INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki

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INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki
INTER-
HILFE FÜR
HIRNVERLE T Z TE
K INDER

hik i
BULLETIN
2021
                   NATIONAL
                        Behinderung

                     Ein Blick über
                   den Tellerrand auf
                      den ganzen
                        Globus
INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki
HIKI BULLETIN   2021           I N H A LT

INTERNATIONAL
 amibia
N
04 Vom Papier zur Tat

Ägypten
08 «Mohamed gehört dazu»

I ndien                      SERVICE
 12 Mit wenig viel bewirken
                              11 D ies & Das
 14 Eine zusätzliche Last
                              16 K inder mit Behinde-
 euseeland
N                                 rungen weltweit
22 Grosse Hilfsbereitschaft   19 Buch-/Filmtipps
                              20 Weltkarte
B olivien
 26 Umgekehrter Kultur-
      schock
                              WER IST HIKI
 iederlande
N
31 Ein Beispiel macht         39 Unser Angebot
    Schule

R ussland
34 Aus dem Weg,
     aus dem Sinn

Slowenien
36 Fast wie die
    Schweiz und doch
    nicht ganz

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HIKI BULLETIN                  2021                   E D I TO R I A L

                UNO-BRK
                                                                         LIEBE LESERINNEN UND LESER
  Artikel 19 der UN-Behin-
  dertenrechtskonvention                                           Während ich dieses Bulletin lese,
    trägt auch der unter-                                          explodieren die Erinnerungen
 schiedlichen Auffassung
                                                                   an meine humanitäre Arbeit im
     vom menschlichen
 Leben in den verschiede-                                          Nachkriegsbalkan wie Splitter-
  nen Kulturen Rechnung,                                           bomben. Da ist vor allem das Bild
und seine Bestimmungen                                             dieses Heims, verloren in einem
  geben bestimmten kul-                                            mazedonischen Kaff: Ein Dutzend
turellen Normen und Wer-
                                                                   Kinder mit Behinderungen,
   ten keinen Vorzug. Ein
 selbstbestimmtes Leben                     bleiche, ausdruckslose Gesichter, verdreckt mit den eige-
  und die Teilhabe an der                   nen Exkrementen, zusammengepfercht auf einem alten
 Gesellschaft sind Grund-                   Teppich in einem baufälligen Raum.
  prinzipien der mensch-
lichen Existenz, die überall                Im ehemaligen kommunistischen Ostblock hatte sich die
     auf der Welt gelten,                   Sonderbetreuung der «Defekten» in eine Form der «Totalen
    auch im Kontext von                     Institutionen» verwandelt. Mit überfüllten Zimmern, Ver-
        Behinderung.                        wahrlosung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch sind
                                            diese Einrichtungen nur ein krasses Beispiel für struktu-
                                            relle Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegenüber
                                            Menschen mit Behinderungen. Auch heute noch sind
                                            Kinder in solch haftähnlichen Strukturen eingesperrt, wie
                                            der Artikel zu Russland auf Seite 34 / 35 zeigt.
                                            Eine Realität, die uns daran erinnert, dass die Geschichte
                                            der «Behinderung» ein langer und erschreckender Weg ist,
               Impressum
                                            gepflastert mit Ablehnung, Ausgrenzung oder Zwangsein-
      Hilfe für hirnverletzte Kinder
     Mühlebachstrasse 43, 8008 Zürich       weisung. Eine Geschichte, die in unserem kollektiven Unter-
             Tel. 044 252 54 54
         info@hiki.ch, www.hiki.ch
                                            bewusstsein tief verankert ist und immer noch zur Mar-
              PC 85-461 012-9               ginalisierung von Menschen mit Behinderungen beiträgt –
                  Redaktion
                Vanda Mathis                sowohl in reichen Ländern wie der Schweiz als auch im
       Konzept/Design/Realisation
            Linkgroup AG, Zürich
                                            Globalen Süden.
               Illustrationen
    Dreamstime (Titelseite), Adobe Stock    Die UNO-BRK mit ihren Grundsätzen für ein selbstbestimmtes
             und Depositphotos
                    Fotos                   Leben und die Inklusion in die Gesellschaft enthält konkrete
    Wiktoria Bosc (S. 3), Comundo (S. 5),
         insieme/Vera Markus (S. 8),        Massnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung von Men-
          Renate Wernli (S. 13, 27),
             Adobe Stock (S. 22),
                                            schen mit Behinderungen, unabhängig vom sozialen,
           Gordon Welters (S. 34),
      Ljubljana Tourismus (S. 36), zvg
                                            wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem sie leben.
                                            Raphael de Riedmatten
                                            Geschäftsleiter von AGILE.CH

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HIKI BULLETIN   2021                  I N T E R N AT I O N A L

                                        Namibia

                             Vom Papier
                               zur Tat

    Milinga kann auch mit seiner
    Cerebralparese die Mulumba
    Primary School besuchen.

                    Inklusive Bildung ist in Namibia eine noch junge
                     Erscheinung. Lernende mit einer Behinderung
                  müssen viele Hürden überwinden. Wie die von der Re-
                   gierung beschlossene inklusive Strategie langsam
                  im Alltag ankommt, erzählt Regula Käser, Inklusions-
                            beraterin im Nordosten Namibias.

