tatsächlich gab es bei uns bisher keinen wirkli-
alles, was sie auf dem Herzen hat, so wie es in ihr   chen Aufstand in dieser Richtung. Wenn eines
drin ist und gerade aus ihr herauskommt, zu Jesus     unserer pubertierenden Kinder mal ausschlafen
und redet mit ihm, als würde er vor ihr sitzen.       wollte, haben wir einfach Okay gesagt, weil wir
Beide schreiben ihre Gedanken gerne auf. Man-         wussten, dass das kein grundsätzliches Dagegen-
ches haben sie vielleicht von uns übernommen,         sein bedeutet. Unsere Kinder haben in der Ge-
anderes ganz eigenständig entwickelt. Wir über-       meinde gute Freunde, auf die sie sich jeden Sonn-
lassen es ihnen und sind gespannt, wie es sich bei    tag freuen. Es war uns immer wichtig, eine Ge-
Levi und Annelie entwickeln wird.                     meinde zu haben, in die unsere Kinder gerne mit-
                                                      gehen. Wir wollten ihnen frühzeitig gute, prägen-
Eure beiden älteren Kinder sind vielen außerhäus-     de Gemeinschaftserfahrungen ermöglichen.
lichen Einflüssen ausgesetzt. Oft beginnen Jugend-
liche, vieles zu hinterfragen.                        Mehr als durch viele Erklärungen lernen die Kin-
Ja, sie haben unterschiedliche Fragen und Daniel      der den Wert der Frömmigkeit durch das Beispiel
und ich antworten mitunter auch unterschiedlich.      der Eltern.
Wenn ich keine eindeutige Antwort weiß, sage ich      Das denke ich auch. Sie beobachten uns und
ihnen das einfach. Manche Fragen sind nicht           manchmal hinterfragen sie auch unser Tun, wenn

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FAMILIE - SEELS RGE - Offensive Junger Christen
sie den Eindruck haben, dass es nicht mit unserem      heit. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir in
     Reden übereinstimmt. Bei unserer Kleinsten sieht       manchen Dingen unterschiedlicher Meinung sind
     man am deutlichsten, wie sie uns nachahmt. Sie         und uns streiten. Wir verbergen das nicht vor un-
     faltet vor dem Essen sogar die Hände genauso wie       seren Kindern, auch wenn wir manche Konflikte
     wir. Außerdem gibt es weitere Rituale, die unsere      bewusst nicht vor ihnen austragen. Bei manchen
     Kinder prägen. Vor dem Schlafengehen lassen wir        Auseinandersetzungen sind die Kinder unver-
     mit den jüngeren Kindern den Tag Revue passie-         meidlich dabei, im Auto oder am Mittagstisch. Es
     ren, beten und singen mit ihnen. Die beiden Älte-      gab auch Momente, wo die Kinder ängstlich nach-
     ren wollten irgendwann nicht mehr dabei sein. Ich      gefragt haben: „Trennt ihr euch jetzt?“ „Nein, auf
     glaube, sie haben ein eigenes Ritual für sich gefun-   gar keinen Fall. Es gehört zum Leben dazu, in Be-
     den. Neben dem Gottesdienst am Sonntag feiern          ziehungen auch mal unterschiedlicher Meinung
     wir auch die christlichen Feste und sprechen mit       zu sein und zu streiten.“ Ich finde es gut, dass un-
     unseren Kindern über deren Bedeutung. Ab und           sere Kinder das miterleben, aber ebenso, dass wir
     zu feiern wir am Samstagabend eine Sonntagsbe-         uns wieder versöhnen. Dasselbe gilt auch bei Aus-
     grüßung. Unsere Kinder erleben, dass Daniel und        einandersetzungen mit den Kindern. Ich habe
     ich uns morgens immer mit „Stiller Zeit“ abwech-       mich schon sehr oft bei ihnen entschuldigen müs-
     seln und uns diese Zeit gegenseitig ermöglichen,       sen. Einheit heißt nicht, immer einer Meinung zu
     während der andere mit den Kindern frühstückt.         sein, auch wenn ich das gerne so hätte.
     Familienandachten haben wir nie gehalten. Im
     Lockdown fragte Flinn von sich aus, ob wir mor-        Ihr lebt euren Glauben recht offen. Trauen eure
     gens vor der Schule zusammen beten und einen           Kinder sich, zu ihrem Glauben zu stehen und dar-
     kurzen Lobpreis machen können. Das haben wir           über zu reden?
     dann gemacht, weil die Kinder das wollten.             Auch da sind sie verschieden. Flinn ist total offen-
                                                            siv, redet in großer Freiheit über das, was er glaubt
     Wie erlebst du den Glauben deiner Kinder?              und steckt andere damit an. Auch Lina ist auf ih-
     Mir ist wichtig, dass meine Kinder nicht mir zu-       re Art missionarisch, aber in Gruppen ist sie gene-
     liebe glauben, sondern eine eigenständige Bezie-       rell zurückhaltend. Sie kann gut ihre Gefühle aus-
     hung zu Gott entwickeln. Sie sollen eigene positi-     drücken, schreibt gerne und gibt auf diese Weise
     ve Erfahrungen machen können. Ich bete oft             ihre Überzeugungen in Gedichten oder Kurzge-
     spontan mit unseren Kindern, wenn ich spüre,           schichten, die sie für die Schule schreiben muss,
     dass sie etwas auf dem Herzen haben. Dann neh-         weiter. Levi redet auch hin und wieder mit seinen
     me ich mir Zeit, setze mich zu ihnen und schlage       Freunden über Gott, so wie es seinem Alter ent-
     ihnen meist folgendes vor: „Sag das jetzt einfach      spricht. In unserer Region – hier im Nordosten
     Jesus, bring es ihm und hör mal, was er dir sagt.“     der Bundesrepublik – wissen viele Kinder vom
     Kinderherzen sind so offen zu Gott hin. Dadurch        christlichen Glauben gar nichts mehr und haben
     haben sie die Möglichkeit, eine persönliche Erfah-     dadurch eine ganz andere Offenheit, sich davon
     rung mit Jesus zu machen. Ich ermutige sie, das        ansprechen zu lassen. Ich bete, dass unsere Kinder
     Gehörte ernst zu nehmen.                               in ihrem Umfeld „Salz und Licht“ sein können
                                                            und dass sie durch ihr Da-Sein etwas verändern.
     Trotz Versagens und vieler Fehler, die Eltern ma-      Es bleibt ein Geschenk, wir haben es nicht in der
     chen – das Wichtigste, was wir unseren Kindern         Hand.
     weitergeben können, ist, dass wir als Eltern zusam-
     menhalten. Ist das auch eure Erfahrung?                Was wünscht ihr euch für eure Kinder?
     Das werden wir unsere Kinder fragen müssen,            Zuallererst wünschen wir ihnen, dass sie unver-
     wenn sie mal erwachsen sind.                           lierbar in ihrem Herzen behalten, dass sie bedin-
     Aber ja, schon dadurch, dass wir (durch die Ehe)       gungslos geliebt sind – unabhängig von ihrer Lei-
     miteinander verbunden sind, sind wir eine Ein-         stung und unabhängig davon, was andere über sie

