Psychotherapeut Elektronischer Sonderdruck für Melanie Büttner - Dr. med. Melanie Büttner

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Psychotherapeut
Elektronischer Sonderdruck für
Melanie Büttner
Ein Service von Springer Medizin

Psychotherapeut 2014 · 59:385–391 · DOI 10.1007/s00278-014-1068-y

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Melanie Büttner · Birger Dulz · Ulrich Sachsse · Bettina Overkamp · Martin Sack

Trauma und sexuelle Störungen
Multizentrische Untersuchung von Patienten mit komplexer posttraumatischer
Belastungsstörung

                                                                    Diese PDF-Datei darf ausschließlich für nichtkommerzielle
                                                                    Zwecke verwendet werden und ist nicht für die
                                                                    Einstellung in Repositorien vorgesehen – hierzu zählen
                                                                    auch soziale und wissenschaftliche Netzwerke und
                                                                    Austauschplattformen.

  www.Psychotherapeut.springer.de
Originalien

Psychotherapeut 2014 · 59:385–391           Melanie Büttner1 · Birger Dulz2 · Ulrich Sachsse3 · Bettina Overkamp4 · Martin Sack1
DOI 10.1007/s00278-014-1068-y               1 Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Online publiziert: 31. Juli 2014
                                            Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014    2 Asklepios Klinikum Nord, Hamburg

                                            3 Niedersächsisches Landeskrankenhaus/Asklepios Fachklinikum, Göttingen

                                            4 Abteilung Psychotraumatologie, Unfallkrankenhaus Berlin

Redaktion
M. Cierpka, Heidelberg
B. Strauß, Jena                             Trauma und sexuelle
                                            Störungen
                                            Multizentrische Untersuchung
                                            von Patienten mit komplexer
                                            posttraumatischer Belastungsstörung

Sexuelle Störungen als Folge sexuel-        Allerdings ist dieser Zusammenhang em-                  gestaltung, Wahrnehmung und Bewusst-
ler Gewalt erfahren im wissenschaft-        pirisch bisher wenig untersucht.                        sein, Somatisierung und Lebenseinstel-
lichen und psychotherapeutischen                In besonderem Maß sind offenkundig                  lungen (. Tab. 1). Dabei werden im Be-
Kontext trotz oft erheblicher psychi-       die Opfer sexueller Gewalterfahrungen                   reich Affekt- und Impulsregulation auch
scher, körperlicher und sozialer Fol-       in der Kindheit belastet, da sie besonders              4 Erscheinungsbilder sexueller Störun-
gen für die Betroffenen bislang nur         häufig unter Beeinträchtigungen der se-                 gen berücksichtigt, die nach Auffassung
wenig Aufmerksamkeit. An einer mul-         xuellen Funktionsfähigkeit leiden (Haase                der Autoren bei Patienten mit traumati-
tizentrisch erhobenen Stichprobe von        2009). Betroffene, die zusätzlich erhebli-              schen Kindheitsbelastungen besonders
Patienten mit komplexer posttrauma-         cher Vernachlässigung sowie emotionaler                 häufig sind: „Aversion gegen körperliche
tischer Belastungsstörung untersucht        und körperlicher Gewalt im häuslichen                   Berührung“, „Vermeidung von Sexuali-
diese Studie die Prävalenz sexueller        Umfeld ausgesetzt waren – was überwie-                  tät“, „Risikosexualität“ und „zwanghafte
Störungen und den Zusammenhang              gend der Fall ist (Häuser et al. 2011) –, tra-          Beschäftigung mit Sexualität“. Aufgrund
von sexuellen Störungen mit sexuel-         gen ein erhöhtes Risiko für die Entwick-                der hohen Versorgungsrelevanz komple-
len Gewalterfahrungen in der Kind-          lung einer schweren sexuellen Störung                   xer Traumafolgestörungen empfiehlt die
heit.                                       (Hall 2007), da die sexuelle Missbrauchs-               Arbeitsgruppe der World Health Orga-
                                            erfahrung selbst meist schwerwiegender                  nization (WHO) aktuell eine Einführung
Hintergrund und Fragestellung               ist (Dong et al. 2003) und es häufiger zur              der Diagnose kPTBS in die 11. Ausgabe
                                            Reviktimisierung kommt (Classen et al.                  der Internationalen statistischen Klassi-
Störungen der Sexualität sind ein in der    2005).                                                  fikation der Krankheiten und verwandter
Häufigkeit und in ihren Auswirkungen            Die Diagnose komplexe posttrauma-                   Gesundheitsprobleme (ICD-11; Maercker
für die Lebensqualtität der Betroffenen     tische Belastungsstörung (kPTBS) wur-                   et al. 2013).
nicht zu unterschätzendes Problem. Bei      de von einer Arbeitsgruppe um Herman                        In Erweiterung eines Vorschlags von
der Entstehung von Sexualstörungen wird     erarbeitet, um die typischen Folgen fort-               Rellini (2008) können die in den kPTBS-
von einem multifaktoriellen Geschehen,      gesetzter traumatischer Kindheitsbelas-                 Forschungskriterien zusammengefassten
d. h. einem Zusammenwirken von bio-         tungen, wie Erfahrungen emotionaler,                    sexuellen Störungen als Ausprägungen
logischen, psychologischen und partner-     körperlicher und sexueller Gewalt sowie                 hypo- und hypersexuellen Verhaltens auf-
schaftlichen Faktoren ausgegangen (Alt-     Vernachlässigung, zu beschreiben. Die im                gefasst werden. Demgegenüber werden
hof et al. 2005; Kockott 2007). In diesem   wissenschaftlichen Rahmen gebräuchli-                   „Aversion gegen körperliche Berührung“
Kontext sind traumatische Belastungen –     chen Forschungskriterien der kPTBS (Pel-                und „Vermeidung von Sexualität“ als hy-
und zwar insbesondere sexuelle Gewalter-    covitz et al. 1997; Sack 2004) vereinen 6               posexuell gelagerte Störungen, „Risikose-
fahrungen – ein potenziell bedeutsamer      verschiedene Symptom-Cluster in den                     xualität“ und „zwanghafte Beschäftigung
Auslöser von Störungen der Sexualität.      Bereichen Affekt- und Impulsregula-                     mit Sexualität“ als hypersexuell gelagerte
                                            tion, Selbstwahrnehmung, Beziehungs-                    Störungen verstanden.

