INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
INTER- HILFE FÜR HIRNVERLE T Z TE K INDER hik i BULLETIN 2021 NATIONAL Behinderung Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus
HIKI BULLETIN 2021 I N H A LT INTERNATIONAL amibia N 04 Vom Papier zur Tat Ägypten 08 «Mohamed gehört dazu» I ndien SERVICE 12 Mit wenig viel bewirken 11 D ies & Das 14 Eine zusätzliche Last 16 K inder mit Behinde- euseeland N rungen weltweit 22 Grosse Hilfsbereitschaft 19 Buch-/Filmtipps 20 Weltkarte B olivien 26 Umgekehrter Kultur- schock WER IST HIKI iederlande N 31 Ein Beispiel macht 39 Unser Angebot Schule R ussland 34 Aus dem Weg, aus dem Sinn Slowenien 36 Fast wie die Schweiz und doch nicht ganz 2
HIKI BULLETIN 2021 E D I TO R I A L UNO-BRK LIEBE LESERINNEN UND LESER Artikel 19 der UN-Behin- dertenrechtskonvention Während ich dieses Bulletin lese, trägt auch der unter- explodieren die Erinnerungen schiedlichen Auffassung an meine humanitäre Arbeit im vom menschlichen Leben in den verschiede- Nachkriegsbalkan wie Splitter- nen Kulturen Rechnung, bomben. Da ist vor allem das Bild und seine Bestimmungen dieses Heims, verloren in einem geben bestimmten kul- mazedonischen Kaff: Ein Dutzend turellen Normen und Wer- Kinder mit Behinderungen, ten keinen Vorzug. Ein selbstbestimmtes Leben bleiche, ausdruckslose Gesichter, verdreckt mit den eige- und die Teilhabe an der nen Exkrementen, zusammengepfercht auf einem alten Gesellschaft sind Grund- Teppich in einem baufälligen Raum. prinzipien der mensch- lichen Existenz, die überall Im ehemaligen kommunistischen Ostblock hatte sich die auf der Welt gelten, Sonderbetreuung der «Defekten» in eine Form der «Totalen auch im Kontext von Institutionen» verwandelt. Mit überfüllten Zimmern, Ver- Behinderung. wahrlosung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch sind diese Einrichtungen nur ein krasses Beispiel für struktu- relle Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderungen. Auch heute noch sind Kinder in solch haftähnlichen Strukturen eingesperrt, wie der Artikel zu Russland auf Seite 34 / 35 zeigt. Eine Realität, die uns daran erinnert, dass die Geschichte der «Behinderung» ein langer und erschreckender Weg ist, Impressum gepflastert mit Ablehnung, Ausgrenzung oder Zwangsein- Hilfe für hirnverletzte Kinder Mühlebachstrasse 43, 8008 Zürich weisung. Eine Geschichte, die in unserem kollektiven Unter- Tel. 044 252 54 54 info@hiki.ch, www.hiki.ch bewusstsein tief verankert ist und immer noch zur Mar- PC 85-461 012-9 ginalisierung von Menschen mit Behinderungen beiträgt – Redaktion Vanda Mathis sowohl in reichen Ländern wie der Schweiz als auch im Konzept/Design/Realisation Linkgroup AG, Zürich Globalen Süden. Illustrationen Dreamstime (Titelseite), Adobe Stock Die UNO-BRK mit ihren Grundsätzen für ein selbstbestimmtes und Depositphotos Fotos Leben und die Inklusion in die Gesellschaft enthält konkrete Wiktoria Bosc (S. 3), Comundo (S. 5), insieme/Vera Markus (S. 8), Massnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung von Men- Renate Wernli (S. 13, 27), Adobe Stock (S. 22), schen mit Behinderungen, unabhängig vom sozialen, Gordon Welters (S. 34), Ljubljana Tourismus (S. 36), zvg wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem sie leben. Raphael de Riedmatten Geschäftsleiter von AGILE.CH 3
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Namibia Vom Papier zur Tat Milinga kann auch mit seiner Cerebralparese die Mulumba Primary School besuchen. Inklusive Bildung ist in Namibia eine noch junge Erscheinung. Lernende mit einer Behinderung müssen viele Hürden überwinden. Wie die von der Re- gierung beschlossene inklusive Strategie langsam im Alltag ankommt, erzählt Regula Käser, Inklusions- beraterin im Nordosten Namibias. 4
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Mit Regula Käser* sprach Daniela Mathis Manche Mittelohrentzündungen oder Ma- laria bei Kindern werden in Namibia nicht behandelt, obwohl die medizinische Grund- versorgung eigentlich gut ist – allerdings nicht überall. Als Spätfolge kann dies zu einer Hörbehinderung führen. «Wir machen regelmässige Screenings an Schulen, um «In Zambezi gehen Kinder und Jugendli- Kinder mit einer Seh- oder Hörschwäche che mit einer Hirnverletzung in die regulä- zu identifizieren», erzählt Regula Käser. Die re Schule – wenn sie überhaupt zur Schule Schweizer Pädagogin lebt und arbeitet seit gehen», erzählt Regula Käser. «Familien mit *Regula Käser 2017 in der Region Zambezi. einem behinderten Kind werden in dieser Die Sekundarlehrerin und Heil ländlichen Gegend leider noch oft diskri- pädagogin Regula Käser hat Die Republik Namibia liegt im südwestlichen miniert. Der Aberglaube, man sei verhext einen MAS in Erziehungswissen- Afrika zwischen Angola, Botswana, Sambia, worden oder man habe in einem früheren schaften. Sie leistet für Comundo Südafrika sowie dem Atlantischen Ozean. Leben etwas falsch gemacht, wofür man einen mehrjährigen Einsatz in Namibia. In der nordöstlichen Rund 2,3 Millionen Menschen leben in dem nun bestraft werde, hält sich trotz Aufklä- Region Zambezi fördert sie knapp 825 000 km2 grossen Land, das nach rungskampagnen hartnäckig.» Menschen als Inclusive Education Advisor mehr als 100-jähriger Fremdbestimmung mit schweren Behinderungen werden daher den Zugang zu Bildung für 1990 von der südafrikanischen Verwaltung meist versteckt. alle Kinder und Jugendliche. unabhängig wurde. Davor war es jahrzehn- telang unter deutscher Kolonialherrschaft. Die Geschichte, insbesondere Südafrikas Apartheidsystem, beeinflusst noch heute So sind Kinder mit einer sichtbaren Behinde die Gesellschaft Namibias. rung an öffentlichen Schulen oft Einzelfälle, der Umgang mit ihnen ist noch ungewohnt. Bis heute wenig Unterstützung Regula Käser berichtet, dass betroffene Menschen mit Die Klassen sind gross: 25 bis 35 Schülerin- nen und Schüler auf dem Land und bis zu 70 Kinder eine Brille oder ein Hörgerät erhal- ten, was ihnen ermöglicht, dem Unterricht schweren Behinde- in der Stadt. «Eine Lehrperson hat da kaum die Musse, Gelegenheit und das praktische wieder zu folgen, der noch heute meist frontal stattfindet. So stellt zum Beispiel rungen werden Wissen, speziell auf die Bedürfnisse eines einzelnen Kindes einzugehen, das Tempo die NGO CLaSH – Association for Children with Language, Speech and Hearing Im oft versteckt, weil anzupassen, es zu fördern oder gar zu ver- stehen, was es braucht», erklärt die ehema- pairments of Namibia – aus der 1200 Kilo sich der Aber- lige Sekundarlehrerin. Hinzu kommt eine oft meter entfernten Hauptstadt Windhoek Hör- mangelhafte und marode Infrastruktur. Der geräte zur Verfügung. Denn auf dem Land glaube, sie seien namibische Lehrplan ist ambitioniert. Das können sich das nur die wenigsten leisten. führt in manchen Fällen dazu, dass der Lern- verhext, hart- stoff durchgepaukt wird, egal ob die Ler- Schwieriger, an Bildung teilzunehmen und Teil der Gesellschaft zu sein, ist es in Namibia näckig hält. nenden ihn verstehen oder nicht. Es kommt vor, dass Jugendliche in der 8. Klasse nicht für Kinder mit einer schwerwiegenden Be- richtig lesen oder schreiben können, rund hinderung wie der Cerebralparese. «In Zam- ein Viertel muss die Klasse wiederholen, und bezi gibt es einige Kinder mit einer Hirn- manche verlassen frühzeitig die Schule – schädigung», weiss Regula Käser. Die Region ohne Abschluss. Lernende mit besonde- mit der rund 30 000 Einwohner zählenden ren Bedürfnissen haben es da selbstredend Hauptstadt Katima Mulilo liegt im äussers- noch schwieriger. ten Nordosten. Es gibt wenig Unterstützung und kaum spezielle Schulen oder heilpäda- gogische Einrichtungen für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Zwei Schulen für Kinder mit einer geistigen Behinderung be- finden sich weit weg in Windhoek. a 5