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                                                                                                           In   rview
                                                                                                              teSeite

denken und sagen. Einer der Texte von Lina endet       auch Fragen oder Zweifel auf. Die Teilung des Ro-
mit dem ermutigenden Zuspruch: „Du bist genug,         ten Meeres lässt sich nicht rational erklären. Mein
egal, was du hast; egal, was du hast, aber nicht       Pastor hat in einer Predigt dazu ermutigt, dass
willst; egal, was du nicht hast: du bist genug! Du –   man Zweifel auch zulassen soll; es ist erlaubt, Gott
bist – genug!“ Wir wünschen ihnen, dass sie Jesus      zu hinterfragen. An dem Punkt, dass ich nicht
so sehr kennengelernt haben, dass sie die Freude       mehr an Gott glaubte, bin ich noch nie gewesen.
daran behalten, mit ihm in einer lebendigen Be-
ziehung zu bleiben und gemeinsam mit ihm wei-          Lina, du redest mit Jesus wie mit einem Freund.
terzugehen: ihre Sorgen und Ängste, ihre Freude        Wo hast du das gelernt?
und ihren Dank mit ihm teilen und immer wis-           Gelernt habe ich das nicht. Aber da wir abends re-
sen, dass sie mit allem, was sie bewegt, bei ihm an    gelmäßig miteinander gebetet haben, habe ich es
der richtigen Adresse sind. Wir wünschen ihnen,        dann einfach alleine weitergemacht. Wenn ich am
dass sie offen sind für die Menschen, die ihnen        Abend das Vaterunser gebetet habe, frage ich
begegnen und für die Nöte in der Welt. Wir hof-        Gott, ob er mir noch etwas sagen möchte. Dann
fen, dass das, was sie bei uns erfahren haben, ih-     höre ich solche Sachen wie „Du bist genug!“, „Ich
nen hilft, über sich selbst hinauszudenken und         finde dich toll!“, etc.
dass Gottes Wille sich in ihrem Leben erfüllt.
                                                       In der Schule seid ihr, was den Glauben angeht,
Flinn und Lina kommen zum Interview dazu:              eher die Ausnahme. Fühlt ihr euch als Außensei-
                                                       ter?
Flinn, wie hast du Glauben gelernt?                    Lina: Dass ich mich manchmal allein fühle, liegt
Regelmäßig in den Gottesdienst zu gehen und da-        eher daran, dass ich einfach ein schüchterner
bei mit anderen in meinem Alter zusammen zu            Mensch bin. Aber das hat nichts mit meinem
sein, hat mir Spaß gemacht. Es war aber nicht so       Glauben zu tun.
sehr der Sonntagsgottesdienst oder Weihnachten,        Flinn: In meiner Klasse wissen eigentlich alle, dass
sondern der Glaube wird von Mama und Papa              ich Christ bin. Ich habe immer offen darüber ge-
wirklich gelebt. Wir haben vor dem Essen und vor       redet, mit allen, auch wenn sie nicht gläubig sind.
dem Schlafengehen gebetet und gesungen. Wir            Einige engagieren sich heute mit mir im Jugend-
haben als Kinder mitbekommen, dass unsere El-          gottesdienst.
tern mit anderen über den Glauben geredet ha-
ben, z. B. im Hauskreis. Auch bei Oma und Opa          Wenn ihr später selber mal Familie habt, was wür-
war der Glaube immer ein Ding, bei Verwandt-           det ihr anders machen?
schaftsbesuchen haben wir immer miteinander            Nichts. Meine Eltern haben einfach ihren Glauben
gebetet und gesungen. So wie es morgens, mittags       gelebt und das würde ich später genauso machen
und abends was zu essen gab, hat das einfach da-       wollen.
zugehört. Vor kurzem wurden wir auf die recht-
mäßige Nutzung von „Netflix“ angesprochen,
dass ich, wenn ich den Nutzungsbedingungen             Die Fragen stellte Rudolf M. J. Böhm
nicht entspreche, von der Bibel her ja betrüge.
Darüber habe ich nachgedacht, über Lüge und
Ehrlichkeit. Das alles nimmt man natürlich auf
und so bildet sich der Glaube. Wenn man so in
der Bibel liest, kommen natürlich
                                                                                   ist Sozialarbeiterin,
                                                       Carolin Schneider (OJC)
                                                                                 ihrer Familie im Haus
                                                       sie arbeitet und lebt mit
                                                                                   ld.
                                                       der Hoffnung in Greifswa

