Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW

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Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
PIKAS
      Deutsches Zentrum für
      Lehrerbildung Mathematik

Rechenschwierigkeiten vermeiden
Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase
Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
2   Grußwort

     Sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer, liebe Leserinnen und Leser,
     das Erlernen von Mathematik, insbesondere die basale Rechenfähigkeit, ist eine grund-
     legende Schlüsselqualifikation und für das Leben in unserer Gesellschaft unerlässlich.

     Die Ergebnisse des letzten IQB-Bildungstrends zeigen     den Fachtagungen der Universität, soll nun der Blick
     auch für NRW im Bereich Mathematik Handlungs-            lehrwerksunabhängig in Form von verschiedenen
     bedarf auf. Deutschlandweit verfehlen ca. 22% der        Handreichungen auf zentrale und bedeutsame di-
     Viertklässler die bestehenden Mindeststandards, in       daktisch-methodische Einflussbereiche für das Fach
     NRW sind es sogar knapp 24%. Die Gründe hierfür          gelegt werden. Dies ist das erste Heft einer geplan-
     mögen vielseitig sein. Für uns als Verantwortliche für   ten Veröffentlichungsreihe mit weiteren Themen,
     Schule und Bildung ist das Ergebnis ein Handlungs-       wie zum Beispiel „Mathematik gemeinsam lernen“
     signal. Deshalb haben wir uns im Kontext des Mas-        oder „Digitale Medien im Mathematikunterricht der
     terplans Grundschule auch für eine Fachoffensive         Primarstufe“.
     Mathematik zur Unterstützung der Grundschularbeit        Die Reihe verfolgt konsequent das Ziel, unter ver-
     entschlossen und beginnen diesen Prozess mit der         schiedenen Gesichtspunkten in knapper Form Hin-
     vorliegenden Handreichung „Rechenschwierigkeiten         tergrundinformationen und Hilfestellungen für den
     vermeiden“.                                              Unterricht zu geben.
     Aufbauend auf der schon seit mehr als zehn Jahren        Die Hauptintention der vorliegenden Handreichung
     bestehenden Kooperation mit der Technischen Uni-         besteht darin, den Fokus auf zentrale Schlüsselstel-
     versität Dortmund, auch unterstützt durch die Deut-      len zu richten, um das Auftreten von Rechenschwie-
     sche Telekom Stiftung, sollen Sie, liebe Lehrkräfte,     rigkeiten weniger wahrscheinlich werden zu lassen.
     durch die Handreichungsreihe „Mathematik Primar-         Die Handreichung wurde im Projekt PIKAS von ei-
     stufe kompakt“ in Ihrem alltäglichen unterrichtlichen    nem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
     Handeln zusätzlich unterstützt werden.                   schaftlern der Technischen Universität Dortmund
     Neben den bestehenden, qualitativ weitreichenden         und Grundschullehrkräften aus Nordrhein-West-
     Angeboten „PIKAS“, „PIKAS kompakt“, „PIKAS digi“         falen entwickelt. Ich danke allen Beteiligten für das
     und „PIKAS Inklusiv“, die insbesondere onlineba-         hohe Engagement, mit dem sie ihr Expertenwissen
     sierten Anregungen und Materialien für einen zeit-       und ihre Erfahrungen bei der Erstellung der Hand-
     gemäßen Mathematikunterricht bereithalten, und           reichung eingebracht haben, um möglichst für jedes
                                                              Kind das Erreichen der Mindeststandards sicher zu
                                                              stellen.
                                                              Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, danke ich an die-
                                                              ser Stelle ausdrücklich für Ihr Interesse an diesem
                                                              wichtigen Thema und für Ihr Engagement, die Leis-
                                                              tungen der Ihnen anvertrauten Kinder mit Rechen-
                                                              schwierigkeiten im Fach Mathematik an Ihrer Schule
                                                              weiter zu verbessern.

                                                              Ihre Yvonne Gebauer
                                                              Ministerin für Schule und Bildung
                                                              des Landes Nordrhein-Westfalen
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Intention und Konzeption der
                                                                                                        Handreichung
                                                                                                                        3

Intention und Konzeption der Handreichung
Toni gibt 19 als Ergebnis der Aufgabe 12 + 34 an.
Wie kommt er zu diesem Resultat?

Toni hat 12 + 3 + 4 statt 12 + 34 gerechnet, also nicht   In dieser Handreichung beschreiben wir eingangs
berücksichtigt, dass die 3 an der Zehnerstelle steht.     zentrale Merkmale und Risikofaktoren von Rechen-
Es könnte durchaus sein, dass Toni im Unterricht          schwierigkeiten (Kap. 1). Anschließend befassen wir
nicht genügend Lerngelegenheiten erhalten hat, um         uns mit Diagnose im Sinne des stärkenorientierten
ein gesichertes Stellenwertverständnis aufbauen zu        Verstehens von Denkwegen (Kap. 2) und mit Förde-
können. In diesem Fall wäre der Unterricht dann für       rung als darauf basierendem, zielbewusstem Anre-
Tonis Schwierigkeiten mitverantwortlich.                  gen von Lernprozessen (Kap. 3). Den Kern der Hand-
Positiv formuliert: Ein Unterricht, in dem die poten-     reichung bilden die Ausführungen zu sechs zentralen
ziellen stofflichen Hürden bei der Planung, Durchfüh-     Themen der Schuleingangsphase (Kap. 4 - 9): Zahl-
rung sowie Auswertung des Unterrichts angemessen          verständnis, Operationsverständnis, Stellenwertver-
berücksichtigt werden, kann die Wahrscheinlichkeit        ständnis sowie das nicht zählende Rechnen bei Eins-
deutlich senken, dass Schülerinnen und Schüler Re-        pluseins und Einminuseins, beim additiven Rechnen
chenschwierigkeiten entwickeln (Schipper, 2009, S.        bis 100 sowie bei Einmaleins und Einsdurcheins.
329ff; Gaidoschik, 2010; Meyerhöfer, 2011). Voll-         Jedes Kapitel fasst das zentrale Hintergrundwissen
ständig verhindern können werden Lehrpersonen sie         zusammen und konkretisiert es durch Unterrichtsan-
allerdings vermutlich nicht.                              regungen. Aufgrund der Bedeutsamkeit im Kontext
                                                          des Themas kommt den Themen „Darstellungen"
Bei der Umsetzung eines solchen Unterrichts soll          (Kap. 10) und „Üben" (Kap. 11) jeweils ein eigenes
Sie die vorliegende Handreichung unterstützen, die        Kapitel zu.
wichtiges Hintergrundwissen zu zentralen Inhalten         Viele der Beispiele und der konzeptionellen Überle-
des arithmetischen Anfangsunterrichts darstellt           gungen entstammen dem Projekt PIKAS und seinen
(Was sollte man wissen?) und durch konkrete Anre-         Partnerprojekten, oder sie wurden hier weiter aus-
gungen für den Unterricht illustriert (Was sollte man     gearbeitet. Aus diesem Grund schließen die Handrei-
tun?).                                                    chungen auch mit Hinweisen auf diese Projekte, die
                                                          unter dem Dach des Deutschen Zentrums für Lehrer-
Die angestrebte Kompaktheit hat dabei zur Folge,          bildung Mathematik stehen (Kap. 12).
dass diverse Aspekte nicht in der denkbaren Tiefe
und Breite behandelt werden können. Die Hand-             Wenn wir im Folgenden einige weiterführende Hin-
reichung bietet somit weder eine umfassende Dis-          weise auf frei zugängliches Material anführen, geben
kussion verschiedener Sichtweisen auf das Thema           wir jeweils eine sog. Kurz-URL an, die aus der Adres-
noch eine ausführliche Darstellung von empirischen        se der Website und einem dreiziffrigen Code besteht.
Untersuchungen oder eine detaillierte Auflistung          Wenn Sie also z. B. pikas.dzlm.de/443 eingeben, er-
von Testverfahren, Erhebungsmethoden oder recht-          halten Sie konkrete Anregungen zum Üben.
lichen Rahmenbedingungen. Zu diesen Punkten ver-
weisen wir exemplarisch auf Englisch et al. (2018),
Fritz, Schmidt & Ricken (2017), Wartha & Schulz
(2014) oder auf die diversen, aus dem Literaturver-                 Dortmund, im September 2020
zeichnis ersichtlichen Bücher von Gaidoschik.                                  Das PIKAS-Team
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4   Inhaltsverzeichnis