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HIKI BULLETIN             2021                                  I N T E R N AT I O N A L

     Mit Regula Käser* sprach Daniela Mathis

Manche Mittelohrentzündungen oder Ma-
laria bei Kindern werden in Namibia nicht
behandelt, obwohl die medizinische Grund-
versorgung eigentlich gut ist – allerdings
nicht überall. Als Spätfolge kann dies zu
einer Hörbehinderung führen. «Wir machen
regelmässige Screenings an Schulen, um             «In Zambezi gehen Kinder und Jugendli-
Kinder mit einer Seh- oder Hörschwäche             che mit einer Hirnverletzung in die regulä-
zu identifizieren», erzählt Regula Käser. Die      re Schule – wenn sie überhaupt zur Schule
Schweizer Pädagogin lebt und arbeitet seit         gehen», erzählt Regula Käser. «Familien mit   *Regula Käser
2017 in der Region Zambezi.                        einem behinderten Kind werden in dieser       Die Sekundarlehrerin und Heil­
                                                   ländlichen Gegend leider noch oft diskri-     pädagogin Regula Käser hat
Die Republik Namibia liegt im südwestlichen        miniert. Der Aberglaube, man sei verhext      einen MAS in Erziehungswissen-
Afrika zwischen Angola, Botswana, Sambia,          worden oder man habe in einem früheren        schaften. Sie leistet für Co­mundo
Südafrika sowie dem Atlantischen Ozean.            Leben etwas falsch gemacht, wofür man         einen mehrjährigen Einsatz
                                                                                                 in Namibia. In der nordöstlichen
Rund 2,3 Millionen Menschen leben in dem           nun bestraft werde, hält sich trotz Aufklä-   Region Zambezi fördert sie
knapp 825 000 km2 grossen Land, das nach           rungskampagnen hartnäckig.» Menschen          als Inclusive Education Advisor
mehr als 100-jähriger Fremdbestimmung              mit schweren Behinderungen werden daher       den Zugang zu Bildung für
1990 von der südafrikanischen Verwaltung           meist versteckt.                              alle Kinder und Jugendliche.
unabhängig wurde. Davor war es jahrzehn-
telang unter deutscher Kolonialherrschaft.
Die Geschichte, insbesondere Südafrikas
Apartheidsystem, beeinflusst noch heute                                                          So sind Kinder mit einer sichtbaren Behinde­
die Gesellschaft Namibias.                                                                       rung an öffentlichen Schulen oft Einzelfälle,
                                                                                                 der Umgang mit ihnen ist noch unge­wohnt.
Bis heute wenig Unterstützung
Regula Käser berichtet, dass betroffene            Menschen mit                                  Die Klassen sind gross: 25 bis 35 Schülerin-
                                                                                                 nen und Schüler auf dem Land und bis zu 70
Kinder eine Brille oder ein Hörgerät erhal-
ten, was ihnen ermöglicht, dem Unterricht
                                                   schweren Behinde-                             in der Stadt. «Eine Lehrperson hat da kaum
                                                                                                 die Musse, Gelegenheit und das praktische
wieder zu folgen, der noch heute meist
frontal stattfindet. So stellt zum Beispiel
                                                   rungen werden                                 Wissen, speziell auf die Bedürfnisse eines
                                                                                                 einzelnen Kindes einzugehen, das Tempo
die NGO CLaSH – Association for Children
with Language, Speech and Hearing Im­
                                                   oft versteckt, weil                           anzupassen, es zu fördern oder gar zu ver-
                                                                                                 stehen, was es braucht», erklärt die ehema-
pairments of Namibia – aus der 1200 Kilo­          sich der Aber-                                lige Sekundarlehrerin. Hinzu kommt eine oft
meter entfernten Hauptstadt Windhoek Hör-                                                        mangelhafte und marode Infrastruktur. Der
geräte zur Verfügung. Denn auf dem Land            glaube, sie seien                             namibische Lehrplan ist ambitioniert. Das
können sich das nur die wenigsten leisten.                                                       führt in manchen Fällen dazu, dass der Lern-
                                                   verhext, hart-                                stoff durchgepaukt wird, egal ob die Ler-
Schwieriger, an Bildung teilzunehmen und
Teil der Gesellschaft zu sein, ist es in Namibia   näckig hält.                                  nenden ihn verstehen oder nicht. Es kommt
                                                                                                 vor, dass Jugendliche in der 8. Klasse nicht
für Kinder mit einer schwerwiegenden Be-                                                         richtig lesen oder schreiben können, rund
hinderung wie der Cerebralparese. «In Zam-                                                       ein Viertel muss die Klasse wiederholen, und
bezi gibt es einige Kinder mit einer Hirn-                                                       manche verlassen frühzeitig die Schule –
schädigung», weiss Regula Käser. Die Region                                                      ohne Abschluss. Lernende mit besonde-
mit der rund 30 000 Einwohner zählenden                                                          ren Bedürfnissen haben es da selbstredend
Hauptstadt Katima Mulilo liegt im äussers-                                                       noch schwieriger.
ten Nordosten. Es gibt wenig Unterstützung
und kaum spezielle Schulen oder heilpäda-
gogische Einrichtungen für Menschen mit
einer Beeinträchtigung. Zwei Schulen für
Kinder mit einer geistigen Behinderung be-
finden sich weit weg in Windhoek.
                                                                                                                                            a

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INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki
HIKI BULLETIN           2021                                      I N T E R N AT I O N A L

Inklusive Strategie, langsame                    Co m m u n d o
Umsetzung                                        verbessert als grösste Organisation
Damit Kinder und Jugendliche mit be-             der Personellen Entwicklungs­
sonderen Bedürfnissen nicht von Bildung          zusammenarbeit in der Schweiz mit
ausgeschlossen werden, hat Namibia 2013          über 100 Fachleuten die Lebens­
eine entsprechende Strategie, die «Inclu­        bedingungen von Menschen
                                                 in Lateinamerika, Afrika und Asien.
sive Education Policy», verabschiedet: Jede      Mehr zu Regula Käser, anderen
Person ist als wertvolles Mitglied der Ge­       Einsätzen in Namibia und Comundo
sellschaft anzuerkennen und entsprechend         auf der Website der Organisation.
zu fördern. Auch die Direktion für Bildung       www.comundo.org
in Zambezi soll als Teil des namibischen Bil-
dungsministeriums qualitativ hochwertige
und inklusive Bildung für alle sicherstellen.
«Diese Policy ist ein wichtiger Schritt, doch
sie ist noch jung und der Prozess braucht
Zeit», sagt Käser.