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                                             11
Christl R. Vonholdt

     BEI DIR ZU HAUSE – IN MIR ZU HAUSE
     BINDUNG ALS GRUNDLAGE VON IDENTITÄT

                                                  © alexandre zveiger / AdobeStock

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Grundlagen

Zum reifen, erwachsenen Menschsein gehört es,        diejenigen, die dem menschlichen Gesicht am
anderen ein Stück „Zuhause“ anbieten zu können,      ähnlichsten sind.2 Sein ist immer Bezogensein.
anderen Raum zu schaffen, damit sie sein können,     Der Mensch braucht das Du, um sein Selbst zu
Da-Sein, damit sie wachsen, sich entfalten und ih-   entwickeln, um Ich zu werden.
re Grenzen annehmen können.
                                                     Berührt am eigenen Wesenskern
Anderen ein Zuhause geben – also ein mütterli-       Frühkindliche Bindung
cher und väterlicher Mensch sein –, kann am be-      In den 1950er Jahren begann sich die Bindungs-
sten, wer selbst ein Zuhause in sich gefunden hat.   forschung zu etablieren. Sie untersucht die Bedeu-
Am leichtesten ist das für Menschen, die schon als   tung früher Beziehungen für die Entwicklung des
Kleinkind bei ihrer Mutter ein Zuhause erfahren      Kindes und für sein Beziehungsverhalten im Er-
haben: ein Grundgefühl des Wohl-Seins („ich          wachsenenalter. Die Ergebnisse sind heute empi-
darf da sein, ich darf Raum einnehmen“), Gebor-      risch gut belegt. „Bindung“ meint zunächst die
genheit, Sicherheit, Zugehörigkeit. In dieser be-    besondere Beziehung des Kindes zu seinen El-
ständigen, geborgenen An-Bindung kann das            tern.3 Um sein Selbst zu entwickeln, braucht das
Kind entspannen und sein; so kann es sein Selbst     Kind (zuzeiten auch der Erwachsene!) eine „Bin-
am besten umfassend entfalten und wachsen.           dungsperson“, eine Person, die „weiser und stär-
Martin Buber hat es so ausgedrückt: „Anders (als     ker“ ist als es selbst und die dem Kind psychische
das Tier) ist der Mensch: von einem mitgeborenen     Sicherheit gibt. Sie gibt Fürsorge, Schutz, Wert-
Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu        schätzung, Trost, Unterstützung und behutsame
nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur       Herausforderung. Das Bedürfnis nach Bindung
von menschlicher Person zu menschlicher Person       ist angeboren und für ein Kind so lebensnotwen-
werden kann; einander reichen die Menschen das       dig wie das Bedürfnis nach Nahrung. Eine „siche-
Himmelsbrot des Selbstseins.“1 In der Regel emp-     re Bindung“ des Kindes an seine Eltern – in der
fängt das Kind dieses grundlegende „Ja des Sein-     Regel zuerst an die Mutter, dann an den Vater –
dürfens“ durch die Verbundenheit mit seiner          ist ein wichtiges Fundament für seine weitere Ent-
Mutter.                                              wicklung.

