QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
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GEFÖRDERT VOM QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG – ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS Erarbeitet von der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt unter Federführung von Christa Henze und Lenelis Kruse-Graumann B I L D U N G | W I S S E N S C H A F T | K U L T U R | K O M M U N I K A T I O N
Vorbemerkung © iStock.com/FangXiqNuo VORBEMERKUNG D ie vorliegende Publikation wurde von der Arbeitsgruppe „Biologische Vielfalt“ erar- beitet. In der Arbeitsgruppe, die im Jahre 2007 Im Jahr 2011 hat die Arbeitsgruppe Biologi- sche Vielfalt ein Grundsatzpapier herausgegeben (Deutsche UNESCO-Kommission 2011). Darin im Rahmen des Runden Tisches der UN-Dekade wurde anhand von vier ausgewählten Schlüs- „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (2005 – selthemen – Vielfalt der Lebensräume, Leistungen 2014) gegründet wurde, arbeiten Akteurinnen und der Natur, Klimawandel und biologische Vielfalt, Akteure aus Wissenschaft und Praxis sowie staat- Konsum und biologische Vielfalt – dargelegt, wie lichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Ein- ein „Lernen von Nachhaltigkeit“ auf mehreren richtungen zusammen. Ziel der gemeinsamen Ar- Ebenen angesiedelt und aus verschiedenen Pers- beit ist zum einen, das Themenfeld „Biologische pektiven betrachtet werden kann. Diese Schlüs- Vielfalt“ verstärkt mit den Anliegen einer Bildung selthemen sind sowohl für einzelne Personen und für eine nachhaltige Entwicklung zu verknüpfen. ihr Handeln relevant als auch für verschiedene Zum anderen soll Bildung für eine nachhaltige gesellschaftliche Gruppen, für politische Organi- Entwicklung mit dem Bildungsschwerpunkt der sationen und Verwaltungen, für Unternehmen und Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt Verbände. (BMU 2007) sowie der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“ (2011 – 2020) verbunden werden. Biolo- Ein Ergebnis der weiteren Arbeit stellt die vorlie- gische Vielfalt umfasst die Artenvielfalt, die gene- gende Publikation dar. Von besonderer Bedeutung tische Vielfalt innerhalb der Arten und die Vielfalt sind dabei zehn Bildungs- und Handlungsange- der Lebensräume. Neben dem Schutz der biolo- bote, die – bis auf wenige Ausnahmen – von Mit- gischen Vielfalt geht es dabei auch um ihre nach- gliedern der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt haltige Nutzung sowie den gerechten Zugang zu entwickelt und/oder durchgeführt wurden. ihren Ressourcen und einen gerechten Ausgleich von Vor- und Nachteilen aus dieser Nutzung. 3
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung Der Ausdruck QUERBEET, der dieser Publikati- Mit der vorliegenden Publikation ist der Wunsch on den Titel gibt, soll einerseits die Vielfalt von verbunden, eine Orientierungshilfe zu geben, die gesellschaftlichen Gruppen, Bildungs- und Hand- einerseits die Gefährdung von biologischer Vielfalt lungsangeboten sowie Lernorten symbolisieren und ihre Vernetzung mit anderen nicht nachhalti- und auf verschiedene Zugänge einer Bildung für gen Entwicklungen verdeutlicht und andererseits eine nachhaltige Entwicklung verweisen. Die um- Möglichkeiten der Bearbeitung und Reflexion für gangssprachliche Redensart „einmal quer durch Bildungsprozesse sowie Handlungsangebote für den Garten“ könnte demnach übersetzt werden „Nachhaltigkeit Lernen“ aufzeigt. Sie kann als als „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – „Biotop für Ideen“ gelesen oder durchgeblättert einmal quer durch verschiedene Bildungsbereiche, werden, das möglicherweise einzelnen Leserinnen Lern- und Erfahrungsorte“. Bewusst sei darauf und Lesern ein vertieftes Verständnis über die hingewiesen, dass QUERBEET nicht in einer um- Zielsetzungen einer Bildung für eine nachhaltige gangssprachlichen Bedeutung von „orientierungs- Entwicklung im Kontext biologischer Vielfalt los“ oder „wahllos“ zu verstehen ist. Über den eröffnet und vielleicht dazu beiträgt, neue Ideen Ausdruck QUERBEET lassen sich andererseits für eigenes pädagogisches Handeln zu generieren. inhaltliche Bezüge zur biologischen Vielfalt her- stellen: So kann ein Landschaftsgefüge assoziiert Das Buch richtet sich an Akteurinnen und Akteu- werden, das aus verschiedenen Parzellen, Arealen re, die an formalen, non-formalen und informellen und Flächen besteht, die mit spezifischen Anfor- Lernorten arbeiten sowie an Multiplikatorinnen derungen verknüpft sind, verschiedenartig genutzt und Multiplikatoren, die die Umsetzung einer Bil- werden können und zugleich in ihrem besonderen dung für eine nachhaltige Entwicklung voranbrin- Wert zu schätzen sind, um diese langfristig nut- gen und damit zur Gestaltung einer nachhaltigen zen und sichern zu können. Somit symbolisiert Entwicklung in der Gesellschaft beitragen wollen. QUERBEET auch die von Menschen gestalteten Nicht zuletzt sei ein deutlicher Dank an die oder genutzten „Beete auf diesem Planeten“. Deutsche UNESCO-Kommission ausgesprochen, die Finanzmittel zum Druck dieser Publikation zur Den „Praxisbeispielen“ wird ein Grundlagentext Verfügung gestellt hat. vorangestellt, der sich am Grundsatzpapier von 2011 orientiert; zentrale Inhalte wurden aktuali- siert und zum Teil grundlegend überarbeitet. © Konrad Bucher, MUZ 4
Inhalt INHALT Vorbemerkung ............................................................................................................................................ 3 Biologische Vielfalt und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung: Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote Christa Henze & Lenelis Kruse-Graumann 1 Einleitung................................................................................................................................................. 6 2 B iologische Vielfalt und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – Ausgangspunkte und Perspektiven......................................................................................................... 8 3 Schlüsselthemen................................................................................................................................... 13 4 Didaktische Herausforderungen und Zugänge einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung........... 32 Literaturverzeichnis................................................................................................................................... 39 PRAXISPROJEKTE Mein Baum! Kita-Kinder erkennen am Thema Wald die Bedeutung der biologischen Vielfalt für uns Menschen .................................................................................................. 