     Inhaltsverzeichnis

                                         1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen          6
                                                                       1.1 Fallbeispiele   6
                                                                1.2 Zentrale Merkmale      6
                                                                     1.3 Risikofaktoren    8
                                             1.4 Stärkenorientierung als Grundhaltung      8

                                  2 Diagnose: Denkwege stärkenorientiert verstehen         10
                                                    2.1 Prozessorientierte Diagnose        10
                                                             2.2 Diagnosegespräche         11
                                                              2.3 Diagnoseaufgaben         12
                                                        2.4 Standortbestimmungen           12

                                     3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen         14
                                                          3.1 Lernen als aktiver Prozess   14
                                            3.2 Diagnosegeleitet, verstehensorientiert,
                                                              kommunikationsfördernd       15
                                      3.3 Mathematikförderung durch Sprachförderung        16
                                            3.4 Leitideen guten Mathematikunterrichts      16

                                                                    4 Zahlverständnis      18
                                                       4.1 Grundvorstellungen besitzen     18
                                                           4.2 Darstellungen vernetzen     20
                                                           4.3 Zahlbeziehungen nutzen      22

                                                             5 Operationsverständnis       24
                                                       5.1 Grundvorstellungen besitzen     24
                                                           5.2 Darstellungen vernetzen     26
                                                      5.3 Aufgabenbeziehungen nutzen       28

                                                            6 Stellenwertverständnis       30
                                            6.1 Elemente des Stellenwertverständnisses     30
                                                          6.2 Darstellungen vernetzen      32
                                                   6.3 Schnelles Sehen im 100er-Raum       34

                         7 Nicht zählendes Rechnen: Einspluseins und Einsminuseins         36
                                           7.1 Einspluseins und Einminuseins verstehen     36
                                          7.2 Einspluseins und Einsminuseins vernetzen     38

                                8 Nicht zählendes Rechnen: Addition und Subtraktion        40
                                 8.1 Addition und Subtraktion im 100er-Raum verstehen      40
                                 8.2 Addition und Subtraktion im 100er-Raum vernetzen      42

                           9 Nicht zählendes Rechnen: Einmaleins und Einsdurcheins         44
                                           9.1 Einmaleins und Einsdurcheins verstehen      44
                                           9.2 Einmaleins und Einsdurcheins vernetzen      46
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Inhaltsverzeichnis
                                                                           5

                            10 Darstellungen     48
10.1 Darstellungsformen und Darstellungsmittel   48
                     10.2 Vier-Phasen-Modell     50

                        11 Üben! Üben! Üben!     52
                   11.1 Grundlegendes Üben       52
                     11.2 Vernetzendes Üben      53
                     11.3 Entdeckendes Üben      53
                         11.4 Sicherndes Üben    54
      11.5 Systematik, Struktur und Austausch    55

                              12 PIKAS & Co      57
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6   1 Besondere Schwierigkeiten
      beim Rechnen

      1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen
              • Fortbildungsmaterial zum Thema Rechenschwierigkeiten (pikas.dzlm.de/366)
              • Unterrichtsmaterial zum Thema Rechenschwierigkeiten (pikas.dzlm.de/166)
              • Förderanregungen (pikas-mi.dzlm.de/400)

      Am Ende der Sekundarstufe I gibt es einen nicht zu vernachlässigenden Anteil von etwa 20 Prozent der Ju-
      gendlichen, die – so die Ergebnisse der PISA-Studie (Reiss et al., 2016) oder des IBQ-Ländervergleichs (Pant et
      al., 2013) – am Ende der Regelschulzeit nur wenige Anforderungen bewältigen können, die über elementare
      Standardaufgaben hinausgehen, und teilweise auf Grundschulniveau rechnen. Diese Schwierigkeiten ent-
      wickeln sich nicht erst in der Sekundarstufe (Moser Opitz, 2007). Auch am Ende der Grundschulzeit haben ca.
      20% der Lernenden ernsthafte Schwierigkeiten in Mathematik und beim Rechnen – etwas vereinfacht gesagt,
      sie befinden sich auf dem Wissensstand von Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern (Selter et al., 2016; Stanat
      et al., 2017). Kennen Sie Kinder, die so vorgehen, wie es die folgenden Beispiele zeigen?

      1.1 FALLBEISPIELE
       Zahlverständnis                                            Operationsverständnis
       Wie viele Plättchen sind es?                               Erfinde eine Rechengeschichte zu 6 · 5.

                                                                                  Lea feiert Geburtstag.
       „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sie-, ben"
                                                                             Sie lädt 6 Freunde ein... ähm...
                                                                              der Geburtstag ist in 5 Tagen.
                                        Es sind sieben.
                                                                                         6 · 5 = 30
                                                           MIA                                                     MERLE
       Stellenwertverständnis                                     Einspluseins
       Wie lautet die Zahl?                                       Wie viel ist 5 + 4?

                                                                  1.
                                                                       „eins, zwei, drei, vier, fünf"

                                                                  2.
                                                                                               „fünf, sechs, sieben, acht"
                Dreiundvierzig.          Vierunddreißig.
                                                                             5 + 4 sind 8.
                                                                  3.
                                                           LEO                                                       ADIL
       Subtraktion im Hunderterraum                               Einmaleins
       81 – 34 =                                                  Wie viel ist 5 · 7?
                         Ich rechne 80 – 30 = 50,
                             dann 50 – 4 = 46                                           7, 14, 21... äh...

                             und 46 – 1 = 45.                                                ...26, 31.

                          81 – 34 ergibt also 45.                                         5 · 7 sind 31.

                                                          AYLIN                                                     NOAH

      1.2 ZENTRALE MERKMALE
      Zunächst: Es gibt weder eine allgemein anerkannte           indem zentrale Merkmale angegeben werden, die
      Definition dessen, was Schwierigkeiten beim Rech-           auf Schwierigkeiten hindeuten.
      nen ausmacht, noch ein allgemein anerkanntes Dia-           Dabei gilt: Rechenprobleme sind normal, und Fehler
      gnoseverfahren. Daher wird versucht, sich der Be-           gehören zum Lernen dazu. Wenn Lernende also
      grifflichkeit der Rechenschwierigkeiten zu nähern,          manchmal so vorgehen, wie es die Beispiele auf der
Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
1 Besondere Schwierigkeiten
                                                                                                  beim Rechnen
                                                                                                                   7

vorangehenden Seite zeigen, sollten Sie nicht beun-     nen Fingern zunächst bis 3 und dann von dort aus
ruhigt sein. Aber wenn solche Probleme gehäuft auf-     um 4 weiter zählen (4, 5, 6, 7), ist keineswegs un-
treten, die Kinder also durchgängig überfordert zu      üblich. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses soll-
sein scheinen, werden aus Rechenproblemen be-           ten die Kinder das zählende Rechnen nicht länger
sondere, anhaltende Rechenschwierigkeiten. Wenn         als Lösungsmethode verwenden. Diese notwendi-
wir im Weiteren von Rechenschwierigkeiten spre-         ge Entwicklung betrifft nicht nur das Einspluseins
chen, dann meinen wir damit nicht die normalen          und das Einsminuseins (vgl. Adil), sondern das ge-
Probleme, sondern die besonderen Schwierigkeiten,       samte Rechnen, wie z. B. auch das additive Rech-
lassen aber das Wort ‚besonders‘ aus Gründen der        nen in größeren Zahlräumen (vgl. Aylin) oder das
sprachlichen Vereinfachung weg.                         Einmaleins und Einsdurcheins (vgl. Noah).
In Anlehnung an Schipper (2011) und Wartha &
Schulz (2014) können für die Schuleingangsphase        Weitere Merkmale wie Unsicherheiten in der Raum-
vier zentrale Merkmale identifiziert werden, die auf   Lage-Wahrnehmung, fehlende Größenvorstellungen,
Rechenschwierigkeiten hindeuten:                       ein schwaches auditives Gedächtnis oder geringes
                                                       Selbstvertrauen können ebenfalls auftreten.
• Nicht tragfähiges Zahlverständnis                    Die vier hier genauer beschriebenen Merkmale ver-
  Die Grundlage allen Rechnens bildet ein tragfähi-    weisen auf stoffliche Hürden, die Lernende im Ver-
  ges Zahlverständnis. Es kann als ein Merkmal von     lauf der Grundschulzeit überspringen müssen. Wie
  Schwierigkeiten in Mathematik gelten, wenn die       Sie die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen
  Lernenden Zahlen nicht mit Bedeutungen ver-          können, beschreiben wir überblickartig in den Kapi-
  knüpfen, verschiedene Darstellungsformen nicht       teln 4 bis 9. Der Entwicklung des nicht zählenden
  miteinander vernetzen und den vorhandenen Be-        Rechnens kommen dabei aufgrund der Relevanz für
  ziehungsreichtum von Zahlen für das Weiterler-       unterschiedliche Stoffgebiete drei Kapitel zu.
  nen nicht nutzen können (vgl. Mia).
                                                            1.
• Nicht tragfähiges Operationsverständnis
  Rechts sehen Sie einige von Schülerinnen und
  Schülern notierte Darstellungen für den Zahlen-
  satz 7 – 2 = 5 (Quelle: Radatz, 1989). Während die
  leistungsstarken Lernenden in der Regel ihre Dar-         2.
  stellungen als Bildgeschichten oder in Form der
  bekannten Schulbuch-Bilder des Hinzukommens
  oder Hinzulegens bzw. des Weggehens oder Weg-
  legens zeichneten, gelang den schwächeren Ler-            3.
  nenden häufig nur eine Übersetzung in eine ande-
  re symbolische Darstellung. Oder sie zeichneten
                                                            4.
  ein Bild, das schwer mit dem Zahlensatz in Verbin-
  dung zu bringen ist (Nr. 2, 6, 7, 8; vgl. Merle).