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Inklusive Strategie, langsame Co m m u n d o Umsetzung verbessert als grösste Organisation Damit Kinder und Jugendliche mit be- der Personellen Entwicklungs sonderen Bedürfnissen nicht von Bildung zusammenarbeit in der Schweiz mit ausgeschlossen werden, hat Namibia 2013 über 100 Fachleuten die Lebens eine entsprechende Strategie, die «Inclu bedingungen von Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien. sive Education Policy», verabschiedet: Jede Mehr zu Regula Käser, anderen Person ist als wertvolles Mitglied der Ge Einsätzen in Namibia und Comundo sellschaft anzuerkennen und entsprechend auf der Website der Organisation. zu fördern. Auch die Direktion für Bildung www.comundo.org in Zambezi soll als Teil des namibischen Bil- dungsministeriums qualitativ hochwertige und inklusive Bildung für alle sicherstellen. «Diese Policy ist ein wichtiger Schritt, doch sie ist noch jung und der Prozess braucht Zeit», sagt Käser. Deshalb arbeitet Comundo (siehe Box) zu- Es ist ein Ort, an dem man sich austauschen, sammen mit dem namibischen Bildungs- unterstützen und vernetzen kann. «Das ist ministerium und seinen regionalen Direk- insbesondere für Mütter sehr wichtig, sie toraten auf die inklusiven Ziele der Policy tragen meist die Hauptlast und fühlen sich hin. «Ich schaue zusammen mit einzelnen allein», berichtet Käser. Zu oft verlassen Vä- Lehrpersonen oder während Workshops in ter die Familie, wenn ein Kind mit einer Be- Gruppen, wer Unterstützung braucht und hinderung zur Welt kommt. Doch die Pflege was konkret getan werden kann», erzählt ist intensiv. Das macht es für alleinstehende die Fachfrau. «Manchmal kontaktieren mich Frauen schwierig, nebenbei zu arbeiten, auch Eltern für eine individuelle Beratung, was häufig zu finanzieller Not und weiterer manchmal verweist das Spital sie an mich. Überforderung führt. Eine Invalidenversi- Als Beauftragte für Inklusion der Direktion cherung wie in der Schweiz gibt es nicht, die für Bildung bin ich als professionelle Anlauf- staatliche Beihilfe ist eher gering. Für unter Menschen mit Behinde- stelle mittlerweile etabliert und bekannt.» 16-Jährige spricht das Sozialamt umgerech- rungen sichtbar machen: Dabei geht es nicht nur darum, Lösungen net rund 15 Franken pro Monat. Das reicht Umzug am National aufzuzeigen. Ebenso wichtig ist es, sich Zeit gerade einmal für zwei Packungen Windeln. Disability Day in Katima zu nehmen, zuzuhören, die Probleme wahr- Ab dem 16. Altersjahr erhöht sich die Unter- Mulilo. und ernst zu nehmen. Das allein sei schon stützung auf monatliche 60 bis 70 Franken. eine grosse Entlastung für die Familie. Qualifizierte Pflegepersonen gibt es in Zam- Vielfältige Hilfe ist dringend nötig bezi kaum, die öffentlichen Kliniken und Eine Entlastung und Anlaufstelle ist auch das Spitäler auf dem Land bieten lediglich eine Chesire Home in Katima Mulilo. Das Heim Grundversorgung an, die Kapazitäten sind In kleinen Schritten vorwärts bietet derzeit rund 35 Kindern mit einer beschränkt. Den Ärztinnen und Ärzten fehlt Nebst der individuellen Beratungstätigkeit körperlichen Behinderung ein Zuhause. Sie bisweilen die entsprechende Diagnostikaus- geht es beim Einsatz von Regula Käser um besuchen die etwa 700 Meter entfernte öf- bildung und es kommt zu Fehldiagnosen. die Weiterbildung von Lehrpersonen und fentliche Primarschule. Dafür wurde die In Dies kann zu einem falschen medizinischen die Verbesserung des Lehrplans hin zu mehr frastruktur ausgebaut, die an Schulen selten Attest für die Anmeldung der staatlichen Förderung und Inklusion. Die pädagogische behindertengerecht ist. Der sandige Weg Beihilfe führen. So wurden beispielsweise Ausbildung an der Universität ist sehr theo- zur Schule ist nun mit Platten ausgelegt, zwei Fälle von Hydrocephalus nicht erkannt rielastig. Es gibt zwar ein Modul zur inklusi- und auch die Toiletten sind rollstuhlgängig. und die Familien wieder weggeschickt, ven Bildung, doch werden kaum praktische Chesire Home bietet nebst Physiotherapie weiss Käser. Tipps oder Lösungen vermittelt. «Ich zeige und Rehabilitation Beratung für Eltern zu auf, dass schon mit kleinen Anpassungen ei- Themen wie Ernährung und Pflege, Stimu- niges verbessert werden kann. Statt Frontal- lierung und Förderung des Kindes an. unterricht sollen Lehrpersonen beispielswei- se kooperative Lernmethoden ausprobieren, 6
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Eine Invalidenver- bei denen die Schülerinnen und Schüler aktiv mitmachen können», sagt die Schwei- Auch in der Berufsbildung bewegt sich et- was. Mittlerweile gibt es in Namibia meh- sicherung wie zer Pädagogin. Die ländlichen Schulen ha- ben meist viel Umschwung, da bietet es rere Pilotschulen, die durch ein praktisch ausgerichtetes Programm Jugendlichen mit in der Schweiz gibt sich vor allem in der Trockenzeit an, diesen Raum zu nutzen und aus dem engen Schul- einer Beeinträchtigung ab der 8. Klasse den Einstieg ins Berufsleben ermöglichen. Sie es nicht, die zimmer auszubrechen. «Lehrpersonen kön- können beispielsweise das Holzhandwerk nen lernen, Unterricht so zu differenzieren, erlernen, einen Basiskurs als Coiffeur oder staatliche Beihilfe dass auch lernschwache Schülerinnen und in der Gastwirtschaft absolvieren. In einer Schüler eine Chance haben.» Etwa wenn ein Region, die auch vom Tourismus und von ist eher gering. Kind Schwierigkeiten beim Schreiben hat, Safaris lebt, hat dies durchaus Zukunft. kann man es mündlich testen, statt es eine schriftliche Prüfung schreiben zu lassen. 7
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Ägypten «Mohamed gehört dazu» Maryam Boghdadi aus Zürich kennt sich aus mit islami- schen Traditionen. In muslimisch geprägten Gesellschaften werden Menschen mit einer geistigen Behinderung ambivalent wahrgenommen. Einerseits wird ihnen mit viel Liebe begegnet, andererseits aber auch mit Scham. Maryam Boghdadi (…) und die Politologin Elham Manea geben Einblick in ihre Kultur. 8