44 Beate Kohler Das internationale Wildniscamp – In acht Länderhütten durch Schutzgebiete rund um die Welt ............................................................................................................. 48 Lilian Paul, Natalie Bergholz, Alexander Bittner & Achim Klein um.welt: Klimawandel, Biodiversität und kulturelle Vielfalt ..................................................................... 52 Elisabeth Marie Mars Fruticultura – Eine Freundschaft, die Früchte trägt: Austausch von brasilianischen und deutschen Jugendlichen zum Schutz der biologischen Vielfalt ........................................................ 60 Natalie Bergholz, Lilian Paul & Alexander Bittner Urbane Gärten am Ökologischen Bildungszentrum München – Bildung durch Beteiligung ....................................................................................................................... 64 Caroline Fischer, Christian Suchomel, Konrad Bucher & Franke Feuss Bienenretter – Die Biene als Botschafterin für eine nachhaltige Entwicklung ........................................ 72 Christian Bourgeois Urban Biodiversity Trail – Pflanzenvielfalt im Alltag ................................................................................. 78 Johanna Lochner & Marina Hethke Jugend für Umwelt und Sport (JUUS) – Natürlich sportlich .................................................................... 83 Hans-Joachim Neuerburg McMöhre – Hier schmeckt die Pause! Schülerfirmenprojekt mit regionalen, saisonalen und/oder fair gehandelten Produkten .................................................................................... 88 Birgit Eschenlohr Die Juniorwinzer vom Castellberg: Kinder als Mitgestalter der historischen Weinbaulandschaft .......... 93 Franz Höchtl & Sebastian Schwab Mitglieder der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt..................................................................................... 98 Impressum................................................................................................................................................ 99 5
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG: GRUNDLAGEN, SCHLÜSSELTHEMEN UND ZUGÄN- GE FÜR BILDUNGSANGEBOTE Christa Henze & Lenelis Kruse-Graumann 1 EINLEITUNG Der Mensch kann niemals wider die D ie Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung gehört zu den wichtigsten politischen Aufga- ben des 21. Jahrhunderts. Nachhaltige Entwicklung Entwicklung als eine Entwicklung definiert, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eige- Natur handeln, ist die Antwort auf die Herausforderungen des nen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff sondern nur mit ihr globalen Wandels, der durch ökologische, ökono- 1987: 42). agieren. mische und soziokulturelle Kernprobleme zu cha- Hans Carl von Carlowitz rakterisieren ist (vgl. Abb. 1 und 2). Dazu gehören Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesre- (1645 – 1714) insbesondere die zunehmende Verflechtung von gierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) globalen Umweltveränderungen, die ökonomische verweist seit seinem ersten Gutachten 1993 immer Globalisierung, weltweiter kultureller Wandel, ein wieder deutlich auf die globalen Bedrohungen: Nord-Süd und West-Ost-Gefälle sowie wachsen- „Erstmals in der Geschichte wirkt sich menschli- de Disparitäten innerhalb der Länder. Bereits im ches Handeln auf die Erde als Ganzes aus. Die dar- Brundtland Bericht (1987) wird eine nachhaltige aus resultierenden globalen Umweltveränderungen Abb. 1: Kernprobleme des globalen Wandels: Zerstörung des Tropi- schen Regenwaldes im Amazonasgebiet... © iStock.com/Iuoman 6
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote bestimmen das Verhältnis der Menschheit zu ihren für die „alten“ Industriemetropolen bedeutet dies natürlichen Lebensgrundlagen völlig neu. Dieser eine Verringerung von 80 - 90 % (vgl. Fücks 2012: in seiner Geschwindigkeit einzigartige, vielfach 18). Immer häufiger wird erkannt und anerkannt, bedrohliche Transformationsprozess, der als ‚Glo- dass es umfassender Transformationen nicht-nach- baler Wandel’ bezeichnet wird, kann nur verstanden haltiger Lebensstile bedarf, die in den verschiede- werden, wenn die Erde als ein System begriffen nen Kulturen und Gesellschaften ganz unterschied- wird.“ (WBGU 1996: 35) lich eingeleitet werden müssen. Mit seinem weithin beachteten Gutachten 2011 fordert der WBGU eine Derzeit wird vor allem über den Klimawandel ge- Große Transformation zu einer nachhaltigen (insbe- redet und verhandelt. Doch weitere Kernprobleme sondere auch klimaverträglichen) Gesellschaft. Es wie der Verlust der biologischen Vielfalt, globale werden global wirksame Lösungsansätze gefordert, Wasserfragen, Bodendegradation, Bevölkerungs- für die ein umfassender „Gesellschaftsvertrag“ zwi- entwicklung und ungleiche Verteilung von Le- schen Wissenschaft und Gesellschaft vorausgesetzt benschancen, Weltgesundheit und -ernährung, die wird. Auf diese Weise soll ein weltweiter Such- und Globalisierung der Wirtschaft (und die bisher auf Gestaltungsprozess für eine nachhaltige Entwick- permanentes Wachstum angelegte Wirtschaftsord- lung auf allen Ebenen (global, regional, kommunal nung) oder der Verlust der kulturellen Vielfalt sowie und letztlich auch individuell) realisiert werden, für vor allem die Wechselwirkungen zwischen diesen den die Mitwirkung aller Akteure aus Wissenschaft, Problemen machen insgesamt den globalen Wandel Wirtschaft, Politik, Bildung und vielen anderen ge- aus (vgl. Rockström et al. 2009). Dieser bedroht sellschaftlichen Handlungsfeldern gefragt ist. die Lebensgrundlagen der Menschheit sowie die Lebensqualität vieler Menschen und Gesellschaf- Obwohl bereits mit der Agenda 21 bei der Konfe- ten in unterschiedlichem Maße – und zugleich renz in Rio 1992 formuliert, wurde erst mit dem die Lebensgrundlagen anderer Spezies auf diesem Weltgipfel zur nachhaltigen Entwicklung in Johan- Planeten. nesburg 2002 Bildung als wichtiges Instrument für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Entwicklung Zur Bewältigung dieser globalen Herausforderun- hervorgehoben und durch die Entscheidung der gen und zur Gestaltung nachhaltiger Entwicklungs- UN-Vollversammlung für eine Weltdekade „Bil- prozesse werden derzeit verschiedene Wege und dung für nachhaltige Entwicklung“ (2005 – 2014) Instrumente diskutiert. So verlangt beispielsweise gestärkt. der Klimawandel eine Halbierung der globalen CO2-Emissionen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts; Abb. 2: … und fehlende Bildungs- und Lebens- chancen für Kinder im größten Slumgebiet von Freetown/Sierra Leone © iStock.com/Abenaa 7