Von Anfang an ist der Mensch also ein soziales       Das folgende Beispiel kann die herausragende Be-
Wesen. Säuglinge schauen lieber und länger in        deutung von Bindung veranschaulichen:
menschliche Gesichter als auf unbelebte Muster.      In einer älteren Studie wurden Kinder im Alter
Beim visuellen Abtasten von Gesichtern zeigen sie    zwischen sieben und dreißig Monaten aus einem
ein „harmonischeres“ Blick- und Bewegungsver-        Waisenhaus in zwei Gruppen aufgeteilt: Die
halten. Und selbst bei Mustern bevorzugen sie        Gruppe der besser entwickelten Kinder blieb im

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                               13
Waisenhaus. Die Gruppe der geistig zumeist zu-          auch nach der Geburt noch am liebsten und häu-
     rückgebliebenen wurde zu jungen, geistig behin-         figsten die Stimme hören, die ihnen schon vor der
     derten Frauen in ein anderes Heim verlegt. Die          Geburt vertraut war: die Stimme der Mutter. Da
     Frauen bauten eine stabile 1:1-Beziehung auf, die       können sie am besten entspannen. Ein wesentli-
     Kinder erhielten viel emotionale Zuwendung.             cher Teil von Bindung verläuft über Sprache: an-
     Nach zwei Jahren hatte sich die Intelligenzleistung     gesprochen werden, hören und antworten.
     der Kinder bei den geistig behinderten „Pflege-
     müttern“ deutlich verbessert, die im Waisenhaus         Entspannen und ruhen sind wesentliche Voraus-
     verbliebenen Kinder hatten ein Entwicklungs­            setzungen dafür, dass sich das kindliche Gehirn
     defizit.4                                               gut entwickelt. In den ersten Lebensjahren ist die
                                                             Gehirnentwicklung rasant: Im Alter von drei Jah-
     In der sicheren Bindung an Mutter und Vater lernt       ren hat das Gehirn 90 Prozent seiner Erwachse-
     das Kind vertrauen: „Ich bin geborgen, ich werde        nengröße erreicht und ein zweijähriges Kind hat
     gehalten. Ich werde berührt, also bin ich da. Es ist    mehr neuronale Verschaltungen als ein Erwachse-
     so gut, dass es mich gibt, ich bin geliebt, ich werde   ner. Viele wesentliche, frühe Entwicklungsprozes-
     gehört und verstanden.“ Wenn alles gut geht, fül-       se laufen über das Gehör, auch schon über den
     len die Eltern den inneren Raum des Kindes vor-         Ton der Stimme, den der Säugling wahrnimmt.
     wiegend mit Daseinsfreude, Vertrauen und Liebe          Bindung, Hören und Sprachentwicklung fördern
     – eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das        sich gegenseitig. Zudem sucht der Säugling aktiv
     Kind später anderen einen Raum zum Sein und             den Blickkontakt zu Mutter und Vater. Genauer:
     zum Wachsen geben kann. Was die Eltern aus ih-          Er sucht in ihren Augen das „Leuchten der Freu-
     rem eigenen Selbst heraus geben, verinnerlicht das      de“, das ihm mitteilt, dass Mutter und Vater so
     Kind. Was sich in der Verbundenheit zwischen El-        gern bei ihm sind. Dies alles sind wesentliche Ent-
     tern und Kind abspielt, wird zu einem Teil im           wicklungsanreize für sein Gehirn.
     Kind: Freude, Unterstützung, Hilfe, Trost bei Ver-
     sagen und Annehmen von Grenzen.                         Ein kleines Kind ist noch nicht in der Lage, seine
                                                             Gefühlszustände selbst zu regulieren. Es wird
     Damit ein Kind sich verstanden erlebt – und nur         rasch von Gefühlen des Unwohlseins, des Hun-
     dadurch kann es lernen, auch sich selbst zu verste-     gers, der (Todes-)Angst, des Alleingelassenseins
     hen – müssen die Eltern die Gefühle und sozialen        und damit dem Nichts ausgeliefert zu sein, über-
     Signale des Kindes feinfühlig wahrnehmen und            flutet. Erlebt ein Kind weder Empathie noch Un-
     prompt und fürsorglich beantworten. Damit Bin-          terstützung, kann das unerträgliche Ängste, Wut
     dung gelingt, müssen insbesondere Mutter und            und Trauer in ihm auslösen. Auch neue, unbe-
     Säugling sich aufeinander „einstimmen“. Das ist         kannte Situationen können ein Kind überfordern.
     wie bei einem gemeinsamen Tanz, der beiden Ge-          Zweijährige, so aktuelle Studien, brauchen minde-
     nuss bringt. Das Kind ist dabei ein aktiver Part-       stens so viel Nähe zur Mutter wie Einjährige.5 Die
     ner. Es nimmt wahr, unterscheidet, bevorzugt und        mit den belastenden Gefühlen verbundene Erre-
     lehnt ab. Beispielsweise erkennen wenige Tage al-       gung kann das Kind nicht steuern. Es braucht
     te Säuglinge die Milch ihrer Mutter am Geruch           Mutter oder Vater als Bindungsperson, die es –
     und wenden beim Geruch anderer Milch ihr                auch durch ihre Stimme und ihre Worte – beruhi-
     Köpfchen ab.                                            gen können.
     Eingestimmt auf das Gegenüber                           In Stresssituationen schaltet das kindliche Gehirn
     Das kindliche Gehirn                                    zunächst in den Überlebensmodus. Alle Energie
     Zum Zuhause-Sein gehört neben dem Vertrauen             wird zum Durchhalten gebraucht. Stresshormone
     das Entspannen und Ruhen. Säuglinge möchten             werden freigesetzt, was kurzfristig hilfreich, lang-

