QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE

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QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
GEFÖRDERT VOM

                    QUERBEET. BIOLOGISCHE
                    VIELFALT UND BILDUNG FÜR
                    NACHHALTIGE ENTWICKLUNG –
                    ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS

                    Erarbeitet von der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt unter Federführung
                    von Christa Henze und Lenelis Kruse-Graumann

B I L D U N G   |   W I S S E N S C H A F T     |   K U L T U R    |   K O M M U N I K A T I O N
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
Vorbemerkung
© iStock.com/FangXiqNuo

                          VORBEMERKUNG

                          D     ie vorliegende Publikation wurde von der
                                Arbeitsgruppe „Biologische Vielfalt“ erar-
                          beitet. In der Arbeitsgruppe, die im Jahre 2007
                                                                                 Im Jahr 2011 hat die Arbeitsgruppe Biologi-
                                                                                 sche Vielfalt ein Grundsatzpapier herausgegeben
                                                                                 (Deutsche UNESCO-Kommission 2011). Darin
                          im Rahmen des Runden Tisches der UN-Dekade             wurde anhand von vier ausgewählten Schlüs-
                          „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (2005 –          selthemen – Vielfalt der Lebensräume, Leistungen
                          2014) gegründet wurde, arbeiten Akteurinnen und        der Natur, Klimawandel und biologische Vielfalt,
                          Akteure aus Wissenschaft und Praxis sowie staat-       Konsum und biologische Vielfalt – dargelegt, wie
                          lichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Ein-      ein „Lernen von Nachhaltigkeit“ auf mehreren
                          richtungen zusammen. Ziel der gemeinsamen Ar-          Ebenen angesiedelt und aus verschiedenen Pers-
                          beit ist zum einen, das Themenfeld „Biologische        pektiven betrachtet werden kann. Diese Schlüs-
                          Vielfalt“ verstärkt mit den Anliegen einer Bildung     selthemen sind sowohl für einzelne Personen und
                          für eine nachhaltige Entwicklung zu verknüpfen.        ihr Handeln relevant als auch für verschiedene
                          Zum anderen soll Bildung für eine nachhaltige          gesellschaftliche Gruppen, für politische Organi-
                          Entwicklung mit dem Bildungsschwerpunkt der            sationen und Verwaltungen, für Unternehmen und
                          Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt         Verbände.
                          (BMU 2007) sowie der UN-Dekade „Biologische
                          Vielfalt“ (2011 – 2020) verbunden werden. Biolo-       Ein Ergebnis der weiteren Arbeit stellt die vorlie-
                          gische Vielfalt umfasst die Artenvielfalt, die gene-   gende Publikation dar. Von besonderer Bedeutung
                          tische Vielfalt innerhalb der Arten und die Vielfalt   sind dabei zehn Bildungs- und Handlungsange-
                          der Lebensräume. Neben dem Schutz der biolo-           bote, die – bis auf wenige Ausnahmen – von Mit-
                          gischen Vielfalt geht es dabei auch um ihre nach-      gliedern der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt
                          haltige Nutzung sowie den gerechten Zugang zu          entwickelt und/oder durchgeführt wurden.
                          ihren Ressourcen und einen gerechten Ausgleich
                          von Vor- und Nachteilen aus dieser Nutzung.

                                                                                                                                                      3
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                                          Der Ausdruck QUERBEET, der dieser Publikati-          Mit der vorliegenden Publikation ist der Wunsch
                                          on den Titel gibt, soll einerseits die Vielfalt von   verbunden, eine Orientierungshilfe zu geben, die
                                          gesellschaftlichen Gruppen, Bildungs- und Hand-       einerseits die Gefährdung von biologischer Vielfalt
                                          lungsangeboten sowie Lernorten symbolisieren          und ihre Vernetzung mit anderen nicht nachhalti-
                                          und auf verschiedene Zugänge einer Bildung für        gen Entwicklungen verdeutlicht und andererseits
                                          eine nachhaltige Entwicklung verweisen. Die um-       Möglichkeiten der Bearbeitung und Reflexion für
                                          gangssprachliche Redensart „einmal quer durch         Bildungsprozesse sowie Handlungsangebote für
                                          den Garten“ könnte demnach übersetzt werden           „Nachhaltigkeit Lernen“ aufzeigt. Sie kann als
                                          als „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung –       „Biotop für Ideen“ gelesen oder durchgeblättert
                                          einmal quer durch verschiedene Bildungsbereiche,      werden, das möglicherweise einzelnen Leserinnen
                                          Lern- und Erfahrungsorte“. Bewusst sei darauf         und Lesern ein vertieftes Verständnis über die
                                          hingewiesen, dass QUERBEET nicht in einer um-         Zielsetzungen einer Bildung für eine nachhaltige
                                          gangssprachlichen Bedeutung von „orientierungs-       Entwicklung im Kontext biologischer Vielfalt
                                          los“ oder „wahllos“ zu verstehen ist. Über den        eröffnet und vielleicht dazu beiträgt, neue Ideen
                                          Ausdruck QUERBEET lassen sich andererseits            für eigenes pädagogisches Handeln zu generieren.
                                          inhaltliche Bezüge zur biologischen Vielfalt her-
                                          stellen: So kann ein Landschaftsgefüge assoziiert     Das Buch richtet sich an Akteurinnen und Akteu-
                                          werden, das aus verschiedenen Parzellen, Arealen      re, die an formalen, non-formalen und informellen
                                          und Flächen besteht, die mit spezifischen Anfor-      Lernorten arbeiten sowie an Multiplikatorinnen
                                          derungen verknüpft sind, verschiedenartig genutzt     und Multiplikatoren, die die Umsetzung einer Bil-
                                          werden können und zugleich in ihrem besonderen        dung für eine nachhaltige Entwicklung voranbrin-
                                          Wert zu schätzen sind, um diese langfristig nut-      gen und damit zur Gestaltung einer nachhaltigen
                                          zen und sichern zu können. Somit symbolisiert         Entwicklung in der Gesellschaft beitragen wollen.
                                          QUERBEET auch die von Menschen gestalteten            Nicht zuletzt sei ein deutlicher Dank an die
                                          oder genutzten „Beete auf diesem Planeten“.           Deutsche UNESCO-Kommission ausgesprochen,
                                                                                                die Finanzmittel zum Druck dieser Publikation zur
                                          Den „Praxisbeispielen“ wird ein Grundlagentext        Verfügung gestellt hat.
                                          vorangestellt, der sich am Grundsatzpapier von
                                          2011 orientiert; zentrale Inhalte wurden aktuali-
                                          siert und zum Teil grundlegend überarbeitet.
                   © Konrad Bucher, MUZ

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QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
Inhalt

INHALT

Vorbemerkung ............................................................................................................................................ 3

Biologische Vielfalt und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung: Grundlagen,
Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote
Christa Henze & Lenelis Kruse-Graumann

1 Einleitung................................................................................................................................................. 6
2 B
   iologische Vielfalt und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung –
  Ausgangspunkte und Perspektiven......................................................................................................... 8
3 Schlüsselthemen................................................................................................................................... 13
4 Didaktische Herausforderungen und Zugänge einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung........... 32

Literaturverzeichnis................................................................................................................................... 39

PRAXISPROJEKTE

Mein Baum! Kita-Kinder erkennen am Thema Wald die Bedeutung der
biologischen Vielfalt für uns Menschen .................................................................................................. 44
Beate Kohler

Das internationale Wildniscamp – In acht Länderhütten durch
Schutzgebiete rund um die Welt ............................................................................................................. 48
Lilian Paul, Natalie Bergholz, Alexander Bittner & Achim Klein

um.welt: Klimawandel, Biodiversität und kulturelle Vielfalt ..................................................................... 52
Elisabeth Marie Mars

Fruticultura – Eine Freundschaft, die Früchte trägt: Austausch von brasilianischen
und deutschen Jugendlichen zum Schutz der biologischen Vielfalt ........................................................ 60
Natalie Bergholz, Lilian Paul & Alexander Bittner

Urbane Gärten am Ökologischen Bildungszentrum München –
Bildung durch Beteiligung ....................................................................................................................... 64
Caroline Fischer, Christian Suchomel, Konrad Bucher & Franke Feuss