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung 2 BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG – AUSGANGSPUNKTE UND PERSPEKTIVEN A nlässlich der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 wurde das Übereinkommen über die biologische sammlung der Vereinten Nationen entschieden, in den Jahren 2015 − 2019 ein Weltaktionsprogramm (WAP) „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ Vielfalt (CBD) verabschiedet. Dabei umfasst „bio- umzusetzen. Dieses Weltaktionsprogramm und logische Vielfalt“ die Artenvielfalt, die genetische seine Prioritäten wurden auf der Basis breiter Vielfalt innerhalb der Arten und die Vielfalt der Konsultationen der Mitgliedsstaaten und vieler Ökosysteme. In diesem Übereinkommen wird weiterer Akteure erarbeitet. Das übergreifende neben dem Schutz der biologischen Vielfalt auch Ziel des Entwurfs des Weltaktionsprogramms ihre nachhaltige Nutzung sowie der gerechte Zu- (UNESCO 2014: 1) liegt darin, „auf allen Ebenen gang zu ihren Ressourcen und ein gerechter Aus- und in allen Bereichen von Bildung und Lernen gleich von Vor-und Nachteilen aus dieser Nutzung Handlungen anzustoßen und zu intensivieren, die gefordert. geeignet sind, den Fortschritt hin zu einer nach- haltigen Entwicklung zu beschleunigen“ (Arbeits- In Deutschland wurde dieses Übereinkommen übersetzung der Deutschen UNESCO-Kommis- im November 2007 als Nationale Strategie zur sion 2013). Internationale Kooperationen spielen biologischen Vielfalt (NBS) umgesetzt. Ziel der hierbei eine wichtige Rolle (vgl. Henze & Adom- nationalen Strategie ist es, „alle gesellschaftlichen ßent 2014). Kräfte zu mobilisieren und zu bündeln, so dass sich die Gefährdung der biologischen Vielfalt Die internationale Halbzeitkonferenz zur UN-De- in Deutschland deutlich verringert, schließlich kade in Bonn (2009) hob die Bedeutung der Siche- ganz gestoppt wird und als Fernziel die biolo- rung der biologischen Vielfalt als Bildungsaufga- gische Vielfalt einschließlich ihrer regionaltypi- be für die Weltgesellschaft hervor. In der „Bonner schen Besonderheiten wieder zunimmt“ (BMU Erklärung“ der Weltkonferenz wird biologische 2007: 7). Bisher konnten Gefährdungspotenzi- Vielfalt zudem als Schlüsselthema aufgeführt ale der biologischen Vielfalt nicht hinlänglich (Deutsche UNESCO-Kommission 2009): Die Ab- gestoppt werden. Wie eine aktuelle Studie zur nahme der Artenvielfalt und der Rückgang der Lage der Natur in Deutschland zeigt, gibt es kulturellen Vielfalt werden als wichtige Problem- deutliche Defizite beim Erhaltungszustand der felder benannt; die Schutzgebiete, namentlich die Arten: Lediglich bei 25 % der Arten ist der von Biosphärenreservate, werden in ihrer Bedeutung der EU geforderte günstige Erhaltungszustand für die Bewahrung der biologischen Vielfalt und erreicht. 29 % der Arten weisen einen schlech- als Ort einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ten und weitere 31 % einen unzureichenden hervorgehoben. Erhaltungszustand auf. Ähnlich alarmierend sind die Befunde für Lebensräume: Derzeit sind nur Auch im Vorschlag für das Weltaktionsprogramm 28 % der Lebensräume in einem günstigen finden sich Bezüge zu biologischer Vielfalt Zustand, 39 % zeigen sich in einem unzureichenden (UNESCO 2013: Annex, p. 2). Unter Hinweis auf und weitere 31 % in einem schlechten Zustand einen ganzheitlichen Bildungsansatz als einem (BfN 2014: 3) Prinzip einer Bildung für nachhaltige Entwicklung werden die miteinander verbundenen Themen der Für die Umsetzung der Nationalen Strategie zur „Verminderung der Armut, des Klimawandels, Biologischen Vielfalt spielt Bildung eine wichtige (…), der biologischen Vielfalt sowie des nach- Rolle. Deutlich gestärkt wurde die Bedeutung von haltigen Konsums und der nachhaltigen Produk- Bildung durch die UN-Dekade „Bildung für nach- tion“ benannt (Arbeitsübersetzung der Deutschen haltige Entwicklung“ (2005 – 2014). In Nachfolge UNESCO-Kommission). Zudem werden u. a. dieser UN-Dekade – und zugleich als Antwort auf das Netzwerk der UNESCO-Biosphärenreservate die bildungsbezogenen Vereinbarungen des Ab- und die UNESCO-Welterbestätten aufgefordert, schlussdokumentes der Konferenz der Vereinten „in vollem Umfang zum Weltaktionsprogramm Nationen über nachhaltige Entwicklung (Rio + 20) beizutragen“ (Deutsche UNESCO-Kommission im Jahre 2012 in Rio de Janeiro – hat die Vollver- 2013: 4; vgl. Info-Kasten 1). 8
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote Dass das Thema der Sicherung der biologischen Vielfalt nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern Info-Kasten 1 gerade auch aus gesellschaftspolitischer Sicht bildungsrelevant ist, zeigen Studien in der beson- BIOSPHÄRENRESERVATE ders bedeutsamen Zielgruppe der Jugendlichen – im Weltaktionsprogramm wird „Jugend“ in ihrer Biosphärenreservate sind das wichtigste Rolle und Bedeutung als „Change Agent“ für die Instrument des UNESCO-Programms „Der Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung als ei- Mensch und die Biosphäre“ (MAB). Es sind nes von fünf prioritären Aktionsfeldern angesehen Modellregionen nachhaltiger Entwicklung, (UNESCO 2014: 15). in denen Schutz und Nutzung von Natur und Umwelt in Einklang gebracht werden Eine repräsentative Umfrage in Deutschland und sollen (vgl. UNESCO heute 2007). 2014 gab es weltweit 631 Biosphärenreservate in 119 Österreich „Jugend und Nachhaltigkeit“ („Ber- Ländern, die in einem weltweiten Netzwerk telsmann Jugendstudie“) im Jahr 2009 führte zu zusammenarbeiten. In Deutschland wurden dem Befund, dass für sechs von zehn Jugendlichen bisher 15 Biosphärenreservate anerkannt, Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema ist: Aspekte weitere sind in Vorbereitung. des Klimawandels und der Umweltzerstörung sowie der Mangel an Nahrung und Trinkwasser Biosphärenreservate ermöglichen, fördern in vielen Ländern der Welt erachten Jugendliche und fordern das nachhaltige Wirtschaften im Vergleich zu den Themen Wirtschafts- und der Menschen und ein Zusammenleben mit Finanzkrise oder Terrorismus als deutlich dring- Natur und Umwelt, das die sozio-kulturellen licher (Bundesministerium für europäische und Besonderheiten beachtet und weiterent- internationale Angelegenheiten / tns emnid & wickelt. Mit dem Zonierungskonzept der streng geschützten „Kernzone“, einer sie Bertelsmann Stiftung 2009: 8). Weiterhin for- umschließenden „Pflegezone“ und einer dern sieben von zehn Jugendlichen mehr Bildung großen „Entwicklungszone“, die den Le- für nachhaltige Entwicklung. Sie wünschen sich bens-, Wirtschafts- und Erholungsraum der in Schule und Ausbildung eine deutlich ver- im Gebiet lebenden Bevölkerung darstellt, stärkte Wissensvermittlung über globale Problem- sind Biosphärenreservate hervorragend ge- lagen und ihre Verantwortung für die Welt (ebd. eignet, modellhaft nachhaltige Lebensstile 2009: 15). zu realisieren. In ihnen werden Produkte der Region vermarktet, die biologische Vielfalt Mit einem neuen Instrument, dem „Greenpeace geschützt und gepflegt, ein „sanfter“ und Nachhaltigkeitsbarometer“, geplant und erstma- naturverträglicher Tourismus sowie um- lig durchgeführt von der Leuphana Universität weltschonende Formen der Landwirtschaft gefördert. Lüneburg (Michelsen, Grunenberg & Rode 2012), wurde die Generation der 15- bis 24-Jährigen Darüber hinaus sind sie wichtige Orte für genauer „unter die Lupe genommen“. In einer Forschung und Monitoring, für das Natur- repräsentativen Befragung (n = 1070) und in qua- erleben und für Bildung. litativen, explorativen Interviews zu der Leitfra- ge „Was bewegt die Jugend?“ zeigte sich, dass Um die Idee und Praxis einer Bildung für ein Großteil der Jugendlichen (68 %) bereits nachhaltige Entwicklung als wichtigem ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Probleme Bestandteil des Funktionierens und der Wei- nachhaltiger Entwicklung hat. Sie wissen, dass terentwicklung von Biosphärenreservaten eine intakte Umwelt die Grundlage für jede öko- zu stärken, hat das MAB Nationalkomitee nomische, soziale und kulturelle Entwicklung ist. (2014) ein Positionspapier verabschiedet, in dem Ansätze und konkrete Fragestellungen Das Etikett „Nachhaltige Entwicklung“ wird nach für Bildung und Lernen für eine nachhaltige wie vor als sperrig empfunden, aber die dahinter Entwicklung präsentiert werden. stehenden Prinzipien und Inhalte werden in hohem Maße geteilt. Schulische Bildung erweist sich als 9
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung Info-Kasten 2 OBJEKTIVE FAKTEN ZUR BIOLOGISCHEN VIELFALT SIND WICHTIG – DOCH WAHRNEHMUNGEN UND BEWERTUNGEN (NATURBILDER) BEEINFLUSSEN ENTSCHEIDEND MENSCHLICHES HANDELN Menschen verändern ihre „Wahrnehmungen parallel zu sich verändernden Umweltbedingun- gen (…), so dass sie in der verlaufenden Zeit keine gravierenden Einschnitte wahrnehmen“ (Welzer 2014: VI). Dies zeigt ein Forschungsbefund von Sáenz-Arroyo et al. (2005) eindrucks- voll: Fischer im Süden Kaliforniens wurden gebeten, den Rückgang der Fischbestände im Golf von Kalifornien einzuschätzen. Drei Generationen wurden befragt. In der ältesten Gruppe (über 54 Jahre) nannten die Fischer elf Arten, die es nach ihrer Einschätzung heutzutage nicht mehr gäbe, in der mittleren Gruppe (31-54 Jahre) wurden sieben Arten genannt und in der jüngsten Gruppe (15-30 Jahre) nur noch zwei Arten, die in den Fanggründen heute nicht mehr zu finden seien (ebd.: 1959). „Die Jüngsten hatten auch keine Vorstellung mehr davon, dass es dort, wo sie selbst täglich fischten, vor nicht allzu langer Zeit massenhaft Weißhaie, Judenfisch oder auch Perlaustern gegeben hatte“ (Übersetzung Welzer 2008: 215). Ähnlich auch die Beurtei- lung der Fischgründe: Während die Älteren noch berichteten, dass sie früher ganz nah an der Küste gute Fänge machen konnten, war es für die Jüngeren selbstverständlich und unhinter- fragt, dass sie weit hinausfahren mussten, um ähnliche Fangmengen zu erreichen. Sie wären gar nicht auf die Idee gekommen, in Küstennähe überhaupt etwas fangen zu können. Der faktische Rückgang der Artenvielfalt wird von ihnen nicht als ein fortschreitender Prozess wahrgenommen und beurteilt. Dementsprechend vermissen sie auch nicht den einstmals größeren Fischreichtum und auch die einstig größeren Individuen. Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als „shifting baselines“. Als eine Erklärung wird angeführt, dass die jüngeren Fischer im Vergleich zu den älteren – aufgrund ihrer eigenen Lebensspanne – weniger weit in der Zeit zurückliegende Referenzpunkte und Maßstäbe („baselines“) für die Beurteilung eingetretener Veränderungen wählen (vgl. Rost 2014: 19). bedeutender Faktor: Fast die Hälfte der Befragten Themen zeigen ferner „Konservativ-Bürgerliche“: − und das betrifft vor allem Gymnasiasten − ha- Sie sind vergleichsweise skeptisch gegenüber dem ben bereits in der Schule Bildung für nachhaltige technologischen Fortschritt. Auch die Gruppe der Entwicklung erfahren; diese Jugendlichen sind „Expeditiven“ will Antworten auf die gesellschaft- auch politisch stärker engagiert als andere Gleich- lichen Probleme finden; bereits in jungen Jahren altrige. suchen sie nach vielfältigen kulturellen Erfahrungs- räumen (vgl. ebd.: 40 ff.). Eine Sinus-Studie, die Lebenswelten der 14- bis 17-Jährigen in Deutschland erforschte, fragte im Es ist keine einfache Aufgabe, die komple- Jahr 2012: „Wie ticken Jugendliche?“ und grenzte xen Probleme und Lösungsmöglichkeiten des dabei sieben Lebenswelten voneinander ab. Dabei Schutzes und der nachhaltigen Nutzung biolo- zeigt sich zunächst, dass Jugendliche „sehr unter- gischer Vielfalt sowie eines gerechten Vorteils- schiedlich“ ticken (vgl. Calmbach, Borchard & ausgleichs in Bildungsveranstaltungen zu vermit- Thomas 2013: 37). Eine Orientierung an nachhal- teln. Die vielfältigen Probleme, ihre Ursachen und tigkeitsbezogenen Fragestellungen ist in besonderer ihre Vernetzungen müssen im Bewusstsein der Weise bei drei Lebenswelten auszumachen: Große Menschen verankert werden. Insbesondere gilt es, Aufmerksamkeit für umweltpolitische Themen zei- die Entwicklung von Werten, Einstellungen und gen die „Sozialökologischen“; sie sind zugleich Motivationen für eine nachhaltige Entwicklung große Kritiker der „Wegwerfgesellschaft“. Verzicht zu fördern und die Ausbildung von notwendigen ist für sie kein Zwang, sondern ein Gebot der Kompetenzen und Handlungsbereitschaften zu Überflussgesellschaft. Eine Affinität zu politischen unterstützen. 10
