Rechenschwierigkeiten vermeiden - PIKAS - Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase - Schulministerium NRW
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PIKAS Deutsches Zentrum für Lehrerbildung Mathematik Rechenschwierigkeiten vermeiden Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase
2 Grußwort Sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer, liebe Leserinnen und Leser, das Erlernen von Mathematik, insbesondere die basale Rechenfähigkeit, ist eine grund- legende Schlüsselqualifikation und für das Leben in unserer Gesellschaft unerlässlich. Die Ergebnisse des letzten IQB-Bildungstrends zeigen den Fachtagungen der Universität, soll nun der Blick auch für NRW im Bereich Mathematik Handlungs- lehrwerksunabhängig in Form von verschiedenen bedarf auf. Deutschlandweit verfehlen ca. 22% der Handreichungen auf zentrale und bedeutsame di- Viertklässler die bestehenden Mindeststandards, in daktisch-methodische Einflussbereiche für das Fach NRW sind es sogar knapp 24%. Die Gründe hierfür gelegt werden. Dies ist das erste Heft einer geplan- mögen vielseitig sein. Für uns als Verantwortliche für ten Veröffentlichungsreihe mit weiteren Themen, Schule und Bildung ist das Ergebnis ein Handlungs- wie zum Beispiel „Mathematik gemeinsam lernen“ signal. Deshalb haben wir uns im Kontext des Mas- oder „Digitale Medien im Mathematikunterricht der terplans Grundschule auch für eine Fachoffensive Primarstufe“. Mathematik zur Unterstützung der Grundschularbeit Die Reihe verfolgt konsequent das Ziel, unter ver- entschlossen und beginnen diesen Prozess mit der schiedenen Gesichtspunkten in knapper Form Hin- vorliegenden Handreichung „Rechenschwierigkeiten tergrundinformationen und Hilfestellungen für den vermeiden“. Unterricht zu geben. Aufbauend auf der schon seit mehr als zehn Jahren Die Hauptintention der vorliegenden Handreichung bestehenden Kooperation mit der Technischen Uni- besteht darin, den Fokus auf zentrale Schlüsselstel- versität Dortmund, auch unterstützt durch die Deut- len zu richten, um das Auftreten von Rechenschwie- sche Telekom Stiftung, sollen Sie, liebe Lehrkräfte, rigkeiten weniger wahrscheinlich werden zu lassen. durch die Handreichungsreihe „Mathematik Primar- Die Handreichung wurde im Projekt PIKAS von ei- stufe kompakt“ in Ihrem alltäglichen unterrichtlichen nem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissen- Handeln zusätzlich unterstützt werden. schaftlern der Technischen Universität Dortmund Neben den bestehenden, qualitativ weitreichenden und Grundschullehrkräften aus Nordrhein-West- Angeboten „PIKAS“, „PIKAS kompakt“, „PIKAS digi“ falen entwickelt. Ich danke allen Beteiligten für das und „PIKAS Inklusiv“, die insbesondere onlineba- hohe Engagement, mit dem sie ihr Expertenwissen sierten Anregungen und Materialien für einen zeit- und ihre Erfahrungen bei der Erstellung der Hand- gemäßen Mathematikunterricht bereithalten, und reichung eingebracht haben, um möglichst für jedes Kind das Erreichen der Mindeststandards sicher zu stellen. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, danke ich an die- ser Stelle ausdrücklich für Ihr Interesse an diesem wichtigen Thema und für Ihr Engagement, die Leis- tungen der Ihnen anvertrauten Kinder mit Rechen- schwierigkeiten im Fach Mathematik an Ihrer Schule weiter zu verbessern. Ihre Yvonne Gebauer Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen
Intention und Konzeption der Handreichung 3 Intention und Konzeption der Handreichung Toni gibt 19 als Ergebnis der Aufgabe 12 + 34 an. Wie kommt er zu diesem Resultat? Toni hat 12 + 3 + 4 statt 12 + 34 gerechnet, also nicht In dieser Handreichung beschreiben wir eingangs berücksichtigt, dass die 3 an der Zehnerstelle steht. zentrale Merkmale und Risikofaktoren von Rechen- Es könnte durchaus sein, dass Toni im Unterricht schwierigkeiten (Kap. 1). Anschließend befassen wir nicht genügend Lerngelegenheiten erhalten hat, um uns mit Diagnose im Sinne des stärkenorientierten ein gesichertes Stellenwertverständnis aufbauen zu Verstehens von Denkwegen (Kap. 2) und mit Förde- können. In diesem Fall wäre der Unterricht dann für rung als darauf basierendem, zielbewusstem Anre- Tonis Schwierigkeiten mitverantwortlich. gen von Lernprozessen (Kap. 3). Den Kern der Hand- Positiv formuliert: Ein Unterricht, in dem die poten- reichung bilden die Ausführungen zu sechs zentralen ziellen stofflichen Hürden bei der Planung, Durchfüh- Themen der Schuleingangsphase (Kap. 4 - 9): Zahl- rung sowie Auswertung des Unterrichts angemessen verständnis, Operationsverständnis, Stellenwertver- berücksichtigt werden, kann die Wahrscheinlichkeit ständnis sowie das nicht zählende Rechnen bei Eins- deutlich senken, dass Schülerinnen und Schüler Re- pluseins und Einminuseins, beim additiven Rechnen chenschwierigkeiten entwickeln (Schipper, 2009, S. bis 100 sowie bei Einmaleins und Einsdurcheins. 329ff; Gaidoschik, 2010; Meyerhöfer, 2011). Voll- Jedes Kapitel fasst das zentrale Hintergrundwissen ständig verhindern können werden Lehrpersonen sie zusammen und konkretisiert es durch Unterrichtsan- allerdings vermutlich nicht. regungen. Aufgrund der Bedeutsamkeit im Kontext des Themas kommt den Themen „Darstellungen" Bei der Umsetzung eines solchen Unterrichts soll (Kap. 10) und „Üben" (Kap. 11) jeweils ein eigenes Sie die vorliegende Handreichung unterstützen, die Kapitel zu. wichtiges Hintergrundwissen zu zentralen Inhalten Viele der Beispiele und der konzeptionellen Überle- des arithmetischen Anfangsunterrichts darstellt gungen entstammen dem Projekt PIKAS und seinen (Was sollte man wissen?) und durch konkrete Anre- Partnerprojekten, oder sie wurden hier weiter aus- gungen für den Unterricht illustriert (Was sollte man gearbeitet. Aus diesem Grund schließen die Handrei- tun?). chungen auch mit Hinweisen auf diese Projekte, die unter dem Dach des Deutschen Zentrums für Lehrer- Die angestrebte Kompaktheit hat dabei zur Folge, bildung Mathematik stehen (Kap. 12). dass diverse Aspekte nicht in der denkbaren Tiefe und Breite behandelt werden können. Die Hand- Wenn wir im Folgenden einige weiterführende Hin- reichung bietet somit weder eine umfassende Dis- weise auf frei zugängliches Material anführen, geben kussion verschiedener Sichtweisen auf das Thema wir jeweils eine sog. Kurz-URL an, die aus der Adres- noch eine ausführliche Darstellung von empirischen se der Website und einem dreiziffrigen Code besteht. Untersuchungen oder eine detaillierte Auflistung Wenn Sie also z. B. pikas.dzlm.de/443 eingeben, er- von Testverfahren, Erhebungsmethoden oder recht- halten Sie konkrete Anregungen zum Üben. lichen Rahmenbedingungen. Zu diesen Punkten ver- weisen wir exemplarisch auf Englisch et al. (2018), Fritz, Schmidt & Ricken (2017), Wartha & Schulz (2014) oder auf die diversen, aus dem Literaturver- Dortmund, im September 2020 zeichnis ersichtlichen Bücher von Gaidoschik. Das PIKAS-Team