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Dieun
                                                                                               Gr    dlagen
                                                                                                   Seite

fristig aber schädlich ist. Nach der Übererregung      eines Grundgefühls des Wohl-Seins erscheint
                                                       ­
(Weinen und Schreien) fällt das Kind in Erschöp-      i­ hnen ihr innerer Raum leer, trostlos, zu eng zum
fung, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Die        Da-Sein, voller Verlassenheitsängste und Anspan-
Erregung endet in emotionaler Verschließung.           nung. Nicht selten ist ihr Leben von einer zwang-
Werden belastende Situationen zum Dauerzu-             haften Unabhängigkeit oder von emotional ab-
stand, kann das Kind nicht mehr entspannen.            hängigen Beziehungen geprägt statt von gesunder
Längere Stressperioden können das kindliche Ge-        Autonomie innerhalb von Beziehungen.
hirn auch langfristig beschädigen und seine Ent-
wicklung behindern. Häufigste Ursache für unge-       Doch immer gibt es hoffnungsvolle Perspektiven.
sunden Stress beim Kind ist die Unterbrechung         Wenn Kindheitserfahrungen auch im Gehirn ver-
seines Bindungssystems: die wiederkehrende und        ankert sind, so kann sich das menschliche Gehirn
zu frühe Trennung von der Mutter, die Nicht-Ver-      doch dank seiner hohen Neuroplastizität lebens-
fügbarkeit von Mutter oder Vater, wenn das Kind       lang verändern! Anders als das Kind kann der er-
sie braucht. Möglicherweise ist es auch eine be-      wachsene Mensch sich nun aktiv eine feinfühlige
ständige Unfähigkeit der Eltern, die sozialen Si-     Bindungsperson suchen; eine Person, die ihm
gnale des Kindes emotional aufzunehmen und            hilft, alte, belastende Erlebnisse zu verarbeiten
feinfühlig zu beantworten, sodass sich das Kind       und neue Beziehungserfahrungen zu machen.
dadurch in seinem Bindungsbedürfnis immer             Sich Hilfe zu suchen ist nicht einfach für ihn,
wieder abgelehnt fühlt. Wiederholte und längere       denn er erwartet von Beziehungen nicht viel. Es
Bindungsunterbrechungen können ein schwer-            braucht Mut, sich einzulassen, denn die Erfah-
wiegendes Trauma für das Kind darstellen. Unter-      rung sagt ihm, dass er emotional nicht „landen“
suchungen an Kleinkindern in ganztägiger Krip-        oder sogar neu verletzt wird. Eine geeignete Bin-
penbetreuung zeigen, dass viele von ihnen eine        dungsperson kann ein guter Freund sein, der Ehe-
chronische Erhöhung ihrer Stresshormonspiegel         partner, ein einfühlsamer Seelsorger oder – je
aufweisen, und zwar auch bei qualitativ sehr guter    nach Schwere der erlebten Bindungsverletzungen
außerhäuslicher Betreuung. In einer Wiener Stu-       – ein geeigneter Therapeut. Wenn Erwachsene
die hatten Kinder unter zwei Jahren nach fünf­        lernen, ihre frühen Erfahrungen und Entbehrun-
monatiger qualitativ durchschnittlicher Krippen-      gen zu benennen, wenn sie dabei einen gefühls-
betreuung Stresshormonwerte, die denen ver-           mäßigen Zugang zu den immer noch belastenden
gleichbar waren, die in den 1990er Jahren bei         Erinnerungen finden, wenn sie das, was sie noch
zweijährigen rumänischen Waisenkindern gefun-         heute dabei empfinden, sprachlich für sich zu-
den wurden.6                                          gänglich machen können und wenn dies alles in
                                                      der Verbundenheit mit einem warmherzigen,
Bereit, sich anzuvertrauen                            emotional zugewandten Gegenüber geschieht,
Der Erwachsene                                        kann vieles anders werden. Der innere Raum wird
Die Bindungsforschung belegt, dass es einen Zu-       frei für neue Erfahrungen, Erfahrungen der Freu-
sammenhang gibt zwischen den Erfahrungen, die         de – und damit wächst die Fähigkeit, anderen
ein Kind mit seinen Eltern gemacht hat, und sei-      Raum zu geben.
ner späteren Fähigkeit, emotional für andere zu-
gänglich zu sein und anderen feinfühlig Bindung       Berufen in den Bund
und Beziehung anzubieten. Für unser Thema             Die geistliche Dimension
heißt das: Menschen, denen eine ausreichend si-       Es gibt noch eine weitere und tiefere Dimension.
chere Bindung an Mutter und Vater in der Kind-        Lange vor der Bindungsforschung bezeugt die Bi-
heit gefehlt hat, haben es als Erwachsene schwerer,   bel, dass der Mensch Bindung braucht, dass er ei-
ein Zuhause in sich selbst zu finden und damit        ne Bindungsperson braucht, die „stärker und wei-
auch ein Zuhause für andere anzubieten. Statt         ser ist“ als er, dass der Mensch sein Ich über die