Bienenretter – Die Biene als Botschafterin für eine nachhaltige Entwicklung ........................................ 72
Christian Bourgeois

Urban Biodiversity Trail – Pflanzenvielfalt im Alltag ................................................................................. 78
Johanna Lochner & Marina Hethke

Jugend für Umwelt und Sport (JUUS) – Natürlich sportlich .................................................................... 83
Hans-Joachim Neuerburg

McMöhre – Hier schmeckt die Pause! Schülerfirmenprojekt mit regionalen,
saisonalen und/oder fair gehandelten Produkten .................................................................................... 88
Birgit Eschenlohr

Die Juniorwinzer vom Castellberg: Kinder als Mitgestalter der historischen Weinbaulandschaft .......... 93
Franz Höchtl & Sebastian Schwab

Mitglieder der Arbeitsgruppe Biologische Vielfalt..................................................................................... 98

Impressum................................................................................................................................................ 99

                                                                                                                                                                           5
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                              BIOLOGISCHE VIELFALT UND
                              BILDUNG FÜR EINE NACHHALTIGE
                              ENTWICKLUNG: GRUNDLAGEN,
                              SCHLÜSSELTHEMEN UND ZUGÄN-
                              GE FÜR BILDUNGSANGEBOTE
                              Christa Henze & Lenelis Kruse-Graumann

                              1 EINLEITUNG

  Der Mensch kann
 niemals wider die            D    ie Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung
                                   gehört zu den wichtigsten politischen Aufga-
                              ben des 21. Jahrhunderts. Nachhaltige Entwicklung
                                                                                    Entwicklung als eine Entwicklung definiert, „die
                                                                                    die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne
                                                                                    zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eige-
    Natur handeln,
                              ist die Antwort auf die Herausforderungen des         nen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff
sondern nur mit ihr           globalen Wandels, der durch ökologische, ökono-       1987: 42).
          agieren.            mische und soziokulturelle Kernprobleme zu cha-
    Hans Carl von Carlowitz   rakterisieren ist (vgl. Abb. 1 und 2). Dazu gehören   Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesre-
              (1645 – 1714)   insbesondere die zunehmende Verflechtung von          gierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)
                              globalen Umweltveränderungen, die ökonomische         verweist seit seinem ersten Gutachten 1993 immer
                              Globalisierung, weltweiter kultureller Wandel, ein    wieder deutlich auf die globalen Bedrohungen:
                              Nord-Süd und West-Ost-Gefälle sowie wachsen-          „Erstmals in der Geschichte wirkt sich menschli-
                              de Disparitäten innerhalb der Länder. Bereits im      ches Handeln auf die Erde als Ganzes aus. Die dar-
                              Brundtland Bericht (1987) wird eine nachhaltige       aus resultierenden globalen Umweltveränderungen

      Abb. 1: Kernprobleme
     des globalen Wandels:
      Zerstörung des Tropi-
    schen Regenwaldes im
         Amazonasgebiet...
      © iStock.com/Iuoman

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QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

bestimmen das Verhältnis der Menschheit zu ihren        für die „alten“ Industriemetropolen bedeutet dies
natürlichen Lebensgrundlagen völlig neu. Dieser         eine Verringerung von 80 - 90 % (vgl. Fücks 2012:
in seiner Geschwindigkeit einzigartige, vielfach        18). Immer häufiger wird erkannt und anerkannt,
bedrohliche Transformationsprozess, der als ‚Glo-       dass es umfassender Transformationen nicht-nach-
baler Wandel’ bezeichnet wird, kann nur verstanden      haltiger Lebensstile bedarf, die in den verschiede-
werden, wenn die Erde als ein System begriffen          nen Kulturen und Gesellschaften ganz unterschied-
wird.“ (WBGU 1996: 35)                                  lich eingeleitet werden müssen. Mit seinem weithin
                                                        beachteten Gutachten 2011 fordert der WBGU eine
Derzeit wird vor allem über den Klimawandel ge-         Große Transformation zu einer nachhaltigen (insbe-
redet und verhandelt. Doch weitere Kernprobleme         sondere auch klimaverträglichen) Gesellschaft. Es
wie der Verlust der biologischen Vielfalt, globale      werden global wirksame Lösungsansätze gefordert,
Wasserfragen, Bodendegradation, Bevölkerungs-           für die ein umfassender „Gesellschaftsvertrag“ zwi-
entwicklung und ungleiche Verteilung von Le-            schen Wissenschaft und Gesellschaft vorausgesetzt
benschancen, Weltgesundheit und -ernährung, die         wird. Auf diese Weise soll ein weltweiter Such- und
Globalisierung der Wirtschaft (und die bisher auf       Gestaltungsprozess für eine nachhaltige Entwick-
permanentes Wachstum angelegte Wirtschaftsord-          lung auf allen Ebenen (global, regional, kommunal
nung) oder der Verlust der kulturellen Vielfalt sowie   und letztlich auch individuell) realisiert werden, für
vor allem die Wechselwirkungen zwischen diesen          den die Mitwirkung aller Akteure aus Wissenschaft,
Problemen machen insgesamt den globalen Wandel          Wirtschaft, Politik, Bildung und vielen anderen ge-
aus (vgl. Rockström et al. 2009). Dieser bedroht        sellschaftlichen Handlungsfeldern gefragt ist.
die Lebensgrundlagen der Menschheit sowie die
Lebensqualität vieler Menschen und Gesellschaf-         Obwohl bereits mit der Agenda 21 bei der Konfe-
ten in unterschiedlichem Maße – und zugleich            renz in Rio 1992 formuliert, wurde erst mit dem
die Lebensgrundlagen anderer Spezies auf diesem         Weltgipfel zur nachhaltigen Entwicklung in Johan-
Planeten.                                               nesburg 2002 Bildung als wichtiges Instrument für
                                                        die Gestaltung einer zukunftsfähigen Entwicklung
Zur Bewältigung dieser globalen Herausforderun-         hervorgehoben und durch die Entscheidung der
gen und zur Gestaltung nachhaltiger Entwicklungs-       UN-Vollversammlung für eine Weltdekade „Bil-
prozesse werden derzeit verschiedene Wege und           dung für nachhaltige Entwicklung“ (2005 – 2014)
Instrumente diskutiert. So verlangt beispielsweise      gestärkt.
der Klimawandel eine Halbierung der globalen
CO2-Emissionen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts;

                                                                                                                 Abb. 2: … und fehlende
                                                                                                                 Bildungs- und Lebens-
                                                                                                                 chancen für Kinder im
                                                                                                                 größten Slumgebiet von
                                                                                                                 Freetown/Sierra Leone
                                                                                                                 © iStock.com/Abenaa

                                                                                                                                          7
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                      2 BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR
                         EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG –
                         AUSGANGSPUNKTE UND PERSPEKTIVEN