Deshalb arbeitet Comundo (siehe Box) zu-         Es ist ein Ort, an dem man sich austauschen,
sammen mit dem namibischen Bildungs-             unterstützen und vernetzen kann. «Das ist
ministerium und seinen regionalen Direk-         insbesondere für Mütter sehr wichtig, sie
toraten auf die inklusiven Ziele der Policy      tragen meist die Hauptlast und fühlen sich
hin. «Ich schaue zusammen mit einzelnen          allein», berichtet Käser. Zu oft verlassen Vä-
Lehrpersonen oder während Workshops in           ter die Familie, wenn ein Kind mit einer Be-
Gruppen, wer Unterstützung braucht und           hinderung zur Welt kommt. Doch die Pflege
was konkret getan werden kann», erzählt          ist intensiv. Das macht es für alleinstehende
die Fachfrau. «Manchmal kontaktieren mich        Frauen schwierig, nebenbei zu arbeiten,
auch Eltern für eine individuelle Beratung,      was häufig zu finanzieller Not und weiterer
manchmal verweist das Spital sie an mich.        Überforderung führt. Eine Invalidenversi-
Als Beauftragte für Inklusion der Direktion      cherung wie in der Schweiz gibt es nicht, die
für Bildung bin ich als professionelle Anlauf-   staatliche Beihilfe ist eher gering. Für unter        Menschen mit Behinde-
stelle mittlerweile etabliert und bekannt.»      16-Jährige spricht das Sozialamt umgerech-            rungen sichtbar machen:
Dabei geht es nicht nur darum, Lösungen          net rund 15 Franken pro Monat. Das reicht             Umzug am National
aufzuzeigen. Ebenso wichtig ist es, sich Zeit    gerade einmal für zwei Packungen Windeln.             Disability Day in Katima
zu nehmen, zuzuhören, die Probleme wahr-         Ab dem 16. Altersjahr erhöht sich die Unter-
                                                                                                       Mulilo.
und ernst zu nehmen. Das allein sei schon        stützung auf monatliche 60 bis 70 Franken.
eine grosse Entlastung für die Familie.
                                                 Qualifizierte Pflegepersonen gibt es in Zam-
Vielfältige Hilfe ist dringend nötig             bezi kaum, die öffentlichen Kliniken und
Eine Entlastung und Anlaufstelle ist auch das    Spitäler auf dem Land bieten lediglich eine
Chesire Home in Katima Mulilo. Das Heim          Grundversorgung an, die Kapazitäten sind         In kleinen Schritten vorwärts
bietet derzeit rund 35 Kindern mit einer         beschränkt. Den Ärztinnen und Ärzten fehlt       Nebst der individuellen Beratungstätigkeit
körperlichen Behinderung ein Zuhause. Sie        bisweilen die entsprechende Diagnostikaus-       geht es beim Einsatz von Regula Käser um
besuchen die etwa 700 Meter entfernte öf-        bildung und es kommt zu Fehldiagnosen.           die Weiterbildung von Lehrpersonen und
fentliche Primarschule. Dafür wurde die In­      Dies kann zu einem falschen medizinischen        die Verbesserung des Lehrplans hin zu mehr
frastruktur ausgebaut, die an Schulen selten     Attest für die Anmeldung der staatlichen         Förderung und Inklusion. Die pädagogische
behindertengerecht ist. Der sandige Weg          Beihilfe führen. So wurden beispielsweise        Ausbildung an der Universität ist sehr theo-
zur Schule ist nun mit Platten ausgelegt,        zwei Fälle von Hydrocephalus nicht erkannt       rielastig. Es gibt zwar ein Modul zur inklusi-
und auch die Toiletten sind rollstuhlgängig.     und die Familien wieder weggeschickt,            ven Bildung, doch werden kaum praktische
Chesire Home bietet nebst Physiotherapie         weiss Käser.                                     Tipps oder Lösungen vermittelt. «Ich zeige
und Rehabilitation Beratung für Eltern zu                                                         auf, dass schon mit kleinen Anpassungen ei-
Themen wie Ernährung und Pflege, Stimu-                                                           niges verbessert werden kann. Statt Frontal-
lierung und Förderung des Kindes an.                                                              unterricht sollen Lehrpersonen beispielswei-
                                                                                                  se kooperative Lernmethoden ausprobieren,

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HIKI BULLETIN   2021                I N T E R N AT I O N A L

Eine Invalidenver-     bei denen die Schülerinnen und Schüler
                       aktiv mitmachen können», sagt die Schwei-
                                                                      Auch in der Berufsbildung bewegt sich et-
                                                                      was. Mittlerweile gibt es in Namibia meh-
sicherung wie          zer Pädagogin. Die ländlichen Schulen ha-
                       ben meist viel Umschwung, da bietet es
                                                                      rere Pilotschulen, die durch ein praktisch
                                                                      ausgerichtetes Programm Jugendlichen mit
in der Schweiz gibt    sich vor allem in der Trockenzeit an, diesen
                       Raum zu nutzen und aus dem engen Schul-
                                                                      einer Beeinträchtigung ab der 8. Klasse den
                                                                      Einstieg ins Berufsleben ermöglichen. Sie
es nicht, die          zimmer auszubrechen. «Lehrpersonen kön-        können beispielsweise das Holzhandwerk
                       nen lernen, Unterricht so zu differenzieren,   erlernen, einen Basiskurs als Coiffeur oder
staatliche Beihilfe    dass auch lernschwache Schülerinnen und        in der Gastwirtschaft absolvieren. In einer
                       Schüler eine Chance haben.» Etwa wenn ein      Region, die auch vom Tourismus und von
ist eher gering.       Kind Schwierigkeiten beim Schreiben hat,       Safaris lebt, hat dies durchaus Zukunft.
                       kann man es mündlich testen, statt es eine
                       schriftliche Prüfung schreiben zu lassen.

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                                        Ägypten

                        «Mohamed gehört
                             dazu»

    Maryam Boghdadi
    aus Zürich kennt
    sich aus mit islami-
    schen Traditionen.