4 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen 6 1.1 Fallbeispiele 6 1.2 Zentrale Merkmale 6 1.3 Risikofaktoren 8 1.4 Stärkenorientierung als Grundhaltung 8 2 Diagnose: Denkwege stärkenorientiert verstehen 10 2.1 Prozessorientierte Diagnose 10 2.2 Diagnosegespräche 11 2.3 Diagnoseaufgaben 12 2.4 Standortbestimmungen 12 3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen 14 3.1 Lernen als aktiver Prozess 14 3.2 Diagnosegeleitet, verstehensorientiert, kommunikationsfördernd 15 3.3 Mathematikförderung durch Sprachförderung 16 3.4 Leitideen guten Mathematikunterrichts 16 4 Zahlverständnis 18 4.1 Grundvorstellungen besitzen 18 4.2 Darstellungen vernetzen 20 4.3 Zahlbeziehungen nutzen 22 5 Operationsverständnis 24 5.1 Grundvorstellungen besitzen 24 5.2 Darstellungen vernetzen 26 5.3 Aufgabenbeziehungen nutzen 28 6 Stellenwertverständnis 30 6.1 Elemente des Stellenwertverständnisses 30 6.2 Darstellungen vernetzen 32 6.3 Schnelles Sehen im 100er-Raum 34 7 Nicht zählendes Rechnen: Einspluseins und Einsminuseins 36 7.1 Einspluseins und Einminuseins verstehen 36 7.2 Einspluseins und Einsminuseins vernetzen 38 8 Nicht zählendes Rechnen: Addition und Subtraktion 40 8.1 Addition und Subtraktion im 100er-Raum verstehen 40 8.2 Addition und Subtraktion im 100er-Raum vernetzen 42 9 Nicht zählendes Rechnen: Einmaleins und Einsdurcheins 44 9.1 Einmaleins und Einsdurcheins verstehen 44 9.2 Einmaleins und Einsdurcheins vernetzen 46
Inhaltsverzeichnis 5 10 Darstellungen 48 10.1 Darstellungsformen und Darstellungsmittel 48 10.2 Vier-Phasen-Modell 50 11 Üben! Üben! Üben! 52 11.1 Grundlegendes Üben 52 11.2 Vernetzendes Üben 53 11.3 Entdeckendes Üben 53 11.4 Sicherndes Üben 54 11.5 Systematik, Struktur und Austausch 55 12 PIKAS & Co 57
6 1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen 1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen • Fortbildungsmaterial zum Thema Rechenschwierigkeiten (pikas.dzlm.de/366) • Unterrichtsmaterial zum Thema Rechenschwierigkeiten (pikas.dzlm.de/166) • Förderanregungen (pikas-mi.dzlm.de/400) Am Ende der Sekundarstufe I gibt es einen nicht zu vernachlässigenden Anteil von etwa 20 Prozent der Ju- gendlichen, die – so die Ergebnisse der PISA-Studie (Reiss et al., 2016) oder des IBQ-Ländervergleichs (Pant et al., 2013) – am Ende der Regelschulzeit nur wenige Anforderungen bewältigen können, die über elementare Standardaufgaben hinausgehen, und teilweise auf Grundschulniveau rechnen. Diese Schwierigkeiten ent- wickeln sich nicht erst in der Sekundarstufe (Moser Opitz, 2007). Auch am Ende der Grundschulzeit haben ca. 20% der Lernenden ernsthafte Schwierigkeiten in Mathematik und beim Rechnen – etwas vereinfacht gesagt, sie befinden sich auf dem Wissensstand von Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern (Selter et al., 2016; Stanat et al., 2017). Kennen Sie Kinder, die so vorgehen, wie es die folgenden Beispiele zeigen? 1.1 FALLBEISPIELE Zahlverständnis Operationsverständnis Wie viele Plättchen sind es? Erfinde eine Rechengeschichte zu 6 · 5. Lea feiert Geburtstag. „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sie-, ben" Sie lädt 6 Freunde ein... ähm... der Geburtstag ist in 5 Tagen. Es sind sieben. 6 · 5 = 30 MIA MERLE Stellenwertverständnis Einspluseins Wie lautet die Zahl? Wie viel ist 5 + 4? 1. „eins, zwei, drei, vier, fünf" 2. „fünf, sechs, sieben, acht" Dreiundvierzig. Vierunddreißig. 5 + 4 sind 8. 3. LEO ADIL Subtraktion im Hunderterraum Einmaleins 81 – 34 = Wie viel ist 5 · 7? Ich rechne 80 – 30 = 50, dann 50 – 4 = 46 7, 14, 21... äh... und 46 – 1 = 45. ...26, 31. 81 – 34 ergibt also 45. 5 · 7 sind 31. AYLIN NOAH 1.2 ZENTRALE MERKMALE Zunächst: Es gibt weder eine allgemein anerkannte indem zentrale Merkmale angegeben werden, die Definition dessen, was Schwierigkeiten beim Rech- auf Schwierigkeiten hindeuten. nen ausmacht, noch ein allgemein anerkanntes Dia- Dabei gilt: Rechenprobleme sind normal, und Fehler gnoseverfahren. Daher wird versucht, sich der Be- gehören zum Lernen dazu. Wenn Lernende also grifflichkeit der Rechenschwierigkeiten zu nähern, manchmal so vorgehen, wie es die Beispiele auf der
1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen 7 vorangehenden Seite zeigen, sollten Sie nicht beun- nen Fingern zunächst bis 3 und dann von dort aus ruhigt sein. Aber wenn solche Probleme gehäuft auf- um 4 weiter zählen (4, 5, 6, 7), ist keineswegs un- treten, die Kinder also durchgängig überfordert zu üblich. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses soll- sein scheinen, werden aus Rechenproblemen be- ten die Kinder das zählende Rechnen nicht länger sondere, anhaltende Rechenschwierigkeiten. Wenn als Lösungsmethode verwenden. Diese notwendi- wir im Weiteren von Rechenschwierigkeiten spre- ge Entwicklung betrifft nicht nur das Einspluseins chen, dann meinen wir damit nicht die normalen und das Einsminuseins (vgl. Adil), sondern das ge- Probleme, sondern die besonderen Schwierigkeiten, samte Rechnen, wie z. B. auch das additive Rech- lassen aber das Wort ‚besonders‘ aus Gründen der nen in größeren Zahlräumen (vgl. Aylin) oder das sprachlichen Vereinfachung weg. Einmaleins und Einsdurcheins (vgl. Noah). In Anlehnung an Schipper (2011) und Wartha & Schulz (2014) können für die Schuleingangsphase Weitere Merkmale wie Unsicherheiten in der Raum- vier zentrale Merkmale identifiziert werden, die auf Lage-Wahrnehmung, fehlende Größenvorstellungen, Rechenschwierigkeiten hindeuten: ein schwaches auditives Gedächtnis oder geringes Selbstvertrauen können ebenfalls auftreten. • Nicht tragfähiges Zahlverständnis Die vier hier genauer beschriebenen Merkmale ver- Die Grundlage allen Rechnens bildet ein tragfähi- weisen auf stoffliche Hürden, die Lernende im Ver- ges Zahlverständnis. Es kann als ein Merkmal von lauf der Grundschulzeit überspringen müssen. Wie Schwierigkeiten in Mathematik gelten, wenn die Sie die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen Lernenden Zahlen nicht mit Bedeutungen ver- können, beschreiben wir überblickartig in den Kapi- knüpfen, verschiedene Darstellungsformen nicht teln 4 bis 9. Der Entwicklung des nicht zählenden miteinander vernetzen und den vorhandenen Be- Rechnens kommen dabei aufgrund der Relevanz für ziehungsreichtum von Zahlen für das Weiterler- unterschiedliche Stoffgebiete drei Kapitel zu. nen nicht nutzen können (vgl. Mia). 