                      A    nlässlich der UN-Konferenz für Umwelt und
                           Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992
                      wurde das Übereinkommen über die biologische
                                                                              sammlung der Vereinten Nationen entschieden, in
                                                                              den Jahren 2015 − 2019 ein Weltaktionsprogramm
                                                                              (WAP) „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
                      Vielfalt (CBD) verabschiedet. Dabei umfasst „bio-       umzusetzen. Dieses Weltaktionsprogramm und
                      logische Vielfalt“ die Artenvielfalt, die genetische    seine Prioritäten wurden auf der Basis breiter
                      Vielfalt innerhalb der Arten und die Vielfalt der       Konsultationen der Mitgliedsstaaten und vieler
                      Ökosysteme. In diesem Übereinkommen wird                weiterer Akteure erarbeitet. Das übergreifende
                      neben dem Schutz der biologischen Vielfalt auch         Ziel des Entwurfs des Weltaktionsprogramms
                      ihre nachhaltige Nutzung sowie der gerechte Zu-         (UNESCO 2014: 1) liegt darin, „auf allen Ebenen
                      gang zu ihren Ressourcen und ein gerechter Aus-         und in allen Bereichen von Bildung und Lernen
                      gleich von Vor-und Nachteilen aus dieser Nutzung        Handlungen anzustoßen und zu intensivieren, die
                      gefordert.                                              geeignet sind, den Fortschritt hin zu einer nach-
                                                                              haltigen Entwicklung zu beschleunigen“ (Arbeits-
                      In Deutschland wurde dieses Übereinkommen               übersetzung der Deutschen UNESCO-Kommis-
                      im November 2007 als Nationale Strategie zur            sion 2013). Internationale Kooperationen spielen
                      biologischen Vielfalt (NBS) umgesetzt. Ziel der         hierbei eine wichtige Rolle (vgl. Henze & Adom-
                      nationalen Strategie ist es, „alle gesellschaftlichen   ßent 2014).
                      Kräfte zu mobilisieren und zu bündeln, so dass
                      sich die Gefährdung der biologischen Vielfalt           Die internationale Halbzeitkonferenz zur UN-De-
                      in Deutschland deutlich verringert, schließlich         kade in Bonn (2009) hob die Bedeutung der Siche-
                      ganz gestoppt wird und als Fernziel die biolo-          rung der biologischen Vielfalt als Bildungsaufga-
                      gische Vielfalt einschließlich ihrer regionaltypi-      be für die Weltgesellschaft hervor. In der „Bonner
                      schen Besonderheiten wieder zunimmt“ (BMU               Erklärung“ der Weltkonferenz wird biologische
                      2007: 7). Bisher konnten Gefährdungspotenzi-            Vielfalt zudem als Schlüsselthema aufgeführt
                      ale der biologischen Vielfalt nicht hinlänglich         (Deutsche UNESCO-Kommission 2009): Die Ab-
                      gestoppt werden. Wie eine aktuelle Studie zur           nahme der Artenvielfalt und der Rückgang der
                      Lage der Natur in Deutschland zeigt, gibt es            kulturellen Vielfalt werden als wichtige Problem-
                      deutliche Defizite beim Erhaltungszustand der           felder benannt; die Schutzgebiete, namentlich die
                      Arten: Lediglich bei 25 % der Arten ist der von         Biosphärenreservate, werden in ihrer Bedeutung
                      der EU geforderte günstige Erhaltungszustand            für die Bewahrung der biologischen Vielfalt und
                      erreicht. 29 % der Arten weisen einen schlech-          als Ort einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
                      ten und weitere 31 % einen unzureichenden               hervorgehoben.
                      Erhaltungszustand auf. Ähnlich alarmierend sind
                      die Befunde für Lebensräume: Derzeit sind nur           Auch im Vorschlag für das Weltaktionsprogramm
                      28 % der Lebensräume in einem günstigen                 finden sich Bezüge zu biologischer Vielfalt
                      Zustand, 39 % zeigen sich in einem unzureichenden       (UNESCO 2013: Annex, p. 2). Unter Hinweis auf
                      und weitere 31 % in einem schlechten Zustand            einen ganzheitlichen Bildungsansatz als einem
                      (BfN 2014: 3)                                           Prinzip einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
                                                                              werden die miteinander verbundenen Themen der
                      Für die Umsetzung der Nationalen Strategie zur          „Verminderung der Armut, des Klimawandels,
                      Biologischen Vielfalt spielt Bildung eine wichtige      (…), der biologischen Vielfalt sowie des nach-
                      Rolle. Deutlich gestärkt wurde die Bedeutung von        haltigen Konsums und der nachhaltigen Produk-
                      Bildung durch die UN-Dekade „Bildung für nach-          tion“ benannt (Arbeitsübersetzung der Deutschen
                      haltige Entwicklung“ (2005 – 2014). In Nachfolge        UNESCO-Kommission). Zudem werden u. a.
                      dieser UN-Dekade – und zugleich als Antwort auf         das Netzwerk der UNESCO-Biosphärenreservate
                      die bildungsbezogenen Vereinbarungen des Ab-            und die UNESCO-Welterbestätten aufgefordert,
                      schlussdokumentes der Konferenz der Vereinten           „in vollem Umfang zum Weltaktionsprogramm
                      Nationen über nachhaltige Entwicklung (Rio + 20)        beizutragen“ (Deutsche UNESCO-Kommission
                      im Jahre 2012 in Rio de Janeiro – hat die Vollver-      2013: 4; vgl. Info-Kasten 1).

8
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

Dass das Thema der Sicherung der biologischen
Vielfalt nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern   Info-Kasten 1
gerade auch aus gesellschaftspolitischer Sicht
bildungsrelevant ist, zeigen Studien in der beson-   BIOSPHÄRENRESERVATE
ders bedeutsamen Zielgruppe der Jugendlichen
– im Weltaktionsprogramm wird „Jugend“ in ihrer      Biosphärenreservate sind das wichtigste
Rolle und Bedeutung als „Change Agent“ für die       Instrument des UNESCO-Programms „Der
Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung als ei-    Mensch und die Biosphäre“ (MAB). Es sind
nes von fünf prioritären Aktionsfeldern angesehen    Modellregionen nachhaltiger Entwicklung,
(UNESCO 2014: 15).                                   in denen Schutz und Nutzung von Natur
                                                     und Umwelt in Einklang gebracht werden
Eine repräsentative Umfrage in Deutschland und       sollen (vgl. UNESCO heute 2007). 2014 gab
                                                     es weltweit 631 Biosphärenreservate in 119
Österreich „Jugend und Nachhaltigkeit“ („Ber-
                                                     Ländern, die in einem weltweiten Netzwerk
telsmann Jugendstudie“) im Jahr 2009 führte zu       zusammenarbeiten. In Deutschland wurden
dem Befund, dass für sechs von zehn Jugendlichen     bisher 15 Biosphärenreservate anerkannt,
Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema ist: Aspekte      weitere sind in Vorbereitung.
des Klimawandels und der Umweltzerstörung
sowie der Mangel an Nahrung und Trinkwasser          Biosphärenreservate ermöglichen, fördern
in vielen Ländern der Welt erachten Jugendliche      und fordern das nachhaltige Wirtschaften
im Vergleich zu den Themen Wirtschafts- und          der Menschen und ein Zusammenleben mit
Finanzkrise oder Terrorismus als deutlich dring-     Natur und Umwelt, das die sozio-kulturellen
licher (Bundesministerium für europäische und        Besonderheiten beachtet und weiterent-
internationale Angelegenheiten / tns emnid &         wickelt. Mit dem Zonierungskonzept der
                                                     streng geschützten „Kernzone“, einer sie
Bertelsmann Stiftung 2009: 8). Weiterhin for-
                                                     umschließenden „Pflegezone“ und einer
dern sieben von zehn Jugendlichen mehr Bildung       großen „Entwicklungszone“, die den Le-
für nachhaltige Entwicklung. Sie wünschen sich       bens-, Wirtschafts- und Erholungsraum der
in Schule und Ausbildung eine deutlich ver-          im Gebiet lebenden Bevölkerung darstellt,
stärkte Wissensvermittlung über globale Problem-     sind Biosphärenreservate hervorragend ge-
lagen und ihre Verantwortung für die Welt (ebd.      eignet, modellhaft nachhaltige Lebensstile
2009: 15).                                           zu realisieren. In ihnen werden Produkte der
                                                     Region vermarktet, die biologische Vielfalt
Mit einem neuen Instrument, dem „Greenpeace          geschützt und gepflegt, ein „sanfter“ und
Nachhaltigkeitsbarometer“, geplant und erstma-       naturverträglicher Tourismus sowie um-
lig durchgeführt von der Leuphana Universität        weltschonende Formen der Landwirtschaft
                                                     gefördert.
Lüneburg (Michelsen, Grunenberg & Rode 2012),
wurde die Generation der 15- bis 24-Jährigen         Darüber hinaus sind sie wichtige Orte für
genauer „unter die Lupe genommen“. In einer          Forschung und Monitoring, für das Natur-
repräsentativen Befragung (n = 1070) und in qua-     erleben und für Bildung.
litativen, explorativen Interviews zu der Leitfra-
ge „Was bewegt die Jugend?“ zeigte sich, dass        Um die Idee und Praxis einer Bildung für
ein Großteil der Jugendlichen (68 %) bereits         nachhaltige Entwicklung als wichtigem
ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Probleme        Bestandteil des Funktionierens und der Wei-
nachhaltiger Entwicklung hat. Sie wissen, dass       terentwicklung von Biosphärenreservaten
eine intakte Umwelt die Grundlage für jede öko-      zu stärken, hat das MAB Nationalkomitee
nomische, soziale und kulturelle Entwicklung ist.    (2014) ein Positionspapier verabschiedet, in
                                                     dem Ansätze und konkrete Fragestellungen
Das Etikett „Nachhaltige Entwicklung“ wird nach
                                                     für Bildung und Lernen für eine nachhaltige
wie vor als sperrig empfunden, aber die dahinter     Entwicklung präsentiert werden.
stehenden Prinzipien und Inhalte werden in hohem
Maße geteilt. Schulische Bildung erweist sich als