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote Ein wichtiger Ausgangspunkt für eine zu stär- Info-Kasten 3 kende Verantwortungsbereitschaft für den Schutz und eine nachhaltige Nutzung von Naturressour- SICHTWEISEN UND KONSTRUKTE – cen und Lebensgrundlagen ist die Analyse von WAS IST EIN ÖKOSYSTEM? Mensch-Natur-Verhältnissen sowie deren Wech- selwirkungen: Die Definition des biologischen Begriffs Ökosystem lautet (nach Ellenberg et al. Mensch-Natur-Verhältnisse − und allgemein 1986): Ein Ökosystem wird als dynamisches Mensch-Umwelt-Verhältnisse − zeigen sich zum Wirkungsgefüge zwischen einem Lebens- einen im konkreten Verhalten der Menschen, raum und der Artengemeinschaft, die die- d. h. in der Art und Weise, wie sie mit Natur umge- sen Lebensraum besiedelt, verstanden. Eine hen, diese verändern, pflegen, schützen, aber auch Artengemeinschaft besteht aus Produzenten zerstören, und wie sie umgekehrt von eben diesen (Pflanzen), Konsumenten (Pflanzenfresser Natur- und Umweltgegebenheiten beeinflusst wer- und Räuber) und Destruenten (Bakterien den (vgl. Graumann & Kruse 2008). Zum anderen und Pilze). Die Beschaffenheit des Lebens- werden Mensch-Natur-Verhältnisse deutlich bei der raums ist abhängig von abiotischen Fakto- Frage, wie „Natur“ wahrgenommen und interpre- ren wie dem Relief, dem Mikroklima, den tiert wird: Welche kulturell, gesellschaftlich und Bodenbedingungen und der Wasserverfüg- barkeit. Wichtig für das Verständnis eines gruppenspezifisch geprägten „Naturbilder“ werden Ökosystems sind die komplexen Wech- in den Vorstellungen, Einstellungen und Werthal- selwirkungen zwischen der Artengemein- tungen deutlich, aber auch im Wissen in Bezug auf schaft und dem Lebensraum, etwa durch Natur (z. B. Krömker 2004; Meske 2011; Umwelt- naturraumtypische Stoff- und Energieflüsse. psychologie 2005; vgl. Info-Kasten 2)? Dies hat zur Folge, dass sich das gesamte Ökosystem verändern kann, wenn eine Der Umgang des Menschen mit Natur und bio- seiner Teilkomponenten verändert wird. logischer Vielfalt ist also nicht nur durch die physische Umwelt, sondern ebenso durch sein Ökosystemen wird ein gewisses Maß an „Naturverständnis“, durch Interpretationsmuster Selbstregulation zugeschrieben, welche eine und Urteilstendenzen bestimmt; in diesen werden Veränderung einer oder mehrerer Kompo- nenten abfedern kann. Diese Selbstregula- sozio-kulturelle Faktoren wirksam, die einem tion und die naturgemäße Dynamik eines historischen Wandel unterliegen (Info-Kasten Ökosystems können jedoch durch Eingriffe 3). Auch zeigen sich große Unterschiede bezüg- von außen (etwa durch Düngung, Rodung lich Kriterien wie Alter, „Milieu“-Zugehörigkeit, oder Stoffeintrag) empfindlich gestört wer- Stadt-Land-Bewohner, ethnische Zugehörigkeit. den. Eine solche durch den Menschen verur- Empirische Studien dokumentieren ein höchst sachte Beeinflussung eines Ökosystems geht widersprüchliches, ambivalentes Naturverständ- häufig mit einer Veränderung des Lebens- nis vieler Menschen. So drückt sich beispielswei- raums und negativen Folgen für die vorhan- se die Liebe zum Wald in einer starken Ableh- dene Artengemeinschaft einher. nung des Fällens von Bäumen aus. Gleichzeitig kaufen Menschen Wohnmöbel aus tropischen „Es ist jedoch zu beachten, dass die Ab- grenzung eines Ökosystems nicht in der Hölzern, die dem Regenwald entnommen wur- Natur vorgegeben ist, sondern nach den den (Stoltenberg 2009: 34; Brämer 2010). Mit Gesichtspunkten der Forschung erfolgt“ gutem Grund sieht die Umsetzung der Nationalen (Reichholf 2008: 218 f). Ökosysteme haben Strategie zur biologischen Vielfalt die Erfassung keine starren, festgelegten Zustände. Sie des „Naturbewusstseins“ der Bevölkerung in re- können daher auch nicht, wie häufig for- gelmäßigen Abständen vor (BMUB 2014; BMU muliert, belastet werden oder gar „zusam- 2012; BMU 2010; vgl. auch Lucker & Kölsch menbrechen“. Damit werden Erwartungen 2014), da seine Relevanz für den Umgang mit und Sichtweisen der Menschen ausgedrückt biologischer Vielfalt außer Frage steht. Für die und keine objektiven Gegebenheiten der globale Dimension der Gestaltung nachhaltiger Natur. Wissenschaftliche Konzepte bringen Entwicklung und damit auch den Schutz biolo- lediglich Ordnung und Struktur in das sonst chaotisch erscheinende Ganze von „Natur“ gischer Vielfalt dürfen historische und kulturelle oder „biologischer Vielfalt“. Unterschiede in der Natur- und Landschafts- wahrnehmung und ihre Entwicklung − z. B. in 11
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung westlichen Industrienationen im Vergleich zu Nutzungsintensitäten“. Dieses Konzept rückt da- traditionalen Gesellschaften oder indigenen Völ- von ab, Schutz und Nutzung streng voneinander kern − nicht außer Acht gelassen werden (vgl. zu trennen; vielmehr wird ein Kontinuum bzw. WBGU 2000: 123 ff.) eine Integration von Schutz und Nutzung ange- strebt. Dabei kommt beiden Zielen jeweils ein Im Sinne einer Bildung für eine nachhaltige Ent- unterschiedliches Gewicht zu, das zu bewerten wicklung ist ein Naturverständnis anzustreben, und auszutarieren ist: „Schutz vor Nutzung“ wür- das Natur als Lebensgrundlage der Menschen de wertvolle Gebiete als Schutzgebiet − z. B. als betrachtet, die es zu erhalten und zugleich zu Nationalpark − ausweisen, das von menschlicher nutzen gilt. Es geht darum, Natur und Kultur nicht Nutzung freibleibt. „Schutz durch Nutzung“ könn- als getrennte oder sogar gegensätzliche Bereiche, te durch die Entwicklung von Formen des sanften sondern in ihrer fundamentalen Verzahnung und oder nachhaltigen Tourismus verwirklicht werden, Wechselwirkung wahrzunehmen und zu bewerten. bei dem menschliche Nutzungsinteressen mit den Kultur entsteht durch Aneignung der Natur im Schutzerfordernissen einer Landschaft, einer Res- Sinne von bearbeiten, schützen und zerstören, aber source ausbalanciert werden können. Geht es um auch von benennen und bewerten (Kruse 2002). „Schutz trotz Nutzung“, steht die wirtschaftliche Die Schönheit und die vielfältigen Funktionen Nutzung im Vordergrund. Auch bei diesem Hand- von Natur sind immer auch im Zusammenhang lungsziel ist zu beachten, dass die Grundlagen der mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen wirtschaftlichen Nutzung der Pflege bedürfen; Nutzungsmöglichkeiten von Natur zu betrachten, dies gilt für landwirtschaftlich ertragreiche Böden wobei Nutzung in einem sehr weiten Sinne zu genauso wie für „reizvolle Landschaften“ und verstehen ist. Aufbauend auf einem solchen Ver- „intakte Natur“ als überdauernde Attraktivität ständnis von Mensch-Natur-Verhältnissen kann für Touristen. Diese verschiedenen Typen der das Leben auf der Erde heute und in Zukunft Landschaftsnutzung sind idealtypisch zu denken nachhaltig gestaltet werden – unter Beachtung na- und existieren nicht in reiner Form. Sie helfen türlicher Lebenszusammenhänge, durch einen ver- aber, Schutz oder Nutzung nicht als „Alles oder antwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, unter Nichts“-Prinzip zu behandeln, sondern Schutzer- Wahrung von Menschenrechten und im Bestreben fordernisse und Nutzungsinteressen als Varianten einer globalen Gerechtigkeit in der „Einen Welt“. von Mensch-Umwelt/Natur-Verhältnissen zu be- handeln und bewusst