Qualitätsstandards für die sicherere und bewohnerorientierte Medikation in Pflegeheimen - Patientensicherheit Schweiz

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Nationales Pilotprogramm
«progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen»

Qualitätsstandards
für die sicherere und bewohnerorientierte
Medikation in Pflegeheimen

Dr. Lea Brühwiler, MSc Pharm. Wiss.
Dr. med. Simone Fischer
Andrea Niederhauser, MPH
Prof. Dr. David Schwappach, MPH

März 2021
Inhalt

                  1     Handlungsbedarf                                                                           4

                  2     Programmziele                                                                             4

                  3     Qualitätsstandards                                                                        5
                        3.1       Ziele, Zielgruppe und Anwendungsgebiet                                          5
                    3.2 Methoden                                                                                  5
                  		    3.2.1 Systematische Recherche nach Guidelines                                             5
                  		    3.2.2 Ergebnisse Grundlagenprojekt, Wirkungsmodell
                  			         und Expertengespräche                                                               6
                  		    3.2.3 Erarbeitung der Präzisierungen und Rationalen                                       6
                    3.3 Definition der Qualitätsstandards                                                         6
                  		    3.3.1 Qualitätsstandard I:
                  			           Die Medikation wird regelmässig und in definierten Situationen überprüft.         7
                  		    3.3.2 Qualitätsstandard II:
                  			           Die Medikationsüberprüfung wird strukturiert durchgeführt.                        8
                  		    3.3.3 Qualitätsstandard III:
                  			           Die Medikation wird strukturiert monitorisiert.                                  10
                  		    3.3.4 Qualitätsstandard IV:
                  			           Alle Fachpersonen engagieren sich für eine optimale interprofessionelle
                  			           Zusammenarbeit.                                                                  11
                  		    3.3.5 Qualitätsstandard V:
                  			           Die Bewohnerinnen werden aktiv in den Medikationsprozess einbezogen.             13

                  4     Delphi-Verfahren                                                                         14
                        4.1       Ziel                                                                           14
                    4.2           Vorgehen                                                                       14
                  		              4.2.1 Rekrutierung der Expertinnen                                             14
                  		              4.2.2 Pilotierung                                                              15
                  		              4.2.3 Durchführung                                                             15
                  		              4.2.4 Auswertung                                                               16
                        4.3       Ethik                                                                          17

                  5     Literaturverzeichnis                                                                     18

                  6     Anhang		                                                                                 22
                   6.1 Verwendete Suchbegriffe für die systematische Suche in wissenschaftlichen
                  		 Datenbanken                                                                                 22
                        6.2       Guideline-Datenbanken für die systematische Suche                              23

2   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
Hinweise

• Der Begriff Pflegeheim wird aus Gründen der besse-
  ren Lesbarkeit synonym für Alters- und Pflegeinstitutio-
  nen verwendet. Nicht gemeint sind Einrichtungen
  für betreutes Wohnen, Wohngruppen oder Hospize.

• Die gesetzlichen und fachlichen Anforderungen an sämt-
  liche hier beschriebenen Verhaltensweisen und Prozesse
  werden über die in den Qualitätsstandards beschrie-
  benen Anforderungen gestellt. Die verantwortlichen Per-
  sonen in den Pflegeheimen müssen gewährleisten,
  dass die Gesetze eingehalten werden.

• Die hier beschriebenen Qualitätsstandards beschreiben
  Mindestanforderungen an die Versorgung. Es gibt
  Situationen, bei denen vertiefte klinische Aktivitäten
  notwendig sind.

Abkürzungen

AIMS              Struktur für die Medikationsüberprüfung
                  (vgl. QS III)

CDSS              Clinical Decision Support System

GPGP              Good-Palliative Geriatric-Practice Algorithmus

PIM               Potenziell inadäquate Medikation
                  (Unterkategorie von PIP)

PIP               Potentially inappropriate prescribing, potenziell
                  inadäquate Verschreibung

QS                Qualitätsstandard

UAE               Unerwünschte arzneimittelbezogene Ereignisse

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards   3
1 Handlungsbedarf                                                                                         2 Programmziele

Rund 120 000 meist betagte und multimorbide Personen le-                                                  Das Programm «progress! Sichere Medikation in Pflegehei-
ben schweizweit über längere Zeit in Pflegeheimen (1). Al-                                                men» hat das übergeordnete Ziel, UAE bei Bewohnerinnen
tersbedingte Einschränkungen und Multimorbidität führen                                                   und Bewohnern von Schweizer Pflegeheimen zu reduzieren.
sehr häufig zum Problem der Polypharmazie, die wieder-                                                    Die verordnete Medikation soll zu diesem Zweck sichererer
um die Wahrscheinlichkeit für Interaktionen, fehlerhafte An-                                              und bewohnerorientiert werden. D. h. es ist der grösste Nut-
wendungen, Verwechslungen, schlechte Therapieadhärenz                                                     zen im Verhältnis zum geringsten Risiko anzustreben und
der Bewohnerinnen und Bewohner und insbesondere für un-                                                   die individuellen Präferenzen und Bedürfnisse der Bewoh-
erwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) erhöht (2–4). Die                                                 nerinnen und Bewohner sollen Berücksichtigung finden. Im
Einnahme jedes zusätzlichen Medikaments erhöht auch                                                       Fokus stehen dabei die im ersten Kapitel erläuterten Prob-
das Risiko für einen kognitiven Abbau, Spitaleinweisungen                                                 lemfelder Polypharmazie und PIP.
und Mortalität (5–10). Bereits ab zwei Medikamenten steigt                                                Im Programm «progress! Sichere Medikation in Pflegehei-
das Risiko für UAE für jedes weitere Medikament um 8,6 %                                                  men» verstehen wir als sicherere Medikation eine Verände-
(11). In der Schweiz erhalten Bewohnerinnen und Bewohner                                                  rung hin zu:
von Pflegeheimen durchschnittlich 9,3 Medikamente, wobei                                                  • weniger Medikamenten (Reduktion der Polypharmazie);
85,5 % der Heimbewohnerinnen von Polypharmazie (Bezug                                                     • weniger PIM, d. h. weniger Medikationen mit einem un-
von mindestens 5 Medikamenten innert 3 Monaten) betrof-                                                     günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis bei Pflegeheimbe-
fen sind (12).                                                                                              wohnerinnen und -bewohnern, insbesondere weniger
                                                                                                            antipsychotische Substanzen, Benzodiazepine oder Me-
Problematisch ist die Polypharmazie insbesondere dann,                                                      dikamente mit anticholinergen Nebenwirkungen;
wenn eine potenziell inadäquate Verordnung vorliegt (poten-                                               • weniger potenziell schädliche Interaktionen und Duplika-
tially inappropriate prescribing, kurz PIP). PIP lässt sich in                                              tionen.
Über-, Unter- und Fehlversorgung kategorisieren (13). Eine
Überversorgung (overprescribing) ist definiert als eine nicht                                             Damit eine sicherere Medikation im Pflegeheim erreicht wer-
indizierte Therapie. In einer Schweizer Interventionsstudie                                               den kann, müssen also Unter-, Über- und Fehlversorgung
wurden im Rahmen eines Medication Reviews bei 329 Pfle-                                                   identifiziert und kompetent angepasst werden. Hierbei sol-
geheimpatientinnen und -patienten 56 Medikamente ohne                                                     len insbesondere unnötige und potenziell schädliche Medi-
Indikation identifiziert (14). Eine Unterversorgung (under-                                               kamente vermieden und wenn möglich kontrolliert abge-
prescribing) liegt vor, wenn indizierte Medikamente nicht                                                 setzt oder reduziert werden (deprescribing). Ist eine Reduk-
verordnet werden (15). Dies konnte beispielsweise in einer                                                tion der Medikation aus medizinischen Gründen nicht mög-
niederländischen Studie bei 43% der geriatrischen Patien-                                                 lich, ist auf die Angemessenheit der (Poly-)Medikation zu
tinnen und Patienten mit Polypharmazie, aber nur bei 13,5 %                                               achten. Auch sollen Medikamente neu eingesetzt werden,
ohne Polypharmazie nachgewiesen werden (16). Unter ei-                                                    wenn ihr Nutzen die Risiken überwiegt.
ner Fehlversorgung (misprescribing) wird eine inkorrekte re-                                              Unter einer bewohnerorientierten Medikation verstehen wir
spektive suboptimale Verschreibung einer indizierten Medi-                                                den Einbezug der Wünsche, Bedürfnisse und Lebenssitu-
kation verstanden (13). Dazu gehörige Unterkategorien bil-                                                ation der Bewohnerinnen und Bewohner. Dies kann konse-
den: Wirtschaftlichkeit, Follow-up (z. B. inadäquates oder                                                quentermassen nur erfolgen, wenn diese soweit möglich
fehlendes Follow-up), Duplikationen und eine sogenann-                                                    aktiv in den Medikationsprozess mit einbezogen werden.
te PIM (potenziell inadäquate Medikation). PIM weisen bei
geriatrischen Patientinnen und Patienten ein schlechtes
Nutzen-Risiko-Verhältnis auf. Deren Einsatz birgt ein erhöh-
tes Risiko für UAE (17) und Spitaleinweisungen (18–21). Da-
ten von 2016 aus der Schweiz zeigen, dass 79,1 % der Pfle-
geheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohner mindes-
tens ein PIM bezogen (12).