                                                                                                                9
QUERBEET. BIOLOGISCHE VIELFALT UND BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG - ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS - Biologische Vielfalt und BNE
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                         Info-Kasten 2

                         OBJEKTIVE FAKTEN ZUR BIOLOGISCHEN VIELFALT SIND WICHTIG –
                         DOCH WAHRNEHMUNGEN UND BEWERTUNGEN (NATURBILDER)
                         BEEINFLUSSEN ENTSCHEIDEND MENSCHLICHES HANDELN

                         Menschen verändern ihre „Wahrnehmungen parallel zu sich verändernden Umweltbedingun-
                         gen (…), so dass sie in der verlaufenden Zeit keine gravierenden Einschnitte wahrnehmen“
                         (Welzer 2014: VI). Dies zeigt ein Forschungsbefund von Sáenz-Arroyo et al. (2005) eindrucks-
                         voll:

                         Fischer im Süden Kaliforniens wurden gebeten, den Rückgang der Fischbestände im Golf von
                         Kalifornien einzuschätzen. Drei Generationen wurden befragt. In der ältesten Gruppe (über
                         54 Jahre) nannten die Fischer elf Arten, die es nach ihrer Einschätzung heutzutage nicht mehr
                         gäbe, in der mittleren Gruppe (31-54 Jahre) wurden sieben Arten genannt und in der jüngsten
                         Gruppe (15-30 Jahre) nur noch zwei Arten, die in den Fanggründen heute nicht mehr zu finden
                         seien (ebd.: 1959). „Die Jüngsten hatten auch keine Vorstellung mehr davon, dass es dort, wo
                         sie selbst täglich fischten, vor nicht allzu langer Zeit massenhaft Weißhaie, Judenfisch oder
                         auch Perlaustern gegeben hatte“ (Übersetzung Welzer 2008: 215). Ähnlich auch die Beurtei-
                         lung der Fischgründe: Während die Älteren noch berichteten, dass sie früher ganz nah an der
                         Küste gute Fänge machen konnten, war es für die Jüngeren selbstverständlich und unhinter-
                         fragt, dass sie weit hinausfahren mussten, um ähnliche Fangmengen zu erreichen. Sie wären
                         gar nicht auf die Idee gekommen, in Küstennähe überhaupt etwas fangen zu können. Der
                         faktische Rückgang der Artenvielfalt wird von ihnen nicht als ein fortschreitender Prozess
                         wahrgenommen und beurteilt. Dementsprechend vermissen sie auch nicht den einstmals
                         größeren Fischreichtum und auch die einstig größeren Individuen.

                         Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als „shifting baselines“. Als eine Erklärung wird
                         angeführt, dass die jüngeren Fischer im Vergleich zu den älteren – aufgrund ihrer eigenen
                         Lebensspanne – weniger weit in der Zeit zurückliegende Referenzpunkte und Maßstäbe
                         („baselines“) für die Beurteilung eingetretener Veränderungen wählen (vgl. Rost 2014: 19).

                       bedeutender Faktor: Fast die Hälfte der Befragten      Themen zeigen ferner „Konservativ-Bürgerliche“:
                       − und das betrifft vor allem Gymnasiasten − ha-        Sie sind vergleichsweise skeptisch gegenüber dem
                       ben bereits in der Schule Bildung für nachhaltige      technologischen Fortschritt. Auch die Gruppe der
                       Entwicklung erfahren; diese Jugendlichen sind          „Expeditiven“ will Antworten auf die gesellschaft-
                       auch politisch stärker engagiert als andere Gleich-    lichen Probleme finden; bereits in jungen Jahren
                       altrige.                                               suchen sie nach vielfältigen kulturellen Erfahrungs-
                                                                              räumen (vgl. ebd.: 40 ff.).
                       Eine Sinus-Studie, die Lebenswelten der 14- bis
                       17-Jährigen in Deutschland erforschte, fragte im       Es ist keine einfache Aufgabe, die komple-
                       Jahr 2012: „Wie ticken Jugendliche?“ und grenzte       xen Probleme und Lösungsmöglichkeiten des
                       dabei sieben Lebenswelten voneinander ab. Dabei        Schutzes und der nachhaltigen Nutzung biolo-
                       zeigt sich zunächst, dass Jugendliche „sehr unter-     gischer Vielfalt sowie eines gerechten Vorteils-
                       schiedlich“ ticken (vgl. Calmbach, Borchard &          ausgleichs in Bildungsveranstaltungen zu vermit-
                       Thomas 2013: 37). Eine Orientierung an nachhal-        teln. Die vielfältigen Probleme, ihre Ursachen und
                       tigkeitsbezogenen Fragestellungen ist in besonderer    ihre Vernetzungen müssen im Bewusstsein der
                       Weise bei drei Lebenswelten auszumachen: Große         Menschen verankert werden. Insbesondere gilt es,
                       Aufmerksamkeit für umweltpolitische Themen zei-        die Entwicklung von Werten, Einstellungen und
                       gen die „Sozialökologischen“; sie sind zugleich        Motivationen für eine nachhaltige Entwicklung
                       große Kritiker der „Wegwerfgesellschaft“. Verzicht     zu fördern und die Ausbildung von notwendigen
                       ist für sie kein Zwang, sondern ein Gebot der          Kompetenzen und Handlungsbereitschaften zu
                       Überflussgesellschaft. Eine Affinität zu politischen   unterstützen.