                                                                                                                       Psychotherapeut 5 · 2014   | 385
Originalien

        Tab. 1   Störungsbereiche der komplexen           Tab. 2    Soziodemographische Daten             Wiederholungszwänge in Bezug auf das
        posttraumatischen Belastungsstörung.                                            Anzahl   Anteil   Trauma können eine Rolle spielen (Sack
        (Aus Sack 2004)                                                                 (n)      (%)      et al. 2009). Verschiedentlich wird Sexua-
        I       Störungen der Regulation von Affek-       Partnersituation                                lität eingesetzt, um unangenehme emotio-
                ten und Impulsen                                                                          nale Zustände zu regulieren, oder aber sie
                                                          Feste Partnerschaft           77       40,7
        a)      Starke Stimmungsschwankungen mit                                                          ist Ausdruck einer Sucht- oder Zwangser-
                                                          Kein fester Partner           112      59,3
                Unfähigkeit, sich selbst zu beruhigen                                                     krankung (Bancroft 2008). Zwanghafte Se-
                                                          Familienstand
        b)      Verminderte Steuerungsfähigkeit von                                                       xualität beansprucht oft viel Zeit und Geld,
                aggressiven Impulsen                      Ledig                         124      65,6
                                                          Verheiratet                   32       16,9     wirkt sich schädigend auf Partnerschaf-
        c)      Autodestruktive Handlungen und
                                                          Getrennt lebend               10       5,3      ten aus und führt mitunter zu Schwierig-
                Selbstverletzen
                                                          Geschieden                    21       11,1
                                                                                                          keiten am Arbeitsplatz (Bancroft 2008).
        d)      Suizidalität
                                                          Verwitwet                     2        1,1
                                                                                                          Wird Sexualität promiskuitiv oder lebens-
        e)      Störungen der Sexualität
                                                                                                          zeitlich sehr früh und ohne ausreichenden
        f)      Exzessives Risikoverhalten                Schulabschluss
                                                                                                          Schutz vor Ansteckung, Schwangerschaft,
        II      Störungen der Wahrnehmung oder            Noch in der Schule            3        1,6
                des Bewusstseins
                                                                                                          Ausbeutung oder Gewalt praktiziert, oder
                                                          Kein Schulabschluss           3        1,6
                                                                                                          kommt es dabei zum Missbrauch von Al-
        a)      Amnesien                                  Sonderschule                  7        3,7
                                                                                                          kohol und Drogen, spricht man von Risi-
        b)      Dissoziative Episoden und Depersona-      Hauptschule                   36       19,0
                lisation                                                                                  kosexualität. Ungewollte und sehr frühe
                                                          Realschule, mittlere Reife    82       43,4
        III     Störungen der Selbstwahrnehmung                                                           Schwangerschaften, sexuell übertragbare
                                                          Fachabitur, Abitur            58       30,7
        a)      Unzureichende Selbstfürsorge                                                              Krankheiten und Reviktimisierung kön-
                                                          Berufliche Situation
        b)      Gefühl, dauerhaft zerstört zu sein
                                                                                                          nen die Folgen sein (Senn et al. 2008); so-
                                                          Vollzeitbeschäftigt           35       18,5
                                                                                                          gar eine verringerte Lebenserwartung ist
        c)      Schuldgefühle                             Teilzeitbeschäftigt           15       7,9      beschrieben (Felitti et al. 1998). Hinter-
        d)      Scham                                     Hausfrau/-mann                6        3,2      grund ist häufig der Wunsch nach Bezie-