Polypharmazie und PIP stellen somit zentrale Problemfel-
der in der medikamentösen Behandlung von Pflegeheimbe-
wohnerinnen und Pflegeheimbewohnern dar und gefährden
deren Sicherheit.

4   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
3 Qualitätsstandards

3.1 Ziele, Zielgruppe und Anwendungsgebiet                                                                   3.2 Methoden

Die im Folgenden definierten Qualitätsstandards (QS) be-                                                     Diese Qualitätsstandards wurden auf der Basis einer sys-
schreiben Minimalanforderungen an die Medikationspro-                                                        tematischen Recherche nach Guidelines sowie anhand der
zesse und an das Verhalten der Fachpersonen, um das in Ka-                                                   Ergebnisse des Grundlagenprojekts «progress! Sichere Me-
pitel 2 erläuterte Ziel – eine sicherere und bewohnerorien-                                                  dikation in Pflegeheimen» (22), anhand der Arbeit an einem
tierte Medikation – zu erreichen. Schwerpunkte bilden das                                                    Wirkungsmodell sowie Gesprächen mit Expertinnen und
Überprüfen und Überwachen der Medikation der Bewohne-                                                        Experten erarbeitet. Anschliessend wurde ein Set von Qua-
rinnen und Bewohner unter Einbezug aller am Medikations-                                                     litätsstandards ausgearbeitet und nach weiterer fachlicher
prozess involvierten Fachpersonen sowie der Bewohnerin-                                                      Vertiefung in Formulierung und Inhalt abschliessend defi-
nen und Bewohner selbst.                                                                                     niert und präzisiert. Delphi-Verfahren  Kapitel 4.
Zielgruppe der Qualitätsstandards sind Fachpersonen al-
ler Berufsgruppen, die am Medikationsprozess im Pflege-
heim involviert sind: Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen                                                    3.2.1 Systematische Recherche nach Guidelines
und Apotheker, Pflegefachpersonen.                                                                           Im November 2018 erfolgte eine systematische Recherche
Die Empfehlungen der Qualitätsstandards gelten für die                                                       nach relevanten Guidelines. Einschlusskriterien waren: Pra-
medikamentöse Therapie von in Pflegeheimen wohnhaften                                                        xisguidelines für Gesundheitsfachpersonen in den Spra-
Personen. Mit medikamentöser Therapie sind jegliche phar-                                                    chen Englisch, Deutsch oder Französisch, maximal 10 Jahre
makologischen Therapien mit schulmedizinischem oder al-                                                      alt, Fokus auf der guten Verordnungspraxis oder der guten
ternativmedizinischem Wirkungskreis gemeint, aber auch                                                       Praxis der Medikationsüberprüfung sowie Bezug auf Pfle-
der Entscheid gegen eine medikamentöse Therapie.                                                             geheimbewohnerinnen und -bewohner oder auf ältere Pati-
Natürlich gibt es klinische Situationen, bei denen die hier                                                  entinnen und Patienten.
beschriebenen Minimalanforderungen nicht ausreichen.                                                         Die Suche wurde in wissenschaftlichen Datenbanken, Guide-
Dort werden vertieftere klinische Aktivitäten der Fachperso-                                                 line-Datenbanken und mittels Internet-Suchmaschine
nen nötig.                                                                                                   durchgeführt:
Die Qualitätsstandards beziehen sich explizit nicht auf die                                                  • Als wissenschaftliche Datenbanken fanden Pubmed, Ci-
Behandlung der End of life-Phase!                                                                               nahl und Embase Berücksichtigung. Die verwendeten
                                                                                                                Suchbegriffe sind im Anhang 6.1 aufgelistet.
Zudem finden die folgenden Aspekte keine Berücksichti-                                                       • Bzgl. Guideline-Datenbanken erfolgte die Suche in Da-
gung:                                                                                                           tenbanken, welche dem Programm-Team bekannt waren
• Anamnese, klinische Untersuchung und Diagnosestel-                                                            oder über eine unsystematische Google-Suche gefunden
  lung;                                                                                                         wurden. Die Auswahl der Datenbanken ist im Anhang 6.2
• Prozesse der Bestellung, Lieferung, Lagerung, des Rich-                                                       ersichtlich. Die Suche wurde wie bei der Recherche in
  tens, der Verabreichung und Entsorgung von Medikamen-                                                         den wissenschaftlichen Datenbanken auch mit Synony-
  ten sowie die routinemässige Rezeptvalidierung durch                                                          men (z. B. Arzneimittel anstatt Medikation) durchgeführt.
  die Apothekerin oder den Apotheker;                                                                           Wenn in nicht-englischen Datenbanken recherchiert wur-
• Konkrete indikationsspezifische Therapieempfehlungen                                                          de, erfolgte eine Übersetzung der Begriffe in die jeweilige
  und Auswahl von konkreten therapieüberwachenden dia-                                                          Sprache. War keine Freitextsuche möglich, wurden die
  gnostischen Massnahmen, wie z.B. Labor, EKG, Mini-                                                            Dokumente der Guideline-Datenbanken durchgesehen
  Mental-State-Test;                                                                                            (Titel-screening).
• Nicht-pharmakologische Therapieformen, wie z. B. Psy-                                                      • Die systematische Suche via Internet-Suchmaschine
  chotherapie, Physiotherapie sowie Medizinprodukte und                                                         (Google) erzielte eine sehr hohe Zahl an Treffern, welche
  operative Eingriffe;                                                                                          deshalb nicht systematisch gesichtet werden konnten.
• Arzneimitteladhärenz der Bewohnerinnen und Bewohner.
                                                                                                             Aus der systematischen Recherche resultierten fünf Guide-
                                                                                                             lines, welche den oben genannten Einschlusskriterien ent-
                                                                                                             sprachen (23–27). Diese wurden anhand ihrer Vor- und
                                                                                                             Nachteile bewertet. Ein gewichtiger Nachteil zweier Guide-
                                                                                                             lines (26, 27) ist die fehlende Beschreibung der Erarbeitungs-
                                                                                                             methode. Des Weiteren ist die Leitlinie Multimorbidität (25)

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards                                                               5
3 Qualitätsstandards  3.2 Methoden