• Nicht tragfähiges Stellenwertverständnis                  5.
  Zu verstehen, dass Anzahlen fortgesetzt gebün-
  delt werden, um sie mit nur wenigen Ziffern oder
  mit Material übersichtlich darstellen zu können,          6.
  gehört zu den zentralen Ideen unseres Zahlsys-
  tems. Lernende müssen verstehen, dass die 3 in            7.
  35 etwas anderes bedeutet als die 3 in 307 oder
  43 (vgl. Toni, S. 3 oder Leo, S. 6).                      8.

• Verfestigung des zählenden Rechnens
  Zählendes Rechnen ist in frühen Phasen des Lern-
  prozesses normal. Dass beispielsweise Schulan-
  fängerinnen und Schulanfänger die Aufgabe 3 + 4
  lösen, indem sie mit Material oder an ihren eige-
Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
8   1 Besondere Schwierigkeiten
      beim Rechnen

      1.3 RISIKOFAKTOREN
      Bislang konnten keine Ursachen identifiziert werden,     Die Risikofaktoren können vielfältig miteinander in
      die eine Rechenschwäche zwangsläufig zur Folge ha-       Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen.
      ben. Aber eine Rechenschwäche ergibt sich anderer-       Sie können die Ausbildung von Rechenschwierigkei-
      seits auch nicht zufällig. Es gibt Risikofaktoren, die   ten unterstützen, müssen dies aber nicht zwingend.
      dazu beitragen können, dass sich in deren Zusam-         Lehrpersonen sollten alle drei Bündel von Risikofak-
      menwirken Schwierigkeiten verfestigen. In Anleh-         toren im Blick haben. Sie können jedoch fast aus-
      nung an Schipper (2011) wollen wir diese in drei Fak-    schließlich die im dritten Bündel zusammengefass-
      torengruppen zusammenfassen, die natürlich nur           ten Faktoren beeinflussen.
      auf dem Papier sauber voneinander zu trennen sind.       Daher liegt der Schwerpunkt dieser Handreichung
                                                               auch auf den didaktischen Risikofaktoren, die an-
      • Individuelle Risikofaktoren, z. B. …                   hand der zentralen sechs Inhalte des Arithmetik-
         neurologische Fehlleistungen wie Wahrneh-             unterrichts in der Schuleingangsphase konkretisiert
         mungsstörungen, Angst vor Mathematik und Ma-          werden. Der Schwerpunkt der Darstellungen liegt
         thematikunterricht, schwindendes Zutrauen in die      dabei in Ausführungen dazu, wie das Auftreten von
         eigenen Lernmöglichkeiten, Schwierigkeiten im         Rechenschwierigkeiten weniger wahrscheinlich ge-
         Aufrechterhalten von Motivation und Aufmerk-          macht werden kann (‚Prävention‘). Aber natürlich
         samkeit, Probleme bei der Aufnahme oder beim          sind die diesbezüglichen Ausführungen auch dann
         Behalten von Informationen sowohl im Langzeit-        relevant, wenn vermutet werden kann, dass ein
         gedächtnis (auswendig gelernte Ergebnisse von         Kind Rechenschwierigkeiten hat (‚Therapie‘).
         Einmaleinsaufgaben) als auch im Kurzzeitgedächt-
         nis (Zwischenergebnisse von Aufgaben wie 47 +                    Wer die Aufgaben nicht so lösen kann, darf
         89), unerkannte Beeinträchtigungen der Hör- oder                 noch das Material benutzen.
         der Sehfähigkeit oder Sprachschwierigkeiten …
                                                               – ein Beispiel dafür, wie Unterricht dazu beitragen kann,
      • Familiäre und soziale Risikofaktoren, z. B. ...        dass Kinder mit Schwierigkeiten ‚stigmatisiert' werden
        systematische Erziehung zur Unselbstständigkeit,       können und wie über den gesamten Lernprozess hin-
        das Fehlen von elementaren Voraussetzungen für         weg der hilfreiche Einsatz von Material als minderwer-
        erfolgreiches Lernen (z. B. eigener Arbeitsplatz für   tig bezeichnet wird.
        Hausaufgaben oder das Sorgen für hinreichend
        viel Schlaf), das Erzeugen von ausgeprägter Angst
        vor Misserfolg oder von übertriebenem Perfektio-       1.4 STÄRKENORIENTIERUNG ALS
        nismus durch überzogene Erwartungen, zu den                GRUNDHALTUNG
        schulischen Bemühungen im Widerspruch stehen-
        de, ungeeignete Belehrungsversuche durch unge-         Wenn Sie Kinder beim Mathematiklernen unterstüt-
        duldige Erwachsene, psychische Belastungen             zen wollen, so sind fachliche und fachdidaktische
        durch angespannte Familiensituationen, Überbe-         Kompetenzen erforderlich. Von zentraler Bedeutung
        anspruchung durch außerschulische Aktivitäten,         ist es zudem, zu verstehen, wie Kinder denken, um
        soziale Isolation in Schule und Alltag …               auf dieser Grundlage den bisherigen Unterricht zu
                                                               reflektieren und den zukünftigen zu planen. In die-
      • Didaktische Risikofaktoren, z. B. …                    sem Zusammenhang interessieren natürlich die
        unverständliche Aufgabenstellungen in wenig            Produkte des Denkens, die Ergebnisse. Mindestens
        übersichtlichen Schulbüchern, das Vorschreiben         ebenso wichtig ist aber das Verständnis des Vorge-
        bestimmter Denkwege, Stofffülle, ungeeignete           hens der Kinder, ihrer Denk- und Lernprozesse (Kap.
        Materialien oder Veranschaulichungen, der nicht        2.1). Entscheidend ist dabei, wie diese Vorgehens-
        sachgerechte Einsatz von geeigneten Medien oder        weisen wahrgenommen und gedeutet werden.
        eine verfrühte Behandlung abstrakter Darstellun-       Hierzu ein fast schon klassisches Beispiel: Lernen be-
        gen. Auch eine verfehlte Übungspraxis kann zur         steht häufig aus dem Herstellen von Beziehungen.
        Ausprägung von Lernschwierigkeiten beitragen:          Es werden Regeln von einem Gebiet auf ein anderes
        etwa ein frühes Abkoppeln von anschaulichen            übertragen. Oft gelten diese auf dem neuen Terrain,
        Darstellungen oder die Häufung von Übungsauf-          aber eben nicht immer. Es gibt Ausnahmen und In-
        gaben, die nicht auf individuelle Schwierigkeiten      konsequenzen, die das Lernen erschweren – bei-
        eingehen …                                             spielsweise bei der deutschen Zahlwortbildung:
Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
1 Besondere Schwierigkeiten
                                                                                                      beim Rechnen
                                                                                                                       9