                      In muslimisch geprägten Gesellschaften werden
                   Menschen mit einer geistigen Behinderung ambivalent
                       wahrgenommen. Einerseits wird ihnen mit viel
                    Liebe begegnet, andererseits aber auch mit Scham.
                     Maryam Boghdadi (…) und die Politologin Elham
                           Manea geben Einblick in ihre Kultur.

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             Von Susanne Schanda                                                                Aber das grösste Problem in armen Ländern
                                                                                                wie Ägypten oder Jemen sei der Mangel an
Die 21-jährige Studentin Maryam Boghdadi                                                        qualifizierten Institutionen für behinderte
aus Zürich meldete sich spontan, als sie auf                                                    Menschen. Die staatliche Abbasiya-Klinik in
einer Online-Plattform der Universität ein                                                      Kairo ist die grösste Institution für Menschen
Inserat sah, mit dem Leute für ein «soziales                                                    mit einer geistigen Behinderung in Ägypten
Experiment» gesucht wurden. Sie wusste                                                          und geniesst einen zweifelhaften Ruf. Der
nicht, dass es um den insieme-Film «5min»
ging. Sie hatte keine Ahnung, was auf sie
                                                 «Im islamischen                                Name Abbasiya wird in der Umgangsspra-
                                                                                                che abwertend für verrückt oder wahnsinnig
zukommen würde, aber das Neue reizte sie.        Verständnis wird                               verwendet. Maryam Boghdadis Cousin Mo-
«Ich machte mir dann schon etwas Sorgen,                                                        hamed hat Glück, dass seine Familie vermö-
ob ich plötzlich vor einem kaputten Junkie       die Geburt eines                               gend genug ist, ihm den Besuch einer priva-
oder Alki sitzen würde», erzählt sie. «Aber
als ich dann Sebastian traf und merkte, dass     behinderten Kindes                             ten Schule zu ermöglichen. Er ging vorerst in
                                                                                                die Sonderklasse einer Regelschule und hat-
es um geistige Behinderung ging, war ich
erleichtert. Das kannte ich. Das war mir ver-
                                                 als gottgegeben                                te einen «Shadow Teacher», der sich speziell
                                                                                                um ihn kümmerte. «Aber die anderen Kinder
traut. Das ist normal für mich.»
                                                 akzeptiert.»                                   haben ihn gemieden, und so blieb er in der
                                                                                                Schule immer allein. Er hat kaum Sozialkom-
Die in Zürich geborene Muslimin hat sieben       Maryam Boghdadi                                petenz gelernt, weil er nur selten mit ande-
Jahre in Kairo gelebt. Ihre Mutter, die selbst                                                  ren Kindern zusammen war», sagt Maryam
zum Islam konvertierte, wollte, dass die Kin-                                                   Boghdadi. Die Kinder seien in der Schule
der die Kultur ihres Vaters kennenlernten.                                                      kaum gefördert worden und vegetierten
Die Familie zog nach Hurghada am Roten                                                          nur vor sich hin. Deshalb nahm ihn die Tante
Meer, wo die Eltern arbeiteten. Maryam war                                                      wieder aus der Schule und liess ihn zu Hause
damals elf und besuchte dort eine englisch-      Ambivalente Haltung                            unterrichten. Drei bis vier Mal in der Woche
sprachige Privatschule. Mit 16 kam sie in die    Die jemenitisch-schweizerische Politologin     kam eine Lehrerin nach Hause, die für das
American High School in Kairo und lebte in       Elham Manea beschäftigt sich seit Jahr-        Unterrichten von Kindern mit besonderen
dieser Zeit zwei Jahre lang bei ihrer Tante,     zehnten mit muslimischen Gesellschaften        Bedürfnissen qualifiziert war. «Aber Moha-
die einen Sohn mit Down-Syndrom hat. «Ich        und stellt fest, dass die Haltung gegenüber    med war nicht immer in der Laune zu ler-
kannte Mohamed, seit er ein Baby war. Er         Menschen mit Behinderung in den meisten        nen, wenn sie kam, und so gab meine Tante
gehörte immer dazu. Aber erst, als ich mit       muslimischen Ländern ambivalent ist: «In       auch das wieder auf.» Heute ist der 13-Jähri-
ihm unter einem Dach wohnte, lernte ich          der Literatur, etwa bei Nagib Machfus, gibt    ge wieder in einer Privatschule. Diese Schule
ihn im Alltag kennen», sagt die junge Frau,      es die Figur des Verrückten, des Derwischs,    mit Tagesbetreuung und einer Werkstatt ist
die seit zwei Jahren wieder in Zürich lebt.      der aus der Normalität fällt und nahe beim     für Altersgruppen von den ganz Kleinen bis
Sie merkte, dass sie mit ihm genauso lachen      Göttlichen ist. Von daher gelten Menschen      zu 20-Jährigen eingerichtet.
und streiten konnte wie mit ihren jüngeren       mit einer geistigen Behinderung manchmal
Geschwistern. «Ich lernte, normal mit ihm        als Quelle eines göttlichen Segens und wer-    Behinderung als eine Prüfung Gottes
umzugehen, ihn ernst zu nehmen und sei-          den entsprechend wie Heilige verehrt. Auf      Maryam Boghdadi ist praktizierende Mus-
nen eigenen Willen zu respektieren.»             der anderen Seite werden sie aber im Alltag    limin, die betet, fastet und das islamische
                                                 oft belästigt und gehänselt, gerade von Kin-   Kopftuch trägt. Im islamischen Verständnis
Maryam Boghdadi sah aber auch, wie               dern.»                                         werde die Geburt eines behinderten Kindes
schwierig das Leben für ein behindertes                                                         als gottgegeben akzeptiert, sagt sie: «Wenn
Kind in Ägypten ist. Obwohl das Land die                                                        Gott jemandem ein Kind mit einer Behinde-
UN-Behindertenrechtskonvention bereits                                                          rung gibt, hat er seinen Grund dafür. Gott
2007 unterzeichnete und ein Jahr später ra-                                                     gibt uns schwere und leichte Prüfungen,
tifizierte, ist Ägypten noch weit davon ent-                                                    aber nichts, was wir nicht bewältigen kön-
fernt, Menschen mit Behinderung gleiche                                                         nen.» Daher ist auch die Abtreibung verbo-
Rechte zu gewähren und in die Gesellschaft                                                      ten. In der islamischen Jenseitsvorstellung
zu integrieren.                                                                                 komme zudem ein geistig behinderter
                                                                                                Mensch direkt ins Paradies, ohne sich zu-
                                                                                                erst vor dem Jüngsten Gericht für seine gu-
                                                                                                ten oder schlechten Taten verantworten zu
                                                                                                müssen, weil er gar nicht die Fähigkeit habe,
                                                                                                Verantwortung zu tragen.
                                                                                                                                           a