indikationsbezogen aufgebaut und eignet sich deshalb                                                      3.2.3 Erarbeitung der Präzisierungen
nicht für die vorliegende Fragestellung. Daher erfolgte der                                                     und Rationalen
Ausschluss dieser drei Guidelines. Als solide Grundlage für                                               Die definierten Qualitätsstandards wurden so präzisiert,
die Erstellung der vorliegenden Qualitätsstandards wurden                                                 dass diese in den Pflegeheimen im Sinne von Minimalanfor-
somit die «Managing medicines in care homes» (23) und die                                                 derungen konkret umgesetzt werden können.
Hausärztliche Leitlinie Multimedikation (24) in die weitere                                               Die wissenschaftliche Literatur war die wesentliche Grund-
Arbeit einbezogen.                                                                                        lage für die Erarbeitung der jeweiligen Präzisierungen. Eben-
                                                                                                          falls wurden – im Gegensatz zu den Qualitätsstandards, wo
                                                                                                          nur die in der systematischen Suche gefundenen NICE und
3.2.2 Ergebnisse Grundlagenprojekt, Wirkungs-                                                             DEGAM-Guidelines einbezogen wurden – für die Präzisierun-
      modell und Expertengespräche                                                                        gen weitere Guidelines als Informationsquelle hinzugezo-
Im Grundlagenprojekt «progress! Sichere Medikation in                                                     gen. Diese waren aufgrund ihrer Heterogenität (Herkunfts-
Pflegeheimen» wurden mittels Literaturrecherche, einer On-                                                land, Gesundheitssystem, Autoren) für die Präzisierung der
line-Befragung von Pflegedienstleitungen in schweizeri-                                                   Qualitätsstandards eine wertvolle Informationsquelle.
schen Pflegeheimen sowie durch explorative Interviews mit                                                 Die Rationalen begründen die Auswahl der Präzisierungen an-
Ärztinnen und Ärzten die folgenden Erkenntnisse gewon-                                                    hand oben genannter Quellen (Stand 2019). Sie sollen den
nen. Diese fanden bei der Erstellung der Qualitätsstandards                                               Fachpersonen dazu dienen, die Präzisierungen nachvollzie-
Berücksichtigung:                                                                                         hen zu können.
• Multimodale Interventionen scheinen vielversprechend.
   Um das Programmziel zu erreichen, muss deshalb an ver-
   schiedenen Stellen angesetzt werden.
• National und international getestete Interventionen unter-                                              3.3 Definition der Qualitätsstandards
   stützen bei der Definition der Qualitätsstandards, sind aber
   nicht auf die ganze Schweiz übertragbar. Die Anpassbar-                                                Es wurden die folgenden fünf Qualitätsstandards als Mini-
   keit an die sehr heterogenen schweizerischen Gegeben-                                                  malanforderungen an die Versorgung von Pflegeheimbewoh-
   heiten soll genügend Aufmerksamkeit erhalten.                                                          nerinnen und -bewohner definiert:
• Anzustreben sind eine Förderung der interprofessionellen                                                • Die Medikation wird regelmässig und in definierten Situatio-
   Zusammenarbeit, die Etablierung von Austauschgefässen                                                    nen überprüft.
   und Kommunikationswegen sowie von interprofessionel-                                                   • Die Medikationsüberprüfung wird strukturiert durchge-
   len Prozessen und die Klärung der Verantwortlichkeiten.                                                  führt.
• Geregelte, strukturierte Prozesse bei der Medikations-                                                  • Die Medikation wird strukturiert monitorisiert.
   überprüfung und bei der Überwachung der Therapie müs-                                                  • Alle Fachpersonen engagieren sich für eine optimale inter-
   sen in der Schweiz verbreitet und implementiert werden.                                                  professionelle Zusammenarbeit.
   Hilfsmittel und Anleitungen sind dazu nötig.                                                           • Die Bewohnerinnen und Bewohner werden aktiv in den
• Die Medikationsüberprüfung soll regelmässig (nicht pro-                                                   Medikamentenprozess einbezogen.
   blemorientiert) und situationsbedingt (problemorientiert)
   stattfinden.                                                                                           Grundlegende Voraussetzung für die Umsetzung der Qua-
                                                                                                          litätsstandards (I–III) ist, dass allen Fachpersonen zu jeder
 Die detaillierten Resultate sind in den veröffentlichten Do-                                             Bewohnerin oder jedem Bewohner eine Dokumentation mit
 kumenten des Grundlagenprojektes einsehbar (22, 28–30).                                                  aktuellen, korrekten und verständlichen Informationen zur
 Bereits während des Grundlagenprojektes und auch in der                                                  Verfügung steht (23, 24, 31). Auch sollten alle involvierten
 ersten Phase des Vertiefungsprojektes wurde ein Wirkungs-                                                Fachpersonen über die gleichen Informationen verfügen.
 modell entwickelt, welches aufzeigt, welche Wirkungen im                                                 Das heisst beispielweise, dass Änderungen in der Medikati-
 Projekt mit welchen Massnahmen und Aktivitäten erzielt wer-                                              on bei allen Fachpersonen angepasst werden müssen. Da-
 den sollen. In diversen teaminternen Diskussionen wurde                                                  für sind klar definierte Prozesse zum Informationsabgleich
 die Wirkungslogik diskutiert und abschliessend festgelegt.                                               an den Schnittstellen und bestenfalls Zugang zum Doku-
 Auch Gespräche mit Praxis- und/oder Fachexpertinnen und                                                  mentationssystem der anderen Fachgruppe respektive ein
-experten haben das Wirkungsmodell sowie die Erarbeitung                                                  zentrales oder einheitliches Dokumentationssystem erfor-
 und Definition der Qualitätsstandards entscheidend mitbe-                                                derlich. Auch sollten sich alle Fachpersonen auf eine ge-
 einflusst.                                                                                               meinsame Sprache, d. h. gleiche Abkürzungen, Masseinhei-
                                                                                                          ten etc. verständigen.

6   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

Generell leistet das Programm einen Beitrag zur Entwick-
lung einer Sicherheitskultur in Pflegeheimen. Eine wesent-                                                   • Die situationsbedingte Medikationsüberprüfung wird bei
liche Grundvoraussetzung dafür ist, dass sich alle beteilig-                                                   jedem Ereignis durchgeführt, auch wenn kürzlich bereits
ten Fachpersonen hinter diesem Ziel und Anspruch versam-                                                       eine regelmässige oder situationsbedingte Überprüfung
meln.                                                                                                          stattgefunden hat.
Im Folgenden werden die fünf Qualitätsstandards präzisiert
und anhand einer Rationalen, welche die Evidenz für den
jeweiligen Qualitätsstandard sowie dessen Präzisierungen                                                     Rationale
referenziert, deren Auswahl begründet (vgl. Kapitel 3.2.3).                                                  In der wissenschaftlichen Literatur und auch in diversen
                                                                                                             Guidelines wird der «Medication Review» (dt. Medikations-
                                                                                                             analyse) beschrieben. Da diese teilweise sehr umfassende
                                                                                                             und heterogen umgesetzte Medikationsanalyse der hier be-
3.3.1 Qualitätsstandard I:                                                                                   schriebenen Medikationsüberprüfung am nächsten kommt,
      Die Medikation wird regelmässig und                                                                    bezieht sich die Rationale auf solche Studien und Guideli-
      in definierten Situationen überprüft.                                                                  nes.
Bei jeder Bewohnerin und jedem Bewohner wird regelmäs-                                                       Die in der wissenschaftlichen Literatur beschriebene und in
sig eine Überprüfung der Medikation durchgeführt («regel-                                                    Guidelines empfohlene Frequenz für Medication Reviews
mässige Medikationsüberprüfung»).                                                                            ist sehr heterogen. Auf Evidenz und Expertenkonsens beru-
• Die Zeitabstände zwischen zwei regelmässigen Überprü-                                                      hende Guidelines empfehlen eine Überprüfung mindestens
  fungen betragen höchstens ein halbes Jahr.                                                                 einmal jährlich (23, 24). Weitere Guidelines postulieren eine
• Das Fälligkeitsdatum der nächsten regelmässigen Über-                                                      Durchführung alle 6–12 Monate (32), alle 12 Monate (27, 33),
  prüfung ist für jede Bewohnerin und jeden Bewohner indi-                                                   alle 15 Monate (34) oder sie empfehlen eine Regelmässig-
  viduell schriftlich dokumentiert.                                                                          keit, ohne eine Frequenz zu definieren (35–40). Nur weni-
• Eine designierte Fachperson ist für das Management der                                                     ge Studien geben Hinweise darauf, in welchen Intervallen
  Fälligkeiten verantwortlich, d. h. sie monitorisiert die Fällig-                                           eine Medikationsüberprüfung stattfinden soll, um medikati-
  keit.                                                                                                      onsbezogene Endpunkte zu verbessern: Preliminäre Daten
                                                                                                             aus der Schweizer Chronic Care Studie in der ambulanten
Die Medikation der Bewohnerin oder des Bewohners wird                                                        Versorgung zeigen, dass die Anzahl Medikamente nach dem
in definierten Situationen überprüft («situationsbedingte Me-                                                Medication Review in der Interventionsgruppe signifikant
dikationsüberprüfung»).                                                                                      tiefer ist als in der Kontrollgruppe. Nach 6 Monaten ist dieser
• Definierte Situationen sind:                                                                               Unterschied aber nicht mehr nachweisbar (Neuner-Jehle
   – Jede klinisch relevante Veränderung des Allgemeinzu-                                                    et al., unpublizierte Daten aus der Chronic Care Studie). Eine
      standes, der Vitalparameter oder Laborwerte                                                            randomisiert kontrollierte Studie aus Israel testete einen
   – Neueintritt ins Heim                                                                                    Medication Review zum Studienstart und nach 6 Monaten
   – Jeder Wiedereintritt nach einem Spitalaufenthalt                                                        (41, 42). Die Studie zeigte, dass sich die Outcomes (Anzahl
   – Wenn eine konsiliarisch beigezogene Spezialistin bzw.                                                   Medikamente, potenziell inadäquate Verschreibung, Kosten,
      ein Spezialist oder andere Ärztin bzw. ein anderer Arzt                                                Stürze) innerhalb der Interventionsgruppe nach dem ersten
      (z. B. Notfallärztin oder -arzt, Stellvertretung) eine Neu-                                            und zweiten Review verbesserten. Aufgrund dieser Evidenz
      verordnung vornimmt                                                                                    scheint es sinnvoll und ist auch plausibel, eine Medikations-
   – Hinweise einer Fachperson (z. B. einer Pflegefachper-                                                   überprüfung alle 6 Monate durchzuführen.
      son, einer Apothekerin oder eines Apothekers, einer                                                    Veränderung: Es ist plausibel, dass bei jeder Veränderung
      Spezialistin oder eines Spezialisten), dass eine Über-                                                 des Gesundheitszustandes die Medikamente überprüft
      prüfung aufgrund von Sicherheitsbedenken sinnvoll ist                                                  werden sollen. Einerseits, um Medikamente als mögliche
   – Wenn dies im Monitoring anberaumt wurde (Verweis                                                        Faktoren für die Veränderung zu identifizieren, andererseits
      QS III)                                                                                                um Medikamente zu identifizieren, welche in der akuten Si-
• Die Pflegefachperson meldet jede dieser Situationen der                                                    tuation nicht angemessen sind.
   Ärztin oder dem Arzt, sobald sie davon Kenntnis erhält.                                                   Neu- und Wiedereintritt: Vor einem (erneuten) Pflegeheim-
• Die Ärztin oder der Arzt ist dafür verantwortlich, dass die                                                aufenthalt steht häufig ein Spitalaufenthalt (43). Während
   situationsbedingte Medikationsüberprüfung durchge-                                                        eines Spitalaufenthalts werden im Allgemeinen viele The-
   führt wird, wenn eine Situation auftritt.                                                                 rapieänderungen vorgenommen und danach vermehrt PIM