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Von Susanne Schanda Aber das grösste Problem in armen Ländern wie Ägypten oder Jemen sei der Mangel an Die 21-jährige Studentin Maryam Boghdadi qualifizierten Institutionen für behinderte aus Zürich meldete sich spontan, als sie auf Menschen. Die staatliche Abbasiya-Klinik in einer Online-Plattform der Universität ein Kairo ist die grösste Institution für Menschen Inserat sah, mit dem Leute für ein «soziales mit einer geistigen Behinderung in Ägypten Experiment» gesucht wurden. Sie wusste und geniesst einen zweifelhaften Ruf. Der nicht, dass es um den insieme-Film «5min» ging. Sie hatte keine Ahnung, was auf sie «Im islamischen Name Abbasiya wird in der Umgangsspra- che abwertend für verrückt oder wahnsinnig zukommen würde, aber das Neue reizte sie. Verständnis wird verwendet. Maryam Boghdadis Cousin Mo- «Ich machte mir dann schon etwas Sorgen, hamed hat Glück, dass seine Familie vermö- ob ich plötzlich vor einem kaputten Junkie die Geburt eines gend genug ist, ihm den Besuch einer priva- oder Alki sitzen würde», erzählt sie. «Aber als ich dann Sebastian traf und merkte, dass behinderten Kindes ten Schule zu ermöglichen. Er ging vorerst in die Sonderklasse einer Regelschule und hat- es um geistige Behinderung ging, war ich erleichtert. Das kannte ich. Das war mir ver- als gottgegeben te einen «Shadow Teacher», der sich speziell um ihn kümmerte. «Aber die anderen Kinder traut. Das ist normal für mich.» akzeptiert.» haben ihn gemieden, und so blieb er in der Schule immer allein. Er hat kaum Sozialkom- Die in Zürich geborene Muslimin hat sieben Maryam Boghdadi petenz gelernt, weil er nur selten mit ande- Jahre in Kairo gelebt. Ihre Mutter, die selbst ren Kindern zusammen war», sagt Maryam zum Islam konvertierte, wollte, dass die Kin- Boghdadi. Die Kinder seien in der Schule der die Kultur ihres Vaters kennenlernten. kaum gefördert worden und vegetierten Die Familie zog nach Hurghada am Roten nur vor sich hin. Deshalb nahm ihn die Tante Meer, wo die Eltern arbeiteten. Maryam war wieder aus der Schule und liess ihn zu Hause damals elf und besuchte dort eine englisch- Ambivalente Haltung unterrichten. Drei bis vier Mal in der Woche sprachige Privatschule. Mit 16 kam sie in die Die jemenitisch-schweizerische Politologin kam eine Lehrerin nach Hause, die für das American High School in Kairo und lebte in Elham Manea beschäftigt sich seit Jahr- Unterrichten von Kindern mit besonderen dieser Zeit zwei Jahre lang bei ihrer Tante, zehnten mit muslimischen Gesellschaften Bedürfnissen qualifiziert war. «Aber Moha- die einen Sohn mit Down-Syndrom hat. «Ich und stellt fest, dass die Haltung gegenüber med war nicht immer in der Laune zu ler- kannte Mohamed, seit er ein Baby war. Er Menschen mit Behinderung in den meisten nen, wenn sie kam, und so gab meine Tante gehörte immer dazu. Aber erst, als ich mit muslimischen Ländern ambivalent ist: «In auch das wieder auf.» Heute ist der 13-Jähri- ihm unter einem Dach wohnte, lernte ich der Literatur, etwa bei Nagib Machfus, gibt ge wieder in einer Privatschule. Diese Schule ihn im Alltag kennen», sagt die junge Frau, es die Figur des Verrückten, des Derwischs, mit Tagesbetreuung und einer Werkstatt ist die seit zwei Jahren wieder in Zürich lebt. der aus der Normalität fällt und nahe beim für Altersgruppen von den ganz Kleinen bis Sie merkte, dass sie mit ihm genauso lachen Göttlichen ist. Von daher gelten Menschen zu 20-Jährigen eingerichtet. und streiten konnte wie mit ihren jüngeren mit einer geistigen Behinderung manchmal Geschwistern. «Ich lernte, normal mit ihm als Quelle eines göttlichen Segens und wer- Behinderung als eine Prüfung Gottes umzugehen, ihn ernst zu nehmen und sei- den entsprechend wie Heilige verehrt. Auf Maryam Boghdadi ist praktizierende Mus- nen eigenen Willen zu respektieren.» der anderen Seite werden sie aber im Alltag limin, die betet, fastet und das islamische oft belästigt und gehänselt, gerade von Kin- Kopftuch trägt. Im islamischen Verständnis Maryam Boghdadi sah aber auch, wie dern.» werde die Geburt eines behinderten Kindes schwierig das Leben für ein behindertes als gottgegeben akzeptiert, sagt sie: «Wenn Kind in Ägypten ist. Obwohl das Land die Gott jemandem ein Kind mit einer Behinde- UN-Behindertenrechtskonvention bereits rung gibt, hat er seinen Grund dafür. Gott 2007 unterzeichnete und ein Jahr später ra- gibt uns schwere und leichte Prüfungen, tifizierte, ist Ägypten noch weit davon ent- aber nichts, was wir nicht bewältigen kön- fernt, Menschen mit Behinderung gleiche nen.» Daher ist auch die Abtreibung verbo- Rechte zu gewähren und in die Gesellschaft ten. In der islamischen Jenseitsvorstellung zu integrieren. komme zudem ein geistig behinderter Mensch direkt ins Paradies, ohne sich zu- erst vor dem Jüngsten Gericht für seine gu- ten oder schlechten Taten verantworten zu müssen, weil er gar nicht die Fähigkeit habe, Verantwortung zu tragen. a 9
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Elham Manea, die für einen humanistischen Islam eintritt, verweist auf die grosse Kluft zwischen Idealvorstellungen des Islam und der Praxis. «Es gibt heute ein Stigma ge- genüber geistig behinderten Menschen in der islamischen Welt. Obwohl viele Familien «Ein heikles Thema ist die Ehe ihren behinderten Kindern viel Liebe und Fürsorge schenken, ist die Scham präsent.» unter Verwandten, die dazu Auf der Ebene der Gesetze seien die meis- führt, dass vermehrt Kinder mit ten islamischen Länder noch weit von einer Gleichberechtigung entfernt. 70 bis 80 Pro- geistiger Behinderung geboren zent der behinderten Menschen seien dort arbeitslos. werden.» Elham Manea Grosses Gefälle zwischen Reich und Arm In den Golfstaaten, wo viel Geld vorhanden ist, gebe es qualitativ hochstehende Heime mit Tagesstrukturen und Ausbildungsplät- zen. «Aber selbst hier fehlt die Einsicht, dass Ein heikles Thema sei zudem die Ehe unter Mohamed aus Kairo war diesen Sommer Menschen mit geistiger Behinderung die Verwandten in muslimisch geprägten Län- zu Besuch in der Schweiz. «Es hat ihm sehr gleichen Rechte haben sollten wie alle an- dern, die dazu führe, dass vermehrt Kinder gut gefallen, denn es gibt hier so viele Mög- deren auch.» Ansätze zu einer Inklusion in mit geistiger Behinderung geboren werden. lichkeiten, etwas zu unternehmen», erzählt Schule und Arbeit gibt es laut Elham Manea «Das gilt vor allem für ländliche Gebiete in seine Cousine, die ihn einmal ins Museum in Katar, Oman und Jordanien. «Das Emirat Jemen, Pakistan und für muslimische Ge- mitgenommen hat. «Die Science City an der Katar ist geradezu vorbildlich, was die Inte meinschaften in Indien und Bangladesch. ETH Zürich war ein Highlight für ihn.» Mary- gration von Menschen mit