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                                 15
Verbundenheit mit dem großen Du finden und               a­ llmählich Freude und Zuversicht wachsen und
     entwickeln kann, dass das Bindungsbedürfnis               dass er irgendwann auch anderen – ohne selbst
     dem Nahrungsbedürfnis gleichgestellt ist und             leer zu werden – ein Zuhause anbieten kann.
     dass Bindung wesentlich auch über Sprache ge-
                                                              Anmerkungen:
     schieht, über angesprochen werden, hören und             1
                                                                Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, 1978, S. 37.
     antworten. So heißt es beispielsweise in der Heili-      2
                                                                Vgl. Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, 1992.
     gen Schrift: „Der Mensch lebt nicht vom Brot             3
                                                                Vgl. Karin und Klaus Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychi-
                                                                  scher Sicherheit, 2004.
     ­allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus       4
                                                                Vgl. die Studie von Harold M. Skeels, 1966. Auch als Erwachsene gab
      dem Mund Gottes geht“ (5 Mo 8,3; Mt 4,4). Gott              es noch große Unterschiede bei den sozialen Kompetenzen, Bil-
                                                                  dungsabschlüssen und Verheiratetsein. In allen Bereichen schnit-
      bietet dem Menschen Beziehung an, einen Bund.               ten die Kinder mit den Pflegemüttern besser ab.
      In der Verbundenheit mit ihm, in der Bindung an         5
                                                                Vgl. Laura Lindsey Porter, The Science of Attachment: The Biological
      ihn, den Schöpfer und Erlöser seiner Schöpfung,             Roots of Love, www.naturalchild.org.
                                                              6
                                                                Siehe Rainer Böhm, Die dunkle Seite der Kindheit, FAZ 4.4.2012.
      findet der Mensch sein tiefstes Zuhause. Das ist        7
                                                                Abraham Heschel, Die ungesicherte Freiheit, 1985, S. 130.
      ein großer Trost für viele: dass niemand bei dem        8
                                                                Penny Roker, Homely Love – Julian of Norwich, 2006, S. 96.
                                                              9
                                                                Zit. nach Andreas Kusch, Liebe, ich will dich lieben, 2012, S. 40.
      stehen bleiben muss, was er in der Kinderzeit er-
      lebt hat. Gott, der alles in allem war, hat sich zu-
      rückgenommen, um Raum für den Menschen                  Aus: Salzkorn 2/2013, S. 74-77, aktualisiert
      (und die Schöpfung) zu schaffen, damit der
      Mensch da sein und wachsen kann. In einer viel
      tieferen Weise als Mutter oder Vater es je können,
      hat Gott dem Menschen „etwas von seinem eige-
      nen Selbst“7 gegeben, etwas von sich selbst in ihn
      hineingelegt. Gott selbst will im Menschen woh-
      nen. In einem englischen Gebet heißt es, dass Gott
      in dem Menschen, der sich ihm öffnet, sein
      „schönstes Zuhause“ hat („his homeliest home“),
      seinen „Ruheplatz“ („God’s resting place“)8, der es
      auch dem Menschen ermöglicht zu entspannen
      und zur Ruhe zu kommen. Johannes vom Kreuz
      betet Jesus mit den Worten an: „O du lebendige
      Liebesflamme… sanft und liebend wachst du in
      meinem Herzen ...“9
      Wenn ein Mensch anfängt, sich immer wieder
      neu für diese Wirklichkeit zu öffnen, durch Lesen
      der Heiligen Schrift, in Gebet und Abendmahl,
      wird er allmählich entdecken, dass der Raum des
      „Zuhause“ bei ihm und in ihm wächst, dass

                                                                                                Kinder- und
                                                                       nholdt, Fachärztin für
                                            Dr. med. Christl R. Vo                      uts chen Instituts für
                                                                    7 Leiterin des De
                                            ­Jugendmedizin, bis 201               eld er: Bindu ng , kindliche
                                                                       t. Themenf
                                             Jugend und Gesellschaf                            olo .
                                                                                                  gie
                                                                      , Ehe, Familie, Anthrop
                                             Entwick lung, Sexualität

16                                                                                                                www.ojc.de
initiativ

                                                      Sonne im Haus –
                                                      ein Magazin für Mütter