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards                                                                7
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

eingesetzt, wie zwei Schweizer Studien aus dem stationä-
ren respektive ambulanten Bereich gezeigt haben (20, 44).                                                   – Potenziell inadäquate Dosierung (inkl. Dosis, Intervalle,
Bei Neueintritten muss die Medikation erneut systematisch                                                      Zeitpunkte)*
erfasst werden, was eine fehleranfällige Aktivität darstellt                                                – Potenziell inadäquate Therapiedauer*
(45). Daher ist es aus fachlicher und organisatorischer Sicht                                             • Zur Prüfung der * verwendet die Apothekerin oder der
sinnvoll, bei Neu- und Wiedereintritten eine Medikations-                                                   Apotheker eine explizite PIP-Liste.
überprüfung durchzuführen.                                                                                • Die Apothekerin oder der Apotheker erarbeitet konkrete
Verordnung durch eine Spezialistin bzw. einen Spezialisten                                                  Empfehlungen und leitet sämtliche Informationen an die
oder eine andere Ärztin bzw. einen anderen Arzt: Es kann                                                    Ärztin oder den Arzt und eine designierte Pflegefachper-
für Spezialistinnen und Spezialisten oder für im Notfall hin-                                               son weiter.
zugezogene Ärztinnen und Ärzte herausfordernd sein, die                                                   • Wenn bei der regelmässigen Überprüfung keine Apothe-
Gesamtsituation der Bewohnerin oder des Bewohners zu                                                        kerin oder Apotheker zur Verfügung steht und bei jeder
erfassen. Daher ist es plausibel, dass die betreuende Ärztin                                                situationsbedingten Überprüfung, liegt die pharmazeuti-
bzw. der betreuende Arzt ebenfalls sicherstellt, dass Thera-                                                sche Prüfung in der Verantwortung der Ärztin oder des
pieänderungen durch die Spezialistin bzw. den Spezialisten                                                  Arztes.
oder durch die Notfallärztin bzw. den Notfallarzt bewohner-
orientiert sind. Ein Editorial (46) und auch zwei Guidelines                                              Pflegerische Beobachtung
(37, 38) unterstreichen diese Rolle der Ärztin oder des Arz-                                              • Die Pflegefachperson macht folgende Beobachtungen:
tes im Falle von «shared care».                                                                             (Verweis QS III)
Sicherheitsbedenken: Diverse Guidelines heben die Sinn-                                                     – Beobachtungen zum Gesundheitszustand (z. B. Ver-
haftigkeit einer Überprüfung der Medikation auf Wunsch der                                                     wirrtheit, Schläfrigkeit, neue Beschwerden, funktionelle
Patientin bzw. des Patienten oder einer Fachperson hervor                                                      Verschlechterung)
(35, 40). Verschiedene Fachpersonen können aufgrund ihres                                                   – Beobachtungen, ob potenziell inadäquate Darrei-
Fachwissens und ihrer Beobachtungen Sicherheitsbeden-                                                          chungsformen und -wege verwendet werden
ken gegenüber der bestehenden Medikation erkennen und                                                       – Beobachtungen, ob Einnahme- oder Anwendungs-
äussern (sog. «speak up»-Verhalten). In der wissenschaftli-                                                    schwierigkeiten bestehen
chen Literatur wird das speak-up Verhalten mehrfach aufge-                                                • Eine dafür qualifizierte Pflegefachperson bewertet die
griffen oder als positiv bewertet (47, 48) und man geht da-                                                 Beobachtungen.
von aus, dass dies zu einer Erhöhung der Patientensicher-                                                 • Die Pflegefachperson leitet diese Informationen an die
heit führen kann (49).                                                                                      Ärztin oder den Arzt weiter und bringt ihr Wissen zu mög-
                                                                                                            lichen Problemlösungen mit ein.

                                                                                                          Medizinische Beurteilung
3.3.2 Qualitätsstandard II:                                                                               • Die Ärztin oder der Arzt geht bei der Beurteilung nach fol-
      Die Medikationsüberprüfung wird                                                                       gender Struktur («AIMS») vor:
      strukturiert durchgeführt.                                                                            • Acute Problems: Die Ärztin oder der Arzt beurteilt, ob
• Dieser Qualitätsstandard gilt sowohl für die regelmässige                                                   akute Probleme mit der Medikation bestehen (z. B. Ne-
  als auch für die situationsbedingte Überprüfung, wenn                                                       benwirkungen, Einnahmeschwierigkeiten).
  auch die Ausführung in einigen Aspekten variieren kann.                                                     – Hierbei werden die Informationen aus der pflegeri-
• Jede Fachperson, welche an der Überprüfung beteiligt ist,                                                     schen Beobachtung und – wenn vorliegend – aus der
  stellt sicher, dass ihr eine vollständige, aktuelle und kor-                                                  pharmazeutischen Prüfung einbezogen.
  rekte Medikationsliste vorliegt.                                                                          • Indication*: Die Ärztin bzw. der Arzt beurteilt, ob die
                                                                                                              Indikation mit der Medikation übereinstimmt, ob also
Pharmazeutische Prüfung                                                                                       eine Unter- oder Überversorgung vorliegt.
• Die Apothekerin oder der Apotheker prüft soweit möglich,                                                  • Misprescribing*: Basierend auf den Informationen aus
  ob eine Fehlversorgung vorliegt:                                                                            der pharmazeutischen Prüfung und der pflegerischen
  – relevante Interaktionen                                                                                   Beobachtung beurteilt die Ärztin oder der Arzt, ob eine
  – Duplikationen von Wirkstoffen oder Wirkstoffgruppen                                                       Fehlversorgung vorliegt:
  – Potenziell inadäquater Wirkstoff*                                                                         – Potenziell inadäquater Wirkstoff*