                   Kannst du denn auch schon             Aus solcher stärkenorientierten Sicht wird die Anders-
                      bis hundert zählen?                artigkeit des Denkens von Kindern nicht als Defizit,
                      Siebenundneunzig, ...              sondern als Differenz verstanden. In Spiegel & Selter
                                                         (2016) wurde in diesem Sinne an vielen Beispielen
                                                         dokumentiert, dass Kinder bisweilen anders den-
    ...achtundneunzig, neunund-                          ken, (1) als Erwachsene denken, (2) als Erwachsene
         neunzig, hundert,                               es vermuten, (3) als Erwachsene es möchten, (4) als
     einhundert, zweihundert, …                          andere Kinder und (5) als sie selbst in anderen Situa-
                                                         tionen denken. Diese Andersartigkeit ist nicht immer
                                                         direkt als solche zu erkennen. Das ändert aber nichts
                                                         an ihrem Vorhandensein.
                   Stopp, stopp, nach hundert
                                                         Aus der Haltung der Stärkenorientierung heraus in-
                    kommt die Hunderteins!
                                                         teressiert also nicht nur die Erkenntnis, dass und wie
                                                         viele Fehler zu beobachten sind, sondern vielmehr
                                                         die Frage, wie die Fehler zustande gekommen sind
In den weitaus meisten Fällen sind jedoch nicht 100      – als Spezialfall der umfassenderen Frage, welche
und 200, sondern 101 und 102 gemeint. Die Kinder         Denkwege die Lernenden einschlagen. Diese gilt es,
sagen ‚einhundert’ bzw. ‚zweihundert’, weil sie die      stärkenorientiert zu verstehen.
Regel ‚erst die Einer sprechen’ (sieben-und-neunzig)
aus ihrer Sicht konsequent auf einen Bereich über-                 Rechenfehler sind in der Regel kein Zufall.
tragen, in dem sie allerdings nicht mehr gilt. Erwach-             Sie beruhen häufig auf individuellen und
sene neigen leider dazu, diese und weitere konstruk-               aus der Sicht der Lernenden als sinnvoll
tive Sprachschöpfungen – wie zehnzig oder zehnzwei                 erachteten Regeln und Strategien.
– ausschließlich als fehlerhafte Zahlwortbildungen
wahrzunehmen. Bei dieser Grundeinstellung erfolgt
die Orientierung hauptsächlich an dem, was richtig
scheint. Abweichungen davon gelten als Defizite. Es
gilt, diese schnell zu korrigieren oder schon im Vor-
feld zu verhindern.
Im Gegensatz dazu können die Äußerungen und
Handlungen immer auch aus stärkenorientierter
Perspektive betrachtet werden, als Dokumente prin-
zipiell vernünftigen Denkens: Was haben sich die Kin-
der möglicherweise gedacht? Was können sie schon
alles? Was sind die vernünftigen Hintergründe eines
aus unserer Sicht falschen Vorgehens? Wie können
sie mit Blick auf die ‚Norm’ dazu angeregt werden,
ihr Denken und Wissen weiterzuentwickeln?
Den Kindern in Mathematik mehr zuzutrauen, ist
Voraussetzung wie Resultat des Bemühens, immer
auch die Perspektive der Kinder einzunehmen. Zur
101 ‚einhundert’ zu sagen, ist also – mit ihren Augen
betrachtet – durchaus sinnvoll.
Das Bemühen, immer auch stärkenorientiert zu
schauen, bedeutet natürlich nicht, dass Sie den Schü-
lerinnen und Schülern nicht auch Dinge erklären soll-
ten („Die nächste Zahl könnte ‚einhundert‘ lauten,
aber man hat sich darauf geeinigt, sie 'hunderteins'
zu nennen!“) – oder sie nicht zum Überwinden von
fehlerhaften Vorstellungen oder Verfahren anregen
sollten. Aber das sollte aus einer grundsätzlich stär-
kenorientierten, wenngleich nicht beschönigenden
Perspektive passieren.
Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
10   2 Diagnose: Denkwege stärken-
       orientiert verstehen

       2 Diagnose: Denkwege stärkenorientiert verstehen
               • Lernen, wie Kinder denken (kira.dzlm.de/129)
               • Diagnosegeleitet fördern (pikas-mi.dzlm.de/201)
               • Transparente und kontinuierliche Leistungsfeststellung (pikas.dzlm.de/172 und /441)

       2.1 PROZESSORIENTIERTE DIAGNOSE
       Aus der Metastudie von Hattie (2013) kann aus unserer         welchen Bereichen und in welcher Reihenfolge das Kind
       Sicht die Konsequenz gezogen werden, dass sich eine           gefördert werden sollte (Wember, 1998, S. 116).
       Unterrichtsgestaltung mit den Augen der Lernenden als
       lernwirksam erwiesen hat. Lehrpersonen sollten über die       Tipp: Auf pikas-mi.dzlm.de/201 finden Sie weitere Anre-
       Kompetenz verfügen, sich in die Lernprozesse hineinzuver-     gungen zu folgenden Themen:
       setzen, Lernprozesse aus der Perspektive der Lernenden        • Diagnosemomente und Fördermomente
       wahrzunehmen und vor diesem Hintergrund unterrichtli-         • Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben
       che Prozesse gestalten zu können.                             • Planung individueller Förderung
       Zu den diagnostischen Aufgaben von Lehrpersonen gehört        • Diagnosegespräche und Fördergespräche
       die produktorientierte Lernstandsfeststellung (summa-         • Unterrichtsrelevante Tests und Förderung
       tiv). Mindestens ebenso relevant für die Lernwirksamkeit      • Diagnose- und förderorientierte Organisation
       von Unterricht ist die prozessorientierte Lernstandsfest-
       stellung, die die Leistungen der Kinder im Rahmen des all-    Wie Moser Opitz (2010) anmerkt, sind der Ausgangspunkt
       täglichen Unterrichts kontinuierlich und stärkenorientiert    für die Förderung jedoch nie allein die Diagnosen, son-
       betrachtet, um die Erkenntnisse als Grundlage einer Lern-     dern fachliche und fachdidaktische Überlegungen, die es
       förderung nutzen zu können (formativ; Scherer & Moser         ermöglichen, geeignete Diagnoseaufgaben auszuwählen
       Opitz, 2010, S. 32). Somit kann u. E. gefolgert werden,       bzw. zu entwickeln, die Ergebnisse zu interpretieren und
       dass evaluative Orientierungen beim Lehren und Lernen         Fördermaßnahmen zu planen.
       einen zentralen Stellenwert haben: Alle Informationen,        Zentrale Grundlage jeglicher Diagnose sind die Fähigkei-
       die Auskunft über Lernmöglichkeiten, Lernstand, Lern-         ten der Lehrperson, die Denkwege der eigenen Kinder zu
       prozesse und Lernerträge der Schülerinnen und Schüler         verstehen. Das gelingt in der Regel besser, wenn sie über
       liefern, sind von besonderem Interesse.                       Hintergrundwissen darüber verfügt, was typische Denk-
       Es geht also wesentlich darum, Leistungen festzustellen,      wege und Fehlermuster von Schülerinnen und Schülern
       um Lernende zu fördern (Sundermann & Selter, 2013).           sind. Das ‚KIRA-Buch‘ bietet hierzu für die zentralen The-
       Diagnose und individuelle Förderung sind somit aufeinan-      men der Grundschulmathematik eine beispielgebundene,
       der zu beziehen. Förderung ohne vorangehende Diagnose         systematische Überblicksdarstellung (vgl. das Beispiel aus
       erfolgt i. d. R. unspezifisch, Diagnose ohne darauf aufbau-   Götze, Selter & Zannetin, 2019).
       ende Förderung bleibt häufig wirkungslos und führt nicht      Im Folgenden werden mit den Diagnosegesprächen, den
       selten zu Stigmatisierung.                                    Diagnoseaufgaben und den Standortbestimmungen drei
       Förderung setzt also an den individuellen Lernpotenzialen     Möglichkeiten beschrieben, wie Lehrpersonen im Unter-
       wie auch den Schwierigkeiten der Lernenden an. Sie sollte     richtsalltag stärkenorientiert Denkwege verstehen kön-
       nicht ohne diagnosebasierte Erkenntnisse erfolgen, denn       nen. Sie können die eher unsystematischen, aber nicht
       ohne diagnostische Daten lässt sich im konkreten Fall eine    minder wichtigen Beobachtungen im Unterrichtsalltag
       bestimmte Fördermaßnahme nicht ableiten. Ohne diag-           informativ ergänzen.
       nostische Daten kann auch nicht entschieden werden, in