10
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

Ein wichtiger Ausgangspunkt für eine zu stär-         Info-Kasten 3
kende Verantwortungsbereitschaft für den Schutz
und eine nachhaltige Nutzung von Naturressour-
                                                      SICHTWEISEN UND KONSTRUKTE –
cen und Lebensgrundlagen ist die Analyse von
                                                      WAS IST EIN ÖKOSYSTEM?
Mensch-Natur-Verhältnissen sowie deren Wech-
selwirkungen:
                                                      Die Definition des biologischen Begriffs
                                                      Ökosystem lautet (nach Ellenberg et al.
Mensch-Natur-Verhältnisse − und allgemein
                                                      1986): Ein Ökosystem wird als dynamisches
Mensch-Umwelt-Verhältnisse − zeigen sich zum          Wirkungsgefüge zwischen einem Lebens-
einen im konkreten Verhalten der Menschen,            raum und der Artengemeinschaft, die die-
d. h. in der Art und Weise, wie sie mit Natur umge-   sen Lebensraum besiedelt, verstanden. Eine
hen, diese verändern, pflegen, schützen, aber auch    Artengemeinschaft besteht aus Produzenten
zerstören, und wie sie umgekehrt von eben diesen      (Pflanzen), Konsumenten (Pflanzenfresser
Natur- und Umweltgegebenheiten beeinflusst wer-       und Räuber) und Destruenten (Bakterien
den (vgl. Graumann & Kruse 2008). Zum anderen         und Pilze). Die Beschaffenheit des Lebens-
werden Mensch-Natur-Verhältnisse deutlich bei der     raums ist abhängig von abiotischen Fakto-
Frage, wie „Natur“ wahrgenommen und interpre-         ren wie dem Relief, dem Mikroklima, den
tiert wird: Welche kulturell, gesellschaftlich und    Bodenbedingungen und der Wasserverfüg-
                                                      barkeit. Wichtig für das Verständnis eines
gruppenspezifisch geprägten „Naturbilder“ werden
                                                      Ökosystems sind die komplexen Wech-
in den Vorstellungen, Einstellungen und Werthal-      selwirkungen zwischen der Artengemein-
tungen deutlich, aber auch im Wissen in Bezug auf     schaft und dem Lebensraum, etwa durch
Natur (z. B. Krömker 2004; Meske 2011; Umwelt-        naturraumtypische Stoff- und Energieflüsse.
psychologie 2005; vgl. Info-Kasten 2)?                Dies hat zur Folge, dass sich das gesamte
                                                      Ökosystem verändern kann, wenn eine
Der Umgang des Menschen mit Natur und bio-            seiner Teilkomponenten verändert wird.
logischer Vielfalt ist also nicht nur durch die
physische Umwelt, sondern ebenso durch sein           Ökosystemen wird ein gewisses Maß an
„Naturverständnis“, durch Interpretationsmuster       Selbstregulation zugeschrieben, welche eine
und Urteilstendenzen bestimmt; in diesen werden       Veränderung einer oder mehrerer Kompo-
                                                      nenten abfedern kann. Diese Selbstregula-
sozio-kulturelle Faktoren wirksam, die einem
                                                      tion und die naturgemäße Dynamik eines
historischen Wandel unterliegen (Info-Kasten          Ökosystems können jedoch durch Eingriffe
3). Auch zeigen sich große Unterschiede bezüg-        von außen (etwa durch Düngung, Rodung
lich Kriterien wie Alter, „Milieu“-Zugehörigkeit,     oder Stoffeintrag) empfindlich gestört wer-
Stadt-Land-Bewohner, ethnische Zugehörigkeit.         den. Eine solche durch den Menschen verur-
Empirische Studien dokumentieren ein höchst           sachte Beeinflussung eines Ökosystems geht
widersprüchliches, ambivalentes Naturverständ-        häufig mit einer Veränderung des Lebens-
nis vieler Menschen. So drückt sich beispielswei-     raums und negativen Folgen für die vorhan-
se die Liebe zum Wald in einer starken Ableh-         dene Artengemeinschaft einher.
nung des Fällens von Bäumen aus. Gleichzeitig
kaufen Menschen Wohnmöbel aus tropischen              „Es ist jedoch zu beachten, dass die Ab-
                                                      grenzung eines Ökosystems nicht in der
Hölzern, die dem Regenwald entnommen wur-
                                                      Natur vorgegeben ist, sondern nach den
den (Stoltenberg 2009: 34; Brämer 2010). Mit          Gesichtspunkten der Forschung erfolgt“
gutem Grund sieht die Umsetzung der Nationalen        (Reichholf 2008: 218 f). Ökosysteme haben
Strategie zur biologischen Vielfalt die Erfassung     keine starren, festgelegten Zustände. Sie
des „Naturbewusstseins“ der Bevölkerung in re-        können daher auch nicht, wie häufig for-
gelmäßigen Abständen vor (BMUB 2014; BMU              muliert, belastet werden oder gar „zusam-
2012; BMU 2010; vgl. auch Lucker & Kölsch             menbrechen“. Damit werden Erwartungen
2014), da seine Relevanz für den Umgang mit           und Sichtweisen der Menschen ausgedrückt
biologischer Vielfalt außer Frage steht. Für die      und keine objektiven Gegebenheiten der
globale Dimension der Gestaltung nachhaltiger         Natur. Wissenschaftliche Konzepte bringen
Entwicklung und damit auch den Schutz biolo-          lediglich Ordnung und Struktur in das sonst
                                                      chaotisch erscheinende Ganze von „Natur“
gischer Vielfalt dürfen historische und kulturelle
                                                      oder „biologischer Vielfalt“.
Unterschiede in der Natur- und Landschafts-
wahrnehmung und ihre Entwicklung − z. B. in

                                                                                                                 11
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                       westlichen Industrienationen im Vergleich zu         Nutzungsintensitäten“. Dieses Konzept rückt da-
                       traditionalen Gesellschaften oder indigenen Völ-     von ab, Schutz und Nutzung streng voneinander
                       kern − nicht außer Acht gelassen werden (vgl.        zu trennen; vielmehr wird ein Kontinuum bzw.
                       WBGU 2000: 123 ff.)                                  eine Integration von Schutz und Nutzung ange-
                                                                            strebt. Dabei kommt beiden Zielen jeweils ein
                       Im Sinne einer Bildung für eine nachhaltige Ent-     unterschiedliches Gewicht zu, das zu bewerten
                       wicklung ist ein Naturverständnis anzustreben,       und auszutarieren ist: „Schutz vor Nutzung“ wür-
                       das Natur als Lebensgrundlage der Menschen           de wertvolle Gebiete als Schutzgebiet − z. B. als
                       betrachtet, die es zu erhalten und zugleich zu       Nationalpark − ausweisen, das von menschlicher
                       nutzen gilt. Es geht darum, Natur und Kultur nicht   Nutzung freibleibt. „Schutz durch Nutzung“ könn-
                       als getrennte oder sogar gegensätzliche Bereiche,    te durch die Entwicklung von Formen des sanften
                       sondern in ihrer fundamentalen Verzahnung und        oder nachhaltigen Tourismus verwirklicht werden,
                       Wechselwirkung wahrzunehmen und zu bewerten.         bei dem menschliche Nutzungsinteressen mit den
                       Kultur entsteht durch Aneignung der Natur im         Schutzerfordernissen einer Landschaft, einer Res-
                       Sinne von bearbeiten, schützen und zerstören, aber   source ausbalanciert werden können. Geht es um
                       auch von benennen und bewerten (Kruse 2002).         „Schutz trotz Nutzung“, steht die wirtschaftliche
                       Die Schönheit und die vielfältigen Funktionen        Nutzung im Vordergrund. Auch bei diesem Hand-
                       von Natur sind immer auch im Zusammenhang            lungsziel ist zu beachten, dass die Grundlagen der
                       mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen       wirtschaftlichen Nutzung der Pflege bedürfen;
                       Nutzungsmöglichkeiten von Natur zu betrachten,       dies gilt für landwirtschaftlich ertragreiche Böden
                       wobei Nutzung in einem sehr weiten Sinne zu          genauso wie für „reizvolle Landschaften“ und
                       verstehen ist. Aufbauend auf einem solchen Ver-      „intakte Natur“ als überdauernde Attraktivität
                       ständnis von Mensch-Natur-Verhältnissen kann         für Touristen. Diese verschiedenen Typen der
                       das Leben auf der Erde heute und in Zukunft          Landschaftsnutzung sind idealtypisch zu denken
                       nachhaltig gestaltet werden – unter Beachtung na-    und existieren nicht in reiner Form. Sie helfen
                       türlicher Lebenszusammenhänge, durch einen ver-      aber, Schutz oder Nutzung nicht als „Alles oder
                       antwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, unter       Nichts“-Prinzip zu behandeln, sondern Schutzer-
                       Wahrung von Menschenrechten und im Bestreben         fordernisse und Nutzungsinteressen als Varianten
                       einer globalen Gerechtigkeit in der „Einen Welt“.    von Mensch-Umwelt/Natur-Verhältnissen zu be-
                                                                            handeln und bewusst auszuhandeln.
                       Zentrale Fragen für Bildungsprozesse sind damit
                       u. a.:                                               Die Bedeutung von Schutz und Nutzung biologi-
                                                                            scher Vielfalt für die Gestaltung einer nachhaltigen
                       • Wie werden „Natur“ und „biologische Vielfalt“     Entwicklung lässt sich anhand der nachfolgend
                          wahrgenommen und interpretiert?                   beschriebenen Schlüsselthemen besonders gut
                                                                            aufzeigen. Diese weisen konkrete Bezüge zur Le-
                       • Welche Bedeutung/welchen Wert hat biologische
                                                                            benswelt und zum Alltagshandeln von Menschen
                          Vielfalt für verschiedene gesellschaftliche und
                                                                            auf. Zudem sind sie anschlussfähig an die Grund-
                          kulturelle Gruppen?
                                                                            sätze des internationalen Übereinkommens über
                       • Wie entstehen solche Werthaltungen?               die biologische Vielfalt, die Nationale Strategie
                                                                            zur biologischen Vielfalt sowie das Weltaktions-
                       •
                        Welche Nutzungsmöglichkeiten biologischer
                                                                            programm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
                        Vielfalt sind uns Menschen bekannt?
                                                                            (2015 – 2019). Wenngleich die Schlüsselthemen
                       •
                        Wie verantwortlich fühlen wir uns für einen         nachfolgend getrennt voneinander bearbeitet wer-
                        nachhaltigen Schutz von Naturressourcen?            den, existieren vielfältige Vernetzungen. Auch
                                                                            die im zweiten Teil der Publikation folgenden
                       Für das Problem der Nutzung und des gleich-          Beispiele für konkrete Handlungs- und Bildungs-
                       zeitigen Schutzes biologischer Vielfalt ist die      angebote lassen sich vielfach nicht einem Schlüs-
                       Frage von Handlungszielen bedeutsam. Eine            selthema explizit zuordnen, sondern verbinden
                       sinnvolle Gliederung und Bewertung von Hand-         mehrere Schlüsselthemen miteinander und zeigen
                       lungszielen liefert das von Haber 1971 (s. 1984;     so Zusammenhänge und Wechselwirkungen auf.
                       Haber & Bückmann 2013; vgl. auch WBGU 2000:
                       136 ff.) vorgeschlagene System „differenzierter