8   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

                                                                                                             Rationale
    – Potenziell inadäquate Dosierung (inkl. Dosis, Intervall,                                               Ziel der Medikationsüberprüfung ist das Erkennen und Be-
      Zeitpunkt, Darreichungsform und -weg)*                                                                 arbeiten aller Aspekte einer PIP. Es liegt nahe, dass durch
    – Potenziell inadäquate Therapiedauer*                                                                   ein systematisches «Abarbeiten» von potenziellen arznei-
    – Duplikationen von Wirkstoffen oder Wirkstoffgruppen                                                    mittelbezogenen Problemen «blinde Flecken» vermieden
    – relevante Interaktionen                                                                                werden können. Diverse Guidelines greifen diesen Gedan-
  • Solutions: Die Ärztin oder der Arzt erarbeitet Lösungs-                                                  ken auf (24, 27, 39, 50).
    vorschläge (z. B. Alternativen)                                                                          Um PIP zu identifizieren, können implizite und explizite
    – Lösungsvorschläge (aus pharmazeutischer Prüfung                                                        Hilfsmittel eingesetzt werden (13). Implizite PIM-Listen oder
      und pflegerischer Beobachtung) werden mitberück-                                                       Algorithmen leiten die Fachpersonen mittels Fragen oder
       sichtigt.                                                                                             Stichworten an, verschiedene Aspekte einer PIP zu beden-
    – Deprescribing, also das kontrollierte Absetzen oder                                                    ken (13). Das älteste und bekannte implizite Hilfsmittel ist
      Reduzieren von Medikamenten, wird als mögliche Lö-                                                     der Medication Appropriateness Index (MAI) (51). Ein neu-
       sung immer in Betracht gezogen.                                                                       eres Hilfsmittel ist der Good-Palliative Geriatric-Practice
    – Das Prozedere wird festgelegt.                                                                         (GPGP) Algorithmus (52, 53), der auch bereits für die Schweiz
    – Das Follow-up wird über das Monitoring sicherge-                                                       adaptiert wurde (9). Die Anwendung des GPGP-Algorith-
       stellt (Verweis QS III).                                                                              mus ist effektiv, um die Zahl der Medikamente zu reduzie-
• Zur Beurteilung werden der Allgemeinzustand, zudem                                                         ren und den Gesundheitszustand zu optimieren (54).
  Labor, Vitalparameter, Allergien, Alter, Frailty, Komorbidi-                                               Es liegt nahe, dass ein solches Hilfsmittel einfach verständ-
  täten und die Wünsche und Bedürfnisse der Bewohnerin-                                                      lich und schnell anwendbar sein muss, damit es in der Praxis
  nen und Bewohner mitberücksichtigt (Verweis QS V).                                                         angewendet wird. Ausserdem soll es der üblichen Vorge-
• Zur Beurteilung der * verwendet die Ärztin und der Arzt                                                    hensweise von Ärztinnen oder Ärzten und Apothekerinnen
  eine explizite PIP-Liste.                                                                                  oder Apothekern entsprechen. Der MAI enthält viele Fragen
                                                                                                             und entspricht deshalb nicht den genannten Kriterien. Der
Rahmenbedingungen/Durchführung                                                                               adaptierte GPGP-Algorithmus nach Neuner-Jehle ist kurz
• Die regelmässige Überprüfung beinhaltet mindestens je                                                      und prägnant, greift aber nicht explizit alle Aspekte einer
  einen persönlichen Austausch                                                                               PIP (z. B. Duplikationen) und möglicher Lösungsvorschläge
  – zwischen Ärztin bzw. Arzt und Pflegefachperson (Ver-                                                     auf. Daher wurde für diesen Qualitätsstandard ein struktu-
     weis QS IV)                                                                                             riertes Vorgehen nach AIMS erarbeitet.
  – zwischen der Ärztin bzw. dem Arzt oder einer von ihr                                                     Zur konkreten Identifikation von PIP können auch explizite
     bzw. ihm designierten Fachperson und der Bewoh-                                                         Hilfsmittel eingesetzt werden. Diese Listen führen konkre-
     nerin bzw. dem Bewohner, in dem die Ergebnisse der                                                      te Wirkstoffe auf, welche mit einer Medikation abgeglichen
     Überprüfung mit der Bewohnerin bzw. dem Bewohner                                                        werden können. Sie adressieren oft das Thema PIM (PIM-
     besprochen werden (Verweis QS V).                                                                       Listen wie Priscus-Liste (55), Forta-Liste (56), Norgep-NH
• Bei der regelmässigen Überprüfung muss mindestens                                                          (57)), einige aber auch zusätzliche Aspekte einer PIP wie Un-
  ein Teilschritt (z. B. das Festlegen des Prozedere) im Pfle-                                               ter- oder Überversorgung (PIP-Listen, z. B. STOPP/START
  geheim vor Ort durchgeführt werden, um den oben ge-                                                        (58), PIM-Check (59)). Interventionsstudien zu Medication
  nannten Austausch zwischen Ärztin oder Arzt und Pfle-                                                      Reviews verwenden in der Regel eine solche explizite Liste
  gefachperson in die Routine einzubinden.                                                                   (41, 60). Gemäss einer aktuellen Übersichtsarbeit gibt es ei-
• Im Gegensatz zur regelmässigen Überprüfung können                                                          ne wachsende positive Evidenz, dass der Einsatz einer PIM-
  bei der situationsbedingten Überprüfung Ort und Form                                                       oder PIP-Liste die Medikation (z. B. Anzahl PIM) und klini-
  des Austausches variieren und werden der jeweiligen Si-                                                    sche Endpunkte (z. B. Stürze) optimieren kann, wobei die
  tuation angepasst.                                                                                         Evidenz pro Liste meist immer noch ungenügend ist (61).
                                                                                                             Deprescribing beschreibt ein durch Fachpersonen über-
                                                                                                             wachtes Absetzen oder Reduzieren von Medikamenten mit
                                                                                                             dem Ziel, die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner
                                                                                                             zu verbessern (62). Eine Metaanalyse kommt zum Schluss,
                                                                                                             dass PIP, Mortalität und Stürze reduziert werden können,
                                                                                                             wenn ein deprescribing-fokussierter Medication Review
                                                                                                             durchgeführt wird (63). Für ein Deprescribing kommen in-

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards                                                             9
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

adäquate oder unnötige Verschreibungen (PIM und Überver-
sorgung) in Frage. PIM werden bei 79,1 % der Schweizer                                                     • Sicherstellung, dass obige Informationen den Pflegefach-
Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohner eingesetzt (12)                                                         personen kommuniziert werden.
und in einer Studie der Westschweiz wurden bei 329 Patien-                                                 • Überwachung des gewünschten therapeutischen Effekts
tinnen und Patienten 56 Medikamente ohne Indikation iden-                                                    sowie potenzieller Nebenwirkungen. Die von der Pflege-
tifiziert (14). Bedenken über die gesundheitlichen Folgen des                                                fachperson weitergeleiteten Beobachtungen werden da-
Absetzens sind sowohl bei Fachpersonen (64, 65) als auch                                                     bei einbezogen.
bei Patientinnen und Patienten (66) ein Hindernis für Depre-
scribing. Eine zunehmende Anzahl neuer Studien zeigt je-                                                   Aufgaben Pflegefachperson
doch, dass Deprescribing nicht zu einem verschlechterten                                                   • Sicherstellung, dass die von der Ärztin oder dem Arzt
Gesundheitszustand führten (54, 67).                                                                         kommunizierten Beobachtungshinweise dokumentiert
Da die Medikationsüberprüfung unterschiedliche fachspezi-                                                    werden.
fische Kenntnisse und Kenntnisse über die Bewohnerinnen                                                    • Überwachung des allgemeinen Gesundheitszustandes
und Bewohner voraussetzt, ist es sinnvoll, dass jede Fach-                                                   und möglicher Nebenwirkungen gemäss von der Ärztin
person ihre Kompetenzen einbringt. Übersichtsarbeiten zei-                                                   oder dem Arzt kommunizierten Beobachtungshinweisen.
gen teilweise positive Resultate von apothekergeleiteten In-                                               • Umsetzung des durch die Ärztin oder den Arzt festgeleg-
terventionen auf die Medikation in Pflegeheimen (68–70).                                                     ten Prozedere beim Auftreten von potenziellen Nebenwir-
Der Einbezug der Pflege in Medication Reviews ist wenig                                                      kungen (z. B. Reservemedikament verabreichen, soforti-
untersucht. Eine Studie aus Schweden verglich Medication                                                     ge Kontaktaufnahme mit der Ärztin oder dem Arzt).
Reviews mithilfe von Clinical Decision Support Systemen                                                    • Beobachtungen, ob potenziell inadäquate Darreichungs-
(CDSS) gegenüber Reviews durch Pflegefachpersonen.                                                           formen und -wege verwendet werden.
Die Ergebnisse zeigten, dass Pflegefachpersonen im Ver-                                                    • Beobachtungen, ob Einnahme- oder Anwendungsschwie-
gleich zum CDSS zusätzliche arzneimittelbezogene Proble-                                                     rigkeiten bestehen.
me identifizierten (71). Das deutet darauf hin, dass sie über                                              • Schriftliche Dokumentation der obigen Beobachtungen
sehr spezifisches Wissen über Bewohnerinnen und Bewoh-                                                       für die regelmässige Überprüfung.
ner verfügen, die ein Computersystem nicht hat.                                                            • Kenntnis der Situationen, in welchen eine situationsbe-
                                                                                                             dingte Überprüfung notwendig ist, und Information an die
                                                                                                             Ärztin oder den Arzt, falls diese eintreten (Verweis QS I).