                                                                               Sehr häufiger Fehler der Subtraktion! Die Kinder denken,
          Subtraktion der kleineren      „13 – 7 ist gleich 14, denn 7 – 3     dass auch bei der Subtraktion Zahlen bzw. Ziffern ge-
                                                                               tauscht werden dürfen, ohne dass es einen Einfluss auf
           von der größeren Ziffer       sind 4 und dann noch 10 dazu."        das Ergebnis hat: 3 + 7 = 7 + 3 (Kommutativgesetz) aber
                                                                               3-7≠7-3
                                                                               Sehr häufiger Fehler der Subtraktion! Die Kinder sind sich
                                        „18 – 9 rechne ich über 18 – 10.       unsicher, wie sie nach einer Ableitung korrigieren müssen.
                  Kippfehler
                                          Das sind 8. Dann sind 18 – 9         So muss z. B. bei der Ableitung der Differenz von 18 – 9
           (falsche Richtung einer                                             über 18 – 10 das Ergebnis um 1 erhöht, bei einer Ableitung
                Teiloperation)             insgesamt 7, denn es ist ja         von 19 – 9 um 1 erniedrigt werden, um auf das Ergeb-
                                                                               nis von 18 – 9 zu kommen (Grundvorstellungen werden
                                               eine Minusaufgabe."
                                                                               zentral).
2 Diagnose: Denkwege stärken-
                                                                                                                  orientiert verstehen
                                                                                                                                         11

                                                                             Starke Konzentration auf den Zehnerübergang und die da-
   Zehnerunterschreitung                       „12 - 8 sind 14.              mit verbundene Fokussierung auf den Einer führen dazu,
      nicht beachtet                            15 - 9 sind 16."             dass der Zehner im Ergebnis stehen bleibt. Oft verbunden
                                                                             mit Problemen im Stellenwertverständnis.

2.2 DIAGNOSEGESPRÄCHE
Zunächst sollen die Diagnosegespräche als eine                     von den nachfolgenden Fördergesprächen, deren
Möglichkeit vorgestellt werden, um mehr über das                   Ziel es ist, Lernprozesse bei den Schülerinnen und
Denken der Kinder erfahren zu können. Das Ziel von                 Schülern anzuregen. Um die Intention von Diagnose-
Diagnosegesprächen besteht also darin, dem au-                     gesprächen in Abgrenzung zu Fördergesprächen zu
thentischen Denken von Kindern (Spiegel & Selter,                  verdeutlichen, sollen beide Gesprächsformen ide-
2016) möglichst genau ‚auf die Spur‘ zu kommen.                    altypisch in einer Tabelle gegenübergestellt werden
Demzufolge unterscheiden sich Diagnosegespräche                    (Selter, 2017a, S. 391).

                                                  Diagnosegespräch                                 Fördergespräch
               Ziel                              Denkwege verstehen                      Lernfortschritte ermöglichen
       Aufgabenstellung                         soll bearbeitet werden                     soll richtig gelöst werden
      Fragen und Impulse                         dienen der Auslotung                  dienen der aktiven Entwicklung
                                                  des Verständnisses                           des Verständnisses
              Hilfen
                                               als Hilfen zum Darstellen                  als Hilfen zum Selbstfinden
                                                der eigenen Denkwege                           von Erkenntnissen
              Fehler                            können stehen bleiben                         sollen analysiert und
                                                                                             überwunden werden
   Hauptaktivität Lehrperson                   beobachten und zuhören                       gezielte Impulse setzen,
                                                                                        um Lernfortschritte anzuregen
    Hauptaktivität Lernende                      Denkwege erklären                       neue Denkwege einschlagen
         Rückmeldung                             lernstandsorientiert                      lernprozessorientiert und
                                                                                                   zielorientiert
       Erklärungen durch                  weitestgehend vermeiden, aber              im Bedarfsfall notwendig, bedürfen
        Gesprächsleiter                    Aufgabenverständnis sichern                 aber der aktiven Einordnung ins
                                                                                           bestehende Wissensnetz

Dabei ist festzuhalten, dass beide Gesprächsformen                                    Was hast du nach der 28 gesagt?
in der Unterrichtsrealität häufig eng aufeinander fol-
gen bzw. sich auch durchmischen. Entscheidend ist                   Neun … zig.
stets, dass Sie als Lehrperson Klarheit darüber ha-
ben, ob Sie gerade eher die Intention des Diagnosti-                                   90? Da kannst du aber schon
zierens oder die des Förderns verfolgen. Und wichtig                                   weit zählen. Kannst du nochmal
ist zudem, dass das Fördergespräch dem Prinzip des                                     von 23 an weiter zählen?
aktiven Lernens folgt und Sie nicht in das Gesprächs-
verhalten des Beibringens oder des Belehrens verfal-                23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32,
len, bei dem versucht wird, den Lernenden unabhän-                  33, 34, 35, 36, 37, 38, 90, 91, 92, …
gig von deren individuellen Denkwelten den eigenen
Denkweg als den bestmöglichen aufzudrängen (Bei-                                                                Da hört es auf?
spiel aus Selter & Spiegel, 1997, S. 49).                             Ja.

    Du kannst doch bestimmt schon zählen, oder?                               Kannst du auch von 53 aus weiter zählen?

                                                                    53, 54, 56, 57, 58, 59, … 80, 83, 82, 83, 84,
        Ja, klar, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9,
                                                                    85, 87, …, 89, … elfzig, einundelfzig, dreiund-
        (zählt weiter), 26, 27, 28, 90.
                                                                    elfzig, sechsundelfzig, … genug...
12   2 Diagnose: Denkwege stärken-
            orientiert verstehen

                    • Auf der Website des Projekts KIRA (Kinder rechnen anders) sind zahlreiche Informationen zur Ge-
                      sprächsführung und zur Planung (kira.dzlm.de/172), Durchführung (173) und Auswertung (159) ab-
                      rufbar. Weiterhin finden Sie dort exemplarische Leitfäden für die Durchführung von Diagnosegesprä-
                      chen für die Bereiche Geometrie und Sachrechnen (161), Arithmetik bis zum 2. Schuljahr (077) sowie
                      Arithmetik im 3. und 4. Schuljahr (163).