12
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

3 SCHLÜSSELTHEMEN

D     ie Arbeitsgruppe „Biologische Vielfalt“ hat
      sich auf folgende vier Schlüsselthemen ver-
ständigt, um die mit der Erhaltung der biologi-
                                                    trachtet, beispielsweise Laubmischwälder, Savan-
                                                    nen, Wüsten, das Wattenmeer, Korallenriffe, Süß-
schen Vielfalt verbundenen Herausforderungen        wasserfeuchtgebiete oder Streuobstwiesen. Dem
für eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung   Schutz der Vielfalt der Lebensräume fällt eine
zu verdeutlichen (vgl. Deutsche UNESCO-Kom-         bedeutende Rolle bei der Sicherung der Artenviel-
mission 2011):                                      falt zu. In diesem Zusammenhang können sowohl
                                                    die durch menschliche Nutzungen angeeigneten
• Vielfalt der Lebensräume                         Landschaften – allgemein als „Kulturlandschaf-
• Leistungen der Natur                             ten“ bezeichnet – als auch die durch Menschen
• Klimawandel und biologische Vielfalt             nicht oder nur wenig beeinflussten „Naturland-
• Konsum und biologische Vielfalt.                 schaften“ (im Sinne von weitgehend unberühr-
                                                    ten Naturräumen) schützenswerte Lebensräume
Anhand dieser Schlüsselthemen soll verdeutlicht     darstellen (vgl. Politische Ökologie 2004; 2006;
werden, wie ein „Lernen für Nachhaltigkeit“         2008).
auf mehreren Ebenen angesiedelt und aus ver-
schiedenen Perspektiven betrachtet werden kann.     3.1.1 B
                                                           iologische Vielfalt in
Diese Schlüsselthemen sind sowohl für jede ein-           Kulturlandschaften
zelne Person und ihr Handeln relevant als auch
für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, für     Seit der Sesshaftwerdung haben die Menschen
politische Organisationen und Verwaltungen, für     durch die Anlage von Siedlungen, Verkehrsflä-
Unternehmen und Verbände. Wechselwirkungen          chen, Äckern und Weideland in hohem Maße auf
zwischen diesen Ebenen bieten vielfältige pä-       die Naturräume eingewirkt und diese nach ihren
dagogisch anspruchsvolle Anlässe zur Ausein-        Bedürfnissen und Vorstellungen gestaltet, quasi
andersetzung mit einzelnen Themenstellungen,        „domestiziert“ (vgl. Abb. 3 und Abb. 4). Unter
zur Einbindung unterschiedlicher Akteure in die     dem Begriff „Kulturlandschaft“ versteht man diese
Bildungsarbeit, zur kritischen (Selbst-)Reflexion   durch Menschen geformte Natur, die sowohl Kul-
sowie zur Entwicklung und Umsetzung gemein-         tur- als auch Naturelemente enthält (Konold 1996;
samer Vorhaben zum Erhalt und zur nachhaltigen      2007). Bei den heute gemeinhin als „natürlich“
Nutzung biologischer Vielfalt.                      wahrgenommenen Landschaften handelt es sich
                                                    somit meist um „Kulturlandschaften“, die über
                                                    Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewachsen,
3.1 SCHLÜSSELTHEMA:                                d. h. angeeignet und gestaltet worden sind oder als
     VIELFALT DER LEBENSRÄUME                       Nebenprodukte menschlichen Wirtschaftens, z. B.
                                                    als Brachflächen oder Baggerseen, zurückblieben.
Zu den Hauptgefährdungen der biologischen Viel-     In Deutschland würden sich natürlicherweise aus-
falt zählen der Verlust und die Veränderung von     gedehnte – im Vergleich zu anderen gemäßigten
Lebensräumen und damit die Beeinträchtigung         Zonen (aufgrund der Eiszeiten) relativ artenarme
der Arten, die auf diesen Lebensraum angewiesen     – Laubwälder erstrecken. Hier findet sich jedoch
sind. Diese Verluste werden primär verursacht       ein abwechslungsreiches Mosaik aus Wäldern,
durch eine zunehmende Flächeninanspruchnahme        Feldern und Wiesen.
für Siedlungen und urbane Räume einschließlich
Verkehrstrassen, den Raubbau an Wäldern, die        Im Laufe der Zeit hat sich durch Ackerbau und
Umwandlung von Brachflächen für die Land-           Viehhaltung eine hohe landwirtschaftliche biolo-
wirtschaft – auch für die Erzeugung von Bioener-    gische Vielfalt – Agrobiodiversität – entwickelt
gie anstelle der Produktion von Nahrungsmitteln     (vgl. Info-Kasten 4). Auch viele durch den Men-
(„Tank versus Teller“) −, die allgemeine Überdün-   schen geschaffenen Landschaftselemente – wie
gung von Land- und Wasserökosystemen und die        Heiden und Steinbrüche, aber auch Hecken oder
Ausbreitung gebietsfremder Arten. Nicht zuletzt     Bewässerungskanäle – stellen Lebensräume für ei-
bedroht der Klimawandel die biologische Vielfalt.   ne Vielzahl spezialisierter Arten dar (Haber 1984)
Je nach Ausprägung des Lebensraumes und der         und sind heutzutage von großer Bedeutung für
vorhandenen Artengemeinschaft werden in der         den Naturschutz und den Erhalt der biologischen
Ökologie unterschiedliche Ökosystemtypen be-        Vielfalt. Biologische Vielfalt ist auch von großem