3.3.3 Qualitätsstandard III:
      Die Medikation wird strukturiert                                                                     Rationale
      monitorisiert.                                                                                       Das Monitoring wird als fester Bestandteil im Medikations-
Folgende Arbeitsschritte werden von den jeweiligen Fach-                                                   prozess gesehen (72). Es dient grundsätzlich der Sicher-
personen durchgeführt:                                                                                     stellung, dass die medikamentöse Therapie das Problem
                                                                                                           der Patientin oder des Patienten gelöst hat, also effektiv ist,
Aufgaben Ärztin oder Arzt                                                                                  oder ob unerwünschte Effekte auftreten (73). Das Monito-
• Jede Änderung der Medikation inkl. Neuverordnung er-                                                     ring findet daher in den DEGAM- und NICE-Leitlinien sowie
  fordert die Festlegung von:                                                                              in diversen anderen Guidelines Berücksichtigung (23, 24,
  – einem Start- sowie Stoppdatum oder Datum der                                                           36, 73).
     nächsten Re-Evaluation. Die Re-Evaluation erfolgt spä-                                                Vermeidbare UAE sind häufig auf eine unzureichende Thera-
     testens bei der nächsten regelmässigen Medikations-                                                   pieüberwachung zurückzuführen. In einer prospektiven Stu-
     überprüfung (Verweis QS I).                                                                           die in zwei Langzeitpflegeeinrichtungen in den USA und in
  – weiteren Massnahmen zur Therapieüberwachung (z.B.                                                      Kanada wurde die Inzidenz von UAE erhoben. Pro 100 Be-
     Labor, EKG, Minimentaltest) mit Datum, falls nötig.                                                   wohnermonate traten 9,8 UAE auf, davon wurden 42 % als
  – Beobachtungshinweisen zu wichtigen Nebenwirkun-                                                        potenziell vermeidbar eingestuft. Diese wurden hauptsäch-
     gen, worauf aufgrund der geänderten Medikation ge-                                                    lich auf Fehler bei der Therapieüberwachung zurückgeführt,
     achtet werden muss.                                                                                   v. a. auf eine unzureichende Monitorisierung von Laborwer-
  – einem Prozedere im Fall von auftretenden Nebenwir-                                                     ten sowie keine oder zu späte Reaktion auf auffällige Sym-
     kungen (z. B. Reservemedikation, Ärztin oder Arzt kon-                                                ptome (74). In einer weiteren prospektiven Studie in zwei
     taktieren).                                                                                           deutschen Altersheimen konnte als Ursache von UAE ein

10   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

unzureichendes Monitoring der Arzneimitteleffekte nachge-                                                    tation abhängt (79). Eine bessere Dokumentation ist aus
wiesen werden (75). Für eine sicherere Medikation ist daher                                                  Sicht von Fachpersonen auch wichtig, um Spitaleintritte zu
das strukturierte Monitoring von wesentlicher Bedeutung.                                                     vermeiden (80).
Da Symptome und Veränderungen des Allgemeinzustands
aufgrund von Nebenwirkungen häufig erst im zeitlichen Ver-
lauf auftreten, müssen diese kontinuierlich beobachtet und,
wenn aufgetreten, an die zuständige Ärztin oder den zu-                                                      3.3.4 Qualitätsstandard IV:
ständigen Arzt weitergeleitet werden (76). Besonders für die                                                       Alle Fachpersonen engagieren sich
Pflegepersonen ist es jedoch nicht immer einfach, Neben-                                                           für eine optimale interprofessionelle
wirkungen als solche zu erkennen. In einer Befragung von                                                           Zusammenarbeit.
408 Pflegefachpersonen und Pflegehilfen in den Niederlan-                                                    • Die Fachpersonen kennen einander.
den wurden fehlende Informationen zu Nebenwirkungen                                                          • Die Kompetenzen der anderen involvierten Fachpersonen
sowie ungenügendes Wissen zu Nebenwirkungen als wich-                                                          sind bekannt und werden respektiert.
tige Barrieren für ein effektives Monitoring angegeben (77).                                                 • Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten aller involvierten
In mehreren Pflegeheimen in England wurden die Mach-                                                           Fachpersonen im Medikationsprozess sind definiert und
barkeit und Effekte eines durch Pflegefachpersonen ange-                                                       allen bekannt.
wendeten Screening-Tools zur Identifizierung von Neben-                                                      • Für jede Bewohnerin und jeden Bewohner wird von allen
wirkungen von Psychopharmaka untersucht. Durch die An-                                                         Fachpersonen ein gemeinsames Behandlungsziel festge-
wendung des Tools konnten mehr arzneimittelbezogene                                                            legt und verfolgt.
Probleme identifiziert werden als ohne Tool (78). In der deut-                                               • Es wird eine offene Kommunikationskultur zwischen allen
schen AMPEL-Studie erfolgte eine schriftliche Dokumen-                                                         Fachpersonen gelebt, d. h. sie teilen Wissen, äussern ge-
tation von neu aufgetretenen klinischen Symptomen mit-                                                         genseitig Bedenken und geben Feedback.
tels eines Therapiebeobachtungsbogens. Die Symptome                                                          • Hinweise, Bedenken und Informationen (z. B. zur Sicher-
wurden dann im Verlauf mit einer Apothekerin oder einem                                                        heit und Behandlung, zum Gesundheitszustand) anderer
Apotheker diskutiert. Anschliessend erfolgte eine Informa-                                                     Fachpersonen werden ernst genommen und bei den ei-
tion an die zuständige Ärztin oder den zuständigen Arzt mit                                                    genen Aufgaben einbezogen.
einer konkreten Handlungsempfehlung. Der Therapiebeob-                                                       • Die Kommunikationswege (wie/wer/wann/wo) zwischen
achtungsbogen wurde von Pflegepersonal und Apotheke-                                                           den Fachpersonen sind festgelegt.
rinnen und Apothekern als hilfreiches Instrument zur Beob-                                                   • Die Fachpersonen gewährleisten, dass sie innert nützlicher
achtung der Bewohnerinnen und Bewohner eingeschätzt,                                                           Frist für andere Fachpersonen erreichbar sind.
allerdings gab ein relevanter Teil der Teilnehmenden an, den                                                 • Die gemeinsam durchgeführten Prozessschritte sind op-
Bogen nach Studienende nicht weiter benutzen zu wollen                                                         timal organisiert, d. h. beispielsweise ein Termin für ein ge-
(75). Ob und mit welchem Hilfsmittel die Pflegefachperso-                                                      meinsames Bewohnergespräch wurde festgelegt, die Visi-
nen das Monitoring effizient und zielsicher im Alltag umset-                                                   te wurde vorbereitet.
zen können, ist demnach nicht abschliessend geklärt. Es                                                      • Es werden interprofessionelle Austauschgefässe geschaf-
erscheint jedoch sinnvoll, dass das Wissen der Pflegefach-                                                     fen und genutzt, z. B. regelmässige interprofessionelle
personen zu Nebenwirkungen, z. B. mittels Fortbildungen,                                                       Teamsitzungen zu organisatorischen und klinischen The-
verbessert werden sollte.                                                                                      men, Qualitätszirkel.
Schlüssel zur Sicherstellung einer korrekten Monitorisierung                                                 • Die Heimleitung bestimmt eine Person aus dem Behand-
der vereinbarten Massnahmen sowie deren Effekte und ei-                                                        lungsteam, die zur Förderung der interprofessionellen Zu-
nem angemessenen Medikamentenabgleich zwischen den                                                             sammenarbeit Massnahmen initiiert und deren Umset-
Fachgruppen ist eine gute Dokumentation. Auch in nicht-                                                        zung sicherstellt.
konsensbasierten Guidelines zur Überprüfung der Medi-
kation wird die Wichtigkeit der Dokumentation aufgegrif-
fen (31). In einer retrospektiven Studie zu Faktoren, die zu
schwerwiegenden UAE wie Medikationsfehlern, Stürzen,
verpassten oder unangemessenen Interventionen in Pflege-
heimen führen, zeigte sich, dass die Sicherheit der Bewoh-
nerinnen und Bewohner von einer angemessenen Dokumen-