            Diagnosegespräche haben den großen Vorteil, dass         Die unterrichtliche Umsetzung kann beispielsweise
            sie sehr genaue Einblicke in das Denken der Lernen-      so realisiert werden, dass die Schülerinnen und Schü-
            den ermöglichen, und sie haben den großen Nach-          ler zu einem geeigneten Zeitpunkt – zum Beispiel zu
            teil, dass sie vergleichsweise zeitaufwändig sind. Aus   Beginn oder am Ende einer Unterrichtsstunde, eines
            diesem Grund können sie im Unterrichtsalltag nur         Tages oder einer Lerneinheit – auf einem Blatt Pa-
            dosiert zum Einsatz kommen. Daher sollen in den fol-     pier Datum und Namen sowie ihre Bearbeitung einer
            genden beiden Kapiteln zwei Instrumente beschrie-        Diagnoseaufgabe festhalten. Dieses Blatt werfen die
            ben werden, die es durch die Nutzung der Schrift-        Kinder anschließend in den sog. Mathe-Briefkasten,
            lichkeit ermöglichen, in vergleichsweise kurzer Zeit     einen mit gelbem Papier beklebten Schuhkarton mit
            vergleichsweise viele Informationen über das Den-        Schlitz (Sundermann & Selter, 2013).
            ken der Lernenden zu erhalten: Diagnoseaufgaben          Diagnoseaufgaben können geordnet für jedes Kind
            und Standortbestimmungen.                                gesammelt werden, um Lernentwicklungen zu doku-
                                                                     mentieren. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass
            2.3 DIAGNOSEAUFGABEN                                     es sich dabei nicht um Lernzielkontrollen handelt,
            Unter einer Diagnoseaufgabe wird ein Impuls an die       sondern um ein diagnostisches Instrument, das eine
            Schülerinnen und Schüler verstanden, vorhandene          informative Grundlage für die zielgerichtete Förde-
            Kompetenzen – etwa in Form von Rechnungen, Tex-          rung der einzelnen Kinder bildet. Es ist auch mög-
            ten, bildlichen Darstellungen sowie Kombinationen        lich, die Kinder zu bitten, dieselbe Diagnoseaufgabe
            aus diesen – schriftlich zu artikulieren. Der Begriff    zweimal oder sogar mehrfach in zeitlichem Abstand
            ‚Impuls’ wird dabei so verstanden, dass die Auffor-      zu bearbeiten, so dass sich Entwicklungen erkennen
            derung zur Aktivität und zur Verschriftlichung auch      lassen. Im Folgenden (S. 13) geben wir jeweils eine
            aus mehreren Teilen bestehen kann, beispielsweise        Diagnoseaufgabe für sechs zentrale Inhalte des Arith-
            aus mehreren Rechenaufgaben oder aus dem Auf-            metikunterrichts in der Grundschule an – weitere
            schreiben einer Begründung, die der Formulierung         Beispiele finden Sie auf pikas.dzlm.de/097.
            einer Entdeckung folgt.
            Diagnoseaufgaben können schwerpunktmäßig so-             2.4 STANDORTBESTIMMUNGEN
            wohl inhaltsbezogene als auch prozessbezogene            Standortbestimmungen dienen wie Diagnosege-
            Kompetenzen adressieren (pikas.dzlm.de/097).             spräche oder Diagnoseaufgaben der fokussierten
            Diagnoseaufgaben eignen sich u. a. dazu...               Feststellung individueller Lernstände zu bestimmten
                                                                     Zeitpunkten im Unterrichtsprozess. Dabei werden in
            • Kenntnisse zu zeigen                                   der Regel Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu
m.            Trage die folgenden Zahlen am Rechenstrich ein.        einem Rahmenthema (z. B. Orientierung im Tausen-
                                                                     derraum, Entdeckerpäckchen) ermittelt, dessen Be-
            • Fertigkeiten zu demonstrieren                          handlung im Unterricht bevorsteht (Eingangs-Stand-
              Zeichne einen Kreis mit einem Durchmesser von 5 cm.    ortbestimmung) bzw. – vorläufig – abgeschlossen
                                                                     ist (Abschluss-Standortbestimmung; Sundermann &
            • Aufgaben mit vorgegebenen Bedingungen                  Selter, 2013, S. 18ff.). Es lässt sich zusammenfassend
              zu finden                                              sagen, dass Standortbestimmungen am Lerngegen-
              Finde fünf Malaufgaben mit dem Ergebnis 1.000.         stand strukturierte Zusammenstellungen von aufei-
                                                                     nander abgestimmten Diagnoseaufgaben sind.
            • eigene Vorgehensweisen zu beschreiben                  Unter schriftlichen Standortbestimmungen werden
              Schreibe auf, wie du 72 – 19 rechnest.                 solche verstanden, bei denen während der Bearbei-
                                                                     tung kein Austausch mit den Kindern über ihre Lö-
            • Vorstellungen darzustellen                             sungen und Lösungswege stattfindet, man also bei
              Male ein Bild zur Aufgabe 4 + 5.                       der Analyse auf die schriftlichen Dokumente allein
                                                                     angewiesen ist.
            • Auffälligkeiten zu beschreiben                         Auch die Durchführung einer Eingangs-Standortbe-
              Was fällt dir auf, wenn du die Aufgaben vergleichst?   stimmung hat eine diagnostische Funktion; sie dient
2 Diagnose: Denkwege stärken-
                                                                                                    orientiert verstehen
                                                                                                                           13

Zahlverständnis                                         Operationsverständnis
Lege 8 Plättchen hin.                                   Welche Rechenaufgabe siehst
                                                        du in dem Bild?

Stellenwertverständnis                                  Einspluseins und Einsminuseins
Lege die Zahl 46.                                       Wie viel ist 8 + 5?
                                                                                               8 + 5 = 13.

Lege einen Zehner hinzu, wie lautet die Zahl jetzt?     Und wie viel ist 13 – 5?
                                                                                       13 - 5 = 8. Weil eben
                 10 mehr, das sind 56.                                                    war 8 + 5 = 13.

Addition im Hunderterraum                               Einsdurcheins
Rechne aus: 32 + 45                                     Drei Kinder teilen sich 24 Bonbons.
                                                        Wie viele bekommt jedes Kind?
            30 + 40 = 70
              2 + 5 = 7              Sind 77.
                                                           15 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1
Rechne aus: 32 + 49
            30 + 40 = 70                                                           Jedes Kind bekommt 8.
                                     Sind 81.
              2 + 9 = 11

ausschließlich zur differenzierten Planung des weite-     Aufgabe       Kommentar
ren Unterrichts. Eine Rückgabe der Eingangs-Stand-
                                                            24 + 5      Zu einer zweistelligen Zahl ist eine
ortbestimmungen an die Kinder mit Bepunktung
                                                                        einstellige Zahl zu addieren, ohne dass
oder Benotung ist kontraproduktiv! Sofern eine Ein-                     dabei der nächste Zehner überschritten
gangs- und eine Abschluss-Standortbestimmung                            werden muss.
durchgeführt werden, ist es sinnvoll, beide analog
                                                            33 + 9      Die Aufgabenanforderungen sind ver-
aufzubauen und dieselben Zahlenwerte zu verwen-
                                                                        gleichbar, nur dass hierbei der nächste
den. So können sowohl die Lehrpersonen als auch
                                                                        Zehner (die 40) überschritten wird.
die Kinder Lernfortschritte leichter erkennen und se-
hen, in welchen Bereichen sich gute und ggf. auch          41 + 35      Zwei zweistellige Zahlen müssen addiert
weniger zufriedenstellende Lernentwicklungen er-                        werden, es ist kein Zehnerübergang
                                                                        erforderlich.
geben haben.
Standortbestimmungen geben den Lehrpersonen                37 + 43      Hier sind ebenfalls zwei zweistellige Zah-
strukturierte Informationen über die Lernstände                         len zu addieren; das Ergebnis ist eine Zeh-
einzelner Kinder. Indem die individuellen Lernstände                    nerzahl.
genauer beobachtet und besser verstanden werden,           44 + 29      Auch hier sind zwei zweistellige Zahlen zu
wird es leichter, den Unterricht daran zu orientieren                   addieren; dabei ist der nächste Zehner zu
und die Grundlage für eine individuelle Förderung zu                    überschreiten. Möglich ist auch die Lö-
schaffen (pikas.dzlm.de/098).                                           sung: + 30 und dann – 1.
Aber auch für die Lernenden haben Standortbestim-          25 + 26      Auch bei der letzten Aufgabe sind zwei
mungen eine wichtige Funktion, denn sie tragen zu-                      zweistellige Zahlen mit Übertrag zu ad-
dem dazu bei, dass die Kinder zunehmend Transpa-                        dieren. Möglich ist auch, die Hilfsaufgabe
renz über ihr eigenes Lernen erhalten können: Was                       25 + 25 zu nutzen.
kann ich schon? Was muss ich noch lernen? Was
habe ich dazu gelernt?                                               Standortbestimmungen, Diagnoseaufga-
Im Folgenden geben wir die Beispielaufgaben an, die                  ben, Diagnosegespräche und Unterrichts-
für eine Standortbestimmung zur Addition im 100er-                   beobachtungen haben dieselbe Funktion:
Raum verwendet werden könnten – weitere Beispie-                     Leistungen feststellen, um Kinder fachlich
le finden Sie auf pikas.dzlm.de/098.                                 fördern zu können.
14   3 Förderung: Lernprozesse
       zielbewusst anregen

       3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen
               • Lernen als aktiver Prozess (kira.dzlm.de/017)
               • Fachbezogene Sprachbildung (ZR 0 bis 100) (pikas.dzlm.de/476)
               • Diagnose- und Fördermaterial (mathe-sicher-koennen.dzlm.de/002)

                   ‚Lernprozesse zielbewusst anzuregen‘ meint, dass der Unterricht den Schülerinnen und Schülern
                   hinreichend viel Zeit und Raum für ein selbstgesteuertes, zielorientiertes Lernen geben sollte.
                   (Spiegel & Selter, 2016)