                                                                                                               13
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                                    Wert bei der Anpassung der Landwirtschaft an den       Kulturlandschaften“ (z. B. im Sinne von „Natur-
                                    Klimawandel und unerlässlich für die zukünftige        bildern“) sind ausschlaggebend für Einstellungen
                                    weltweite Ernährungssicherung. Bedingt durch die       und Entscheidungen, was schützenswert ist oder
                                    Intensivierung der Landwirtschaft und die moderne      nicht und haben damit einen deutlichen Einfluss
                                    Pflanzenzüchtung ist die zwischenartliche sowie in-    auf den Umgang mit Landschaft und biologischer
                                    nerartliche (genetische) Vielfalt der Kulturpflanzen   Vielfalt. So sind auch sogenannte Naturlandschaf-
                                    und Haustierrassen in Mitteleuropa jedoch seit Mit-    ten (einschließlich „Wildnisgebiete“) in dem Sin-
                                    te des 19. Jahrhunderts erheblich zurückgegangen       ne „Kulturlandschaften“, als sie durch Benennung
                                    (Harper et al. 2008; WBGU 2000: 81ff.).                (Auszeichnung) und Bewertung in bestimmter
                                                                                           Weise kulturell angeeignet (und gesellschaftlich
                                    Die Kulturlandschaft wird aber nicht nur durch         konstruiert) werden.
                                    die Agrar- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei
                                    genutzt. Vielmehr bietet sie auch wichtige (Nah-)      Zunehmende Beachtung finden inzwischen die
                                    Erholungsräume für die Bevölkerung, eröffnet           Auswirkungen „gebietsfremder“ (invasiver) Ar-
                                    vielfältige Möglichkeiten der Freizeitnutzung          ten, die seit der Neuzeit entweder durch Aktivitä-
                                    (Sport, Erholung) und trägt damit zur regionalen       ten des Menschen – gewollt oder ungewollt – in
                                    Wertschöpfung bei. Mit ihren kulturellen und äs-       vorher von ihnen nicht besiedelte Gebiete ein-
                                    thetischen Werten bedeutet sie auch ein wichtiges      geführt wurden oder selbstständig eingewandert
                                    Stück Lebensqualität. Regionaltypische Eigenarten      sind. Damit setzte ein bisher nicht da gewesener
                                    der Kulturlandschaft sind eng mit der Geschichte,      weltweiter Austausch an Faunen- und Florenele-
                                    dem Heimatgefühl und der regionalen Identität          menten ein, der zum Transfer von Organismen
                                    der Bevölkerung verbunden. Gleichwohl sind             in Regionen weit außerhalb ihrer natürlichen
                                    Wahrnehmung und Bewertung von Kulturland-              Verbreitungsgrenzen führte und bis heute führt.
                                    schaften ständigen Veränderungen unterworfen.          Die Einbringung nichtheimischer Arten gehört
                                    Im Laufe der Geschichte und in den verschiedenen       – nach dem Verlust von Lebensräumen infolge
                                    Kulturen haben sich immer wieder verschiedene          von Landnutzungsänderung – weltweit betrachtet
                                    Konzepte und Bewertungen entwickelt, die als           zu den wichtigsten Bedrohungen für die biolo-
                                    das Ergebnis „gesellschaftlicher Konstruktionen“       gische Vielfalt (WBGU 2000: 194; ebd. Glos-
                                    betrachtet werden können (Info-Kasten 5). Die-         sar). Wie jüngste Schätzungen des EU-Parla-
                                    se gesellschaftlich und kulturell bedingten Kon-       mentes aus dem Jahr 2014 zeigen, verursachen
                                    struktionen und Bewertungen von „Natur- bzw.           „invasive gebietsfremde Arten […] einen Scha-

     Abb. 3: Die Jahrhunderte
          alten Reisterrassen
         von Jatiluwih, Bali  ...
            © iStock.com/Iore

14
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

Info-Kasten 4

AGROBIODIVERSITÄT

Unter Agrobiodiversität versteht man die biologische Vielfalt der Landwirtschaft, d. h. die
Vielfalt aller Organismen in Agrarökosystemen und die Vielfalt dieser Systeme selbst, wie
sie 10.000 Jahre der Landbewirtschaftung einschließlich Forst- und Fischereiwirtschaft her-
vorgebracht haben. Dazu gehören auch alle Zuchtformen von Tieren, Pflanzen und Mikroor-
ganismen. Diese Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten sowie der Ökosysteme hat einen hohen
existentiellen und ökonomischen Wert, denn sie sichert unsere Ernährung, die medizinische
Versorgung, dämpft die Auswirkungen des Klimawandels und ermöglicht die Anpassung an
globale Umweltveränderungen. Von den bekannten 12.000 Kulturpflanzen dienen 3.000 der
Ernährung. Und von diesen sind es nur 30, die 90 % des weltweiten Kalorienverbrauchs er-
möglichen. Nur drei Arten − Reis, Mais und Weizen − liefern 50 % des Weltenergiebedarfs
an Kalorien. Doch nicht nur ein Artenschwund ist auffällig, sondern auch ein bedrohlicher
Schwund an Rassen und Sorten.

Heute gibt es zwar in der Landwirtschaft mehr Arten als je zuvor in der Erdgeschichte, doch
ihre Aussterberate wächst unaufhörlich, so dass bis Ende des Jahrhunderts ein Rückgang der
Artenvielfalt um 50 % angenommen wird. So wurden in China 1949 noch 10.000 lokale Wei-
zensorten angebaut, heute sind es weniger als 1.000, die in großem Umfang genutzt werden,
d. h. 90 % der Sorten wurden innerhalb eines halben Jahrhunderts aus dem Anbau verdrängt.

Die Gründe für den Verlust der Agrobiodiversität sind vielfältig und komplex: Die moderne
Landwirtschaft selbst trägt durch Intensivierung, Rationalisierung sowie Spezialisierung der
Produktion maßgeblich zur Verringerung der landwirtschaftlichen Vielfalt bei. Auch die Einfüh-
rung gentechnisch veränderter Sorten, fehlende ökonomische Anreize für einen Biodiversitäts-
erhalt und zunehmende Privatisierung genetischer Ressourcen sind weitere wichtige Gründe für
Arten- und Sortenschwund. Außerdem spielen Übernutzung sowie Verlust und Zerschneidung
von Lebensräumen eine wichtige Rolle.
Ü www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/umwelt/biodiversitaet/arbeitsfelder/agrobiodiversitaet/
(letzter Zugriff 02.01.2015)

                                                                                                 Abb. 4:
                                                                                                 … und eine Landschaft mit
                                                                                                 Weideland und Baumbestand
                                                                                                 zum Erhalt bäuerlicher Struk-
                                                                                                 turen in Oberstdorf, Allgäu
                                                                                                 © iStock.com/justhavealook

                                                                                                                          15
QUERBEET – Biologische Vielfalt und Bildung für nachhaltige Entwicklung

                        Info-Kasten 5                                  den von mindestens 12 Milliarden Euro pro Jahr
                                                                       in der EU“. Ü www.europarl.europa.eu/pdfs/news/
                        NATURBILDER IM KULTURELLEN                     expert/infopress/20140411IPR43471/20140411IPR43471_
                                                                       de.pdf (letzter Zugriff 05.01.2015)
                        UND HISTORISCHEN WANDEL –
                        DAS BEISPIEL LÜNEBURGER HEIDE
                                                                       Eine Sicherung der Vielfalt der Lebensräume um-
                                                                       fasst immer auch den Schutz einer vielfältigen
                        Der Natur als Landschaft und ästhetischem
                                                                       Kulturlandschaft und somit einen Schutz durch
                        Erlebnis wurde in Europa erst in der Ro-
                        mantik größere Aufmerksamkeit zuteil. Ein
                                                                       – möglichst nachhaltige – Nutzung. Grundsätzlich
                        anschauliches Beispiel bietet die Wahr-        ist die landwirtschaftliche Nutzung und Bewirt-
                        nehmung der Lüneburger Heide, die 1921         schaftung jedoch ambivalent zu betrachten: Einer-
                        zum „Naturschutzpark“ erklärt wurde, ihren     seits kann die Landwirtschaft biologische Vielfalt
                        außerordentlichen Wert aber schon mit der      durch Schaffung abwechslungsreicher, vielgestal-
                        Entwicklung des „romantischen Blicks“ zu       tiger Kulturräume fördern, andererseits hat die zu-
                        Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt. Wie       nehmende Intensivierung der Landwirtschaft zahl-
                        literarische Zeugnisse vielfach belegen, war   reiche negative Auswirkungen für die Vielfalt wild
                        dieses Gebiet etwa über 200 Jahre hinweg       lebender Arten und ihrer Lebensräume. Durch
                        als „wild, übel, wüst, schlimm, einförmig,
                                                                       die verschiedenen Nutzergruppen in der Kultur-
                        böse, armselig“ verschrien. 1801 schrieb
                                                                       landschaft sind Konflikte zwischen Ansprüchen
                        Caroline Schlegel in einem Brief über ihre
                        Fahrt von Braunschweig über Celle nach         und Gestaltungswünschen vorprogrammiert. Neue
                        Harburg: „Die Eile war das Beste von der       Nutzungsformen – sei es durch Landwirtschaft,
                        Reise, denn hilf Himmel welch ein Land!        Tourismus oder (Natur-)Sport – verändern häufig
                        Ich wurde seekrank von dem einförmigen         alte Kulturlandschaftselemente, schaffen jedoch
                        Anblick der Heide und des Himmels, und         auch neue Landschaftsstrukturen und mögliche
                        so geht es doch von Braunschweig bis hier-     neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen.
                        her 18 Meilen in einem fort, dürre, braune
                        Heide, Sand, verkrüppelte Bäume mit Moos       Das Themenfeld „biologische Vielfalt in Kultur-
                        und Schimmel überzogen ...“ (Eichberg          landschaften“ bietet vielfältige Bezüge und An-
                        1983: 198).
                                                                       knüpfungspunkte für eine Bildung für nachhaltige
                                                                       Entwicklung (vgl. auch Info-Kasten 6). Geeignete
                        Die Lüneburger Heide ist Teil jener durch
                        menschliche Aktivitäten geschaffenen Kul-      Leitfragen sind u. a.:
                        turlandschaften, die durch ausbeuterische
                        Naturnutzung seit dem Mittelalter entstan-     •
                                                                        Welche Bedeutung haben Kulturlandschaften
                        den ist und die heute ganz selbstverständ-      für uns – für unseren Alltag, unsere Konsument-
                        lich für viele Menschen „bezaubernd, ange-      scheidungen und unsere Freizeitgestaltung?
                        nehm, schön, grün und voller Leben“ ist.
                                                                       •
                                                                        Wie sind einzelne Kulturlandschaften entstan-
                                                                        den? Für welche Arten bieten sie Lebensräume?
                                                                       • Wie haben sich einzelne Kulturlandschaften ins-
                                                                          besondere in den letzten 30 - 50 Jahren verändert
                                                                          oder entwickelt?
                                                                       • Welche Nutzungsformen fördern eine möglichst
                                                                          hohe biologische Vielfalt in Kulturlandschaften,
                                                                          z. B. auch in der Landwirtschaft?
                                                                       • Wie wirken sich gesellschaftliche, gruppenspezi-
                                                                          fische, aber auch individuelle Vorstellungen von
                                                                          Natur und Kultur auf die Gestaltung − d. h. die
                                                                          Veränderung oder die Bewahrung − von Kultur-
                                                                          landschaften aus?
                                                                       • Welche Rolle spielen Kulturlandschaften für un-
                                                                          sere Identität und unser Wohlbefinden?