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards                                                               11
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

Rationale                                                                                                  die Diskussion von aggregiert analysierten Medikationsda-
Im Zentrum der interprofessionellen Zusammenarbeit ste-                                                    ten in interprofessionellen Qualitätszirkeln erreicht werden,
hen die Bewohnerinnen und Bewohner, da alle im Medika-                                                     welche im Kanton Freiburg eingeführt wurden (99, 100).
tionsprozess involvierten Fachpersonen gemeinsam mit ih-                                                   Gemäss einer Übersichtsarbeit wirkt sich auch in Pflegehei-
nen das gleiche Ziel verfolgen (81).                                                                       men eine suboptimale interprofessionelle Zusammenarbeit
Die Präzisierungen wurden unter Berücksichtigung der Mo-                                                   negativ auf die Medikationssicherheit der Bewohnerinnen
delle von D’Amour (82) und Gerber (81) definiert. Ausserdem                                                und Bewohner aus (101). In einem systematischen Review zu
sind gemäss Müller et al. folgende Aspekte zur Verbesse-                                                   interprofessionellen Interventionen in Pflegeheimen konnte
rung der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen                                                      gezeigt werden, dass eine verbesserte interprofessionelle
Ärztinnen und Ärzten und Pflegefachpersonen in Pflegehei-                                                  Zusammenarbeit und Kommunikation (z. B. Teambesprechun-
men wichtig: gegenseitige Erreichbarkeit; dass Termine für                                                 gen oder Schulung in Teamarbeit und Kommunikationsfähig-
den nächsten Arztbesuch festgelegt sind; deren Vorberei-                                                   keit) insgesamt einen positiven Einfluss auf unterschiedliche
tung, Begleitung und Nachbereitung sowie die klare Defini-                                                 primäre Outcomes der Bewohnerinnen und Bewohner hat-
tion von Aufgaben (83). In einer Mixed-Method Studie in 26                                                 te (69). Die Beteiligung der Hausärztin bzw. des Hausarztes
Pflegeheimen in Conneticut wurde ein Kommunikationsmo-                                                     und/oder einer Apothekerin bzw. eines Apothekers an der
dell zwischen Ärztinnen und Ärzten und Pflegefachpersonen                                                  Intervention sowie die Kommunikation und Koordination im
erarbeitet (84). Dieses beinhaltet ebenfalls Faktoren einer                                                Team waren konsistente Merkmale erfolgreicher Interventio-
offenen und klar strukturierten Kommunikation. Weissen-                                                    nen (69). In einem systematischen Review führten interpro-
born identifizierte potentielle Erfolgsindikatoren für Projekte                                            fessionell durchgeführte Interventionen zu einer Optimie-
zur Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und                                                      rung der Medikationsverordnungen von Pflegeheimbewoh-
Apothekerinnen bzw. Apothekern in Deutschland (85). Als                                                    nerinnen und -bewohnern, jedoch nicht zu Veränderungen
Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Zusammenarbeit                                                      der klinischen Outcomes (102). Weitere nationale (14) und
wurden unter anderem die Kenntnisse der Kompetenzen der                                                    internationale Studien und Übersichtsarbeiten (68, 75, 103–
anderen, ein offenes Miteinander und die Etablierung ge-                                                   107) zeigten, dass eine interprofessionelle Zusammenarbeit
meinsamer Informationsveranstaltungen postuliert. In einem                                                 zu positiven Ergebnissen bei der Identifikation und Lösung
vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebenen Be-                                                      arzneimittelbezogener Probleme führt.
richt zur Interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen                                                     Häufig ist die Interprofessionalität Teil von multimodalen In-
Apothekerinnen und Apothekern und anderen universitären                                                    terventionsarten, wie z. B. Fortbildungen, Implementierung
Medizinalpersonen und/oder Gesundheitsfachpersonen                                                         von Tools, multidisziplinären Fallbesprechungen, Medika-
werden eine klare Definition der Aufgaben und Verteilung der                                               tionsüberprüfung durch verschiedene Fachpersonen usw.
Rollen sowie klar definierte Verantwortlichkeiten und das                                                  Kombinierte Interventionsstrategien sind gemäss Logana-
Follow-up als wichtige Faktoren deklariert (86). Diese Rol-                                                than et al. (103) für ein besseres Outcome wahrscheinlich er-
len und Aufgaben werden in einem Artikel von Levenson et                                                   forderlich. Es gibt bisher jedoch ungenügende Evidenz, wel-
al. ausführlich dargelegt (87).                                                                            che Umstände und welche Form der interprofessionellen Zu-
Wie stark die einzelnen Faktoren jedoch im Rahmen der in-                                                  sammenarbeit zu einer qualitativ besseren Patientenversor-
terprofessionellen Zusammenarbeit wirken und mit welcher                                                   gung führen, da es nur wenige Forschungsarbeiten zu Pa-
Relevanz, konnte in bisherigen Studien noch nicht ausrei-                                                  tientenoutcomes und zum Kosten-Nutzenverhältnis gibt (81).
chend belegt werden (88, 89). Grundsätzlich kann gesagt                                                    Im Rahmen des Vertiefungsprojektes «progress! Sichere
werden, dass eine schlechte Kommunikation und Zusam-                                                       Medikation in Pflegeheimen» werden zur Optimierung der
menarbeit zwischen medizinischen Fachpersonen häufig                                                       interprofessionellen Zusammenarbeit die folgenden Inter-
als einer der Hauptfaktoren für unerwünschte Ereignisse                                                    ventionen gewählt:
bei der Patientensicherheit gesehen werden (89–91). Zum                                                    • Strukturierung der Medikationsprozesse
Erreichen einer effizienten, sicheren und qualitativ hochwer-                                              • Medikationsüberprüfung durch Fachpersonen verschie-
tigen Patientenversorgung ist daher die Zusammenarbeit von                                                    dener Berufsgruppen
medizinischem Fachpersonal aus verschiedenen Diszipli-                                                     • Gemeinsames Monitoring
nen entscheidend (92–94). Zudem erhöht die Interprofessi-                                                  • Implementierung von gemeinsamen Hilfsmitteln wie z. B.
onalität in der Gesundheitsversorgung die Arbeitszufrieden-                                                   PIP-Liste
heit der involvierten Personen sowie die Zufriedenheit der                                                 • Interprofessionelle Standortbestimmung
Patientinnen und Patienten und reduziert Gesundheitskos-                                                   • Fortbildung
ten (92, 95–98). Eine Kostenreduktion konnte auch durch

12   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
3 Qualitätsstandards  3.3 Definition der Qualitätsstandards

                                                                                                             bewohnerzentrierten Versorgung (112). Das Bedürfnis von
3.3.5 Qualitätsstandard V:                                                                                   Patientinnen und Patienten nach Informationen und einem
      Die Bewohnerinnen und Bewohner werden                                                                  aktiven Einbezug in die Behandlungsentscheidungen ist je-
      aktiv in den Medikationsprozess einbezogen.                                                            doch unterschiedlich ausgeprägt. Während gewisse Patien-
• Die Fachpersonen ermutigen die Bewohnerinnen und Be-                                                       tinnen und Patienten primär gut informiert sein wollen, wol-
  wohner und die Angehörigen, ihre Bedürfnisse, Beden-                                                       len andere auch aktiv mitentscheiden können. In Bezug auf
  ken und Veränderungen des Gesundheitszustandes zu                                                          die medikamentöse Behandlung zeigte beispielsweise eine
  kommunizieren.                                                                                             Studie in der finnischen und maltesischen Allgemeinbevöl-
• Die Bedürfnisse und Präferenzen der Bewohnerin oder                                                        kerung, dass ca. 60 % der Patientinnen und Patienten ver-
  des Bewohners werden bei der Erarbeitung der Behand-                                                       schiedene medikamentöse Behandlungsoptionen diskutie-
  lungsoptionen mitberücksichtigt.                                                                           ren möchten, ca. 50 % möchten die Auswahl der Medika-
• Die Fachpersonen ermöglichen, dass sich die Bewohne-                                                       mente diskutieren und ca. 40 % möchten die Entscheidung
  rinnen und Bewohner am Behandlungsentscheid beteili-                                                       zusammen mit der Ärztin oder dem Arzt treffen (113). Der
  gen können.                                                                                                Einbezug in den Medikationsprozess sollte deshalb ent-
• Die Bewohnerinnen und Bewohner erhalten ausreichend                                                        sprechend den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Bewoh-
  und verständliche Informationen, damit sie sich am Be-                                                     nerin oder des Bewohners individuell gestaltet werden. Ge-
  handlungsentscheid beteiligen können.                                                                      mäss den NICE Guidelines sollen Bewohnende von Pflege-
• Die Fachpersonen stellen sicher, dass die Bewohnerin                                                       heimen dieselben Möglichkeiten erhalten wie Personen, die
  oder der Bewohner die Informationen verstanden hat.                                                        nicht in einem Pflegeheim wohnen, sich an Entscheidungen
• Bei nicht-urteilsfähigen Bewohnerinnen und Bewohnern                                                       zu ihrer Therapie und Behandlung zu beteiligen. Dabei sol-
  wird für sämtliche oben genannten Aktivitäten die medizi-                                                  len sie von den Fachpersonen darin unterstützt werden, in-
  nisch vertretungsberechtigte Person einbezogen.                                                            formierte Entscheidungen zu treffen (23).