auszuhandeln. Zentrale Fragen für Bildungsprozesse sind damit u. a.: Die Bedeutung von Schutz und Nutzung biologi- scher Vielfalt für die Gestaltung einer nachhaltigen • Wie werden „Natur“ und „biologische Vielfalt“ Entwicklung lässt sich anhand der nachfolgend wahrgenommen und interpretiert? beschriebenen Schlüsselthemen besonders gut aufzeigen. Diese weisen konkrete Bezüge zur Le- • Welche Bedeutung/welchen Wert hat biologische benswelt und zum Alltagshandeln von Menschen Vielfalt für verschiedene gesellschaftliche und auf. Zudem sind sie anschlussfähig an die Grund- kulturelle Gruppen? sätze des internationalen Übereinkommens über • Wie entstehen solche Werthaltungen? die biologische Vielfalt, die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt sowie das Weltaktions- • Welche Nutzungsmöglichkeiten biologischer programm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ Vielfalt sind uns Menschen bekannt? (2015 – 2019). Wenngleich die Schlüsselthemen • Wie verantwortlich fühlen wir uns für einen nachfolgend getrennt voneinander bearbeitet wer- nachhaltigen Schutz von Naturressourcen? den, existieren vielfältige Vernetzungen. Auch die im zweiten Teil der Publikation folgenden Für das Problem der Nutzung und des gleich- Beispiele für konkrete Handlungs- und Bildungs- zeitigen Schutzes biologischer Vielfalt ist die angebote lassen sich vielfach nicht einem Schlüs- Frage von Handlungszielen bedeutsam. Eine selthema explizit zuordnen, sondern verbinden sinnvolle Gliederung und Bewertung von Hand- mehrere Schlüsselthemen miteinander und zeigen lungszielen liefert das von Haber 1971 (s. 1984; so Zusammenhänge und Wechselwirkungen auf. Haber & Bückmann 2013; vgl. auch WBGU 2000: 136 ff.) vorgeschlagene System „differenzierter 12
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote 3 SCHLÜSSELTHEMEN D ie Arbeitsgruppe „Biologische Vielfalt“ hat sich auf folgende vier Schlüsselthemen ver- ständigt, um die mit der Erhaltung der biologi- trachtet, beispielsweise Laubmischwälder, Savan- nen, Wüsten, das Wattenmeer, Korallenriffe, Süß- schen Vielfalt verbundenen Herausforderungen wasserfeuchtgebiete oder Streuobstwiesen. Dem für eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung Schutz der Vielfalt der Lebensräume fällt eine zu verdeutlichen (vgl. Deutsche UNESCO-Kom- bedeutende Rolle bei der Sicherung der Artenviel- mission 2011): falt zu. In diesem Zusammenhang können sowohl die durch menschliche Nutzungen angeeigneten • Vielfalt der Lebensräume Landschaften – allgemein als „Kulturlandschaf- • Leistungen der Natur ten“ bezeichnet – als auch die durch Menschen • Klimawandel und biologische Vielfalt nicht oder nur wenig beeinflussten „Naturland- • Konsum und biologische Vielfalt. schaften“ (im Sinne von weitgehend unberühr- ten Naturräumen) schützenswerte Lebensräume Anhand dieser Schlüsselthemen soll verdeutlicht darstellen (vgl. Politische Ökologie 2004; 2006; werden, wie ein „Lernen für Nachhaltigkeit“ 2008). auf mehreren Ebenen angesiedelt und aus ver- schiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. 3.1.1 B iologische Vielfalt in Diese Schlüsselthemen sind sowohl für jede ein- Kulturlandschaften zelne Person und ihr Handeln relevant als auch für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, für Seit der Sesshaftwerdung haben die Menschen politische Organisationen und Verwaltungen, für durch die Anlage von Siedlungen, Verkehrsflä- Unternehmen und Verbände. Wechselwirkungen chen, Äckern und Weideland in hohem Maße auf zwischen diesen Ebenen bieten vielfältige pä- die Naturräume eingewirkt und diese nach ihren dagogisch anspruchsvolle Anlässe zur Ausein- Bedürfnissen und Vorstellungen gestaltet, quasi andersetzung mit einzelnen Themenstellungen, „domestiziert“ (vgl. Abb. 3 und Abb. 4). Unter zur Einbindung unterschiedlicher Akteure in die dem Begriff „Kulturlandschaft“ versteht man diese Bildungsarbeit, zur kritischen (Selbst-)Reflexion durch Menschen geformte Natur, die sowohl Kul- sowie zur Entwicklung und Umsetzung gemein- tur- als auch Naturelemente enthält (Konold 1996; samer Vorhaben zum Erhalt und zur nachhaltigen 2007). Bei den heute gemeinhin als „natürlich“ Nutzung biologischer Vielfalt. wahrgenommenen Landschaften handelt es sich somit meist um „Kulturlandschaften“, die über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewachsen, 3.1 SCHLÜSSELTHEMA: d. h. angeeignet und gestaltet worden sind oder als VIELFALT DER LEBENSRÄUME Nebenprodukte menschlichen Wirtschaftens, z. B. als Brachflächen oder Baggerseen, zurückblieben. Zu den Hauptgefährdungen der biologischen Viel- In Deutschland würden sich natürlicherweise aus- falt zählen der Verlust und die Veränderung von gedehnte – im Vergleich zu anderen gemäßigten Lebensräumen und damit die Beeinträchtigung Zonen (aufgrund der Eiszeiten) relativ artenarme der Arten, die auf diesen Lebensraum angewiesen – Laubwälder erstrecken. Hier findet sich jedoch sind. Diese Verluste werden primär verursacht ein abwechslungsreiches Mosaik aus Wäldern, durch eine zunehmende Flächeninanspruchnahme Feldern und Wiesen. für Siedlungen und urbane Räume einschließlich Verkehrstrassen, den Raubbau an Wäldern, die Im Laufe der Zeit hat sich durch Ackerbau und Umwandlung von Brachflächen für die Land- Viehhaltung eine hohe landwirtschaftliche biolo- wirtschaft – auch für die Erzeugung von Bioener- gische Vielfalt – Agrobiodiversität – entwickelt gie anstelle der Produktion von Nahrungsmitteln (vgl. Info-Kasten 4). Auch viele durch den Men- („Tank versus Teller“) −, die allgemeine Überdün- schen geschaffenen Landschaftselemente – wie gung von Land- und Wasserökosystemen und die Heiden und Steinbrüche, aber auch Hecken oder Ausbreitung gebietsfremder Arten. Nicht zuletzt Bewässerungskanäle – stellen Lebensräume für ei- bedroht der Klimawandel die biologische Vielfalt. ne Vielzahl spezialisierter Arten dar (Haber 1984) Je nach Ausprägung des Lebensraumes und der und sind heutzutage von großer Bedeutung für vorhandenen Artengemeinschaft werden in der den Naturschutz und den Erhalt der biologischen Ökologie unterschiedliche Ökosystemtypen be- Vielfalt. Biologische Vielfalt ist auch von großem 13