        e)      Gefühl, isoliert und abgeschnitten von    Wehr-/Zivildienst, freiwil-   1        0,5
                der Umwelt zu sein                                                                        hung und Nähe bei gleichzeitiger Unfä-
                                                          liges soziales Jahr
        f)      Bagatellisieren von gefährlichen Situ-                                                    higkeit, Risiken richtig zu beurteilen und
                                                          In Schulausbildung (Voll-     18       9,5
                ationen                                                                                   sich selbst zu schützen (Hillis et al. 2001).
                                                          zeit)
        IV      Störungen in der Beziehung zu ande-                                                       Oft sind die Betroffenen nicht fähig, sich
                                                          Arbeitslos                    54       28,6
                ren Menschen                                                                              gegenüber ungewollten sexuellen Annä-
                                                          Nicht erwerbstätig/be-        59       31,2
        a)      Unfähigkeit zu vertrauen                  rentet                                          herungen abzugrenzen (Testa et al. 2007).
        b)      Wiederholte Viktimisierungen              Keine Angaben                 1        0,5
                                                                                                          Auch autoaggressive Impulse, Rachege-
        c)      Viktimisierung anderer Menschen                                                           fühle gegenüber Tätern oder der Wunsch,
        V       Somatisierung                                                                             durch sexuelle Handlungen Macht auszu-
        a)      Somatoforme Symptome                     hyposexuelle Störung vor, kann Sexuali-          üben (Sack et al. 2009), können mögliche
        b)      Hypochondrische Ängste                   tät entweder gar nicht oder nur unter Ein-       Gründe sein. Im Vorfeld der Veröffentli-
        VI      Veränderungen von Lebenseinstel-         satz distanzierender Abwehrstrategien            chung des DSM-5 wurde diskutiert, eine
                lungen                                   wie emotionaler Unterdrückung, Disso-            Diagnosekategorie „hypersexuelle Stö-
        a)      Fehlende Zukunftsperspektive             ziation oder Substanzmissbrauch ausge-           rung“ zu etablieren (Kafka 2010; Kaplan u.
        b)      Verlust von persönlichen Grundüber-      übt werden (Staples et al. 2011). Dies wie-      Krueger 2010), der Vorschlag fand jedoch
                zeugungen und Werten                     derum kann erhebliche Partnerschaftspro-         keine Berücksichtigung.
                                                         bleme nach sich ziehen (Sack et al. 2009).           Die wenigen publizierten Studien zu
                                                         Nicht wenige Betroffene vermeiden es so-         traumaassoziierten sexuellen Störungen
        Bestehen traumatische Vorerfahrun-               gar ganz, sich auf eine Partnerschaft einzu-     sind durch eine ausgeprägte Heteroge-
    gen, können körperliche Berührungen                  lassen, da sie sich nicht in der Lage fühlen,    nität der verwendeten Definitionen und
    und Sexualität als Trigger wirken und eine           einen Umgang mit dem Thema Sexualität            Methoden gekennzeichnet; dies erschwert
    Reaktualisierung impliziter oder expliziter          zu finden. Mögliche positive Aspekte von         die Interpretation und den Vergleich der
    Traumaerinnerungen auslösen; dies wird               Sexualität als Lebensqualitätsfaktor und         Ergebnisse (Noll et al. 2003). Darüber hi-
    als emotionale Überforderung erlebt (Sack            Ressource bleiben dieser Patientengruppe         naus befassen sich die meisten Studien al-
    et al. 2009). Um sich zu schützen, vermei-           vorenthalten.                                    lein mit den Störungsbildern, die in der
    den Betroffene oft Körperkontakt und Se-                 Im Gegensatz dazu kommt es bei hy-           4. Auflage der Diagnostic and Statistical
    xualität, was dann Ausdruck einer hypose-            persexuellen Störungen zum übermäßigen           Manual of Mental Disorders (DSM-IV)
    xuellen Störung ist. Häufig bestehen auch            Ausleben von Sexualität. Sexualität kann         gelistet sind, sich von den biophysiolo-
    infolge des tiefen Vertrauensbruchs, den             dabei suchtartig konsumiert werden, um           gisch orientierten Modellen des sexuellen
    eine Missbrauchserfahrung bedeutet, er-              z. B. unerfüllte Bedürfnisse nach Körper-        Reaktionszyklus nach Masters u. Johnson
    hebliche Schwierigkeiten, körperliche Nä-            lichkeit und Nähe auszuleben. Gleichzei-         (1970) bzw. Kaplan (1977) ableiten und
    he zuzulassen (Noll et al. 2003). Liegt eine         tig wird echte Intimität vermieden. Auch         das Spektrum der möglichen traumaas-