                                                      Mit stärkenden, bereichernden Texten und Zeug-
                                                      nissen wollen die Herausgeberinnen Manuela
                                                      Fletschberger und Tatjana Schnegg den Blick auf
Nestbau e. V.                                         das Positive und Schöne im Leben einer Mutter
                                                      lenken und Müttern Rückenwind geben. Sie ha-
Der Chemnitzer Verein hat es sich zum Anliegen        ben es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen die Wich-
gemacht, dass Muttersein in seinen vielen             tigkeit und Kostbarkeit ihres Tuns vor Augen zu
Facetten­wertgeschätzt und auf die Bedeutung          führen, ihnen eine große Wertschätzung für ihre
von gelebter Mütterlichkeit für die Familie und       Aufgabe zu vermitteln und sie in ihrer Berufung
unsere Gesellschaft hingewiesen wird. Die Mitar-      zu stärken. Die Vision ist es, das Image des Mut-
beiterinnen von Nestbau e.V. ermutigen und un-        terseins wieder neu und positiv zu beleben.
terstützen Mütter, die ihre Kinder in den ersten      Ehrliche, inspirierende Texte, praktische Alltags-
sensiblen Lebensjahren Zuhause betreuen wollen        Tipps und die liebevolle Gestaltung machen diese
und begleiten sie in ihrem Alltag. Sie schaffen ei-   Zeitschrift zu einem echten Schatz. Sie erscheint
ne Lobby, die sonst kaum noch zu finden ist. Auf      viermal im Jahr.
ihrer Homepage findet man viele Impulse, hilfrei-
che Tipps für den Alltag und auch weiterführen-       Mehr unter www.sonneimhaus.at
de Literatur zum Thema.
Über sich selbst schreiben sie: „Wir machen uns
stark für ein wertgeschätztes Muttersein und
freuen uns, wenn Frauen ihre Berufung als Müt-
ter entdecken, leben und gestalten! Wir glauben,
dass begeisterte Mütter letztlich auch Väter begei-
stern und dass Kinder von begeisterten Eltern
­beste Startbedingungen haben!“

Mehr über den Verein auf www.nestbau-familie.
de. Kontakt: kontakt@nestbau-familie.de, Tel.:
037209 81744

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Manuela Fletschberger

                                  NESTWÄRME UND REIBUNGSWÄRME
                                  KINDERN EIN ZUHAUSE SCHENKEN
     © Sunny Studio /AdobeStock

     Meine Kinder kennen das schon von mir: gerne           jedes Mal, wenn wir sie besuchen. Oder sie erzählt
     stelle ich ihnen nebenbei Fragen über das Leben,       etwas aus ihrer Kindheit. Was, genauer betrachtet,
     genauer gesagt über unser Leben. Solche Fragen         doch ziemlich erstaunlich ist. Diese demente, alte,
     bringen meistens überraschende Antworten, aus          liebenswürdige Frau erzählt nichts von ihrer sech-
     denen sich ab und zu gute Gespräche ergeben. Vor       zigjährigen Ehe, nichts von ihrem Ehemann,
     einiger Zeit fragte ich beim Mittagstisch: „Findet     nichts von ihren drei Kindern, Enkelkindern und
     ihr unser Zuhause eigentlich gemütlich?“ Einhel-       Urenkeln, sondern nur und immer wieder Dinge
     liges Ja erklang. „Und was genau findet ihr gemüt-     aus längst vergangenen Tagen. Das zeigt uns, wie
     lich?“ Da meinte mein Neunjähriger kurz und            groß und wichtig unsere Berufung als Eltern
     bündig: „Dich!“ Auf diese Antwort war ich nicht        ­unseren Kindern gegenüber ist. Gleichzeitig kann
     gefasst, deshalb traf sie mich so ins Herz.             es sein, dass es auf unsere Schultern eine Last legt,
                                                             wissen wir doch um unsere Schwächen und
     Wohlig warm bis klirrend kalt                           ­Fehler.
     „Zuhause“ ist ein großes Wort. Da werden Gefüh-
     le geweckt und Namen sind unzertrennlich mit           Kindern mit einem Zuhause ein gutes Fundament
     dem Wort verknüpft. Der eine oder andere von           für ihr Erwachsenwerden zu bieten, ist die große
     uns kann es förmlich riechen, schmecken, fühlen.       Challenge des Elternseins. Wer jedoch glaubt, dem
     Der Ort, der beim Wort Zuhause in uns präsent          Nachwuchs alles bieten zu müssen oder zu kön-
     wird, ist etwas Besonderes. Er ruft in jedem etwas     nen, wird mürbe und unter dieser Last womöglich
     anderes wach. Das Gefühlsspektrum reicht von           zerbrechen. Wir können nicht immer nett und
     wohlig warm bis klirrend kalt. Es kann sein, dass      freundlich sein, nicht immer alles perfekt im Griff
     wir im Erinnern an unser Zuhause Dankbarkeit           haben. Das wäre nicht menschlich und vor allem
     und Liebe verspüren, aber genauso, dass da             nicht gut für unsere Kinder. Menschsein heißt,
     Schmerz, Trauer oder Wut in uns hochsteigen.           Fehler zu machen, auch mal zu scheitern. Mensch-
                                                            sein heißt aber auch, nach einem Fehlschlag wie-
     „Ich war Zuhause immer die Dumme!“ erzählt             der aufzustehen, wenn nötig, Versöhnung zu su-
     die mittlerweile 96-jährige Oma meines M
                                            ­ annes         chen und dann mutig neu zu beginnen.