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung Wert bei der Anpassung der Landwirtschaft an den Kulturlandschaften“ (z. B. im Sinne von „Natur- Klimawandel und unerlässlich für die zukünftige bildern“) sind ausschlaggebend für Einstellungen weltweite Ernährungssicherung. Bedingt durch die und Entscheidungen, was schützenswert ist oder Intensivierung der Landwirtschaft und die moderne nicht und haben damit einen deutlichen Einfluss Pflanzenzüchtung ist die zwischenartliche sowie in- auf den Umgang mit Landschaft und biologischer nerartliche (genetische) Vielfalt der Kulturpflanzen Vielfalt. So sind auch sogenannte Naturlandschaf- und Haustierrassen in Mitteleuropa jedoch seit Mit- ten (einschließlich „Wildnisgebiete“) in dem Sin- te des 19. Jahrhunderts erheblich zurückgegangen ne „Kulturlandschaften“, als sie durch Benennung (Harper et al. 2008; WBGU 2000: 81ff.). (Auszeichnung) und Bewertung in bestimmter Weise kulturell angeeignet (und gesellschaftlich Die Kulturlandschaft wird aber nicht nur durch konstruiert) werden. die Agrar- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei genutzt. Vielmehr bietet sie auch wichtige (Nah-) Zunehmende Beachtung finden inzwischen die Erholungsräume für die Bevölkerung, eröffnet Auswirkungen „gebietsfremder“ (invasiver) Ar- vielfältige Möglichkeiten der Freizeitnutzung ten, die seit der Neuzeit entweder durch Aktivitä- (Sport, Erholung) und trägt damit zur regionalen ten des Menschen – gewollt oder ungewollt – in Wertschöpfung bei. Mit ihren kulturellen und äs- vorher von ihnen nicht besiedelte Gebiete ein- thetischen Werten bedeutet sie auch ein wichtiges geführt wurden oder selbstständig eingewandert Stück Lebensqualität. Regionaltypische Eigenarten sind. Damit setzte ein bisher nicht da gewesener der Kulturlandschaft sind eng mit der Geschichte, weltweiter Austausch an Faunen- und Florenele- dem Heimatgefühl und der regionalen Identität menten ein, der zum Transfer von Organismen der Bevölkerung verbunden. Gleichwohl sind in Regionen weit außerhalb ihrer natürlichen Wahrnehmung und Bewertung von Kulturland- Verbreitungsgrenzen führte und bis heute führt. schaften ständigen Veränderungen unterworfen. Die Einbringung nichtheimischer Arten gehört Im Laufe der Geschichte und in den verschiedenen – nach dem Verlust von Lebensräumen infolge Kulturen haben sich immer wieder verschiedene von Landnutzungsänderung – weltweit betrachtet Konzepte und Bewertungen entwickelt, die als zu den wichtigsten Bedrohungen für die biolo- das Ergebnis „gesellschaftlicher Konstruktionen“ gische Vielfalt (WBGU 2000: 194; ebd. Glos- betrachtet werden können (Info-Kasten 5). Die- sar). Wie jüngste Schätzungen des EU-Parla- se gesellschaftlich und kulturell bedingten Kon- mentes aus dem Jahr 2014 zeigen, verursachen struktionen und Bewertungen von „Natur- bzw. „invasive gebietsfremde Arten […] einen Scha- Abb. 3: Die Jahrhunderte alten Reisterrassen von Jatiluwih, Bali ... © iStock.com/Iore 14
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote Info-Kasten 4 AGROBIODIVERSITÄT Unter Agrobiodiversität versteht man die biologische Vielfalt der Landwirtschaft, d. h. die Vielfalt aller Organismen in Agrarökosystemen und die Vielfalt dieser Systeme selbst, wie sie 10.000 Jahre der Landbewirtschaftung einschließlich Forst- und Fischereiwirtschaft her- vorgebracht haben. Dazu gehören auch alle Zuchtformen von Tieren, Pflanzen und Mikroor- ganismen. Diese Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten sowie der Ökosysteme hat einen hohen existentiellen und ökonomischen Wert, denn sie sichert unsere Ernährung, die medizinische Versorgung, dämpft die Auswirkungen des Klimawandels und ermöglicht die Anpassung an globale Umweltveränderungen. Von den bekannten 12.000 Kulturpflanzen dienen 3.000 der Ernährung. Und von diesen sind es nur 30, die 90 % des weltweiten Kalorienverbrauchs er- möglichen. Nur drei Arten − Reis, Mais und Weizen − liefern 50 % des Weltenergiebedarfs an Kalorien. Doch nicht nur ein Artenschwund ist auffällig, sondern auch ein bedrohlicher Schwund an Rassen und Sorten. Heute gibt es zwar in der Landwirtschaft mehr Arten als je zuvor in der Erdgeschichte, doch ihre Aussterberate wächst unaufhörlich, so dass bis Ende des Jahrhunderts ein Rückgang der Artenvielfalt um 50 % angenommen wird. So wurden in China 1949 noch 10.000 lokale Wei- zensorten angebaut, heute sind es weniger als 1.000, die in großem Umfang genutzt werden, d. h. 90 % der Sorten wurden innerhalb eines halben Jahrhunderts aus dem Anbau verdrängt. Die Gründe für den Verlust der Agrobiodiversität sind vielfältig und komplex: Die moderne Landwirtschaft selbst trägt durch Intensivierung, Rationalisierung sowie Spezialisierung der Produktion maßgeblich zur Verringerung der landwirtschaftlichen Vielfalt bei. Auch die Einfüh- rung gentechnisch veränderter Sorten, fehlende ökonomische Anreize für einen Biodiversitäts- erhalt und zunehmende Privatisierung genetischer Ressourcen sind weitere wichtige Gründe für Arten- und Sortenschwund. Außerdem spielen Übernutzung sowie Verlust und Zerschneidung von Lebensräumen eine wichtige Rolle. Ü www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/umwelt/biodiversitaet/arbeitsfelder/agrobiodiversitaet/ (letzter Zugriff 02.01.2015) Abb. 4: … und eine Landschaft mit Weideland und Baumbestand zum Erhalt bäuerlicher Struk- turen in Oberstdorf, Allgäu © iStock.com/justhavealook 15
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung Info-Kasten 5 den von mindestens 12 Milliarden Euro pro Jahr in der EU“. Ü www.europarl.europa.eu/pdfs/news/ NATURBILDER IM KULTURELLEN expert/infopress/20140411IPR43471/20140411IPR43471_ de.pdf (letzter Zugriff 05.01.2015) UND HISTORISCHEN WANDEL – DAS BEISPIEL LÜNEBURGER HEIDE Eine Sicherung der Vielfalt der Lebensräume um- fasst immer auch den Schutz einer vielfältigen Der Natur als Landschaft und ästhetischem Kulturlandschaft und somit einen Schutz durch Erlebnis wurde in Europa erst in der Ro- mantik größere Aufmerksamkeit zuteil. Ein – möglichst nachhaltige – Nutzung. Grundsätzlich anschauliches Beispiel bietet die Wahr- ist die landwirtschaftliche Nutzung und Bewirt- nehmung der Lüneburger Heide, die 1921 schaftung jedoch ambivalent zu betrachten: Einer- zum „Naturschutzpark“ erklärt wurde, ihren seits kann die Landwirtschaft biologische Vielfalt außerordentlichen Wert aber schon mit der durch Schaffung abwechslungsreicher, vielgestal- Entwicklung des „romantischen Blicks“ zu tiger Kulturräume fördern, andererseits hat die zu- Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt. Wie nehmende Intensivierung der Landwirtschaft zahl- literarische Zeugnisse vielfach belegen, war reiche negative Auswirkungen für die Vielfalt wild dieses Gebiet etwa über 200 Jahre hinweg lebender Arten und ihrer Lebensräume. Durch als „wild, übel, wüst, schlimm, einförmig, die verschiedenen Nutzergruppen in der Kultur- böse, armselig“ verschrien. 