1. • Nicht tragfähiges Operationsverständnis Rechts sehen Sie einige von Schülerinnen und Schülern notierte Darstellungen für den Zahlen- satz 7 – 2 = 5 (Quelle: Radatz, 1989). Während die leistungsstarken Lernenden in der Regel ihre Dar- 2. stellungen als Bildgeschichten oder in Form der bekannten Schulbuch-Bilder des Hinzukommens oder Hinzulegens bzw. des Weggehens oder Weg- legens zeichneten, gelang den schwächeren Ler- 3. nenden häufig nur eine Übersetzung in eine ande- re symbolische Darstellung. Oder sie zeichneten 4. ein Bild, das schwer mit dem Zahlensatz in Verbin- dung zu bringen ist (Nr. 2, 6, 7, 8; vgl. Merle). • Nicht tragfähiges Stellenwertverständnis 5. Zu verstehen, dass Anzahlen fortgesetzt gebün- delt werden, um sie mit nur wenigen Ziffern oder mit Material übersichtlich darstellen zu können, 6. gehört zu den zentralen Ideen unseres Zahlsys- tems. Lernende müssen verstehen, dass die 3 in 7. 35 etwas anderes bedeutet als die 3 in 307 oder 43 (vgl. Toni, S. 3 oder Leo, S. 6). 8. • Verfestigung des zählenden Rechnens Zählendes Rechnen ist in frühen Phasen des Lern- prozesses normal. Dass beispielsweise Schulan- fängerinnen und Schulanfänger die Aufgabe 3 + 4 lösen, indem sie mit Material oder an ihren eige-
8 1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen 1.3 RISIKOFAKTOREN Bislang konnten keine Ursachen identifiziert werden, Die Risikofaktoren können vielfältig miteinander in die eine Rechenschwäche zwangsläufig zur Folge ha- Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. ben. Aber eine Rechenschwäche ergibt sich anderer- Sie können die Ausbildung von Rechenschwierigkei- seits auch nicht zufällig. Es gibt Risikofaktoren, die ten unterstützen, müssen dies aber nicht zwingend. dazu beitragen können, dass sich in deren Zusam- Lehrpersonen sollten alle drei Bündel von Risikofak- menwirken Schwierigkeiten verfestigen. In Anleh- toren im Blick haben. Sie können jedoch fast aus- nung an Schipper (2011) wollen wir diese in drei Fak- schließlich die im dritten Bündel zusammengefass- torengruppen zusammenfassen, die natürlich nur ten Faktoren beeinflussen. auf dem Papier sauber voneinander zu trennen sind. Daher liegt der Schwerpunkt dieser Handreichung auch auf den didaktischen Risikofaktoren, die an- • Individuelle Risikofaktoren, z. B. … hand der zentralen sechs Inhalte des Arithmetik- neurologische Fehlleistungen wie Wahrneh- unterrichts in der Schuleingangsphase konkretisiert mungsstörungen, Angst vor Mathematik und Ma- werden. Der Schwerpunkt der Darstellungen liegt thematikunterricht, schwindendes Zutrauen in die dabei in Ausführungen dazu, wie das Auftreten von eigenen Lernmöglichkeiten, Schwierigkeiten im Rechenschwierigkeiten weniger wahrscheinlich ge- Aufrechterhalten von Motivation und Aufmerk- macht werden kann (‚Prävention‘). Aber natürlich samkeit, Probleme bei der Aufnahme oder beim sind die diesbezüglichen Ausführungen auch dann Behalten von Informationen sowohl im Langzeit- relevant, wenn vermutet werden kann, dass ein gedächtnis (auswendig gelernte Ergebnisse von Kind Rechenschwierigkeiten hat (‚Therapie‘). Einmaleinsaufgaben) als auch im Kurzzeitgedächt- nis (Zwischenergebnisse von Aufgaben wie 47 + Wer die Aufgaben nicht so lösen kann, darf 89), unerkannte Beeinträchtigungen der Hör- oder noch das Material benutzen. der Sehfähigkeit oder Sprachschwierigkeiten … – ein Beispiel dafür, wie Unterricht dazu beitragen kann, • Familiäre und soziale Risikofaktoren, z. B. ... dass Kinder mit Schwierigkeiten ‚stigmatisiert' werden systematische Erziehung zur Unselbstständigkeit, können und wie über den gesamten Lernprozess hin- das Fehlen von elementaren Voraussetzungen für weg der hilfreiche Einsatz von Material als minderwer- erfolgreiches Lernen (z. B. eigener Arbeitsplatz für tig bezeichnet wird. Hausaufgaben oder das Sorgen für hinreichend viel Schlaf), das Erzeugen von ausgeprägter Angst vor Misserfolg oder von übertriebenem Perfektio- 1.4 STÄRKENORIENTIERUNG ALS nismus durch überzogene Erwartungen, zu den GRUNDHALTUNG schulischen Bemühungen im Widerspruch stehen- de, ungeeignete Belehrungsversuche durch unge- Wenn Sie Kinder beim Mathematiklernen unterstüt- duldige Erwachsene, psychische Belastungen zen wollen, so sind fachliche und fachdidaktische durch angespannte Familiensituationen, Überbe- Kompetenzen erforderlich. Von zentraler Bedeutung anspruchung durch außerschulische Aktivitäten, ist es zudem, zu verstehen, wie Kinder denken, um soziale Isolation in Schule und Alltag … auf dieser Grundlage den bisherigen Unterricht zu reflektieren und den zukünftigen zu planen. In die- • Didaktische Risikofaktoren, z. B. … sem Zusammenhang interessieren natürlich die unverständliche Aufgabenstellungen in wenig Produkte des Denkens, die Ergebnisse. Mindestens übersichtlichen Schulbüchern, das Vorschreiben ebenso wichtig ist aber das Verständnis des Vorge- bestimmter Denkwege, Stofffülle, ungeeignete hens der Kinder, ihrer Denk- und Lernprozesse (Kap. Materialien oder Veranschaulichungen, der nicht 2.1). Entscheidend ist dabei, wie diese Vorgehens- sachgerechte Einsatz von geeigneten Medien oder weisen wahrgenommen und gedeutet werden. eine verfrühte Behandlung abstrakter Darstellun- Hierzu ein fast schon klassisches Beispiel: Lernen be- gen. Auch eine verfehlte Übungspraxis kann zur steht häufig aus dem Herstellen von Beziehungen. Ausprägung von Lernschwierigkeiten beitragen: Es werden Regeln von einem Gebiet auf ein anderes etwa ein frühes Abkoppeln von anschaulichen übertragen. Oft gelten diese auf dem neuen Terrain, Darstellungen oder die Häufung von Übungsauf- aber eben nicht immer. Es gibt Ausnahmen und In- gaben, die nicht auf individuelle Schwierigkeiten konsequenzen, die das Lernen erschweren – bei- eingehen … spielsweise bei der deutschen Zahlwortbildung:
1 Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen 9 Kannst du denn auch schon Aus solcher stärkenorientierten Sicht wird die Anders- bis hundert zählen? artigkeit des Denkens von Kindern nicht als Defizit, Siebenundneunzig, ... sondern als Differenz verstanden. In Spiegel & Selter (2016) wurde in diesem Sinne an vielen Beispielen dokumentiert, dass Kinder bisweilen anders den- ...achtundneunzig, neunund- ken, (1) als Erwachsene denken, (2) als Erwachsene neunzig, hundert, es vermuten, (3) als Erwachsene es möchten, (4) als einhundert, zweihundert, … andere Kinder und (5) als sie selbst in anderen Situa- tionen denken. Diese Andersartigkeit ist nicht immer direkt als solche zu erkennen. Das ändert aber nichts an ihrem Vorhandensein. Stopp, stopp, nach hundert Aus der Haltung der Stärkenorientierung heraus in- kommt die Hunderteins! teressiert also nicht nur die Erkenntnis, dass und wie viele Fehler zu beobachten sind, sondern vielmehr die Frage, wie die Fehler zustande gekommen sind In den weitaus meisten Fällen sind jedoch nicht 100 – als Spezialfall der umfassenderen Frage, welche und 200, sondern 101 und 102 gemeint. Die Kinder Denkwege die Lernenden einschlagen. Diese gilt es, sagen ‚einhundert’ bzw. ‚zweihundert’, weil sie die stärkenorientiert zu verstehen. Regel ‚erst die Einer sprechen’ (sieben-und-neunzig) aus ihrer Sicht konsequent auf einen Bereich über- Rechenfehler sind in der Regel kein Zufall. tragen, in dem sie allerdings nicht mehr gilt. Erwach- Sie beruhen häufig auf individuellen und sene neigen leider dazu, diese und weitere konstruk- aus der Sicht der Lernenden als sinnvoll tive Sprachschöpfungen – wie zehnzig oder zehnzwei erachteten Regeln und Strategien. – ausschließlich als fehlerhafte Zahlwortbildungen wahrzunehmen. Bei dieser Grundeinstellung erfolgt die Orientierung hauptsächlich an dem, was richtig scheint. Abweichungen davon gelten als Defizite. Es gilt, diese schnell zu korrigieren oder schon im Vor- feld zu verhindern. Im Gegensatz dazu können die Äußerungen und Handlungen immer auch aus stärkenorientierter Perspektive betrachtet werden, als Dokumente prin- zipiell vernünftigen Denkens: Was haben sich die Kin- der möglicherweise gedacht? Was können sie schon alles? Was sind die vernünftigen Hintergründe eines aus unserer Sicht falschen Vorgehens? Wie können sie mit Blick auf die ‚Norm’ dazu angeregt werden, ihr Denken und Wissen weiterzuentwickeln? Den Kindern in Mathematik mehr zuzutrauen, ist Voraussetzung wie Resultat des Bemühens, immer auch die Perspektive der Kinder einzunehmen. Zur 101 ‚einhundert’ zu sagen, ist also – mit ihren Augen betrachtet – durchaus sinnvoll. Das Bemühen, immer auch stärkenorientiert zu schauen, bedeutet natürlich nicht, dass Sie den Schü- lerinnen und Schülern nicht auch Dinge erklären soll- ten („Die nächste Zahl könnte ‚einhundert‘ lauten, aber man hat sich darauf geeinigt, sie 'hunderteins' zu nennen!“) – oder sie nicht zum Überwinden von fehlerhaften Vorstellungen oder Verfahren anregen sollten. Aber das sollte aus einer grundsätzlich stär- kenorientierten, wenngleich nicht beschönigenden Perspektive passieren.
10 2 Diagnose: Denkwege stärken- orientiert verstehen 2 Diagnose: Denkwege stärkenorientiert verstehen • Lernen, wie Kinder denken (kira.dzlm.de/129) • Diagnosegeleitet fördern (pikas-mi.dzlm.de/201) • Transparente und kontinuierliche Leistungsfeststellung (pikas.dzlm.de/172 und /441) 2.1 PROZESSORIENTIERTE DIAGNOSE Aus der Metastudie von Hattie (2013) kann aus unserer welchen Bereichen und in welcher Reihenfolge das Kind Sicht die Konsequenz gezogen werden, dass sich eine gefördert werden sollte (Wember, 1998, S. 116). Unterrichtsgestaltung mit den Augen der Lernenden als lernwirksam erwiesen hat. Lehrpersonen sollten über die Tipp: Auf pikas-mi.dzlm.de/201 finden Sie weitere Anre- Kompetenz verfügen, sich in die Lernprozesse hineinzuver- gungen zu folgenden Themen: setzen, Lernprozesse aus der Perspektive der Lernenden • Diagnosemomente und Fördermomente wahrzunehmen und vor diesem Hintergrund unterrichtli- • Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben che Prozesse gestalten zu können. • Planung individueller Förderung Zu den diagnostischen Aufgaben von Lehrpersonen gehört • Diagnosegespräche und Fördergespräche die produktorientierte Lernstandsfeststellung (summa- • Unterrichtsrelevante Tests und Förderung tiv). Mindestens ebenso relevant für die Lernwirksamkeit • Diagnose- und förderorientierte Organisation von Unterricht ist die prozessorientierte Lernstandsfest- stellung, die die Leistungen der Kinder im Rahmen des all- Wie Moser Opitz (2010) anmerkt, sind der Ausgangspunkt täglichen Unterrichts kontinuierlich und stärkenorientiert für die Förderung jedoch nie allein die Diagnosen, son- betrachtet, um die Erkenntnisse als Grundlage einer Lern- dern fachliche und fachdidaktische Überlegungen, die es förderung nutzen zu können (formativ; Scherer & Moser ermöglichen, geeignete Diagnoseaufgaben auszuwählen Opitz, 2010, S. 32). Somit kann u. E. gefolgert werden, bzw. zu entwickeln, die Ergebnisse zu interpretieren und dass evaluative Orientierungen beim Lehren und Lernen Fördermaßnahmen zu planen. einen zentralen Stellenwert haben: Alle Informationen, Zentrale Grundlage jeglicher Diagnose sind die Fähigkei- die Auskunft über Lernmöglichkeiten, Lernstand, Lern- ten der Lehrperson, die Denkwege der eigenen Kinder zu prozesse und Lernerträge der Schülerinnen und Schüler verstehen. Das gelingt in der Regel besser, wenn sie über liefern, sind von besonderem Interesse. Hintergrundwissen darüber verfügt, was typische Denk- Es geht also wesentlich darum, Leistungen festzustellen, wege und Fehlermuster von Schülerinnen und Schülern um Lernende zu fördern (Sundermann & Selter, 2013). sind. Das ‚KIRA-Buch‘ bietet hierzu für die zentralen The- Diagnose und individuelle Förderung sind somit aufeinan- men der Grundschulmathematik eine beispielgebundene, der zu beziehen. Förderung ohne vorangehende Diagnose systematische Überblicksdarstellung (vgl. das Beispiel aus erfolgt i. d. R. unspezifisch, Diagnose ohne darauf aufbau- Götze, Selter & Zannetin, 2019). ende Förderung bleibt häufig wirkungslos und führt nicht Im Folgenden werden mit den Diagnosegesprächen, den selten zu Stigmatisierung. Diagnoseaufgaben und den Standortbestimmungen drei Förderung setzt also an den individuellen Lernpotenzialen Möglichkeiten beschrieben, wie Lehrpersonen im Unter- wie auch den Schwierigkeiten der Lernenden an. Sie sollte richtsalltag stärkenorientiert Denkwege verstehen kön- nicht ohne diagnosebasierte Erkenntnisse erfolgen, denn nen. Sie können die eher unsystematischen, aber nicht ohne diagnostische Daten lässt sich im konkreten Fall eine minder wichtigen Beobachtungen im Unterrichtsalltag bestimmte Fördermaßnahme nicht ableiten. Ohne diag- informativ ergänzen. nostische Daten kann auch nicht entschieden werden, in Sehr häufiger Fehler der Subtraktion! Die Kinder denken, Subtraktion der kleineren „13 – 7 ist gleich 14, denn 7 – 3 dass auch bei der Subtraktion Zahlen bzw. Ziffern ge- tauscht werden dürfen, ohne dass es einen Einfluss auf von der größeren Ziffer sind 4 und dann noch 10 dazu." das Ergebnis hat: 3 + 7 = 7 + 3 (Kommutativgesetz) aber 3-7≠7-3 Sehr häufiger Fehler der Subtraktion! Die Kinder sind sich „18 – 9 rechne ich über 18 – 10. unsicher, wie sie nach einer Ableitung korrigieren müssen. Kippfehler Das sind 8. Dann sind 18 – 9 So muss z. B. bei der Ableitung der Differenz von 18 – 9 (falsche Richtung einer über 18 – 10 das Ergebnis um 1 erhöht, bei einer Ableitung Teiloperation) insgesamt 7, denn es ist ja von 19 – 9 um 1 erniedrigt werden, um auf das Ergeb- nis von 18 – 9 zu kommen (Grundvorstellungen werden eine Minusaufgabe." zentral).