Behinderungen in Und sogar für muslimische Gemeinschaften am Boghdadi ist in der schweizerischen Kul- den Arbeitsmarkt angeht, das gilt besonders in Grossbritannien», sagt Elham Manea. tur ebenso zu Hause wie in der arabischen: für den Privatsektor.» Dagegen sei die Situa «Paradoxerweise fühle ich mich in der tion in Jemen, wo grosse Armut herrscht, Schweiz eher als Araberin und in der arabi- absolut gravierend und unmenschlich. «Es schen Welt als Schweizerin.» Zurzeit studiert gibt dort überhaupt keine Institutionen für behinderte Menschen. Wenn sie nicht von Die Situation von sie in Luzern auf Englisch International Ma- nagement and Economics. Wo ihre Zukunft ihren Familien betreut werden, sondern auf der Strasse leben, werden sie wie Verbrecher Menschen mit liegt, ist noch offen. Nach dem Studium wird sie ihren ägyptischen Verlobten heiraten, in Handschellen festgenommen und in ge- Behinderungen in der in Dubai arbeitet. Gut möglich, dass es wöhnlichen Gefängnissen verwahrt.» sie wieder in die arabische Welt zieht. der islamischen Welt ist von Land Aus: insieme-Magazin, Dezember 2015, Abdruck mit freundlicher Ge- zu Land verschie- nehmigung von insieme den und abhängig vom vorhande- nen Geld. 10
HIKI BULLETIN 2021 SERVICE rollaid Der Bedarf an Hilfsmitteln, insbesondere Rollstühlen, ist in den ärmsten Ländern dieser Welt riesig. Mit einem Roll- stuhl verändert sich das Leben für Menschen mit Behinderung nachhaltig. Der Verein rollaid sammelt in der Schweiz gebrauchte Hilfsmittel, bereitet sie im Rahmen der Berufsinte gration auf und gibt sie an international tätige Hilfsorgani sationen ab. www.rollaid.org DIES & DAS Community-based Rehabilitation Swiss Disability and (CBR) Development Consortium CBR heisst eine Strategie zur Entwicklung des Gemeinwesens, Dem Swiss Disability and Development Consortium (SDDC) die alle einbezieht, auch Menschen mit Behinderungen. gehören die Christoffel-Blindenmission (CBM), FAIRMED, In der gemeindenahen Rehabilitation rücken statt des traditionell Handicap International und die International Disability Alliance medizinischen Schwerpunkts Themen wie inklusive Bildung, (IDA) an. Das Konsortium setzt sich dafür ein, dass die Förderung der Existenzsicherung, sozial-gesellschaftlicher Wan- Schweiz in ihrer internationalen Zusammenarbeit die Rechte del und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde- von Menschen mit Behinderungen vollumfänglich ge rungen in den Fokus. 2010 erarbeiteten ILO, Unesco, WHO und währleistet. Damit leistet das SDDC gleichzeitig einen Beitrag das International Disability and Development Consortium zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Ent- (IDDC) Richtlinien, die als Orientierung dienen, um CBR-Program- wicklung mit ihren 17 Zielen. Diese sollen bis 2030 unter dem me zu entwickeln. Die WHO bietet mit «INCLUDE» Leitprinzip «Leave no one behind» verwirklicht werden. ein Online-Training, mit dem sich Interessierte in der Methode www.leave-no-one-behind.ch weiterbilden, relevante Literatur sichten, sich mit ande- ren aust auschen und eigene CBR-Projekte starten können. www.include.edc.org Handicap International (HI) Diese unabhängige, gemeinnützige Organisation besteht aus einem Netz von acht nationalen Vereinen (Deutschland, Belgien, Kanada, Frankreich, Luxemburg, Schweiz, Grossbritan- nien, USA). Seit 1982 arbeitet HI mit Menschen mit Be- hinderungen und schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen und setzt sich dafür ein, ihre Grundbedürfnisse zu decken, die Lebensbedingungen zu verbessern und sich für die Einhaltung ihrer Würde und ihrer Grundrechte starkzumachen. www.handicap-international.ch 11
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Indien Mit wenig viel bewirken Massgeschneiderte Anpassungen helfen Arsim, trotz Spastik sicher im Rollstuhl zu sitzen. In Indien leben Kinder mit einer Behinderung und ihre Familien am Rand der Gesellschaft. Sie sind meist auf sich selbst gestellt. Eine grosse Unterstützung sind private Initiativen, die sie mit angepassten Hilfsmitteln ver- sorgen oder Therapien anbieten. 12
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Von Verena Bont* Arsim, einem Knaben mit athetotischer Ce- Mit dem Motorrad fahren wir durch die en- rebralparese, konnten wir während eines gen Gassen eines nordindischen Dorfes. Vi- Einsatzes im Anugrah-Therapiezentrum ei- nakshi, die Physiotherapeutin des Anugrah- nen speziellen Rollstuhl anpassen. Der Or- Therapiezentrums, und ich sind auf dem thopädietechniker stellte die Sitzbettung Weg zu einem unserer jungen Patienten. her, wir Physiotherapeutinnen empfahlen Wir lassen das Fahrzeug vor einer niedrigen, die Sitzposition und die Anpassungen, der ärmlichen Häuserreihe stehen und treten Schreiner zimmerte den Tisch mit einem durch die Tür aus Sacktuch in einen Raum. Schutz für die Arme. Arsims Bewegungen Hier lebt der zehnjährige Samaksh mit sei- sind unwillkürlich, weit ausladend und ver- nen Eltern. Die Mutter begrüsst uns, der krampft. Er würde immer wieder die Hände Vater ist nicht anwesend. Samaksh lebt mit im Fahrgestell oder in den Rädern einklem- einer Cerebralparese, kann nicht sprechen men. In der Schweiz kommt diese Art der und hat kein Gleichgewicht. Er sitzt auf dem Die Mutter legt ein Sacktuch auf den Boden, Cerebralparese nur ganz selten vor, in Indien einzigen grossen Bett im Raum und schaut setzt sich im Schneidersitz darauf und hält sieht man sie viel häufiger. Drei Jahre spä- uns freundlich an. Stolz führt er vor, wie er Samaksh beim Füttern in ihren Armen. Ne- ter besuchen wir Arsim bei sich zu Hause sich im Seitsitz stützend eine Zeitlang auf- ben dem Bett steht ein kleiner Kocher am auf dem kleinen Bauernhof. Freudig stellt recht halten kann. Leider ist er zusätzlich Boden, auf dem die Mutter das Essen zube- er uns sein Schwesterchen vor, das in der zu seiner Behinderung an Tuberkulose er- reitet hat. Ich zeige ihr, wie sie die Position Zwischenzeit geboren wurde. Arsims Mut- krankt. Die Mutter ist verzweifelt, weil er die des Jungen und das Heranführen des Löffels ter ist sehr froh, dass er am Tagesgeschehen Medikamente schlecht schlucken kann. Die verbessern kann, damit ihm das Schlucken auf dem Hof teilhaben kann. Ohne Rollstuhl Medizin schmeckt bitter. Seine Zunge stösst leichter fällt. So dauert das Füttern allerdings müsste er den ganzen Tag auf dem Familien- beim Schluckversuch nach vorne aus dem enorm lange. Meine Begleiterin Vinakshi bett bleiben, dort umherrutschen oder sich Mund, wodurch kaum eine nützliche Dosis und ich besprechen, dass eine Nahrungsauf- im Zwischenfersensitz krampfhaft aufrecht davon in den Körper gelangt. nahme mit Nasensonde sinnvoll wäre, solan- halten. ge Samaksh die Medikamente gegen Tuber- kulose nehmen muss. Die Mutter willigt ein, und Samaksh kann bereits am nächsten Tag in einem staatlichen