16
Grundlagen, Schlüsselthemen und Zugänge für Bildungsangebote

3.1.2 Biologische Vielfalt in Naturlandschaften        Info-Kasten 6

Als Naturlandschaften werden solche großräumi-         „DIE OBSTLER – KULTURLAND-
gen Landschaften bezeichnet, die nicht durch Nut-
                                                       SCHAFTSFÜHRER STREUOBSTWIESEN“
zung geprägt sind, sondern in ihrer Ausgestaltung
einen ursprünglichen Charakter aufweisen (vgl.
                                                       Im LIFE+-Projekt „Vogelschutz in Streuobst-
Abb. 5 und Abb. 6). Neben der Hochregion der
                                                       wiesen“ können Bürgerinnen und Bürger
Alpen ist das Wattenmeer an der Nordseeküste die       sowie Gäste jeden Alters Besonderes er-
letzte flächendeckende Naturlandschaft Europas. In     leben: Von der Stiftung Naturschutzfonds
Deutschland werden Naturlandschaften als „Natio-       Baden-Württemberg speziell ausgebildete
nalparke“ unter dem Motto „Natur Natur sein las-       und qualifizierte „Obstler – Kulturland-
sen“ geschützt. In Teilgebieten der Naturparke ist     schaftsführer Streuobstwiesen“ führen
gleichzeitig eine touristische Nutzung für Bildung     Gruppen mit viel Wissen und Können, einer
und Naturerlebnis (vgl. u. a. Langenhorst, Lude &      guten Portion Humor und mit viel Liebe zur
Bittner 2014) ausdrücklich vorgesehen.                 Heimat durch die großflächigen Streuobst-
                                                       wiesen im Albvorland und Wieslauftal. Sie
                                                       öffnen Augen und Ohren für die großen
In verschiedenen Naturlandschaften und Schutzge-
                                                       und kleinen Wunder im Streuobstparadies,
bieten sind Naturerlebnisräume für Kinder, Jugend-
                                                       schärfen Sinne und Verstand für diese
liche und Erwachsene entstanden. Beispielhaft sei      einzigartige, artenreiche Kulturlandschaft,
das Naturschutzgebiet „Schafberg-Lochenstein“,         schaffen spannende Naturerlebnisse, er-
eine Kulturlandschaft auf der Schwäbischen Alb,        läutern traditionelle Bewirtschaftungsfor-
genannt: Hier ermöglicht ein in Zusammenarbeit         men und Möglichkeiten der Förderung von
mit Kindern und Jugendlichen entstandener weitge-      Vermarktungsalternativen, thematisieren
hend „mobiler Naturerlebnisraum“ (Mobi-World)          Brauchtum, Kunst und Kultur und erklären
vielfältige Aktivitäten: Naturerkundungen finden       die Bedeutung biologischer Vielfalt für eine
vor allem mit technischer Unterstützung – dem          nachhaltige Entwicklung.
mobilen Naturführer – statt. Ausgeruht bzw. „ge-       Ü www.life-vogelschutz-streuobst.de/index.
chillt“ wird im mobilen Hängemattenwald. Der           php/de/obstler (letzter Aufruf: 05.01.2015)
Science-Rucksack ist u. a. ausgestattet mit Ma-
terialien zum Erforschen, mit Bestimmungslite-
ratur und Orientierungshilfen. Nähere Infos zu
modellhaften Naturerlebnisräumen in Schutzge-
bieten in Baden-Württemberg sind unter folgen-        ten wie unberechenbar, bedrohlich, ungezähmt
den Links zu finden: Ü http://www.rp-tuebingen.       und kulturlos, aber auch mit ursprünglich, aben-
de/servlet/PB/menu/1252785/index.html; http://www.    teuerlich und paradiesisch. Die Ambivalenz des
rp-freiburg.de/servlet/PB/menu/1303506/index.html     Erlebens spiegelt sich – als Ambitendenz – auch
(letzter Aufruf: 08.01.2015)                          im Verhalten wider (Kruse 1983; Heiland 2006).

Naturlandschaften werden bisweilen eng mit            Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt
„Wildnis“ assoziiert − wobei Wildnis häufig als       versteht Wildnisgebiete als Naturräume, in denen
das Gegenkonzept zur Kulturlandschaft verstan-        der Mensch in die intakte Lebensraumdynamik
den wird: als die vom Menschen unberührte Natur,      nicht eingreift. Diese bieten Lebensraum für eine
die sich weitestgehend selbst überlassen bleibt und   Vielzahl an Tier- und Pflanzenarten und stellen eine
ausschließlich durch „natürliche“ Prozesse (ohne      wichtige Ressource für die Erforschung natürlicher
menschliche Einwirkung) gesteuert wird. Der           Prozesse dar. Der besondere Wert, der Wildnisge-
Wildnisbegriff wird mittlerweile in unterschied-      bieten für den Erhalt der biologischen Vielfalt bei-
lichen Kontexten verwendet; so wird von den           gemessen wird, zeigt sich darin, dass eine Erhöhung
großen Wildnisgebieten auf anderen Kontinenten        ihres Anteils von derzeit unter 1 % auf mindestens
ebenso gesprochen wie von der „Wildnis in der         2 % des Bundesgebietes bis 2020 angestrebt wird
Stadt“. Dies verdeutlicht, dass Wildnis (ebenso       (BMU 2007). Das Entwicklungsziel „Wildnis“ ist
wie „Natur“ oder „Landschaft“) subjektiv unter-       auch auf Flächen des Schutzprogramms „Nationa-
schiedlich erlebt und bewertet wird: Wildnis kann     les Naturerbe“ zu finden: So werden z. B. naturnahe
sowohl Ablehnung und Ängste als auch romanti-         Laubmischwälder als Wildnisgebiete ihrer natürli-
sche Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestim-     chen Entwicklung überlassen (Baaske & Cherouny
mung hervorrufen. Sie ist belegt mit Eigenschaf-      2014).

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