2 Diagnose: Denkwege stärken- orientiert verstehen 11 Starke Konzentration auf den Zehnerübergang und die da- Zehnerunterschreitung „12 - 8 sind 14. mit verbundene Fokussierung auf den Einer führen dazu, nicht beachtet 15 - 9 sind 16." dass der Zehner im Ergebnis stehen bleibt. Oft verbunden mit Problemen im Stellenwertverständnis. 2.2 DIAGNOSEGESPRÄCHE Zunächst sollen die Diagnosegespräche als eine von den nachfolgenden Fördergesprächen, deren Möglichkeit vorgestellt werden, um mehr über das Ziel es ist, Lernprozesse bei den Schülerinnen und Denken der Kinder erfahren zu können. Das Ziel von Schülern anzuregen. Um die Intention von Diagnose- Diagnosegesprächen besteht also darin, dem au- gesprächen in Abgrenzung zu Fördergesprächen zu thentischen Denken von Kindern (Spiegel & Selter, verdeutlichen, sollen beide Gesprächsformen ide- 2016) möglichst genau ‚auf die Spur‘ zu kommen. altypisch in einer Tabelle gegenübergestellt werden Demzufolge unterscheiden sich Diagnosegespräche (Selter, 2017a, S. 391). Diagnosegespräch Fördergespräch Ziel Denkwege verstehen Lernfortschritte ermöglichen Aufgabenstellung soll bearbeitet werden soll richtig gelöst werden Fragen und Impulse dienen der Auslotung dienen der aktiven Entwicklung des Verständnisses des Verständnisses Hilfen als Hilfen zum Darstellen als Hilfen zum Selbstfinden der eigenen Denkwege von Erkenntnissen Fehler können stehen bleiben sollen analysiert und überwunden werden Hauptaktivität Lehrperson beobachten und zuhören gezielte Impulse setzen, um Lernfortschritte anzuregen Hauptaktivität Lernende Denkwege erklären neue Denkwege einschlagen Rückmeldung lernstandsorientiert lernprozessorientiert und zielorientiert Erklärungen durch weitestgehend vermeiden, aber im Bedarfsfall notwendig, bedürfen Gesprächsleiter Aufgabenverständnis sichern aber der aktiven Einordnung ins bestehende Wissensnetz Dabei ist festzuhalten, dass beide Gesprächsformen Was hast du nach der 28 gesagt? in der Unterrichtsrealität häufig eng aufeinander fol- gen bzw. sich auch durchmischen. Entscheidend ist Neun … zig. stets, dass Sie als Lehrperson Klarheit darüber ha- ben, ob Sie gerade eher die Intention des Diagnosti- 90? Da kannst du aber schon zierens oder die des Förderns verfolgen. Und wichtig weit zählen. Kannst du nochmal ist zudem, dass das Fördergespräch dem Prinzip des von 23 an weiter zählen? aktiven Lernens folgt und Sie nicht in das Gesprächs- verhalten des Beibringens oder des Belehrens verfal- 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, len, bei dem versucht wird, den Lernenden unabhän- 33, 34, 35, 36, 37, 38, 90, 91, 92, … gig von deren individuellen Denkwelten den eigenen Denkweg als den bestmöglichen aufzudrängen (Bei- Da hört es auf? spiel aus Selter & Spiegel, 1997, S. 49). Ja. Du kannst doch bestimmt schon zählen, oder? Kannst du auch von 53 aus weiter zählen? 53, 54, 56, 57, 58, 59, … 80, 83, 82, 83, 84, Ja, klar, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 85, 87, …, 89, … elfzig, einundelfzig, dreiund- (zählt weiter), 26, 27, 28, 90. elfzig, sechsundelfzig, … genug...
12 2 Diagnose: Denkwege stärken- orientiert verstehen • Auf der Website des Projekts KIRA (Kinder rechnen anders) sind zahlreiche Informationen zur Ge- sprächsführung und zur Planung (kira.dzlm.de/172), Durchführung (173) und Auswertung (159) ab- rufbar. Weiterhin finden Sie dort exemplarische Leitfäden für die Durchführung von Diagnosegesprä- chen für die Bereiche Geometrie und Sachrechnen (161), Arithmetik bis zum 2. Schuljahr (077) sowie Arithmetik im 3. und 4. Schuljahr (163). Diagnosegespräche haben den großen Vorteil, dass Die unterrichtliche Umsetzung kann beispielsweise sie sehr genaue Einblicke in das Denken der Lernen- so realisiert werden, dass die Schülerinnen und Schü- den ermöglichen, und sie haben den großen Nach- ler zu einem geeigneten Zeitpunkt – zum Beispiel zu teil, dass sie vergleichsweise zeitaufwändig sind. Aus Beginn oder am Ende einer Unterrichtsstunde, eines diesem Grund können sie im Unterrichtsalltag nur Tages oder einer Lerneinheit – auf einem Blatt Pa- dosiert zum Einsatz kommen. Daher sollen in den fol- pier Datum und Namen sowie ihre Bearbeitung einer genden beiden Kapiteln zwei Instrumente beschrie- Diagnoseaufgabe festhalten. Dieses Blatt werfen die ben werden, die es durch die Nutzung der Schrift- Kinder anschließend in den sog. Mathe-Briefkasten, lichkeit ermöglichen, in vergleichsweise kurzer Zeit einen mit gelbem Papier beklebten Schuhkarton mit vergleichsweise viele Informationen über das Den- Schlitz (Sundermann & Selter, 2013). ken der Lernenden zu erhalten: Diagnoseaufgaben Diagnoseaufgaben können geordnet für jedes Kind und Standortbestimmungen. gesammelt werden, um Lernentwicklungen zu doku- mentieren. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass 2.3 DIAGNOSEAUFGABEN es sich dabei nicht um Lernzielkontrollen handelt, Unter einer Diagnoseaufgabe wird ein Impuls an die sondern um ein diagnostisches Instrument, das eine Schülerinnen und Schüler verstanden, vorhandene informative Grundlage für die zielgerichtete Förde- Kompetenzen – etwa in Form von Rechnungen, Tex- rung der einzelnen Kinder bildet. Es ist auch mög- ten, bildlichen Darstellungen sowie Kombinationen lich, die Kinder zu bitten, dieselbe Diagnoseaufgabe aus diesen – schriftlich zu artikulieren. Der Begriff zweimal oder sogar mehrfach in zeitlichem Abstand ‚Impuls’ wird dabei so verstanden, dass die Auffor- zu bearbeiten, so dass sich Entwicklungen erkennen derung zur Aktivität und zur Verschriftlichung auch lassen. Im Folgenden (S. 13) geben wir jeweils eine aus mehreren Teilen bestehen kann, beispielsweise Diagnoseaufgabe für sechs zentrale Inhalte des Arith- aus mehreren Rechenaufgaben oder aus dem Auf- metikunterrichts in der Grundschule an – weitere schreiben einer Begründung, die der Formulierung Beispiele finden Sie auf pikas.dzlm.de/097. einer Entdeckung folgt. Diagnoseaufgaben können schwerpunktmäßig so- 2.4 STANDORTBESTIMMUNGEN wohl inhaltsbezogene als auch prozessbezogene Standortbestimmungen dienen wie Diagnosege- Kompetenzen adressieren (pikas.dzlm.de/097). spräche oder Diagnoseaufgaben der fokussierten Diagnoseaufgaben eignen sich u. a. dazu... Feststellung individueller Lernstände zu bestimmten Zeitpunkten im Unterrichtsprozess. Dabei werden in • Kenntnisse zu zeigen der Regel Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu m. Trage die folgenden Zahlen am Rechenstrich ein. einem Rahmenthema (z. B. Orientierung im Tausen- derraum, Entdeckerpäckchen) ermittelt, dessen Be- • Fertigkeiten zu demonstrieren handlung im Unterricht bevorsteht (Eingangs-Stand- Zeichne einen Kreis mit einem Durchmesser von 5 cm. ortbestimmung) bzw. – vorläufig – abgeschlossen ist (Abschluss-Standortbestimmung; Sundermann & • Aufgaben mit vorgegebenen Bedingungen Selter, 2013, S. 18ff.). Es lässt sich zusammenfassend zu finden sagen, dass Standortbestimmungen am Lerngegen- Finde fünf Malaufgaben mit dem Ergebnis 1.000. stand strukturierte Zusammenstellungen von aufei- nander abgestimmten Diagnoseaufgaben sind. • eigene Vorgehensweisen zu beschreiben Unter schriftlichen Standortbestimmungen werden Schreibe auf, wie du 72 – 19 rechnest. solche verstanden, bei denen während der Bearbei- tung kein Austausch mit den Kindern über ihre Lö- • Vorstellungen darzustellen sungen und Lösungswege stattfindet, man also bei Male ein Bild zur Aufgabe 4 + 5. der Analyse auf die schriftlichen Dokumente allein angewiesen ist. • Auffälligkeiten zu beschreiben Auch die Durchführung einer Eingangs-Standortbe- Was fällt dir auf, wenn du die Aufgaben vergleichst? stimmung hat eine diagnostische Funktion; sie dient
2 Diagnose: Denkwege stärken- orientiert verstehen 13 Zahlverständnis Operationsverständnis Lege 8 Plättchen hin. Welche Rechenaufgabe siehst du in dem Bild? Stellenwertverständnis Einspluseins und Einsminuseins Lege die Zahl 46. Wie viel ist 8 + 5? 8 + 5 = 13. Lege einen Zehner hinzu, wie lautet die Zahl jetzt? Und wie viel ist 13 – 5? 13 - 5 = 8. Weil eben 10 mehr, das sind 56. war 8 + 5 = 13. Addition im Hunderterraum Einsdurcheins Rechne aus: 32 + 45 Drei Kinder teilen sich 24 Bonbons. Wie viele bekommt jedes Kind? 30 + 40 = 70 2 + 5 = 7 Sind 77. 15 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 Rechne aus: 32 + 49 30 + 40 = 70 Jedes Kind bekommt 8. Sind 81. 2 + 9 = 11 ausschließlich zur differenzierten Planung des weite- Aufgabe Kommentar ren Unterrichts. Eine Rückgabe der Eingangs-Stand- 24 + 5 Zu einer zweistelligen Zahl ist eine ortbestimmungen an die Kinder mit Bepunktung einstellige Zahl zu addieren, ohne dass oder Benotung ist kontraproduktiv! Sofern eine Ein- dabei der nächste Zehner überschritten gangs- und eine Abschluss-Standortbestimmung werden muss. durchgeführt werden, ist es sinnvoll, beide analog 33 + 9 Die Aufgabenanforderungen sind ver- aufzubauen und dieselben Zahlenwerte zu verwen- gleichbar, nur dass hierbei der nächste den. So können sowohl die Lehrpersonen als auch Zehner (die 40) überschritten wird. die Kinder Lernfortschritte leichter erkennen und se- hen, in welchen Bereichen sich gute und ggf. auch 41 + 35 Zwei zweistellige Zahlen müssen addiert weniger zufriedenstellende Lernentwicklungen er- werden, es ist kein Zehnerübergang erforderlich. geben haben. Standortbestimmungen geben den Lehrpersonen 37 + 43 Hier sind ebenfalls zwei zweistellige Zah- strukturierte Informationen über die Lernstände len zu addieren; das Ergebnis ist eine Zeh- einzelner Kinder. Indem die individuellen Lernstände nerzahl. genauer beobachtet und besser verstanden werden, 44 + 29 Auch hier sind zwei zweistellige Zahlen zu wird es leichter, den Unterricht daran zu orientieren addieren; dabei ist der nächste Zehner zu und die Grundlage für eine individuelle Förderung zu überschreiten. Möglich ist auch die Lö- schaffen (pikas.dzlm.de/098). sung: + 30 und dann – 1. Aber auch für die Lernenden haben Standortbestim- 25 + 26 Auch bei der letzten Aufgabe sind zwei mungen eine wichtige Funktion, denn sie tragen zu- zweistellige Zahlen mit Übertrag zu ad- dem dazu bei, dass die Kinder zunehmend Transpa- dieren. Möglich ist auch, die Hilfsaufgabe renz über ihr eigenes Lernen erhalten können: Was 25 + 25 zu nutzen. kann ich schon? Was muss ich noch lernen? Was habe ich dazu gelernt? Standortbestimmungen, Diagnoseaufga- Im Folgenden geben wir die Beispielaufgaben an, die ben, Diagnosegespräche und Unterrichts- für eine Standortbestimmung zur Addition im 100er- beobachtungen haben dieselbe Funktion: Raum verwendet werden könnten – weitere Beispie- Leistungen feststellen, um Kinder fachlich le finden Sie auf pikas.dzlm.de/098. fördern zu können.