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Aus dem Leben

Ein Nest voller Wärme
                                                      Empfinden, ein Umeinander-Sorgen, ein Ineinan-
Vogelnester haben mich schon immer fasziniert.        der-Vertrauen, ein Miteinander-Geduld-Haben,
Sie thronen teils hoch oben in schwindliger Höhe.     dann macht uns das lebensmutig.
Ihr Baumaterial wird von den Besitzern unter          Das beste Zuhause ist nicht die perfekte Wohl-
großen Anstrengungen und Geschick zu einem            fühloase. Ein Zuhause, das von den Kindern im
kuschelig weichen Nest geflochten. Auch wir El-       Rückblick als gut empfunden wird, ist jenes, das
tern bauen ein Nest für unsere Kinder. Alles          ein verlässlicher Ort ist, wie ein Leuchtturm im
startklar machen für das neue Leben. Es gilt, ein     Meer des Lebens: beständig, zuverlässig, unzer-
Zuhause zu schaffen, das ein Stützpfeiler ist, auf    störbar, bergend, Ruhe schaffend. Es ist der Inbe-
dem das Leben der Kinder und unser eigenes            griff von fester Zugehörigkeit und Angenommen-
ruht. Es ist der Raum, wo unser aller Dasein ge-      sein. Ich weiß: Dort bin ich immer willkommen,
formt, gebildet, ausgerichtet wird.                   dort kann ich all meine Lasten hintragen, dort
Durch Nestwärme, die sich aus Liebe und Gebor-        darf ich ich sein.
genheit nährt, und die ein Daheim so wirkmäch-
tig macht, werden aus Kindern Erwachsene mit          Nicht im Paradies
Profil. Durch das, wie Zuhause gelebt wird, wel-      Wir leben nicht im Paradies, deswegen können
che Haltungen hier vertreten werden, welchen          wir unseren Kindern auch nicht das Paradies auf
Umgang die Familie miteinander pflegt, wird ihr       Erden schenken. Unsere Welt ist gebrochen. Es
innerer Kompass ausgerichtet.                         gibt viele Wunden. Keiner ist ohne Schwäche.
                                                      Wir leben im Chaos – mal mehr, mal weniger. Je-
Zuhause wird Urvertrauen aufgebaut und der            der ist irgendwo verwundet und jeder verletzt sei-
„Liebestank“ gefüllt. Aber die Sache mit dem Ur-      ne Mitmenschen hier und da. Aber Gott will für
vertrauen beginnt schon viel früher: im ersten        uns das Paradies. Das ist das Geheimnis, das von
Zuhause eines jeden Menschen, im Leib der Mut-        Ostern nachklingt: Auferstehung, Neuanfang.
ter. Erik H. Erikson bezeichnet Urvertrauen als       Mit Gott können wir darauf vertrauen, dass er
„ein Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens“. Deshalb      ­einen guten Plan für unsere Familie hat und dass
entscheidet sich an diesem Ort, ob man dem Le-         er auch unsere Schwächen einkalkuliert. Er will
ben vertraut oder ob man ständig misstrauisch          uns immer wieder neue Wege aufzeigen, wie wir
ist. „Von dort ausgehend nimmt das Kind wahr,          das Miteinander besser gestalten können.
ob das Leben ein guter oder ein schlechter Ort für     Wir Eltern sind dazu gemacht, in einer perfekten
es ist. Urvertrauen bedeutet, das Leben kann,          männlich-weiblichen Symbiose unseren Kindern
trotz schwieriger Umstände, gelingen. Es heißt:        ein Zuhause zu schenken. Darauf dürfen wir ver-
Ich kann mich verlassen.“*                             trauen. Es geht nicht um Perfektionismus, son-
                                                       dern um Liebe. Und wir können immer wieder
Vom Wert gemeinsamen Lebens                            neu anfangen, dieses Zuhause mit Liebe zu füllen.
Es tut gut, mit Menschen, mit denen wir durch
                                                      Anmerkung:
ein Band der Liebe verbunden sind, zu leben, zu       *vgl. Reinbacher, Kurt: Kinder brauchen ein Nest. Sie brauchen Schutz
essen, zu ruhen, zu spielen, zu lachen, zu weinen.       und Führung, in: Familie – Weg der Kirche (2020), Nr. 01/20. S. 3
Und nicht nur das: sich zugehörig zu fühlen zu ei-
ner ganz einzigartigen kleinen Keimzelle des Le-
bens ist etwas, das uns innerlich derart nährt,       Aus: Sonne im Haus, Nr. 2/2021, gekürzt
dass wir so manche berufliche, gesellschaftliche
oder freundschaftliche Hungersnot überstehen
können. Erleben wir zuhause immer
wieder einmal ein Füreinander-Einste-                                           ist verheiratet und
hen, ein Miteinander-Gehen, ein Anein-               Manuela Fletschberger
                                                                                ilienassistentin setzt
ander-Freuen, ein Zueinander-Liebe-                  vierfache Mutter. Als Fam
                                                                            e von  ­ üttern ein.
                                                                                   M
                                                     sie sich für die Belang

Brennpunkt Seelsorge 2/2021                                                                                                   19
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