Rationale
Das Konzept der bewohnerzentrierten Versorgung stellt die
Bewohnerin bzw. den Bewohner als Person und ihre bzw. sei-
ne Erfahrungen, Bedürfnisse und Präferenzen ins Zentrum
der medizinischen Behandlung. Die bewohnerzentrierte Ver-
sorgung wird als einer der Eckpfeiler einer qualitativ hoch-
stehenden Gesundheitsversorgung angesehen (108). Studi-
en zeigen gemischte Effekte einer patientenzentrierten Ver-
sorgung auf die Patientenzufriedenheit, das Gesundheits-
verhalten und gesundheitsbezogene Outcomes, wobei die
Vielfalt an Studiendesigns und konzeptionellen Definitionen
die Stärke der Evidenz einschränken (109, 110).
Die bewohnerzentrierte Versorgung beinhaltet verschiede-
ne, sich überschneidende Dimensionen. Die Dimensionen
können grob in drei Aspekte eingeteilt werden: das Verständ-
nis für die Situation der Bewohnerinnen und Bewohner, die
Beziehung zwischen ihnen und Fachpersonen sowie die ko-
ordinierte oder integrierte Versorgung innerhalb des Ge-
sundheitssystems (111). Gemäss dem integrativen Modell
von Scholl et al. gehören der wechselseitige Informations-
austausch zwischen der Fachperson und der Bewohnerin
oder dem Bewohner, deren aktive Einbezug in die Behand-
lung und die Entscheidungsfindung, die Information und
der Einbezug von Angehörigen und anderen nahestehen-
den Personen, Patienten-Empowerment und physische und
emotionale Unterstützung zu den zentralen Aktivitäten einer

Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards                                                           13
4 Delphi-Verfahren

4.1 Ziel                                                                                                   Folgende Expertinnen und Experten konnten für das Delphi
                                                                                                           rekrutiert werden:
Das methodische Vorgehen für die Entwicklung und Präzi-                                                    1. Dr. Gaby Bieri, Chefärztin Geriatrischer Dienst,
sierung der fünf Qualitätsstandards wird im Kapitel 3.2 be-                                                    Ärztliche Direktorin, Pflegezentren Stadt Zürich
schrieben. Ziel der Delphi-Bewertung war es, einen Konsens                                                 2. Mélanie Brulhart, Pharmacienne-cheffe adjointe de la
zur Relevanz der Präzisierungen unter Expertinnen und Ex-                                                      Pharmacie interjurassienne, Responsable de l’Officine
perten zu finden. Beurteilt wurde die Wirkungsbeziehung zwi-                                                   publique, Moutier
schen den Vorgaben der Qualitätsstandards und dem Pro-                                                     3. Prof. Dr. med. Alessandro Ceschi, FMH Farmacolo-
grammziel. Diese Wirkungsbeziehung ist aus der Literatur                                                       gia e tossicologia clinica, FMH Medicina interna gene-
nicht eindeutig abzuleiten und bedurfte darum einer Absi-                                                      rale, Direttore medico e scientifico, Istituto di Scienze
cherung durch entsprechende Expertinnen und Experten.                                                          Farmacologiche della Svizzera Italiana & Presidente
                                                                                                               Commissione terapeutica, Ente Ospedaliero Cantonale
                                                                                                               & Professore titolare, Facoltà di Scienze biomediche,
                                                                                                               Università della Svizzera italiana
4.2 Vorgehen                                                                                               4. Dr. med. Susanne Christen, Fachärztin für Innere
                                                                                                               Medizin und Hämatologie FMH, Hausärztin Praxiszen-
4.2.1 Rekrutierung der Expertinnen und Experten                                                                trum Frick, Leitende Ärztin Hämatologie GZF Spital
Das wichtigste Einschlusskriterium für die Auswahl der Ex-                                                     Rheinfelden
pertinnen und Experten war das fachliche Know-how zur                                                      5. Andreina D’Onofrio, Master es Sciences infirmières,
Medikation von geriatrischen Patientinnen und Patienten.                                                       Coordinatrice du Pôle Accompagnement, Cheffe de
Folgende Berufsgruppen wurden eingeschlossen: Ärztinnen                                                        projet coRAI-EMS, Association vaudoise d’institutions
bzw. Ärzte, Apothekerinnen bzw. Apotheker und Pflegefach-                                                      médico-psycho-sociales (HévivA), Renens
personen. Vertreterinnen und Vertreter der drei Berufsgrup-                                                6. Sabine Felber, Geschäftsleitung Pflege und Betreuung
pen wurden in der Deutschschweiz, der Romandie und dem                                                         & Stv. CEO, Betagtenzentren Emmen AG, Emmen
Tessin rekrutiert. Dabei wurden Personen aus der Wissen-                                                   7. Dr. med. Rolf Goldbach, Leitender Arzt, Arztdienst
schaft sowie Personen mit einer Praxisexpertise berück-                                                        Pflegezentren Stadt Zürich, Zürich
sichtigt. Zusätzlich wurden aus jeder Sprachregion zwei Per-                                               8. Saadet Grandazzo, Leiterin Betreuung und Pflege,
sonen aus dem Bereich Qualitätsmanagement/Patientensi-                                                         Alterszentrum Gellert Hof, Bethesda Alterszentren AG,
cherheit gesucht. Ausgeschlossen waren pensionierte Fach-                                                      Basel
personen. Bei der Rekrutierung wurde folgendermassen vor-                                                  9. Prof. Dr. Blaise Guinchard, Professeur HES associé,
gegangen:                                                                                                      Haute Ecole de la Santé la Source
1. Einbezug von Mitgliedern der Fachbegleitgruppe des pro-                                                 10. Prof. Dr. Kurt Hersberger, Pharmaceutical Care
   gress!-Grundlagenprojekts                                                                                   Research Group, Departement Pharmazeutische
2. Bestehende Kontakte des Programmteams (z. B. Refe-                                                          Wissenschaften, Universität Basel & Inhaber Toppharm
   rentinnen und Referenten, Autorinnen und Autoren, Wis-                                                      Apotheke Hersberger, Basel
   senschaftlerinnen und Wissenschaftler, Praktikerinnen                                                   11. Dr. phil. II Markus L. Lampert, Stv. Chefapotheker,
   und Praktiker) und aus anderen Projekten (z. B. Interview-                                                  Institut für Spitalpharmazie, Solothurner Spitäler AG
   partnerinnen und -partner)                                                                                  & Senior Research Associate, Pharmaceutical Care
3. Bei Berufsgruppen, in denen noch nicht genügend mög-                                                        Research Group, Universität Basel
   liche Expertinnen und Experten identifiziert werden konn-                                               12. Dr. Alexandre Lo Russo, Pharmacien FPH respon-
   ten, wurden passende Fachgesellschaften angefragt                                                           sable Pharmacie du Galicien Prilly, pharmacien
   (Langzeit Schweiz, Kommission für Langzeitgeriatrie der                                                     répondant d’EMS
   SFGG, EQUAM, VPF).                                                                                      13. Martine Ruggli, Pharmacienne répondante d’EMS,
                                                                                                               Formatrice pour la formation complémentaire FPH
                                                                                                               des pharmaciens en assistance pharmaceutique
                                                                                                               d’institutions du système de santé, Coordinatrice des
                                                                                                               projets stratégiques, Direction générale ofac
                                                                                                           14. Prof. Dr. med. Stefan Neuner-Jehle, MPH, Leiter
                                                                                                               Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin, Universität
                                                                                                               und Universitätsspital Zürich

14   Stiftung Patientensicherheit Schweiz · «progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» · Qualitätsstandards
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