Spital mit einer Nasen- sonde versorgt werden. Das erleichtert den Alltag der Familie in den nächsten Wochen sehr. Neue Bewegungsfreiheit dank Hilfsmitteln Wir besuchen die Familie von Krishna, die auf dem Land lebt. Hier ist es verhältnismäs- sig ruhig, grüne Felder umgeben die weni- gen Häuser und die Luft wirkt frisch. Krishna * Ve r e n a B o n t hat ein seltenes Syndrom: Er hat wenig Kraft Die hiki-Familienhelferin Verena in den Muskeln, ist sehr dünn und emotional Bont engagiert sich seit vielen rasch stark erregt. Dann schreit er wie am Jahren im Verein Anugrah-Therapie Spiess. Seine Eltern und Geschwister gehen zentrum Nordindien. Als Physio trotzdem liebevoll mit ihm um. Die Familie therapeutin gibt sie bei Einsätzen des Onkels lebt ebenfalls in diesem grossen vor Ort ihr Wissen an lokale Fachpersonen weiter. Weitere In- Haus. Vinakshi hat für Krishna einen gespen- formationen zum Projekt auf deten Posterior-Walker mitgebracht. Solche Modelle sind in Indien sehr teuer und kaum www.anugrah.ch erhältlich. Auf der grossen Dachterrasse kann Krishna üben, am Walker zu gehen Übung macht den Meister: oder sich am Geländer haltend seitwärts zu Krishna trainiert das bewegen. Diese neue Mobilität freut und Gehen am Balkongeländer. motiviert ihn. 13
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Indien Eine zusätzliche Last In Indien verarmen die meisten Familien mit einem behinderten Kind, weil die damit verbundenen Kosten zu hoch sind. Staatliche Unterstützung gibt es nur punktuell, und bis zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen ist es noch weit, weiss der indische Ergotherapeut Martin. Mit Arputh Martin Sam* sprach Verena Bont Wie leben Familien mit einem Wer bezahlt die medizinische behinderten Kind in Indien? Versorgung? Kinder mit einer Behinderung sind für in- Die Familie zahlt meist für ihre regelmässi- dische Familien in erster Linie eine zusätz- gen medizinischen Ausgaben. Es gibt priva- liche Last und ein grosser Kostenfaktor. Ein te Versicherungsgesellschaften wie LIC, aber Beispiel: Öffentliche Verkehrsmittel sind die meisten Familien verdienen nicht genug, nicht immer zugänglich, weshalb sie für um sich eine solche leisten zu können. Die den Transport ein kostspieliges Taxi neh- Regierung stellt etwas Geld für Operationen *A r p u t h M a r t i n S a m men müssen. Und das ist oft der Fall, denn zur Verfügung, die helfen sollen, funktions- Der aus Südindien stammende medizinische Versorgung ist selten vor Ort fähig zu werden. Kinder können diese in Ergotherapeut Arputh Martin Sam zugänglich. Betroffene Familien müssen da- Anspruch nehmen, wenn sie in staatlichen leitet den gesamten Therapie für weit von zu Hause wegfahren. Ein ande- Schulen eingeschrieben sind. Nicht einmal bereich des Anugrah-Zentrums in res Beispiel: In der Regel muss eine Person, zehn Prozent der Kinder mit Behinderung Herbertpur. Er macht Befundauf- meist die Mutter, zu Hause bleiben, um sich haben eine zugängliche Toilette. Die häus- nahmen und Therapiepläne, führt viele Elterngespräche und Bera- um das Kind zu kümmern. Manchmal gibt lichen Bedingungen sind also nicht beson- tungen. Martin beantwortete die ältere Schwester ihre Ausbildung auf, um ders hygienisch, was zu häufigen Erkrankun- die Fragen auf schriftlichem Weg. das behinderte Geschwister zu versorgen. gen führt. Wenn in einer Familie beide Elternteile be- rufstätig sind, müssen sie eine Betreuungs- person einstellen, was wiederum mit Kosten verbunden ist. 14
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Wie ist der Zugang zu Hilfsmitteln? Hilfsmittel sind in staatlichen Einrichtungen verfügbar, aber sie sind nicht auf die Bedürf- nisse des Benutzers zugeschnitten. Wenn eine Person ein Gerät ihrer Wahl und Pass- form benötigt, muss sie möglicherweise zu einem privaten Behindertenzentrum gehen. Die Gesellschaft sieht Menschen Diese sind in der Regel teuer, es sei denn, sie haben eine externe Finanzierung oder mit Behinderungen oft als Objekte Sponsoren. Die Regierung organisiert regel- mässig Camps, in denen Menschen mit Be- des Mitleids. Es ist mit einem hinderungen einige Hilfsmittel kostenlos er- grossen Stigma verbunden, ein Kind halten. Meist halten diese Geräte aber nicht lange und sind mehrheitlich für erwachsene mit Behinderung zu haben. Personen konstruiert. Was ist mit der Schule? Schulen sind selten inklusiv oder zugäng- lich. Auch wenn es entsprechende Richtli- nien gibt, erhalten Kinder kaum das, worauf sie Anspruch haben. Kinder mit leichten körperlichen oder geistigen Behinderun- Wie informieren und vernetzen sich Die Gesellschaft sieht Menschen mit Behin- gen schaffen es auf eine Regelschule. Die die Eltern untereinander? derungen oft als Objekte des Mitleids. Es meisten anderen gehen auf Sonderschulen, Beratung bedeutet in Indien hauptsächlich, ist mit einem grossen Stigma verbunden, wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Informationen abzugeben. Kaum ein Berater ein Kind mit Behinderung zu haben. Diese Das ist eher selten. Ein grösserer Prozent- beschäftigt sich mit Emotionen und Anpas- werden als Folge eines vergangenen Übels satz der Kinder landet in Heimen. Staatliche sungsproblemen. Die nützlichsten Hinweise (Karma) betrachtet. Es kommt häufig vor, Schulen nehmen alle Kinder auf, aber sie erhalten Eltern behinderter Kinder durch dass Mütter für die Behinderung des Kindes haben meist weder das Material noch die Mund-zu-Mund-Propaganda von jeman- verantwortlich gemacht werden. Von Inklu- personellen Ressourcen, um jene dann auch dem, der bestimmte Dienste einer Instituti- sion sind unsere Gemeinden noch weit ent- zu unterrichten. on bereits in Anspruch genommen hat und fernt. Für Kinder und Jugendliche mit Behin- davon berichtet. In einigen Städten gibt es derungen und ihre Familien ist es aufgrund Und wie steht es mit der Elternvereinigungen und Behindertenorga- der vielen einstellungsbedingten und um- Berufsbildung? nisationen, die sich an betroffene Familien weltbedingten Barrieren äusserst schwierig, Die Regierung hat eine Quote von vier Pro- wenden. Mit dem Aufschwung der digitalen an den täglichen Aktivitäten teilzunehmen, zent für Menschen mit Behinderungen ein- Kommunikation erhalten Eltern auch Infor- öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und geführt. Vorausgesetzt wird allerdings, dass mationen von Social-Media-Gruppen und sogar medizinische Unterstützung in An- sie eine abgeschlossene Schulausbildung Websites. spruch zu nehmen. haben, was selten der Fall ist. Die Berufssu- che für Kinder mit schweren Behinderungen Wie nimmt die Gesellschaft gestaltet sich schwierig. An einigen Orten Behinderung wahr? gibt es Berufsbildungszentren, die junge Die Wahrnehmung von Menschen mit Be- Menschen mit einer Behinderung beschäf- hinderung in der Gesellschaft hat sich noch tigen, aber die meisten findet man umherir- nicht wirklich verändert. An abgelegenen rend oder in ihren Häusern eingesperrt. Orten hält die Gemeinschaft immer noch Distanz zu Familien mit einem behinderten Angehörigen. Einige betroffene Familien ha- ben sogar Schwierigkeiten, für ihre gesun- de Tochter einen geeigneten Bräutigam zu finden, weil die Gemeinschaft glaubt, dass diese Familie von Gott verflucht wurde. Es wird befürchtet, dass man selbst verflucht wird, wenn man eine Beziehung zu diesen Familien unterhält. 15