14 3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen 3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen • Lernen als aktiver Prozess (kira.dzlm.de/017) • Fachbezogene Sprachbildung (ZR 0 bis 100) (pikas.dzlm.de/476) • Diagnose- und Fördermaterial (mathe-sicher-koennen.dzlm.de/002) ‚Lernprozesse zielbewusst anzuregen‘ meint, dass der Unterricht den Schülerinnen und Schülern hinreichend viel Zeit und Raum für ein selbstgesteuertes, zielorientiertes Lernen geben sollte. (Spiegel & Selter, 2016) 3.1 LERNEN ALS AKTIVER PROZESS Es kann als grundlegende Erkenntnis der Forschung Viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen gelten, dass Lernen nicht als Übernahme von fertigem sind zwar der Überzeugung, dass die Kinder, die Wissen, sondern als ein stets aktiver, konstruktiver, am meisten Schwierigkeiten im Unterricht haben, individueller Prozess stattfindet. Selbst dann, wenn nicht nur besondere Zuwendung brauchen, sondern Schülerinnen und Schüler einer Erzählung eines Er- auch didaktisch-kleinschrittig angelegte Program- wachsenen zuhören oder einige Seiten in einem me. Jedoch: „Solche Förderkonzepte mißverstehen Sachbuch lesen, bedarf es eigener Konstruktionen, kindliches Denken in doppelter Weise: Sie zerlegen damit sie etwas lernen – nicht nur dann, wenn sie sinnvolle Handlungen in isolierte Teilleistungen und auf sich selbst gestellt versuchen, ein herausfordern- versuchen, sie über kleinschrittige Übungen wieder des Problem zu bewältigen. Das bedeutet: Wie auch aufzubauen, statt Grundqualifikationen des Arbei- immer agiert wird, Lernerfolge der Kinder können tens und Lernens zu entwickeln (...). Sie steigern die nicht erzwungen werden. Auch noch so ausgefeilte Hilflosigkeit der Kinder und ihre Abhängigkeit, in- Lernarrangements können nicht garantieren, dass dem sie den Belehrungsunterricht intensivieren (an Lernen stattfindet. Aber es kann die Wahrscheinlich- dem diese Kinder gescheitert sind), statt ihre Kom- keit dafür erhöht werden, dass sich Lernen ereignet. petenzen zu nutzen und alternative Erfahrungs- und Voraussetzung dafür ist, dass eine Orientierung an Lernmöglichkeiten anzubieten. Durch diese didakti- der Konstruktivität menschlichen Lernens erfolgt sche Brille erscheinen Kinder, die vom Durchschnitt und die Lernenden zur (gedanklichen) Aktivität an- abweichen, als Mängelwesen“ (Brügelmann, 1997, geregt werden. S. 21). Der Begriff des aktiven Lernens wird jedoch bisweilen Das Lernen der Kinder, die Rechenschwierigkeiten fehlinterpretiert: Aktives Lernen ist erstens nicht mit haben, weist zwar Besonderheiten auf. Die Gesetze körperlicher Aktivität gleichzusetzen. Der wichtigere des Lernens sind aber keine grundsätzlich anderen. Part beim aktiv-entdeckenden Lernen ist die geistige Allen Kindern sollte somit individuelles und gemein- Aktivität der Kinder, in der das Entdecken von Zu- sames Lernen ermöglicht werden (Brügelmann, sammenhängen im Mittelpunkt steht. Entsprechend 1997). sind das Hüpfen von Plusaufgaben, das Ausmalen ei- Um nicht missverstanden zu werden: Wir sind nicht nes Rechenbildes und Aktivitäten wie Eckenrechnen der Meinung, besondere Lernschwierigkeiten be- nicht im Sinne des aktiv-entdeckenden Lernens. dürften nicht auch einer besonderen Beachtung. Zweitens kann nicht alles aktiv entdeckt werden. So Aber die Förderung sollte weitestgehend im Unter- gibt es im Mathematikunterricht bestimmte Konven- richt erfolgen und das Übel an der Wurzel packen: tionen, Bezeichnungen, Sprech- und Schreibweisen Vorbeugen ist besser als nachsteuern. Und wenn oder auch die Rechenvorschriften in Aufgabenforma- Förderung außerhalb der Schule stattfindet, wird sie ten, die nur in Ansätzen selbst erschlossen werden umso erfolgreicher sein, wenn sie an die schulischen können. Dies muss die Lehrperson im Unterricht be- Konzepte anknüpft. rücksichtigen. Und drittens brauchen Lernende die Unterstützung der Lehrperson und den Austausch Tatsächlich sind diese Kinder eher mit Mitlernenden, um aktiv entdeckend lernen zu ‚belehrungsschwach‘ als ‚lernschwach‘. können. Entdeckendes Lernen bedeutet nicht, die (Erich Wittmann) Lernenden sich selbst und sog. Selbstlernmateriali- en zu überlassen.
3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen 15 3.2 DIAGNOSEGELEITET, VERSTEHENS- ORIENTIERT, KOMMUNIKATIONS- FÖRDERND Für den Unterricht im Allgemeinen wie für eine ge- erleben, dass grundlegende strukturelle Beziehun- zielte Förderung bei Anzeichen und zur Verhinderung gen wiederentdeckt und tragfähig genutzt werden von besonderen Schwierigkeiten beim Rechnenler- können. Das heißt nicht, dass sie alles vollständig nen ist Folgendes relevant. Um Wirksamkeit entfal- selbst herausfinden müssen. Erfassen heißt nicht ten zu können, sollte die Förderung der Schülerinnen zwangsläufig eigenständig entdecken, sondern und Schüler an den Verstehensgrundlagen ansetzen schon aktives Einordnen in die eigenen Kompeten- und substantielle Erarbeitungs- bzw. Aufarbeitungs- zen. Das kann auch durch Nachvollzug passieren. möglichkeiten bieten (Prediger, Freesemann, Moser Die Lernenden sollten also Gelegenheiten erhal- Opitz & Hußmann, 2013). Ein schlichtes „Du musst ten, Verständnis aufbauen zu können, und nicht mehr üben“ oder „Du musst dich mehr anstrengen“ nur Verfahren unverstanden beherrschen. hilft häufig nicht weiter. Gerade für Kinder mit Re- chenschwierigkeiten sind aus unserer Sicht drei Leit- • Kommunikationsförderung: Der Aufbau von Ver- ideen zentral (Selter, Prediger, Nührenbörger & Huß- ständnis bedarf gerade bei Lernenden mit Rechen- mann, 2014). schwierigkeiten der Kommunikation. Sie benötigen gezielte Lernanregungen, die in Einzelarbeit häufig • Diagnosegeleitetheit: Die Förderung setzt an den nicht zu erhalten sind. Die Gespräche reduzieren individuellen Lernpotenzialen und Lernbedürfnis- sich somit nicht auf die Mitteilung von Lösungspro- sen wie auch den Schwierigkeiten der einzelnen zeduren oder Ergebnissen, sondern haben viel- Lernenden an. Sie sollte nicht ohne diagnose- mehr die Beschreibungs-, Erklärungs- und Begrün- basierte Erkenntnisse durchgeführt werden, denn dungskontexte für mathematische Zusammen- ohne diese lässt sich schwerlich entscheiden, wie hänge als Kern. Dabei geht es sowohl um die Kom- die Fördermaßnahmen im Detail angelegt werden munikation der Schülerinnen und Schüler unter- sollen. einander als auch um die mit der Lehrperson. • Verstehensorientierung: Schwierigkeiten im aktu- Diese drei Leitideen bilden den konzeptionellen Rah- ellen Unterrichtsstoff resultieren oftmals daraus, men für das Projekt ‚Mathe sicher können‘, das eng dass die Lernenden zum basalen Lernstoff nur un- miteinander vernetztes Diagnose- und Fördermate- zureichende Vorstellungen besitzen und daher dazu rial entwickelt hat. neigen, sich ausschließlich an auswendig gelernten Regeln, Verfahren oder Fakten zu orientieren. Da- • Weitere Informationen zu diesen Leitideen und her sollten den Lernenden genügend Anlässe ge- zum Projekt ‚Mathe sicher können’ finden Sie un- boten werden, auch auf Erfahrungen aus früheren ter pikas.dzlm.de/253 oder direkt unter mathematischen Lernprozessen zurückzublicken mathe-sicher-koennen.dzlm.de und diese dahingehend zu reflektieren bzw. neu zu BEISPIELAUFGABEN aus Mathe sicher können, Baustein N4, Operationsver- ständnis Multiplikation: mathe-sicher-koennen.dzlm.de/002