386 |       Psychotherapeut 5 · 2014
Zusammenfassung · Abstract

soziierten sexuellen Störungen nur un-       Psychotherapeut 2014 · 59:385–391  DOI 10.1007/s00278-014-1068-y
vollständig abbilden (Hall 2008).            © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
    Prävalenzen zu den hier beschrie-
                                             Melanie Büttner · Birger Dulz · Ulrich Sachsse · Bettina Overkamp · Martin Sack
benen traumaassoziierten hyposexuellen
Störungsbildern ließen sich in der aktu-
                                             Trauma und sexuelle Störungen. Multizentrische
ellen Forschungsliteratur nicht ermitteln,
                                             Untersuchung von Patienten mit komplexer
da es nach Wissen der Autoren hierzu bis-
                                             posttraumatischer Belastungsstörung
her keine epidemiologischen Daten gibt.      Zusammenfassung
Jedoch existieren einige Daten zu ähnlich    Hintergrund. Patienten mit komplexen Trau-        mer; hierbei waren hyposexuelle Störungen
gelagerten DSM-gelisteten Störungsbil-       mafolgestörungen leiden häufig an sexuellen       bei beiden Geschlechtern häufiger als hyper-
                                             Störungen, insbesondere wenn sie sexueller        sexuelle. Hyposexuelle Störungen waren bei
dern, für die Zusammenhänge mit sexuel-
                                             Gewalt ausgesetzt waren. Obwohl traumaas-         Frauen, hypersexuelle Störungen bei Män-
len Missbrauchserfahrungen in der Kind-      soziierte sexuelle Störungen mit erheblichen      nern häufiger als beim jeweils anderen Ge-
heit beschrieben sind (Rellini 2008). In     negativen Folgen für die Betroffenen einher-      schlecht. Es berichteten 50,8% der Teilneh-
verschiedenen bevölkerungsrepräsenta-        gehen, findet das Thema bisher im wissen-         mer über sexuelle Missbrauchserfahrun-
tiven Studien wurden beispielsweise Prä-     schaftlichen und klinischen Kontext nur we-       gen; Frauen waren hiervon öfter betroffen als
valenzen von 22–40% für sexuelle Appe-       nig Berücksichtigung.                             Männer. Das Auftreten hyposexueller Störun-
                                             Material und Methoden. Untersucht wur-            gen war mit dem Vorliegen sexueller Gewalt-
tenzstörungen, 14–35% für Erregungsstö-      de die Prävalenz sexueller Störungen und          erfahrungen in der Kindheit assoziiert.
rungen und 39% für Orgasmusstörungen         traumatischer Erfahrungen bei 189 Patien-         Schlussfolgerung. Es besteht Bedarf an wei-
gefunden (DeRogatis u. Burnett 2008). Zu     ten (81% Frauen, 19% Männer) mit komple-          terer Forschung zu traumaassoziierten se-
den hypersexuellen Störungen existieren      xer posttraumatischer Belastungsstörung.          xuellen Störungen und wirksamen Konzep-
hingegen bisher nur Schätzungen, die von     Sexuelle Störungen wurden mit dem Inter-          ten zu deren Behandlung. Die Entwicklung
                                             view zur komplexen posttraumatischen Be-          neuer Behandlungsansätze sollte in interdis-
3–6% in der Bevölkerung ausgehen (USA;
                                             lastungsstörung (I-kPTBS) erfasst, die Trau-      ziplinärer Zusammenarbeit erfolgen.
Kaplan u. Krueger 2010).                     maprävalenz mit dem Traumatic Antecedents
    Es gibt Hinweise dafür, dass hypo-       Questionnaire (TAQ).                              Schlüsselwörter
und hypersexuelle Störungen abhängig         Ergebnisse. Über mindestens eine sexuel-          Sexueller Missbrauch · Frauen · Männer ·
vom Geschlecht in unterschiedlichem          le Störung berichteten 77,2% der Teilneh-         Interview, psychologisch · Multizenterstudie
Ausmaß in Erscheinung treten. Unter-
suchungen zu anderen hyposexuell ge-
                                             Trauma and sexual disorders. Multicentric investigation of
lagerten Störungsbildern wie der sexuel-
                                             patients with complex posttraumatic stress disorder
len Appetenzstörung und der sexuellen
Aversionsstörung berichten von deutlich      Abstract
höheren Prävalenzen bei Frauen (Brotto       Background. Sexual disorders are common           sexes hyposexual disorders were more com-
                                             among patients with traumatic childhood           mon than hypersexual disorders. Women
2009; Laumann et al. 1999), während hy-
                                             experiences, especially when they were ex-        showed more hyposexual disorders than men
persexuelle Störungen bei Männern of-        posed to sexual abuse. Despite the fact that      and men showed more hypersexual disor-
fenbar häufiger sind (Kafka 2010; Kaplan     trauma-associated sexual disorders imply          ders than women. Of the participants 50.8%
u. Krueger 2010).                            serious consequences for the persons con-         reported experiences of sexual abuse and
    Nach Wissen der Autoren ist dies die     cerned, to date the topic has not found much      women were more often affected than men.
erste empirische Studie, die das Vorlie-     consideration in the research and clinical con-   The presence of hyposexual disorders was
                                             texts.                                            clearly associated with the existence of expe-
gen sowie die Zusammenhänge sexuel-          Material and methods. This study investi-         riences of child sexual abuse.
ler Störungen und kindlicher Traumaer-       gated the prevalence and relationships of         Conclusion. There is a need for research on
fahrungen bei Patienten mit kPTBS näher      sexual disorders and experiences of sexu-         and effective treatment concepts for trau-
untersucht. Neben den Prävalenzen und        al abuse in 189 patients (81% women, 19%          ma-associated sexual disorders. The develop-
geschlechtsspezifischen Unterschieden        men) with complex posttraumatic stress dis-       ment of new therapeutic approaches should
                                             order. All participants completed the Inter-      be realized in interdisciplinary cooperation.
der beschriebenen sexuellen Störungen
                                             view zur Diagnostik der komplexen posttrau-
interessierten insbesondere die Zusam-       matischen Belastungsstörung (I-kPTBS, inter-      Keywords
menhänge von sexuellen Störungen und         view on diagnostics of complex posttraumat-       Sexual abuse · Female · Male · Interview,
den für kPTBS-Patienten typischen trau-      ic stress disorder) and the traumatic anteced-    psychological · Multicenter study
matischen Kindheitsbelastungen wie se-       ents questionnaire (TAQ).
xueller, emotionaler und körperlicher Ge-    Results. At least one sexual disorder was
                                             found in 77.2% of the participants. In both
walt sowie Vernachlässigung.

Studiendesign und
Untersuchungsmethoden
Sechs Behandlungszentren beteiligten
sich an der Datenerhebung:

                                                                                                                  Psychotherapeut 5 · 2014      | 387
Originalien

                        100,0                                                                 Männer (n=36)
                                                                                                                 Ergebnisse
                                                                                              Frauen (n=153)
                                                                                                                 Die Aufnahmekriterien erfüllten 189 von
                                                                              Hypersexuelle Störungen
                                                                                                                 insgesamt 274 Patienten; diese wurden
                                     Hyposexuelle Störungen
                         75,0                                                                                    in die Studie aufgenommen. Davon wa-
                                                                                                                 ren 153 (81%) Frauen und 36 (19%) Män-
                                                                                                                 ner. Das durchschnittliche Alter betrug
        Prävalenz (%)