1801 schrieb landschaft sind Konflikte zwischen Ansprüchen Caroline Schlegel in einem Brief über ihre Fahrt von Braunschweig über Celle nach und Gestaltungswünschen vorprogrammiert. Neue Harburg: „Die Eile war das Beste von der Nutzungsformen – sei es durch Landwirtschaft, Reise, denn hilf Himmel welch ein Land! Tourismus oder (Natur-)Sport – verändern häufig Ich wurde seekrank von dem einförmigen alte Kulturlandschaftselemente, schaffen jedoch Anblick der Heide und des Himmels, und auch neue Landschaftsstrukturen und mögliche so geht es doch von Braunschweig bis hier- neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen. her 18 Meilen in einem fort, dürre, braune Heide, Sand, verkrüppelte Bäume mit Moos Das Themenfeld „biologische Vielfalt in Kultur- und Schimmel überzogen ...“ (Eichberg landschaften“ bietet vielfältige Bezüge und An- 1983: 198). knüpfungspunkte für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung (vgl. auch Info-Kasten 6). Geeignete Die Lüneburger Heide ist Teil jener durch menschliche Aktivitäten geschaffenen Kul- Leitfragen sind u. a.: turlandschaften, die durch ausbeuterische Naturnutzung seit dem Mittelalter entstan- • Welche Bedeutung haben Kulturlandschaften den ist und die heute ganz selbstverständ- für uns – für unseren Alltag, unsere Konsument- lich für viele Menschen „bezaubernd, ange- scheidungen und unsere Freizeitgestaltung? nehm, schön, grün und voller Leben“ ist. • Wie sind einzelne Kulturlandschaften entstan- den? Für welche Arten bieten sie Lebensräume? • Wie haben sich einzelne Kulturlandschaften ins- besondere in den letzten 30 - 50 Jahren verändert oder entwickelt? • Welche Nutzungsformen fördern eine möglichst hohe biologische Vielfalt in Kulturlandschaften, z. B. auch in der Landwirtschaft? • Wie wirken sich gesellschaftliche, gruppenspezi- fische, aber auch individuelle Vorstellungen von Natur und Kultur auf die Gestaltung − d. h. die Veränderung oder die Bewahrung − von Kultur- landschaften aus? • Welche Rolle spielen Kulturlandschaften für un- sere Identität und unser Wohlbefinden? 16
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote 3.1.2 Biologische Vielfalt in Naturlandschaften Info-Kasten 6 Als Naturlandschaften werden solche großräumi- „DIE OBSTLER – KULTURLAND- gen Landschaften bezeichnet, die nicht durch Nut- SCHAFTSFÜHRER STREUOBSTWIESEN“ zung geprägt sind, sondern in ihrer Ausgestaltung einen ursprünglichen Charakter aufweisen (vgl. Im LIFE+-Projekt „Vogelschutz in Streuobst- Abb. 5 und Abb. 6). Neben der Hochregion der wiesen“ können Bürgerinnen und Bürger Alpen ist das Wattenmeer an der Nordseeküste die sowie Gäste jeden Alters Besonderes er- letzte flächendeckende Naturlandschaft Europas. In leben: Von der Stiftung Naturschutzfonds Deutschland werden Naturlandschaften als „Natio- Baden-Württemberg speziell ausgebildete nalparke“ unter dem Motto „Natur Natur sein las- und qualifizierte „Obstler – Kulturland- sen“ geschützt. In Teilgebieten der Naturparke ist schaftsführer Streuobstwiesen“ führen gleichzeitig eine touristische Nutzung für Bildung Gruppen mit viel Wissen und Können, einer und Naturerlebnis (vgl. u. a. Langenhorst, Lude & guten Portion Humor und mit viel Liebe zur Bittner 2014) ausdrücklich vorgesehen. Heimat durch die großflächigen Streuobst- wiesen im Albvorland und Wieslauftal. Sie öffnen Augen und Ohren für die großen In verschiedenen Naturlandschaften und Schutzge- und kleinen Wunder im Streuobstparadies, bieten sind Naturerlebnisräume für Kinder, Jugend- schärfen Sinne und Verstand für diese liche und Erwachsene entstanden. Beispielhaft sei einzigartige, artenreiche Kulturlandschaft, das Naturschutzgebiet „Schafberg-Lochenstein“, schaffen spannende Naturerlebnisse, er- eine Kulturlandschaft auf der Schwäbischen Alb, läutern traditionelle Bewirtschaftungsfor- genannt: Hier ermöglicht ein in Zusammenarbeit men und Möglichkeiten der Förderung von mit Kindern und Jugendlichen entstandener weitge- Vermarktungsalternativen, thematisieren hend „mobiler Naturerlebnisraum“ (Mobi-World) Brauchtum, Kunst und Kultur und erklären vielfältige Aktivitäten: Naturerkundungen finden die Bedeutung biologischer Vielfalt für eine vor allem mit technischer Unterstützung – dem nachhaltige Entwicklung. mobilen Naturführer – statt. Ausgeruht bzw. „ge- Ü www.life-vogelschutz-streuobst.de/index. chillt“ wird im mobilen Hängemattenwald. Der php/de/obstler (letzter Aufruf: 05.01.2015) Science-Rucksack ist u. a. ausgestattet mit Ma- terialien zum Erforschen, mit Bestimmungslite- ratur und Orientierungshilfen. Nähere Infos zu modellhaften Naturerlebnisräumen in Schutzge- bieten in Baden-Württemberg sind unter folgen- ten wie unberechenbar, bedrohlich, ungezähmt den Links zu finden: Ü http://www.rp-tuebingen. und kulturlos, aber auch mit ursprünglich, aben- de/servlet/PB/menu/1252785/index.html; http://www. teuerlich und paradiesisch. Die Ambivalenz des rp-freiburg.de/servlet/PB/menu/1303506/index.html Erlebens spiegelt sich – als Ambitendenz – auch (letzter Aufruf: 08.01.2015) im Verhalten wider (Kruse 1983; Heiland 2006). Naturlandschaften werden bisweilen eng mit Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt „Wildnis“ assoziiert − wobei Wildnis häufig als versteht Wildnisgebiete als Naturräume, in denen das Gegenkonzept zur Kulturlandschaft verstan- der Mensch in die intakte Lebensraumdynamik den wird: als die vom Menschen unberührte Natur, nicht eingreift. Diese bieten Lebensraum für eine die sich weitestgehend selbst überlassen bleibt und Vielzahl an Tier- und Pflanzenarten und stellen eine ausschließlich durch „natürliche“ Prozesse (ohne wichtige Ressource für die Erforschung natürlicher menschliche Einwirkung) gesteuert wird. Der Prozesse dar. Der besondere Wert, der Wildnisge- Wildnisbegriff wird mittlerweile in unterschied- bieten für den Erhalt der biologischen Vielfalt bei- lichen Kontexten verwendet; so wird von den gemessen wird, zeigt sich darin, dass eine Erhöhung großen Wildnisgebieten auf anderen Kontinenten ihres Anteils von derzeit unter 1 % auf mindestens ebenso gesprochen wie von der „Wildnis in der 2 % des Bundesgebietes bis 2020 angestrebt wird Stadt“. Dies verdeutlicht, dass Wildnis (ebenso (BMU 2007). Das Entwicklungsziel „Wildnis“ ist wie „Natur“ oder „Landschaft“) subjektiv unter- auch auf Flächen des Schutzprogramms „Nationa- schiedlich erlebt und bewertet wird: Wildnis kann les Naturerbe“ zu finden: So werden z. B. naturnahe sowohl Ablehnung und Ängste als auch romanti- Laubmischwälder als Wildnisgebiete ihrer natürli- sche Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestim- chen Entwicklung überlassen (Baaske & Cherouny mung hervorrufen. Sie ist belegt mit Eigenschaf- 2014). 17
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