       3.1 LERNEN ALS AKTIVER PROZESS
       Es kann als grundlegende Erkenntnis der Forschung         Viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen
       gelten, dass Lernen nicht als Übernahme von fertigem      sind zwar der Überzeugung, dass die Kinder, die
       Wissen, sondern als ein stets aktiver, konstruktiver,     am meisten Schwierigkeiten im Unterricht haben,
       individueller Prozess stattfindet. Selbst dann, wenn      nicht nur besondere Zuwendung brauchen, sondern
       Schülerinnen und Schüler einer Erzählung eines Er-        auch didaktisch-kleinschrittig angelegte Program-
       wachsenen zuhören oder einige Seiten in einem             me. Jedoch: „Solche Förderkonzepte mißverstehen
       Sachbuch lesen, bedarf es eigener Konstruktionen,         kindliches Denken in doppelter Weise: Sie zerlegen
       damit sie etwas lernen – nicht nur dann, wenn sie         sinnvolle Handlungen in isolierte Teilleistungen und
       auf sich selbst gestellt versuchen, ein herausfordern-    versuchen, sie über kleinschrittige Übungen wieder
       des Problem zu bewältigen. Das bedeutet: Wie auch         aufzubauen, statt Grundqualifikationen des Arbei-
       immer agiert wird, Lernerfolge der Kinder können          tens und Lernens zu entwickeln (...). Sie steigern die
       nicht erzwungen werden. Auch noch so ausgefeilte          Hilflosigkeit der Kinder und ihre Abhängigkeit, in-
       Lernarrangements können nicht garantieren, dass           dem sie den Belehrungsunterricht intensivieren (an
       Lernen stattfindet. Aber es kann die Wahrscheinlich-      dem diese Kinder gescheitert sind), statt ihre Kom-
       keit dafür erhöht werden, dass sich Lernen ereignet.      petenzen zu nutzen und alternative Erfahrungs- und
       Voraussetzung dafür ist, dass eine Orientierung an        Lernmöglichkeiten anzubieten. Durch diese didakti-
       der Konstruktivität menschlichen Lernens erfolgt          sche Brille erscheinen Kinder, die vom Durchschnitt
       und die Lernenden zur (gedanklichen) Aktivität an-        abweichen, als Mängelwesen“ (Brügelmann, 1997,
       geregt werden.                                            S. 21).
       Der Begriff des aktiven Lernens wird jedoch bisweilen     Das Lernen der Kinder, die Rechenschwierigkeiten
       fehlinterpretiert: Aktives Lernen ist erstens nicht mit   haben, weist zwar Besonderheiten auf. Die Gesetze
       körperlicher Aktivität gleichzusetzen. Der wichtigere     des Lernens sind aber keine grundsätzlich anderen.
       Part beim aktiv-entdeckenden Lernen ist die geistige      Allen Kindern sollte somit individuelles und gemein-
       Aktivität der Kinder, in der das Entdecken von Zu-        sames Lernen ermöglicht werden (Brügelmann,
       sammenhängen im Mittelpunkt steht. Entsprechend           1997).
       sind das Hüpfen von Plusaufgaben, das Ausmalen ei-        Um nicht missverstanden zu werden: Wir sind nicht
       nes Rechenbildes und Aktivitäten wie Eckenrechnen         der Meinung, besondere Lernschwierigkeiten be-
       nicht im Sinne des aktiv-entdeckenden Lernens.            dürften nicht auch einer besonderen Beachtung.
       Zweitens kann nicht alles aktiv entdeckt werden. So       Aber die Förderung sollte weitestgehend im Unter-
       gibt es im Mathematikunterricht bestimmte Konven-         richt erfolgen und das Übel an der Wurzel packen:
       tionen, Bezeichnungen, Sprech- und Schreibweisen          Vorbeugen ist besser als nachsteuern. Und wenn
       oder auch die Rechenvorschriften in Aufgabenforma-        Förderung außerhalb der Schule stattfindet, wird sie
       ten, die nur in Ansätzen selbst erschlossen werden        umso erfolgreicher sein, wenn sie an die schulischen
       können. Dies muss die Lehrperson im Unterricht be-        Konzepte anknüpft.
       rücksichtigen. Und drittens brauchen Lernende die
       Unterstützung der Lehrperson und den Austausch                       Tatsächlich sind diese Kinder eher
       mit Mitlernenden, um aktiv entdeckend lernen zu                      ‚belehrungsschwach‘ als ‚lernschwach‘.
       können. Entdeckendes Lernen bedeutet nicht, die                      (Erich Wittmann)
       Lernenden sich selbst und sog. Selbstlernmateriali-
       en zu überlassen.
3 Förderung: Lernprozesse
                                                                                                zielbewusst anregen
                                                                                                                      15

3.2 DIAGNOSEGELEITET, VERSTEHENS-
    ORIENTIERT, KOMMUNIKATIONS-
    FÖRDERND
Für den Unterricht im Allgemeinen wie für eine ge-       erleben, dass grundlegende strukturelle Beziehun-
zielte Förderung bei Anzeichen und zur Verhinderung      gen wiederentdeckt und tragfähig genutzt werden
von besonderen Schwierigkeiten beim Rechnenler-          können. Das heißt nicht, dass sie alles vollständig
nen ist Folgendes relevant. Um Wirksamkeit entfal-       selbst herausfinden müssen. Erfassen heißt nicht
ten zu können, sollte die Förderung der Schülerinnen     zwangsläufig eigenständig entdecken, sondern
und Schüler an den Verstehensgrundlagen ansetzen         schon aktives Einordnen in die eigenen Kompeten-
und substantielle Erarbeitungs- bzw. Aufarbeitungs-      zen. Das kann auch durch Nachvollzug passieren.
möglichkeiten bieten (Prediger, Freesemann, Moser        Die Lernenden sollten also Gelegenheiten erhal-
Opitz & Hußmann, 2013). Ein schlichtes „Du musst         ten, Verständnis aufbauen zu können, und nicht
mehr üben“ oder „Du musst dich mehr anstrengen“          nur Verfahren unverstanden beherrschen.
hilft häufig nicht weiter. Gerade für Kinder mit Re-
chenschwierigkeiten sind aus unserer Sicht drei Leit-   • Kommunikationsförderung: Der Aufbau von Ver-
ideen zentral (Selter, Prediger, Nührenbörger & Huß-      ständnis bedarf gerade bei Lernenden mit Rechen-
mann, 2014).                                              schwierigkeiten der Kommunikation. Sie benötigen
                                                          gezielte Lernanregungen, die in Einzelarbeit häufig
• Diagnosegeleitetheit: Die Förderung setzt an den        nicht zu erhalten sind. Die Gespräche reduzieren
  individuellen Lernpotenzialen und Lernbedürfnis-        sich somit nicht auf die Mitteilung von Lösungspro-
  sen wie auch den Schwierigkeiten der einzelnen          zeduren oder Ergebnissen, sondern haben viel-
  Lernenden an. Sie sollte nicht ohne diagnose-           mehr die Beschreibungs-, Erklärungs- und Begrün-
  basierte Erkenntnisse durchgeführt werden, denn         dungskontexte für mathematische Zusammen-
  ohne diese lässt sich schwerlich entscheiden, wie       hänge als Kern. Dabei geht es sowohl um die Kom-
  die Fördermaßnahmen im Detail angelegt werden           munikation der Schülerinnen und Schüler unter-
  sollen.                                                 einander als auch um die mit der Lehrperson.

• Verstehensorientierung: Schwierigkeiten im aktu-      Diese drei Leitideen bilden den konzeptionellen Rah-
  ellen Unterrichtsstoff resultieren oftmals daraus,    men für das Projekt ‚Mathe sicher können‘, das eng
  dass die Lernenden zum basalen Lernstoff nur un-      miteinander vernetztes Diagnose- und Fördermate-
  zureichende Vorstellungen besitzen und daher dazu     rial entwickelt hat.
  neigen, sich ausschließlich an auswendig gelernten
  Regeln, Verfahren oder Fakten zu orientieren. Da-     • Weitere Informationen zu diesen Leitideen und
  her sollten den Lernenden genügend Anlässe ge-          zum Projekt ‚Mathe sicher können’ finden Sie un-
  boten werden, auch auf Erfahrungen aus früheren         ter pikas.dzlm.de/253 oder direkt unter
  mathematischen Lernprozessen zurückzublicken            mathe-sicher-koennen.dzlm.de
  und diese dahingehend zu reflektieren bzw. neu zu

                                                                               BEISPIELAUFGABEN aus Mathe sicher
                                                                               können, Baustein N4, Operationsver-
                                                                               ständnis Multiplikation:
                                                                               mathe-sicher-koennen.dzlm.de/002
16   3 Förderung: Lernprozesse
       zielbewusst anregen