                                         56,2               54,9
                                  50,0                                                                           34,5 Jahre (Range 18 bis 61 Jahre). Bei al-
                         50,0
                                                                                                                 len Teilnehmern lag gemäß Interviewdia-
                                                                                                                 gnostik eine kPTBS vor.
                                                     30,6
                                                                                                                     Bei Betrachtung der soziodemo-
                         25,0                                                                                    grafischen Daten der Studienteilnehmer
                                                                           19,4
                                                                                              13,9               (. Tab. 2) fiel auf, dass der überwiegende
                                                                                  7,8                   8,5
                                                                                                                 Anteil keine feste Partnerschaft unterhielt
                          0,0                                                                                    (n =112; 59,3%) und außerdem nicht am
                                Aversion gegen    Vermeidung von        Risikosexualität      Zwanghafte         Arbeitsleben teilnahm, sondern arbeits-
                                  Berührung          Sexualität                                Sexualität
                                                                                                                 los (n =54; 28,6%) oder nicht erwerbstä-
                                                            Sexuelle Störungen                                   tig bzw. berentet war (n =59; 31,2%).
                                                                                                                     Insgesamt gaben 146 Teilnehmer
    Abb. 1 8 Geschlechtsspezifische Prävalenzen hypo- und hypersexueller Störungen                               (77,2%) im diagnostischen Interview
                                                                                                                 mindestens eine sexuelle Störung an. Es
    F	Niedersächsisches Landeskranken-                            (SIDES; Pelcovitz et al. 1997), und das       berichteten 104 Teilnehmer (55%) über
      haus/Asklepios Fachklinikum Göttin-                          Traumatic Antecedents Questionnaire           Aversionen gegen körperliche Berührung
      gen (Trauma-Station),                                        (TAQ; Kolk 1997), ein Selbst-Rating-Ins-      und 95 (50,3%) über sexuelles Vermei-
    F	Medizinische Hochschule Hannover                            trument. Mithilfe des I-kPTBS wurde das       dungsverhalten. Sexuelles Risikoverhalten
      (Ambulanz für Traumafolgestörun-                             aktuelle Vorliegen von kPTBS und sexuel-      fand sich bei 19 (19,1%), eine zwanghafte
      gen),                                                        len Störungen ermittelt. Die interne Kon-     Sexualität bei 18 Teilnehmern (9,5%).
    F	Asklepios Klinik Nord in Hamburg                            sistenz ist mit α=0,88 als gut bis sehr gut       In der geschlechtsspezifischen pro-
      (Tagesklinik, Borderline-Station, Kli-                       zu bewerten (Boroske-Leiner et al. 2008).     zentualen Verteilung waren die hypose-
      nik für Forensik) und                                        Die Erfassung traumatischer Kindheits-        xuellen Störungen bei beiden Geschlech-
    F	Landesklinik Lübben (Psychiatrische                         erfahrungen erfolgte mit dem TAQ, das         tern stärker vertreten als die hypersexu-
      Ambulanz).                                                   zur retrospektiven Erhebung positi-           ellen Störungen. Bei den Frauen erga-
                                                                   ver und negativer Erfahrungen in unter-       ben sich gegenüber den Männern hö-
    Konsekutive Patienten wurden von kli-                          schiedlichen Altersphasen (0 bis 6 Jahre, 7   here Werte bezüglich der hyposexuellen
    nisch erfahrenen und spezifisch geschul-                       bis 12 Jahre, 13 bis 18 Jahre und Erwachse-   und niedrigere Werte bezüglich der hy-
    ten Ratern per Interviewdiagnostik unter-                      nenalter) dient. Zur Anwendung kam die        persexuellen Störungen (. Abb. 1). Al-
    sucht. Zusätzlich füllten die Teilnehmer                       deutsche Fassung (Hofmann et al. 1999).       lerdings war bei genauerer Betrachtung
    Fragebogen aus. Alle Studienteilneh-                                                                         der geschlechtsspezifischen Zusammen-
    mer hatten zuvor einer Studienteilnah-                         Statistische Auswertung                       hänge (. Tab. 3) allein für den Bereich
    me schriftlich zugestimmt. Einwilligun-                                                                      „Vermeidung von Sexualität“ ein signifi-
    gen der lokalen Ethikkommissionen zur                          Zur statistischen Berechnung wurde SPSS       kanter Unterschied feststellbar [häufiger
    Studiendurchführung wurden eingeholt.                          19.0 eingesetzt. Der Gruppenvergleich di-     bei Frauen als bei Männern; „odds ratio“
    Die Datenerfassung erfolgte pseudony-                          chotomer Variablen wurde mithilfe des χ2-     (OR) 2,32, 95%-Konfidenzintervall (95%-
    misiert. Als Einschlusskriterium galt das                      -Tests durchgeführt (2-seitige Testung).      KI) 1,03–5,21, p=0,04].
    Vorliegen der Diagnose einer kPTBS nach                        Die Signifikanzangabe erfolgte mithilfe           Die Untersuchung der Beziehungen
    den DSM-IV-Forschungskriterien (Pelco-                         des Exakten-Fisher-Tests; das Signifikanz-    zwischen traumatischen Kindheitsbe-
    vitz et al. 1997).                                             niveau wurde mit α =0,05 bestimmt. Die        lastungen und Störungen der Sexualität
                                                                   Modelle zum Zusammenhang von sexuel-          (. Tab. 4) ergab im Bereich der sexuellen
    Psychometrische Instrumente                                    len Störungen und Geschlecht bzw. trau-       Kindheitsbelastungen einen stark positi-
                                                                   matischen Kindheitsbelastungen wurden         ven Zusammenhang mit der „Vermeidung
    Zum Einsatz kamen das Interview zur                            mithilfe der multiplen binären Regression     von Sexualität“ und einen negativen Zu-
    Diagnostik der komplexen posttrauma-                           überprüft.                                    sammenhang mit der „zwanghaften Be-
    tischen Belastungsstörung (I-kPTBS; Bo-                                                                      schäftigung mit Sexualität“.
    roske-Leiner et al. 2008), eine deutsch-                                                                         Insgesamt berichteten 96 Teilnehmer
    sprachige Adaptation des Structured                                                                          (50,8%) über sexuelle Gewalterfahrun-
    Interview for Disorders of Extreme Stress                                                                    gen. Dabei lagen die Prävalenzen (mit