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INTER-NATIONAL Ein Blick über den Tellerrand auf den ganzen Globus - Verein hiki
HIKI BULLETIN            2021                                  I N T E R N AT I O N A L

Elham Manea, die für einen humanistischen
Islam eintritt, verweist auf die grosse Kluft
zwischen Idealvorstellungen des Islam und
der Praxis. «Es gibt heute ein Stigma ge-
genüber geistig behinderten Menschen in
der islamischen Welt. Obwohl viele Familien
                                                  «Ein heikles Thema ist die Ehe
ihren behinderten Kindern viel Liebe und
Fürsorge schenken, ist die Scham präsent.»
                                                  unter Verwandten, die dazu
Auf der Ebene der Gesetze seien die meis-         führt, dass vermehrt Kinder mit
ten islamischen Länder noch weit von einer
Gleichberechtigung entfernt. 70 bis 80 Pro-       geistiger Behinderung geboren
zent der behinderten Menschen seien dort
arbeitslos.                                       werden.»
                                                  Elham Manea
Grosses Gefälle zwischen Reich
und Arm
In den Golfstaaten, wo viel Geld vorhanden
ist, gebe es qualitativ hochstehende Heime
mit Tagesstrukturen und Ausbildungsplät-
zen. «Aber selbst hier fehlt die Einsicht, dass   Ein heikles Thema sei zudem die Ehe unter      Mohamed aus Kairo war diesen Sommer
Menschen mit geistiger Behinderung die            Verwandten in muslimisch geprägten Län-        zu Besuch in der Schweiz. «Es hat ihm sehr
gleichen Rechte haben sollten wie alle an-        dern, die dazu führe, dass vermehrt Kinder     gut gefallen, denn es gibt hier so viele Mög-
deren auch.» Ansätze zu einer Inklusion in        mit geistiger Behinderung geboren werden.      lichkeiten, etwas zu unternehmen», erzählt
Schule und Arbeit gibt es laut Elham Manea        «Das gilt vor allem für ländliche Gebiete in   seine Cousine, die ihn einmal ins Museum
in Katar, Oman und Jordanien. «Das Emirat         Jemen, Pakistan und für muslimische Ge-        mitgenommen hat. «Die Science City an der
Katar ist geradezu vorbildlich, was die Inte­     meinschaften in Indien und Bangladesch.        ETH Zürich war ein Highlight für ihn.» Mary-
gration von Menschen mit Behinderungen in         Und sogar für muslimische Gemeinschaften       am Boghdadi ist in der schweizerischen Kul-
den Arbeitsmarkt angeht, das gilt besonders       in Grossbritannien», sagt Elham Manea.         tur ebenso zu Hause wie in der arabischen:
für den Privatsektor.» Dagegen sei die Situa­                                                    «Paradoxerweise fühle ich mich in der
tion in Jemen, wo grosse Armut herrscht,                                                         Schweiz eher als Araberin und in der arabi-
absolut gravierend und unmenschlich. «Es                                                         schen Welt als Schweizerin.» Zurzeit studiert
gibt dort überhaupt keine Institutionen für
behinderte Menschen. Wenn sie nicht von
                                                  Die Situation von                              sie in Luzern auf Englisch International Ma-
                                                                                                 nagement and Economics. Wo ihre Zukunft
ihren Familien betreut werden, sondern auf
der Strasse leben, werden sie wie Verbrecher
                                                  Menschen mit                                   liegt, ist noch offen. Nach dem Studium wird
                                                                                                 sie ihren ägyptischen Verlobten heiraten,
in Handschellen festgenommen und in ge-           Behinderungen in                               der in Dubai arbeitet. Gut möglich, dass es
wöhnlichen Gefängnissen verwahrt.»                                                               sie wieder in die arabische Welt zieht.
                                                  der islamischen
                                                  Welt ist von Land                              Aus: insieme-Magazin,
                                                                                                 Dezember 2015, Abdruck
                                                                                                 mit freundlicher Ge-
                                                  zu Land verschie-                              nehmigung von insieme

                                                  den und abhängig
                                                  vom vorhande-
                                                  nen Geld.

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HIKI BULLETIN              2021                                          SERVICE

                               rollaid
       Der Bedarf an Hilfsmitteln, insbesondere Rollstühlen, ist in
        den ärmsten Ländern dieser Welt riesig. Mit einem Roll­-
     stuhl verändert sich das Leben für Menschen mit Behinderung
         nachhaltig. Der Verein rollaid sammelt in der Schweiz
     gebrauchte Hilfsmittel, bereitet sie im Rahmen der Berufsinte­
       gration auf und gibt sie an international tätige Hilfsorgani­
                               sationen ab.
                             www.rollaid.org