HIKI BULLETIN 2021 I N T ESRENRAT V I CI OE N A L Kinder mit Behinderung weltweit Über 165 Millionen Kinder leben weltweit mit einer Behinderung, vier Fünftel davon in Ländern des Globalen Südens. Oftmals erhalten diese Kinder nicht die notwendige Behandlung und leiden unter Diskriminierung. Armut führt zu Behinderung Armut und Behinderung hängen eng zusam Gemäss WHO und Unicef haben rund 2 Mil men. Unicef und die Weltbank gingen liarden Menschen keinen Zugang zu 2016 von 385 Millionen in extremer Armut sauberem Trinkwasser, etwa doppelt so viele lebenden Jungen und Mädchen aus – das müssen ohne angemessene sanitäre Ein sind knapp ein Fünftel aller Kinder weltweit. richtungen auskommen. Dies führt vor allem bei der armen Bevölkerung zu Durchfall, 385 Mio. Ruhr, Darmwürmern und Hepatitis. Mangel ernährte Kinder sind besonders krank Gemäss Schätzung der Weltgesundheitsorga- heitsanfällig und können so in eine Abwärts- nisation (WHO) von 2011 leben weltweit spirale geraten, die ihre Lebenschancen mehr als eine Milliarde Menschen oder 15 Pro- verringert und die Gefahr von langfristigen zent der Weltbevölkerung mit einer Behin Kinder leben Beeinträchtigungen erhöht. Auch viele derung. Laut der Behindertenrechtskonvention in extremer Armut. Infektionskrankheiten wie Masern, Polio, Zika, der Vereinten Nationen (UN) sind dies Lepra usw. können eine Behinderung zur «Menschen, die langfristige körperliche, see- Armut erhöht nicht nur die Sterblichkeit in Folge haben. lische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigun- den ersten Lebensjahren, sondern trägt auch gen haben, welche sie in Wechselwirkung mit erheblich dazu bei, dass Kinder in ihrer Ent- Immer noch sterben, überwiegend in Ländern verschiedenen Barrieren an der vollen, wicklung langfristig körperlich, sensorisch, in- des Globalen Südens, jedes Jahr Zehntau wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe tellektuell und seelisch beeinträchtigt wer- sende Frauen an eigentlich vermeidbaren Kom an der Gesellschaft hindern können». den. Sie ist laut Schätzungen für die Hälfte aller plikationen während Schwangerschaft 80 Prozent der Menschen mit Behinderung Behinderungen verantwortlich, etwa ein und Geburt. Aber auch Neugeborene erleiden leben im Globalen Süden. Es gibt keine Fünftel entstehen wegen Unter- und Mangel - Geburtskomplikationen, am häufigsten verlässlichen Zahlen dazu, wie viele davon ernährung. Da der Klimawandel, Natur Sauerstoffmangel. Der kann tödlich enden oder Kinder sind. Das Kinderhilfswerk der Ver katastrophen und kriegerische Auseinander- eine Schädigung des Gehirns mit schweren einten Nationen (Unicef) geht von bis zu 165 setzungen die Notlagen verschärfen, geht Entwicklungsstörungen, Lähmungen und Be- Millionen betroffenen Kindern und Jugend man davon aus, dass auch die Zahl der Men- einträchtigungen zur Folge haben. lichen aus. schen mit einer Behinderung steigen wird. In Ländern des Nordens gehen fast vier Fünftel der Behinderungen auf Krankheiten zurück. Drei Prozent der Behinderungen sind die Folge angeborener Beeinträchtigun- 2 Mia. gen, nur ein Prozent sind die Folge von Menschen haben keinen Unfällen oder Berufskrankheiten. Wegen der Zugang zu sauberem hohen Lebenserwartung treten viele Behin- derungen altersbedingt auf. Rund ein Drittel Trinkwasser, doppelt so viele der Menschen mit einer schweren Behinde- leben ohne Zugang zu rung sind deshalb über 75 Jahre alt, etwa die sanitären Einrichtungen. Hälfte zwischen 55 und 74 Jahren und nur wenige Prozent unter 18 Jahre alt. Ganz anders sieht es in Ländern des Südens aus. Dort spielen Faktoren wie Armut, Krieg und Naturkatastrophen eine grosse Rolle. 16
HIKI BULLETIN 2021 2021 I N T ESRENRAT V I ICOEN A L Frühe Schädigungen wirken Schutzlos ausgeliefert ein Leben lang Eine weitere Ursache von Behinderungen, vor Ist die Mutter bereits in der Schwangerschaft allem in armen Ländern, sind Kriege und unter- oder mangelernährt, sind Neugebo Naturkatastrophen. Dadurch können Kinder rene ebenfalls untergewichtig. Der Mangel an so schwer verletzt werden, dass sie eine Mikronährstoffen wie Vitaminen, Mineral Behinderung davontragen. Beispiele für solche stoffen und Spurenelementen schädigt sie zu- dauerhaften und entsetzlichen Bedrohun- dem bereits im Mutterleib. Die Ernährung gen sind die Bürgerkriege in der Demokrati- der Mutter spielt auch beim Stillen eine ent schen Republik Kongo und im Jemen, die scheidende Rolle. So kann ein Mangel an Dürrekatastrophen in Somaliland und die jähr- Vitamin B12 in der Muttermilch zu Entwick- lichen Überschwemmungen in Bangladesch. lungsverzögerungen und neurologischen In Kriegsgebieten sind Kinder schutzlos Gewalt Schädigungen des Neugeborenen führen. Auch und Missbrauch ausgeliefert und werden im Kleinkindalter sind Unter- und Mangel dadurch massiv geschädigt. Neben den kör- ernährung ein hoher Risikofaktor für langfris- perlichen Verletzungen tragen die be tige Behinderungen, zum Beispiel Erblindung troffenen Kinder fast immer auch schwere wegen Vitamin-A-Mangel oder Beeinträch- psychische Schäden davon. Besonders tigung der kognitiven Entwicklung wegen Jod- gefährdet sind als Soldaten zwangsrekrutierte mangel. Zudem besteht das Risiko, dass Kinder und Jugendliche. Bei Kämpfen und behinderte Kinder aufgrund mangelnder in verminten Kriegsgebieten erleiden sie häufig elterlicher Fürsorge und unterstützender schwerwiegende Verletzungen. NGOs schät- Dienste nicht ausreichend Nahrung aufneh- zen, dass derzeit rund 250 000 Mädchen und men können und sich dadurch ihr Gesund- Jungen weltweit in bewaffneten Konflikten heitszustand weiter verschlechtert. Durch oder Kriegen kämpfen. Im Jahr 2019 verzeichnete der von der inter- fehlende Versorgung können sich leichte nationalen Landminenkampagne erstellte Behinderungen auch zu schweren und 250 000 Monitor 5554 Minenopfer, fast alle aus der schwersten entwickeln. Ausserdem ist die Zivilbevölkerung, darunter 1562 Kinder. Kindersterblichkeit unter fünf Jahren Die meisten Opfer wurden in Afghanistan, Sy- bei Kindern mit Behinderung weltweit um rien, Myanmar, Mali und der Ukraine gez ählt. 80 Prozent höher als bei Kindern ohne Kinder überleben Minenunfälle seltener Behinderung. Mädchen und Jungen als Erwachsene, aufgrund der geringeren Kör- kämpfen weltweit pergrösse sind sie dem Zentrum der Explo- 80% in bewaffneten Konflikten