388 |     Psychotherapeut 5 · 2014
Ausnahme des Vorschulalters bei den               Auch die Prävalenz sexueller Gewalt-      2009); andererseits werfen sie Fragen
Frauen) bei beiden Geschlechtern im            erfahrungen erwies sich mit 50,8% in der     nach dem Hintergrund der Zusammen-
Kindes- und Jugendalter deutlich über je-      untersuchten Stichprobe als sehr hoch;       hänge auf. Eine mögliche Erklärung bie-
nen des Erwachsenenalters. Frauen waren        am häufigsten wurde über sexuelle Ge-        ten Noll et al. (2003), die feststellten, dass
gegenüber Männern signifikant häufiger         walt im Kindes- und Jugendalter berich-      sexuell aversives Verhalten vorrangig im
von sexuellen Gewalterfahrungen betrof-        tet. In Übereinstimmung mit zahlrei-         Zusammenhang mit schwerem sexuellem
fen (χ2=9,425, p=0,003), v. a im Jugend-       chen Befunden aus der Forschungslite-        Missbrauch (durch den biologischen Va-
(χ2=10,278, p=0,001) und Erwachsenen-          ratur (Maercker et al. 2008; Pereda et al.   ter oder mehrere Täter, lebensgeschicht-
alter (χ2=5,250, p=0,02; . Tab. 5).            2009) gaben die Frauen zudem mehr se-        lich früh, über eine lange Zeit hinweg,
                                               xuelle Gewalterfahrungen an (56,2%) als      unter Anwendung körperlicher Gewalt)
Diskussion                                     die Männer (27,8%). In der Gegenüber-        auftrat, während es zu sexuell zwanghaf-
                                               stellung der jeweiligen Vergleichsgrup-      tem Verhalten eher nach weniger schwe-
In der vorgestellten Studie wurden die         pen wiesen Patienten mit der hyposexuell     ren Missbrauchserfahrungen (einzelner
Prävalenzen und Zusammenhänge se-              gelagerten Störung „Vermeidung von Se-       Täter, nicht der biologische Vater, lebens-
xueller Störungen mit sexuellen Gewalt-        xualität“ mehr, jene mit der hypersexuell    geschichtlich später, kürzere Dauer, weni-
erfahrungen bei einer multizentrisch er-       gelagerten Störung „zwanghafte Beschäf-      ger körperliche Gewalt) kam. Allerdings
hobenen Stichprobe von Patienten mit           tigung mit Sexualität“ jedoch weniger se-    waren bei den schwerer betroffenen Pa-
kPTBS untersucht.                              xuelle Gewalterfahrungen auf. Diese Er-      tientinnen auch ambivalente Ausprägun-
    Mit 77,2% aller befragten PTBS-Pa-         gebnisse verdeutlichen einerseits die Re-    gen mit wechselnd aversivem und zwang-
tienten ergab sich eine sehr hohe Präva-       levanz sexueller Kindheitstraumatisierun-    haftem sexuellem Verhalten zu beobach-
lenz für das Vorliegen mindestens einer        gen in der Entstehung sexueller Störun-      ten.
sexuellen Störung. Dabei waren hypo-           gen und bekräftigen entsprechende Be-           Eine Begründung dafür, dass Frauen
sexuelle Störungen etwa 5-mal häufiger         funde aus der Forschungsliteratur (Haase     häufiger hyposexuelle Störungen entwi-
als hypersexuelle Störungen. In der ge-
schlechtsspezifischen Betrachtung zeigte
sich außerdem, dass hyposexuelle Störun-
gen bei den Frauen, hypersexuelle Störun-
gen hingegen bei den Männern stärker re-
präsentiert waren. Hiermit werden Beob-
achtungen aus der Forschungsliteratur be-
stätigt, die für ähnlich gelagerte Störungs-
bilder hypo- und hypersexueller Ausprä-
gung eine gleichartige Geschlechterver-
teilung beschreiben (Brotto 2009; Kafka
2010; Kaplan u. Krueger 2010; Laumann
et al. 1999). Sexuelle Störungen sind dem-
zufolge nicht nur ein sehr häufiges Symp-
tom bei Patienten mit kPTBS und somit
von erheblicher klinischer Relevanz, sie
treten auch geschlechtsabhängig unter-
schiedlich in Erscheinung. Insbesondere
bei Patienten mit sexuellen Gewalterfah-
rungen sollte die Diagnostik daher Aspek-
te sexueller Schwierigkeiten berücksichti-
gen. Weiterhin ergibt sich ein Bedarf an
gut evaluierten Behandlungskonzepten
(Sack et al. 2009), die auch auf die unter-
schiedlichen Bedürfnisse von Frauen und
Männern eingehen können sollten. Kon-
sens scheint dahingehend zu bestehen,
dass ein modifiziertes sexualtherapeuti-
sches Setting unter Einbeziehung trau-
maspezifischer Behandlungsmethoden
die sinnvollste Herangehensweise darstellt
(Althof et al. 2005; Hall 2007; Leiblum u.
Wiegel 2002).
Originalien

        Tab. 3    Sexuelle Störungen in Abhängigkeit vom Geschlecht
                      Hyposexuelle Störungen                                                              Hypersexuelle Störungen
                      Aversion gegen körperliche Be-              Vermeidung von Sexualität               Zwanghafte Beschäftigung         Risikosexualität
                      rührung                                                                             mit Sexualität
                      „Odds ratio“       95%-    Signifikanz      Odds      95%-KI      Signifikanz Odds           95%-     Signifikanz Odds 95%-KI Signifikanz
                                         KI      (p)              ratio                 (p)         ratio          KI       (p)         ratio       (p)
        Weibliches    1,19               0,56–   0,65             2,32      1,03–       0,04              0,77     0,25–       0,66        0,39    0,14–       0,07
        Geschlecht                       2,54                               5,21                                   2,42                            1,10
        95%-KI 95%-Konfidenzintervall.