                                                      DIES & DAS
        Community-based Rehabilitation                                                        Swiss Disability and
                   (CBR)                                                                    Development Consortium
      CBR heisst eine Strategie zur Entwicklung des Gemeinwesens,                    Dem Swiss Disability and Development Consortium (SDDC)
         die alle einbezieht, auch Menschen mit Behinderungen.                        gehören die Christoffel-Blindenmission (CBM), FAIRMED,
     In der gemeindenahen Rehabilitation rücken statt des traditionell             Handicap International und die International Disability Alliance
        medizinischen Schwerpunkts Themen wie inklusive Bildung,                        (IDA) an. Das Konsortium setzt sich dafür ein, dass die
     Förderung der Existenzsicherung, sozial-gesellschaftlicher Wan­-               Schweiz in ihrer internationalen Zusammenarbeit die Rechte
         del und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde­-                           von Menschen mit Behinderungen vollumfänglich ge­
      rungen in den Fokus. 2010 erarbeiteten ILO, Unesco, WHO und                   währleistet. Damit leistet das SDDC gleichzeitig einen Beitrag
         das International Disability and Development Consortium                        zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Ent­-
     (IDDC) Richtlinien, die als Orientierung dienen, um CBR-Program-               wicklung mit ihren 17 Zielen. Diese sollen bis 2030 unter dem
             me zu entwickeln. Die WHO bietet mit «INCLUDE»                           Leitprinzip «Leave no one behind» verwirklicht werden.
      ein Online-Training, mit dem sich Interessierte in der Methode                               www.leave-no-one-behind.ch
          weiterbilden, relevante Literatur sichten, sich mit ande­-
        ren aus­t auschen und eigene CBR-Projekte starten können.
                          www.include.edc.org
                                                                                           Handicap International (HI)
                                                                                    Diese unabhängige, gemeinnützige Organisation besteht aus
                                                                                       einem Netz von acht nationalen Vereinen (Deutschland,
                                                                                   Belgien, Kanada, Frankreich, Luxemburg, Schweiz, Grossbritan-
                                                                                        nien, USA). Seit 1982 arbeitet HI mit Menschen mit Be-
                                                                                     hinderungen und schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen
                                                                                     und setzt sich dafür ein, ihre Grundbedürfnisse zu decken,
                                                                                   die Lebensbedingungen zu verbessern und sich für die Einhaltung
                                                                                         ihrer Würde und ihrer Grundrechte starkzumachen.
                                                                                                  www.handicap-international.ch

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                                            Indien

                         Mit wenig viel
                           bewirken

                                                                     Massgeschneiderte
                                                                    Anpassungen helfen
                                                                     Arsim, trotz Spastik
                                                                   sicher im Rollstuhl zu
                                                                                   sitzen.

                  In Indien leben Kinder mit einer Behinderung und ihre
                   Familien am Rand der Gesellschaft. Sie sind meist auf
                sich selbst gestellt. Eine grosse Unterstützung sind private
                    Initiativen, die sie mit angepassten Hilfsmitteln ver-
                              sorgen oder Therapien anbieten.

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                  Von Verena Bont*
                                                                                                     Arsim, einem Knaben mit athetotischer Ce-
Mit dem Motorrad fahren wir durch die en-                                                            rebralparese, konnten wir während eines
gen Gassen eines nordindischen Dorfes. Vi-                                                           Einsatzes im Anugrah-Therapiezentrum ei-
nakshi, die Physiotherapeutin des Anugrah-                                                           nen speziellen Rollstuhl anpassen. Der Or-
Therapiezentrums, und ich sind auf dem                                                               thopädietechniker stellte die Sitzbettung
Weg zu einem unserer jungen Patienten.                                                               her, wir Physiotherapeutinnen empfahlen
Wir lassen das Fahrzeug vor einer niedrigen,                                                         die Sitzposition und die Anpassungen, der
ärmlichen Häuserreihe stehen und treten                                                              Schreiner zimmerte den Tisch mit einem
durch die Tür aus Sacktuch in einen Raum.                                                            Schutz für die Arme. Arsims Bewegungen
Hier lebt der zehnjährige Samaksh mit sei-                                                           sind unwillkürlich, weit ausladend und ver-
nen Eltern. Die Mutter begrüsst uns, der                                                             krampft. Er würde immer wieder die Hände
Vater ist nicht anwesend. Samaksh lebt mit                                                           im Fahrgestell oder in den Rädern einklem-
einer Cerebralparese, kann nicht sprechen                                                            men. In der Schweiz kommt diese Art der
und hat kein Gleichgewicht. Er sitzt auf dem      Die Mutter legt ein Sacktuch auf den Boden,        Cerebralparese nur ganz selten vor, in Indien
einzigen grossen Bett im Raum und schaut          setzt sich im Schneidersitz darauf und hält        sieht man sie viel häufiger. Drei Jahre spä-
uns freundlich an. Stolz führt er vor, wie er     Samaksh beim Füttern in ihren Armen. Ne-           ter besuchen wir Arsim bei sich zu Hause
sich im Seitsitz stützend eine Zeitlang auf-      ben dem Bett steht ein kleiner Kocher am           auf dem kleinen Bauernhof. Freudig stellt
recht halten kann. Leider ist er zusätzlich       Boden, auf dem die Mutter das Essen zube-          er uns sein Schwesterchen vor, das in der
zu seiner Behinderung an Tuberkulose er-          reitet hat. Ich zeige ihr, wie sie die Position    Zwischenzeit geboren wurde. Arsims Mut-
krankt. Die Mutter ist verzweifelt, weil er die   des Jungen und das Heranführen des Löffels         ter ist sehr froh, dass er am Tagesgeschehen
Medikamente schlecht schlucken kann. Die          verbessern kann, damit ihm das Schlucken           auf dem Hof teilhaben kann. Ohne Rollstuhl
Medizin schmeckt bitter. Seine Zunge stösst       leichter fällt. So dauert das Füttern allerdings   müsste er den ganzen Tag auf dem Familien-
beim Schluckversuch nach vorne aus dem            enorm lange. Meine Begleiterin Vinakshi            bett bleiben, dort umherrutschen oder sich
Mund, wodurch kaum eine nützliche Dosis           und ich besprechen, dass eine Nahrungsauf-         im Zwischenfersensitz krampfhaft aufrecht
davon in den Körper gelangt.                      nahme mit Nasensonde sinnvoll wäre, solan-         halten.
                                                  ge Samaksh die Medikamente gegen Tuber-
                                                  kulose nehmen muss. Die Mutter willigt ein,
                                                  und Samaksh kann bereits am nächsten Tag
                                                  in einem staatlichen Spital mit einer Nasen-
                                                  sonde versorgt werden. Das erleichtert den
                                                  Alltag der Familie in den nächsten Wochen
                                                  sehr.