16 3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen 3.3 MATHEMATIKFÖRDERUNG DURCH SPRACHFÖRDERUNG Das Entstehen von besonderen Schwierigkeiten beim Rechnenlernen kann auch dadurch unterstützt wer- den, dass die Lernenden nicht über die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen verfügen. Schülerinnen und Schüler können sich zwar im Alltag häufig ohne Probleme verständigen. Die Alltagssprache, über die sie verfügen, ist aber häufig kontextgebunden und vollzieht sich in der Regel mündlich. Sie ist gekenn- zeichnet durch unvollständige Sätze und Zeigegesten, die durch Adverbien wie ‚hier’ oder ‚da’ verstehbar werden (Götze, 2015, S. 9). Fachliches und sprachliches Lernen sind stets eng mit- In der Schule reichen diese Fähigkeiten jedoch bis- einander verknüpft. Das bedeutet aber auch: Das Fach weilen nicht aus, um erfolgreich zu sein, denn die Deutsch schafft zwar wichtige sprachliche Grundlagen, Unterrichtssprache ist eine spezialisierte Sprache mit es kann aber nicht auf die in der Mathematik benötig- für die Lernenden neuen (Summand) oder anders zu ten Fachbegriffe und fachsprachlichen Redemittel vor- deutenden Fachbegriffen (Seite, Unterschied), mit bereiten. Insofern ist durchgängige Sprachbildung also Oberbegriffen (ein Quadrat ist immer auch gleichzei- auch ein wichtiges Prinzip des Mathematikunterrichts. tig ein Viereck, aber nicht jedes Viereck ist ein Quad- Der Erwerb der Bildungs- und Fachsprache bei Kin- rat), abstrakten Pronomen (man, es, niemand oder je- dern mit Deutsch als Zweitsprache benötigt mehrere de/r), Substantivierungen (das Ergänzen), Komposita Jahre und reicht weit über die Grundschulzeit hinaus. (Zahlenmauer, Flächeninhalt), Passivkonstruktionen in Die Ausdrucksweise wird zunehmend abstrakter und vollständigen Sätzen (Die Zahlen werden vertauscht), unpersönlicher, viele Begriffe werden erweitert bzw. komplexeren Satzstrukturen (wenn…, dann…) oder ausdifferenziert. Das Begriffspaar ,Ganzes-Teile’ z. B. Konjunktionen (während, nachdem). wird beginnend mit dem Aufbau des Verständnisses An den Beispielen in den Klammern wird deutlich, dass von ,Zerlegen’ (in zwei beliebig große Teilmengen) einerseits die fachübergreifende Bildungssprache, die im ersten Schuljahr über das Aufteilen des Ganzen in auch in Mathematik verwendet wird und andererseits gleich große Teilmengen im zweiten Schuljahr bis hin die mathematikunterrichtsbezogene Fachsprache, zum Verständnis der Beziehung zwischen dem Gan- die nur dort behandelt wird, unterschieden werden zen und den Teilen bei Brüchen in der Sekundarstufe müssen. In diesem Sinne ist Fachsprache also für alle I erweitert. Durchgängige Sprachbildung ist nicht nur Kinder gleichermaßen (Meyer & Prediger, 2012; Göt- etappen- und institutionsübergreifend zu verstehen, ze, 2015, S. 21) … sondern auch fächerübergreifend. Nicht nur auf der Inhaltsebene muss also spiralförmig und übergreifend • ein Lernziel bzw. ein Lerngegenstand, denn die gedacht und geplant werden, sondern auch auf der Fachsprache der Mathematik soll gemäß der sprachlichen Ebene. KMK-Bildungsstandards (KMK, 2005) und Lehrpläne Damit der in der Grundschule erarbeitete mathema- verbindlich erworben und genutzt werden, tische Fachwortschatz nachhaltig und auch noch für • ein Lernmedium, denn jede Verständigung über den Übertritt in die weiterführenden Schulen verfüg- Mathematik erfolgt sprachlich (mündlich oder bar ist, muss für den sprachlichen Lernprozess genü- schriftlich), aber auch gend Zeit eingeräumt werden – Zeit für die Einführung • eine Lernhürde, denn oft sind die Diskrepanzen und Veranschaulichung, aber auch für die Sicherung, zwischen Alltags- und Fachsprache für Schwierigkei- Übung und Anwendung (vgl. die Darstellung des WE- ten im Unterricht wesentlich mitverantwortlich. GE-Konzepts, Selter, 2017, S. 65ff.). Lernen geschieht also immer sprachlich vermittelt und 3.4 LEITIDEEN GUTEN MATHEMATIKUN- reflektiert. Auch wenn Kinder beispielsweise lernen, TERRICHTS sich auf der Hundertertafel zu orientieren oder vorge- gebenen Punktefeldern Einmaleinsaufgaben zuzuord- Die Materialien des Projekts PIKAS basieren auf zehn nen – also vorwiegend inhaltsbezogene Kompetenzen Leitideen guten Mathematikunterrichts. Diese wer- angesprochen sind –, findet Lernen von und durch den in zehn Häusern näher ausgeführt und durch Bei- Sprache statt. spiele konkretisiert (Selter, 2017).
3 Förderung: Lernprozesse zielbewusst anregen 17 Mehr als nur rechnen Lernprozesse langfristig anlegen Guter Mathematikunterricht för- Guter Mathematikunterricht er- dert durchgängig sowohl prozess- leichtert das Lernen, indem vom bezogene als auch inhaltsbezogene Elementarbereich bis in die Sekun- 1 Kompetenzen und trägt so zu ei- darstufen auf Kontinuität bei der 2 nem Bild von Mathematik als ‚Wis- Auswahl der grundlegenden Ideen, senschaft von den Mustern’ bei. Inhalte, Materialien und Aufgaben geachtet wird. Rechenschwierigkeiten Matheunterricht sprachbildend vermeiden gestalten Guter Mathematikunterricht ver- Guter Mathematikunterricht be- wendet hinreichend viel Zeit für treibt Sprachbildung als eine zent- verständnisbasierte Übungen zur rale Aufgabe auch des Mathematik- 3 Vermeidung von Rechenschwierig- unterrichts und orientiert sich 4 keiten und bei deren Auftreten für dabei am WEGE-Konzept (Wort- eine diagnosegeleitete, verständnis- speicher, Einschleifübungen, Ganz- orientierte und kommunikationsan- heitliche Übungen, Eigenproduktio- regende Förderung. nen). Offenheit und Zielorientierung Heterogenität als Herausforderung verbinden nutzen Guter Mathematikunterricht er- Guter Mathematikunterricht sieht möglicht es den Lernenden, ausge- Heterogenität als Herausforderung, hend von ihren individuellen Lern- die nicht in Vereinzelung der Ler- 5 6 ständen und ihren nenden mündet, sondern für Pro- unterschiedlichen Lernmöglichkei- zesse des zielorientierten individu- ten vorgegebene Kompetenzerwar- ellen Lernens und des Lernens tungen eigenaktiv zu erreichen. von- und miteinander genutzt wer- den sollte. Herausfordern statt beschäftigen Lernende aktiv einbeziehen Guter Mathematikunterricht ver- Guter Mathematikunterricht er- wendet gute Aufgaben, die ggf. an möglicht es den Lernenden durch die unterschiedlichen Lernmöglich- eine zielorientierte Unterrichtsfüh- 7 keiten der Lernenden angepasst rung, den Unterricht und ihren ei- 8 werden müssen, damit diese die genen Lernprozess in zunehmen- angestrebten inhalts- und prozess- dem Maße aktiv und bezogenen Kompetenzerwartungen selbstverantwortlich mitzugestal- erreichen können. ten. Lernen stärkenorientiert Mehr unterstützen als überprüfen wahrnehmen Guter Mathematikunterricht unter- Guter Mathematikunterricht stellt stützt die Lernenden durch eine individuelle Lernstände kontinuier- individuumsbezogene sowie zuneh- 9 lich und stärkenorientiert fest und mend auch anforderungsbezogene 10 nutzt diese Grundlage für die Pla- Leistungsbeurteilung sowie eine nung, Durchführung und Reflexion sachorientierte, dialogische Leis- des Unterrichts. tungsrückmeldung.
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