        Tab. 4    Sexuelle Störungen in Abhängigkeit von traumatischen Kindheitserfahrungen
        Art der Kindheits-        Hyposexuelle Störungen                                                  Hypersexuelle Störungen
        traumatisierung           Aversion gegen körperliche         Vermeidung von Sexuali-              Zwanghafte Beschäftigung         Risikosexualität
        (0 bis 18 Lebensjahr)     Berührung                          tät                                  mit Sexualität
                                  „Odds     95%-KI       Signi-      Odds 95%-KI               Signi-     Odds     95%-KI         Signi-   Odds    95%-KI             Signi-
                                  ratio“                 fikanz      ratio                     fikanz     ratio                   fikanz   ratio                      fikanz
                                                         (p)                                   (p)                                (p)                                 (p)
        Vernachlässigung          0,67       0,29–1,59   0,37        1,0       0,42–2,43       0,98       0,64     0,18–2,31      0,50     0,59    0,17–2,07          0,41
        Emotionale Gewalt         1,73       0,76–3,94   0,19        0,85      0,36–2,02       0,71       1,57     0,36–6,88      0,55     1,48    0,34–5,84          0,58
        Körperliche Gewalt        1,73       0,88–3,42   0,12        1,22      0,60–2,48       0,56       2,33     0,70–7,80      0,17     0,89    0,29–2,70          0,84
        Sexuelle Gewalt           1,41       0,73–2,74   0,31        2,91      1,47–5,73       0,002      0,24     0,07–0,83      0,02     0,65    0,21–2,00          0,45
        95%-KI 95%-Konfidenzintervall.

        Tab. 5    Gechlechtsspezifische Prävalenz sexueller Gewalterfahrungen                                                   Für zukünftige Studien wäre es von
        Sexuelle Traumatisie-       Männer (n=36)                 Frauen (n=153)                  χ2-Test                   Vorteil, die im DSM-V verzeichneten se-
        rung                                                                                                                xuellen Störungen in die Prävalenzerhe-
                                    Anzahl (n)    Anteil (%)      Anzahl (n)     Anteil (%)       (χ2)       (p)
                                                                                                                            bung einzubeziehen, um einen Vergleich
        Vorhandensein sexuel- 10              27,8        86                     56,2             9,425      0,003
        ler Gewalterfahrungen
                                                                                                                            der Ergebnisse zu ermöglichen. Von Inte-
                                                                                                                            resse wäre zudem eine genauere Betrach-
        Alter zum Zeitpunkt sexueller Gewalterfahrungen (Jahre)
                                                                                                                            tung der Dosis-Wirkung-Beziehung zwi-
        0–6                     5             13,9        28                     18,3             0,394      n. s.
                                                                                                                            schen der Schwere einer sexuellen Ge-
        7–12                    8             22,2        51                     33,3             1,676      n. s.
                                                                                                                            walterfahrung und der Schwere einer da-
        13–18                   4             11,1        60                     39,2             10,278     0,001
                                                                                                                            mit verbundenen sexuellen Störung. Ne-
        >18                     2             5,6         34                     22,2             5,250      0,02
                                                                                                                            ben isoliert auftretenden hypo- und hy-
        Bezüglich des Alters zum Zeitpunkt der sexuellen Gewalterfahrungen waren Mehrfachnennungen möglich.Es
        wurde nicht das Alter der ersten Erfahrung sexueller Gewalt erfasst.
                                                                                                                            persexuellen Störungen sollte auch ambi-
                                                                                                                            valentes sexuelles Verhalten berücksich-
                                                                                                                            tigt werden.
    ckeln als Männer, mag darin liegen, dass                    189 Teilnehmern erwies sich zudem die
    sie nicht nur mehr sexuellen Gewalterfah-                   Fallzahl als nichtausreichend, um akzep-                    Fazit für die Praxis
    rungen ausgesetzt sind – wie sich auch in                   tabel große Teilstichproben von Männern
    dieser Studie erneut bestätigt – sondern                    bzw. Patienten mit hypersexuellen Stö-                      Sexuelle Störungen sind ein sehr häu-
    dass sie oft auch schwerere sexuelle Über-                  rungen zu bilden. Während die Diagno-                       figes Beschwerdebild bei Patienten
    griffe hinnehmen müssen als Männer                          sestellung hinsichtlich des Vorliegens von                  mit Kindheitstraumatisierungen. Die-
    (Hall 2007; Häuser et al. 2011). Bezüglich                  kPTBS und sexuellen Störungen mithil-                       se sind im Rahmen einer multifaktoriel-
    der hypersexuellen Störungen ist ein um-                    fe der strukturierten Interviewdiagnostik                   len Genese in besonderem Ausmaß mit
    gekehrter Zusammenhang denkbar.                             durch erfahrene und geschulte Rater er-                     sexuellen Gewalterfahrungen assozi-
        Da die Daten an einer klinischen Stich-                 folgte, kam für die Erfassung der sexuellen                 iert. Da traumaassoziierte sexuelle Stö-
    probe von Patienten mit kPTBS schwe-                        Gewalterfahrungen lediglich ein Selbst-                     rungen mit erheblichen Einschränkun-
    rer Störungsausprägung aus spezialisier-                    Rating-Instrument zur Anwendung. Zu-                        gen in der Lebensqualität und beträcht-
    ten Zentren erhoben wurden, lassen sich                     sätzlich sollte bedacht werden, dass in-                    lichen gesundheitlichen Risiken einher-
    die gefundenen Prävalenzen nur mit Ein-                     folge der physiologischen frühkindlichen                    gehen können, ist es wichtig, sie diag-
    schränkung auf den Bereich der ambu-                        Amnesie der ersten Lebensjahre mögli-                       nostisch zu erfassen und in die psycho-
    lanten Psychotherapie übertragen. Trotz                     cherweise nur eine unvollständige Anga-                     therapeutische Behandlung einzubezie-
    multizentrischer Erhebung und Gene-                         be zu sexuellen Gewalterfahrungen in der                    hen. Ein Behandlungssetting, das trau-
    rierung eines Datensatzes von immerhin                      Kindheit erfolgen konnte.                                   maspezifische und sexualtherapeuti-