                                                  Neue Bewegungsfreiheit dank
                                                  Hilfsmitteln
                                                  Wir besuchen die Familie von Krishna, die
                                                  auf dem Land lebt. Hier ist es verhältnismäs-
                                                  sig ruhig, grüne Felder umgeben die weni-
                                                  gen Häuser und die Luft wirkt frisch. Krishna
* Ve r e n a B o n t                              hat ein seltenes Syndrom: Er hat wenig Kraft
Die hiki-Familienhelferin Verena                  in den Muskeln, ist sehr dünn und emotional
Bont engagiert sich seit vielen                   rasch stark erregt. Dann schreit er wie am
Jahren im Verein Anugrah-Therapie­                Spiess. Seine Eltern und Geschwister gehen
zentrum Nordindien. Als Physio­                   trotzdem liebevoll mit ihm um. Die Familie
therapeutin gibt sie bei Einsätzen                des Onkels lebt ebenfalls in diesem grossen
vor Ort ihr Wissen an lokale
Fachpersonen weiter. Weitere In-
                                                  Haus. Vinakshi hat für Krishna einen gespen-
formationen zum Projekt auf                       deten Posterior-Walker mitgebracht. Solche
                                                  Modelle sind in Indien sehr teuer und kaum
www.anugrah.ch
                                                  erhältlich. Auf der grossen Dachterrasse
                                                  kann Krishna üben, am Walker zu gehen
                                                                                                     Übung macht den Meister:
                                                  oder sich am Geländer haltend seitwärts zu         Krishna trainiert das
                                                  bewegen. Diese neue Mobilität freut und            Gehen am Balkongeländer.
                                                  motiviert ihn.

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                                                                 Indien

                                        Eine zusätzliche
                                              Last
                                     In Indien verarmen die meisten Familien mit einem
                                       behinderten Kind, weil die damit verbundenen
                                    Kosten zu hoch sind. Staatliche Unterstützung gibt es
                                         nur punktuell, und bis zur gesellschaftlichen
                                     Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen ist es
                                     noch weit, weiss der indische Ergotherapeut Martin.

                                                           Mit Arputh Martin Sam*
                                                             sprach Verena Bont

                                                Wie leben Familien mit einem                   Wer bezahlt die medizinische
                                                behinderten Kind in Indien?                    Versorgung?
                                                Kinder mit einer Behinderung sind für in-      Die Familie zahlt meist für ihre regelmässi-
                                                dische Familien in erster Linie eine zusätz-   gen medizinischen Ausgaben. Es gibt priva-
                                                liche Last und ein grosser Kostenfaktor. Ein   te Versicherungsgesellschaften wie LIC, aber
                                                Beispiel: Öffentliche Verkehrsmittel sind      die meisten Familien verdienen nicht genug,
                                                nicht immer zugänglich, weshalb sie für        um sich eine solche leisten zu können. Die
                                                den Transport ein kostspieliges Taxi neh-      Regierung stellt etwas Geld für Operationen
*A r p u t h M a r t i n S a m                  men müssen. Und das ist oft der Fall, denn     zur Verfügung, die helfen sollen, funktions-
Der aus Südindien stammende                     medizinische Versorgung ist selten vor Ort     fähig zu werden. Kinder können diese in
Ergotherapeut Arputh Martin Sam                 zugänglich. Betroffene Familien müssen da-     Anspruch nehmen, wenn sie in staatlichen
leitet den gesamten Therapie­                   für weit von zu Hause wegfahren. Ein ande-     Schulen eingeschrieben sind. Nicht einmal
bereich des Anugrah-Zentrums in                 res Beispiel: In der Regel muss eine Person,   zehn Prozent der Kinder mit Behinderung
Herbertpur. Er macht Befundauf-                 meist die Mutter, zu Hause bleiben, um sich    haben eine zugängliche Toilette. Die häus-
nahmen und Therapiepläne, führt
viele Elterngespräche und Bera-
                                                um das Kind zu kümmern. Manchmal gibt          lichen Bedingungen sind also nicht beson-
tungen. Martin beantwortete                     die ältere Schwester ihre Ausbildung auf, um   ders hygienisch, was zu häufigen Erkrankun-
die Fragen auf schriftlichem Weg.               das behinderte Geschwister zu versorgen.       gen führt.
                                                Wenn in einer Familie beide Elternteile be-
                                                rufstätig sind, müssen sie eine Betreuungs-
                                                person einstellen, was wiederum mit Kosten
                                                verbunden ist.

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HIKI BULLETIN           2021                                  I N T E R N AT I O N A L

Wie ist der Zugang zu Hilfsmitteln?
Hilfsmittel sind in staatlichen Einrichtungen
verfügbar, aber sie sind nicht auf die Bedürf-
nisse des Benutzers zugeschnitten. Wenn
eine Person ein Gerät ihrer Wahl und Pass-
form benötigt, muss sie möglicherweise zu
einem privaten Behindertenzentrum gehen.
                                                 Die Gesellschaft sieht Menschen
Diese sind in der Regel teuer, es sei denn,
sie haben eine externe Finanzierung oder
                                                 mit Behinderungen oft als Objekte
Sponsoren. Die Regierung organisiert regel-
mässig Camps, in denen Menschen mit Be-
                                                 des Mitleids. Es ist mit einem
hinderungen einige Hilfsmittel kostenlos er-     grossen Stigma verbunden, ein Kind
halten. Meist halten diese Geräte aber nicht
lange und sind mehrheitlich für erwachsene       mit Behinderung zu haben.
Personen konstruiert.