sion viel näher. Etwa die Hälfte aller Minen- opfer sterben am Ort der Explosion, bevor oder Kriegen. überhaupt medizinische Hilfe geleistet wer- den kann. Diejenigen, die überleben, müssen höhere Kindersterblichkeit sich meist gleich mehreren grösseren Ope rationen unterziehen, einschliesslich der Am- bei unter fünf- putation eines oder mehrerer Gliedmassen. jährigen Kindern mit einer Behinderung. Ein weiteres Risiko stellen Umweltbelastungen dar. Gifte können zum Beispiel zu Gende fekten, Fehlbildungen der Gliedmassen oder einer kognitiven Behinderung führen. Men- schen, die in einer gesundheitsgefährdenden Umwelt arbeiten und leben, sei es auf den Müllhalden der Metropolen oder in Bergbau- gebieten, sind diesen Risiken besonders stark ausgesetzt. Arbeitskräfte, die auf gros- sen Plantagen giftige Pestizide verwenden oder in Textilfabriken gefährliche Chemikalien einsetzen müssen, sind ebenfalls gefährdet. Viele dieser gefährlichen Arbeiten werden auch von Kindern verrichtet, deren Entwicklung dadurch eingeschränkt wird, oder von zu- künftigen Eltern, deren Kinder deswegen mit Behinderungen auf die Welt kommen. a 17
HIKI BULLETIN 2021 I N T ESRENRAT V I CI OE N A L Noch ein weiter Weg Internationale rechtliche Grundlagen Kinder mit Behinderung werden in armen Län- Mehrere internationale Konventionen bilden dern kaum medizinisch, sozial und psycho- die rechtliche Basis dafür, dass Menschen logisch begleitet oder gefördert. Neun von mit Behinderung ein Leben als gleichwertige zehn betroffenen Kindern gehen laut UN Mitglieder der Gesellschaft führen können. nicht zur Schule. In den ärmsten Ländern der Die 1948 verabschiedete Menschenrechtskon Welt haben gemäss WHO höchstens 15 Pro- vention der Vereinten Nationen spricht zent von ihnen Hilfsmittel wie Rollstühle oder allen Menschen die gleichen Rechte zu. In den Sehhilfen. 1970er Jahren folgte die «Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons» (1971)
HIKI BULLETIN 2021 2021 SERVICE Menschsein. Wer sind wir füreinander Community-based Rehabilitation: D EN N IS K L EI N , O L I V ER S T R I T ZK E , 2018 CBR Guidelines Wie geht man in anderen Ländern mit dem Thema Behinderung WO R L D H E A LT H O R G A N IZ AT I O N , 2011 um? Wie leben behinderte Menschen dort? Der Pädagoge Dennis Klein macht sich in diesem Dokumentarfilm auf eine Reise Mit diesen Richtlinien will die WHO weltweit die gemeinde- um die Welt, um Menschen mit Behinderungen zu treffen. nahe Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen fördern und ihre volle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. www.menschsein-film.de www.who.int DIES & DAS BUCH-/FILMTIPPS Kinder mit Behinderung: The State of the World’s Unterrichtsbausteine für Klasse 3–6 Children 2013 D I E S T ER N SI N G ER E .V. , 2018 CH I L D R EN W I T H D ISA B I L I T I E S: Was ist eine Behinderung, und was bedeutet sie für den Alltag FR O M E XCLUSI O N TO I N CLUSI O N von Kindern in ärmeren Ländern? Dieses Bildungsmaterial, Kinder mit Behinderungen und ihre Familien zählen weltweit bestehend aus Unterrichtsbausteinen und einem Film, lädt zu den am stärksten benachteiligten und gefährdeten Schülerinnen und Schüler ein, das Thema Behinderung Menschen. Der Bericht zeigt ihre Situation weltweit auf und und Inklusion im Unterricht aufzugreifen. entwirft einen Aktionsplan: Sie sollen nicht länger als www.sternsinger.de/ passive Empfänger von Schutz und Hilfe, sondern als volle Mit- bildungsmaterial/fuer-schulen/unterrichtsmaterial glieder der Familie, Gemeinde und Gesellschaft anerkannt werden. Dazu müssen physische, kulturelle, ökonomische, kom- munikative und mentale Barrieren zur Teilhabe abgebaut Behinderung bei uns und weltweit. werden. Themenheft für Lehrkräfte Unicef, 2013 CH R IS TO FFEL- B L I N D EN M ISSI O N (CB M), 2019 www.unicef.org/sowc2013 Was ist eine Behinderung? Wie hängen Armut und Behinderung zusammen? Die Broschüre bündelt grundlegende Disability and Development Report: Informationen für Lehrkräfte. Sie nimmt dabei die Situation von Menschen mit Behinderungen in unserer eigenen Ge- Realizing the SDGs by, for and sellschaft in den Blick, befasst sich aber auch mit der globalen with persons with disabilities Perspektive. Im besonderen Masse widmet sie sich der U N D EPA R TM EN T O F ECO N O M I C AN D Situation von Menschen mit Behinderungen in den ärmsten S O CIA L A FFA I R S , 2019 Ländern dieser Welt. Wo steht die Welt auf ihrem Weg zum Erreichen der 17 www.cbm.de Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) be- zogen auf Menschen mit Behinderungen? Dieser Uno- World Report on Disability Bericht erhebt einen Zwischenstand, zeigt Fortschritte und weiteren Handlungsbedarf. Es gibt eine Version des Be - WO R L D H E A LT H O R G A N IZ AT I O N , 2011 richts in leichter Sprache, aber keine auf Deutsch. In ihrem ersten gemeinsamen Bericht zur Situation behinderter www.un.org Menschen gehen die Weltbank und die Weltgesundheits organisation (WHO) davon aus, dass rund 15 Prozent der Welt- bevölkerung mit einer Behinderung leben. Das entspricht Behinderung und einer Milliarde behinderter Menschen weltweit. Der rund 350 Seiten umfassende Bericht liegt in den Amtssprachen der internationale Entwicklung Uno vor (Deutsch ist keine). I NS T I T U T FÜ R I N K LUSI V E EN T W I CK LU N G , JÄH R L I CH www.who.int Diese Zeitschrift erscheint dreimal jährlich mit Beiträgen zu sozial- und entwicklungspolitischen, interkulturellen und pädagogischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Globalen Süden. www.bezev.de/de/ institut-fuer-inklusive-entwicklung/zeitschrift 19
HIKI BULLETIN 2021 I N T ESRENRAT V I CI OE N A L Weltkarte Wie leben Menschen mit einer Behinderung, insbesondere Kinder, auf der Welt? Dieses Bulletin stellt die mit Blau markierten Länder vor. Kurze Filmausschnitte geben zudem Einblick in weitere Länder. Einfach QR-Code scannen und reinschauen! Geschichten im Magazin Brasilien 4 Nachrichten über das Zika-Virus alarmierten 2016 die Welt. Die San Salvador 1 Ansteckungsgefahr ist inzwischen gesunken, aber was ist mit den Der 13-jährige Moncho ist schwerbe Kindern, die wegen der Infektion hindert. Nach vielen Jahren hat er mit einer Mikrocephalie geboren endlich Zugang zu Physiotherapie und wurden? Die Facebook-Selbst- einem Minimum an Bildung. Jetzt hilfegruppe União De Mães de wünschen sich seine Mutter und er Anjos (Union der Mütter von noch eines: mehr Anerkennung Engeln) versucht, betroffenen für behinderte Kinder. Familien zu helfen. Moncho erhält jetzt Therapie Zika: Children of the Outbreak (auf Englisch) 1 Pe r u 2 Argentinien 3 Angeles, Eddú und Carlos Andrés Glyphosat ist seit den 1970er 2 4 leben mit einer Behinderung Jahren das weltweit am häufigs- in Perus Hauptstadt Lima. Sie zei ten eingesetzte Pestizid – gen, wie ihr Alltag aussieht trotz Hinweisen, dass die Sub und was es für sie bedeutet, zu stanz krebserregend und spielen, zu lernen und Freund- erbgutverändernd sein könnte. Republik schaften zu schliessen. Besonders grossflächig wird Zentralafrika 6 es in Argentinien eingesetzt, Willi in Peru wo sich die Fehlbildungen 3 Menschen mit Behinderun- bei Neugeborenen vervierfacht gen leiden in Konflikten und haben. Bürgerkriegen noch mehr als alle anderen, vor allem Glyphosat – Argentiniens auf der Flucht. kranke Kinder Central African Republic: People With Disabilities Left Behind (auf Englisch) 20