390 |   Psychotherapeut 5 · 2014
sche Methoden verbindet, stellt das ge-                     Hall K (2008) Childhood sexual abuse and adult sexual         Staples J, Rellini AH, Roberts SP (2011) Avoiding expe-
                                                                 problems: a new view of assessment and treat-                riences: sexual dysfunction in women with a histo-
eignete Vorgehen dar. Dabei sollten ge-                          ment. Fem Psychol 18:546–556                                 ry of sexual abuse in childhood and adolescence.
schlechtsspezifisch unterschiedliche Be-                    Häuser W, Schmutzer G, Brahler E, Glaesmer H (2011)               Arch Sex Behav 41:341–350
dürfnisse berücksichtigt werden.                                 Maltreatment in childhood and adolescence: re-           Testa M, VanZile-Tamsen C, Livingston JA (2007) Pro-
                                                                 sults from a survey of a representative samp-                spective prediction of women’s sexual victimiza-
                                                                 le of the German population. Dtsch Arztebl Int               tion by intimate and nonintimate male perpetra-
                                                                 108:287–294                                                  tors. J Consult Clin Psychol 75:52–60
Korrespondenzadresse                                        Hillis SD, Anda RF, Felitti VJ, Marchbanks PA (2001) Ad-
                                                                 verse childhood experiences and sexual risk beha-
Dr. Melanie Büttner                                              viors in women: a retrospective cohort study. Fam
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische                       Plann Perspect 33:206–211
Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts                 Hofmann A, Fischer G, Koehn F (1999) Traumatic An-
der Isar, Technische Universität München                         tecedents Questionnaire (TAQ). Deutsches Institut
Ismaningerstr. 22, 81675 München                                 für Psychotraumatologie, Köln
                                                            Kafka MP (2010) Hypersexual disorder: a proposed dia-
m.buettner@tum.de
                                                                 gnosis for DSM-V. Arch Sex Behav 39:377–400
                                                            Kaplan HS (1977) Hypoactive sexual desire disorder. J
                                                                 Sex Marital Ther 3:3–9
                                                            Kaplan MS, Krueger RB (2010) Diagnosis, assess-
Einhaltung ethischer Richtlinien                                 ment, and treatment of hypersexuality. J Sex Res
                                                                 47:181–198
Interessenkonflikt. Melanie Büttner, Birger Dulz,           Kockott G (2007) Psychotherapie sexueller Funkti-
Ulrich Sachsse, Bettina Overkamp und Martin Sack                 ons- und Erlebensstörungen. Bundesgesundheits-
geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.                  blatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz
                                                                 50:11–18
Alle im vorliegenden Manuskript beschriebenen               Kolk BA van der (1997) Traumatic Antecedents Questi-
Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustim-                    onnaire (TAQ). The Trauma Center, Brookline
mung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang           Laumann EO, Paik A, Rosen RC (1999) Sexual dysfuncti-
mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration                 on in the United States: prevalence and predictors.
von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten          JAMA 281:537–544
Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten      Leiblum SR, Wiegel M (2002) Psychotherapeutic inter-
liegt eine Einverständniserklärung vor.                          ventions for treating female sexual dysfunction.
                                                                 World J Urol 20:127–136
                                                            Maercker A, Brewin CR, Bryant RA et al (2013) Propo-
Literatur                                                        sals for mental disorders specifically associated
                                                                 with stress in the International Classification of Di-
Althof SE, Leiblum SR, Chevret-Measson M et al (2005)            seases-11. Lancet 381(9878):1683–1685
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     800                                                         Ergebnisse einer gesamtdeutschen epidemiologi-
Bancroft J (2008) Sexual behavior that is „out of cont-          schen Untersuchung. Nervenarzt 79:577–586
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     27:625–639                                             Sack M (2004) Diagnostische und klinische Aspekte
                                                                 der komplexen posttraumatischen Belastungsstö-
Felitti VJ, Anda RF, Nordenberg D et al (1998) Relation-                                                                                        Kommentieren Sie
     ship of childhood abuse and household dysfunc-              rung. Nervenarzt 75:451–459
                                                            Sack M, Sachsse U, Dulz B (2009) Störungen der Sexua-                               diesen Beitrag auf
     tion to many of the leading causes of death in
     adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE)             lität bei Patientinnen und Patienten mit komplexer                             springermedizin.de
     study. Am J Prev Med 14:245–258                             Posttraumatischer Belastungsstörung. In: Dulz B,
Haase A (2009) Sexuelle Dysfunktionen und sexuel-                Benecke C, Richter-Appelt H (Hrsg) Borderline-Stö-
                                                                 rungen und Sexualität. Ätiologie – Störungsbild –             Geben Sie hierzu den Beitragstitel
     le Zufriedenheit bei Patientinnen mit posttrau-
     matischer Belastungsstörung. Verhaltenstherapie             Therapie. Schattauer, Stuttgart, S 134–137                    in die Suche ein und nutzen Sie
     19:161–167                                             Senn TE, Carey MP, Vanable PA (2008) Childhood and                 anschließend die Kommentarfunk-
Hall K (2007) Sexual dysfunction and childhood sexual            adolescent sexual abuse and subsequent sexual
                                                                 risk behavior: evidence from controlled studies,              tion am Beitragsende.
     abuse – gender differences and treatment implica-
     tions. In: Leiblum SR (Hrsg) Principles and practice        methodological critique, and suggestions for rese-
     of sex therapy. Guilford, New York                          arch. Clin Psychol Rev 28:711–735

                                                                                                                                               Psychotherapeut 5 · 2014             | 391
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