       3.3 MATHEMATIKFÖRDERUNG DURCH
           SPRACHFÖRDERUNG
       Das Entstehen von besonderen Schwierigkeiten beim
       Rechnenlernen kann auch dadurch unterstützt wer-
       den, dass die Lernenden nicht über die notwendigen
       sprachlichen Voraussetzungen verfügen. Schülerinnen
       und Schüler können sich zwar im Alltag häufig ohne
       Probleme verständigen. Die Alltagssprache, über die
       sie verfügen, ist aber häufig kontextgebunden und
       vollzieht sich in der Regel mündlich. Sie ist gekenn-
       zeichnet durch unvollständige Sätze und Zeigegesten,
       die durch Adverbien wie ‚hier’ oder ‚da’ verstehbar
       werden (Götze, 2015, S. 9).                               Fachliches und sprachliches Lernen sind stets eng mit-
       In der Schule reichen diese Fähigkeiten jedoch bis-       einander verknüpft. Das bedeutet aber auch: Das Fach
       weilen nicht aus, um erfolgreich zu sein, denn die        Deutsch schafft zwar wichtige sprachliche Grundlagen,
       Unterrichtssprache ist eine spezialisierte Sprache mit    es kann aber nicht auf die in der Mathematik benötig-
       für die Lernenden neuen (Summand) oder anders zu          ten Fachbegriffe und fachsprachlichen Redemittel vor-
       deutenden Fachbegriffen (Seite, Unterschied), mit         bereiten. Insofern ist durchgängige Sprachbildung also
       Oberbegriffen (ein Quadrat ist immer auch gleichzei-      auch ein wichtiges Prinzip des Mathematikunterrichts.
       tig ein Viereck, aber nicht jedes Viereck ist ein Quad-   Der Erwerb der Bildungs- und Fachsprache bei Kin-
       rat), abstrakten Pronomen (man, es, niemand oder je-      dern mit Deutsch als Zweitsprache benötigt mehrere
       de/r), Substantivierungen (das Ergänzen), Komposita       Jahre und reicht weit über die Grundschulzeit hinaus.
       (Zahlenmauer, Flächeninhalt), Passivkonstruktionen in     Die Ausdrucksweise wird zunehmend abstrakter und
       vollständigen Sätzen (Die Zahlen werden vertauscht),      unpersönlicher, viele Begriffe werden erweitert bzw.
       komplexeren Satzstrukturen (wenn…, dann…) oder            ausdifferenziert. Das Begriffspaar ,Ganzes-Teile’ z. B.
       Konjunktionen (während, nachdem).                         wird beginnend mit dem Aufbau des Verständnisses
       An den Beispielen in den Klammern wird deutlich, dass     von ,Zerlegen’ (in zwei beliebig große Teilmengen)
       einerseits die fachübergreifende Bildungssprache, die     im ersten Schuljahr über das Aufteilen des Ganzen in
       auch in Mathematik verwendet wird und andererseits        gleich große Teilmengen im zweiten Schuljahr bis hin
       die mathematikunterrichtsbezogene Fachsprache,            zum Verständnis der Beziehung zwischen dem Gan-
       die nur dort behandelt wird, unterschieden werden         zen und den Teilen bei Brüchen in der Sekundarstufe
       müssen. In diesem Sinne ist Fachsprache also für alle     I erweitert. Durchgängige Sprachbildung ist nicht nur
       Kinder gleichermaßen (Meyer & Prediger, 2012; Göt-        etappen- und institutionsübergreifend zu verstehen,
       ze, 2015, S. 21) …                                        sondern auch fächerübergreifend. Nicht nur auf der
                                                                 Inhaltsebene muss also spiralförmig und übergreifend
       • ein Lernziel bzw. ein Lerngegenstand, denn die          gedacht und geplant werden, sondern auch auf der
         Fachsprache der Mathematik soll gemäß der               sprachlichen Ebene.
         KMK-Bildungsstandards (KMK, 2005) und Lehrpläne         Damit der in der Grundschule erarbeitete mathema-
         verbindlich erworben und genutzt werden,                tische Fachwortschatz nachhaltig und auch noch für
       • ein Lernmedium, denn jede Verständigung über            den Übertritt in die weiterführenden Schulen verfüg-
         Mathematik erfolgt sprachlich (mündlich oder            bar ist, muss für den sprachlichen Lernprozess genü-
         schriftlich), aber auch                                 gend Zeit eingeräumt werden – Zeit für die Einführung
       • eine Lernhürde, denn oft sind die Diskrepanzen          und Veranschaulichung, aber auch für die Sicherung,
         zwischen Alltags- und Fachsprache für Schwierigkei-     Übung und Anwendung (vgl. die Darstellung des WE-
         ten im Unterricht wesentlich mitverantwortlich.         GE-Konzepts, Selter, 2017, S. 65ff.).

       Lernen geschieht also immer sprachlich vermittelt und     3.4 LEITIDEEN GUTEN MATHEMATIKUN-
       reflektiert. Auch wenn Kinder beispielsweise lernen,
                                                                     TERRICHTS
       sich auf der Hundertertafel zu orientieren oder vorge-
       gebenen Punktefeldern Einmaleinsaufgaben zuzuord-         Die Materialien des Projekts PIKAS basieren auf zehn
       nen – also vorwiegend inhaltsbezogene Kompetenzen         Leitideen guten Mathematikunterrichts. Diese wer-
       angesprochen sind –, findet Lernen von und durch          den in zehn Häusern näher ausgeführt und durch Bei-
       Sprache statt.                                            spiele konkretisiert (Selter, 2017).
3 Förderung: Lernprozesse
                                                                                  zielbewusst anregen
                                                                                                        17

    Mehr als nur rechnen                   Lernprozesse langfristig anlegen
    Guter Mathematikunterricht för-        Guter Mathematikunterricht er-
    dert durchgängig sowohl prozess-       leichtert das Lernen, indem vom
    bezogene als auch inhaltsbezogene      Elementarbereich bis in die Sekun-
1   Kompetenzen und trägt so zu ei-        darstufen auf Kontinuität bei der                  2
    nem Bild von Mathematik als ‚Wis-      Auswahl der grundlegenden Ideen,
    senschaft von den Mustern’ bei.        Inhalte, Materialien und Aufgaben
                                           geachtet wird.

    Rechenschwierigkeiten                  Matheunterricht sprachbildend
    vermeiden                              gestalten
    Guter Mathematikunterricht ver-        Guter Mathematikunterricht be-
    wendet hinreichend viel Zeit für       treibt Sprachbildung als eine zent-
    verständnisbasierte Übungen zur        rale Aufgabe auch des Mathematik-
3   Vermeidung von Rechenschwierig-        unterrichts und orientiert sich                    4
    keiten und bei deren Auftreten für     dabei am WEGE-Konzept (Wort-
    eine diagnosegeleitete, verständnis-   speicher, Einschleifübungen, Ganz-
    orientierte und kommunikationsan-      heitliche Übungen, Eigenproduktio-
    regende Förderung.                     nen).

    Offenheit und Zielorientierung         Heterogenität als Herausforderung
    verbinden                              nutzen
    Guter Mathematikunterricht er-         Guter Mathematikunterricht sieht
    möglicht es den Lernenden, ausge-      Heterogenität als Herausforderung,
    hend von ihren individuellen Lern-     die nicht in Vereinzelung der Ler-
5                                                                                             6
    ständen und ihren                      nenden mündet, sondern für Pro-
    unterschiedlichen Lernmöglichkei-      zesse des zielorientierten individu-
    ten vorgegebene Kompetenzerwar-        ellen Lernens und des Lernens
    tungen eigenaktiv zu erreichen.        von- und miteinander genutzt wer-
                                           den sollte.

    Herausfordern statt beschäftigen       Lernende aktiv einbeziehen
    Guter Mathematikunterricht ver-        Guter Mathematikunterricht er-
    wendet gute Aufgaben, die ggf. an      möglicht es den Lernenden durch
    die unterschiedlichen Lernmöglich-     eine zielorientierte Unterrichtsfüh-
7   keiten der Lernenden angepasst         rung, den Unterricht und ihren ei-                 8
    werden müssen, damit diese die         genen Lernprozess in zunehmen-
    angestrebten inhalts- und prozess-     dem Maße aktiv und
    bezogenen Kompetenzerwartungen         selbstverantwortlich mitzugestal-
    erreichen können.                      ten.

    Lernen stärkenorientiert               Mehr unterstützen als überprüfen
    wahrnehmen                             Guter Mathematikunterricht unter-
    Guter Mathematikunterricht stellt      stützt die Lernenden durch eine
    individuelle Lernstände kontinuier-    individuumsbezogene sowie zuneh-
9   lich und stärkenorientiert fest und    mend auch anforderungsbezogene                    10
    nutzt diese Grundlage für die Pla-     Leistungsbeurteilung sowie eine
    nung, Durchführung und Reflexion       sachorientierte, dialogische Leis-
    des Unterrichts.                       tungsrückmeldung.
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