HHIIKKII BBUULLLLEETTIINN 2021 2021 I N T ESRENRAT V I ICOEN A L Rumänien 8 Israel 9 Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 Der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm D e u t s c h l a n d /Sy r i e n 7 wurden die unmenschlichen Zustände «The Other Dreamers» von Roy Zafrani in rumänischen Waisenhäusern bekannt, in (2013) begleitet vier behinderte Kinder wäh- Die 16-jährige Syrerin Nujeen Mus- denen meistens Kinder mit einer Behinde- rend eines Jahres. Er zeigt ihre Träume und tafa lebt mit einer Cerebralparese. rung lebten. Was ist aus ihnen geworden? Hoffnungen und die Diskrepanz zur Realität. In ihrem Buch «Nujeen – Flucht in die Freiheit. Im Rollstuhl von Aleppo Vor 20 Jahren: Die verlorenen Kinder Trailer (mit englischen Untertiteln) nach Deutschland» erzählt sie ihre von Cighid Lebensgeschichte. Nujeen – Flucht in die Freiheit Sy r i e n 10 Es wird geschätzt, dass 1,5 Millionen Syrerinnen und Syrer infolge des Krieges eine Behinderung haben, 86 000 davon mussten Gliedmassen amputiert werden. Safa: A Little Girl Fights to Walk Again (auf Englisch) 7 8 11 J a p a n 11 10 In Japan fehlt es überall an Betreuungsmöglichkeiten 9 für Kinder mit schweren Be- hinderungen. Japan’s Handicapped Child- ren Problem (auf Englisch) 12 6 V i e t n a m 12 Vor über 40 Jahren ver- sprühten die Amerikaner im Vietnamkrieg massenhaft 5 das Entlaubungsmittel Agent Orange. Das Dioxin blieb im Boden und Trinkwasser – mit schrecklichen Folgen bis Mosambik 5 heute. Über 150 000 Kinder Bis zu 14 Prozent der Kinder zwi- wurden seither mit einer schen zwei und neun Jahren Behinderung geboren. im Land sind behindert. Häufig Reportage im Ersten: werden sie von ihren Familien Vietnam versteckt und von der Gesellschaft diskriminiert. Invisible Children: the Disability Challenge in Mozambique (auf Englisch) 21
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Neuseeland Grosse Hilfsbereitschaft Dank Inklusion gehen in Neuseeland alle Geschwister gemeinsam in die Schule. Nach 20 Jahren in Neuseeland hat Ute Keck die Erfahrung gemacht, dass Familien mit Kindern mit Behinderungen im Land sehr zufrieden mit den Förderangeboten sind. Das hängt vielleicht auch mit dem hilfsbereiten Naturell der «Kiwis» zusammen. 22
HIKI BULLETIN 2021 I N T E R N AT I O N A L Von Ute Keck* Sophie lebt mit einer schweren Entwick- lungsstörung, die durch Sauerstoffmangel während der Geburt verursacht wurde. Als sogenannte Teacher Aide in Wanaka im Sü- den von Neuseeland habe ich dieses Mäd- chen während der ersten zwei Jahre in der Grundschule begleitet. In der Zusammenar- Maori nehmen beit mit den Eltern erlebte ich, wie dankbar sie für all die Hilfe waren, die für ihre Tochter Menschen mit zur Verfügung stand. Obwohl Wanaka ein kleiner Ort mit nicht einmal 5000 Einwoh- Behinderung ein- nern ist, vier Autostunden von der nächst- grösseren Stadt entfernt, gibt es dort viel fach als anders- * U t e Ke c k Die Sonderpädagogin Ute Keck Unterstützung und medizinische Betreuung für Menschen mit Behinderungen. artigen Teil ihrer stammt aus Deutschland und lebt seit 20 Jahren in Neuseeland. Neuseeland hat einen ländlichen Charak- Familie wahr. Zurzeit arbeitet sie in Dunedin als Kulturvermittlerin im Chinese Garden und setzt sich für die ter mit vielen Farmgebieten. Von den fünf Integration von Migrantinnen und Millionen Einwohnern lebt eine Million in Migranten und Flüchtlingen ein. Auckland. Das Land ausserhalb der vier grösseren Städte Auckland, Wellington, Christchurch und Dunedin ist sehr dünn Frühe Hilfe Alle Neuseeländer haben Zugang zu medizi besiedelt. Die grösste Herausforderung in Entstehen Behinderungen während der nischer Versorgung. Kinder unter 14 Jahren Neuseeland liegt denn auch in den weiten Geburt – was durch das verbreitete System müssen für Arztbesuche und verschriebe- Anfahrtswegen zu Einrichtungen und dem der Hebammengeburten doch recht häufig ne Medikamente nichts bezahlen, darüber Zugang zu Informationen. Vielen Leuten an auftritt – oder sind sie dann schon bekannt, kostet jeder Arztbesuch 47 neuseeländische der kaum bevölkerten Westküste ist wahr- ist die erste Anlaufstelle der Arzt oder das Dollar (ungefähr 30 Franken) und jedes ver- scheinlich nicht bekannt, welche Unterstüt- Krankenhaus. Später werden Wachstums- schriebene Medikament 5 (etwas über 3 zungsmöglichkeiten vorhanden sind. und Lerndefizite oft bei den Reihenuntersu- Franken). Operationen und Behandlungen chungen von Plunket und Oranga Tamariki im öffentlichen Krankenhaus sind für alle Eine weitere Herausforderung ist die Diversi- entdeckt. Diese beiden Organisationen un- kostenlos. Weil die Regierung nur ein be- tät der Bevölkerung. Auf der Nordinsel leben tersuchen alle Kinder bis zum Schuleintritt grenztes Budget für Ärzte und Pflegeper- viele Maoristämme und verschiedene Grup- mit fünf Jahren routinemässig, bieten allge- sonal hat, das weit unter dem Bedarf liegt, pen von den Pazifischen Inseln, die eine meine Hilfe für die Familien und vernetzen führt dies bei weniger dringlichen Opera ganz andere Einstellung zu Menschen mit sie mit anderen Organisationen. Werden bei tionen zu ellenlangen Wartelisten. Es kommt Behinderung haben als eher westlich ge- einem Kind durch die Needs Assessment vor, dass Patienten sieben Jahre auf eine prägte Menschen. Ein Bericht zeigte neulich and Service Coordination, NASC, einer vom Knieoperation warten! auf, dass Maori Menschen mit Behinderung Gesundheitsministerium beauftragten Or- einfach als andersartigen Teil ihrer whanau ganisation Special needs diagnostiziert, ste- oder extended family wahrnehmen – dem hen der Familie finanzielle und medizinische Familienklan, in dem Maori bis heute leben. Dies im Gegensatz zu den Pakeha – den Hilfe sowie Frühförderung zur Verfügung. Die NASC koordiniert auch die Unterstüt- Alle Neuseeländer Nachfahren der weissen Siedler –, die eine Behinderung als Defekt ansehen, der Inter- zung für die Familien, zum Beispiel für Ent- lastungsbetreuerinnen und -betreuer. haben Zugang ventionen bedarf. Die Statistik belegt, dass bei den Maori nur ein geringer Prozentsatz zu medizinischer der Kinder mit leichten bis mittleren Behin- Versorgung – derungen gemeldet ist und damit Zugang zu Unterstützung hat. Kinder unter 14 Jah- ren sogar gratis. a 23
Sie können auch lesen