Was ist mit der Schule?
Schulen sind selten inklusiv oder zugäng-
lich. Auch wenn es entsprechende Richtli-
nien gibt, erhalten Kinder kaum das, worauf
sie Anspruch haben. Kinder mit leichten
körperlichen oder geistigen Behinderun-          Wie informieren und vernetzen sich            Die Gesellschaft sieht Menschen mit Behin-
gen schaffen es auf eine Regelschule. Die        die Eltern untereinander?                     derungen oft als Objekte des Mitleids. Es
meisten anderen gehen auf Sonderschulen,         Beratung bedeutet in Indien hauptsächlich,    ist mit einem grossen Stigma verbunden,
wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt.        Informationen abzugeben. Kaum ein Berater     ein Kind mit Behinderung zu haben. Diese
Das ist eher selten. Ein grösserer Prozent-      beschäftigt sich mit Emotionen und Anpas-     werden als Folge eines vergangenen Übels
satz der Kinder landet in Heimen. Staatliche     sungsproblemen. Die nützlichsten Hinweise     (Karma) betrachtet. Es kommt häufig vor,
Schulen nehmen alle Kinder auf, aber sie         erhalten Eltern behinderter Kinder durch      dass Mütter für die Behinderung des Kindes
haben meist weder das Material noch die          Mund-zu-Mund-Propaganda von jeman-            verantwortlich gemacht werden. Von Inklu-
personellen Ressourcen, um jene dann auch        dem, der bestimmte Dienste einer Instituti-   sion sind unsere Gemeinden noch weit ent-
zu unterrichten.                                 on bereits in Anspruch genommen hat und       fernt. Für Kinder und Jugendliche mit Behin-
                                                 davon berichtet. In einigen Städten gibt es   derungen und ihre Familien ist es aufgrund
Und wie steht es mit der                         Elternvereinigungen und Behindertenorga-      der vielen einstellungsbedingten und um-
Berufsbildung?                                   nisationen, die sich an betroffene Familien   weltbedingten Barrieren äusserst schwierig,
Die Regierung hat eine Quote von vier Pro-       wenden. Mit dem Aufschwung der digitalen      an den täglichen Aktivitäten teilzunehmen,
zent für Menschen mit Behinderungen ein-         Kommunikation erhalten Eltern auch Infor-     öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und
geführt. Vorausgesetzt wird allerdings, dass     mationen von Social-Media-Gruppen und         sogar medizinische Unterstützung in An-
sie eine abgeschlossene Schulausbildung          Websites.                                     spruch zu nehmen.
haben, was selten der Fall ist. Die Berufssu-
che für Kinder mit schweren Behinderungen        Wie nimmt die Gesellschaft
gestaltet sich schwierig. An einigen Orten       Behinderung wahr?
gibt es Berufsbildungszentren, die junge         Die Wahrnehmung von Menschen mit Be-
Menschen mit einer Behinderung beschäf-          hinderung in der Gesellschaft hat sich noch
tigen, aber die meisten findet man umherir-      nicht wirklich verändert. An abgelegenen
rend oder in ihren Häusern eingesperrt.          Orten hält die Gemeinschaft immer noch
                                                 Distanz zu Familien mit einem behinderten
                                                 Angehörigen. Einige betroffene Familien ha-
                                                 ben sogar Schwierigkeiten, für ihre gesun-
                                                 de Tochter einen geeigneten Bräutigam zu
                                                 finden, weil die Gemeinschaft glaubt, dass
                                                 diese Familie von Gott verflucht wurde. Es
                                                 wird befürchtet, dass man selbst verflucht
                                                 wird, wenn man eine Beziehung zu diesen
                                                 Familien unterhält.

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HIKI BULLETIN            2021                                    I N T ESRENRAT
                                                                             V I CI OE N A L

                                     Kinder mit Behinderung weltweit
                              Über 165 Millionen Kinder leben weltweit mit einer
                                Behinderung, vier Fünftel davon in Ländern des
                             Globalen Südens. Oftmals erhalten diese Kinder nicht
                                 die notwendige Behandlung und leiden unter
                                               Diskriminierung.

                                                  Armut führt zu Behinderung
                                                  Armut und Behinderung hängen eng zusam­              Gemäss WHO und Unicef haben rund 2 Mil­
                                                  men. Unicef und die Weltbank gingen                  liarden Menschen keinen Zugang zu
                                                  2016 von 385 Millionen in extremer Armut             sauberem Trinkwasser, etwa doppelt so viele
                                                  lebenden Jungen und Mädchen aus – das                müssen ohne angemessene sanitäre Ein­
                                                  sind knapp ein Fünftel aller Kinder weltweit.        richtungen auskommen. Dies führt vor allem
                                                                                                       bei der armen Bevölkerung zu Durchfall,

                                                      385 Mio.
                                                                                                       Ruhr, Darmwürmern und Hepatitis. Mangel­
                                                                                                       ernährte Kinder sind besonders krank­
 Gemäss Schätzung der Weltgesundheitsorga-                                                             heitsanfällig und können so in eine Abwärts-
 nisation (WHO) von 2011 leben weltweit                                                                spirale geraten, die ihre Lebenschancen
 mehr als eine Milliarde Menschen oder 15 Pro­-                                                        verringert und die Gefahr von langfristigen
­zent der Weltbevölkerung mit einer Be­hin­                     Kinder leben                           Beeinträchtigungen erhöht. Auch viele
 derung. Laut der Behindertenrechtskonvention               in extremer Armut.                         Infektionskrankheiten wie Masern, Polio, Zika,
 der Vereinten Nationen (UN) sind dies                                                                 Lepra usw. können eine Behinderung zur
 «Menschen, die langfristige körperliche, see-    Armut erhöht nicht nur die Sterblichkeit in          Folge haben.
 l­ische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigun-    den ersten Lebensjahren, sondern trägt auch
 gen haben, welche sie in Wechselwirkung mit      erheblich dazu bei, dass Kinder in ihrer Ent-        Immer noch sterben, überwiegend in Ländern
 verschiedenen Barrieren an der vollen,           wicklung langfristig körperlich, sensorisch, in­-    des Globalen Südens, jedes Jahr Zehntau­
 wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe        tellektuell und seelisch beeinträchtigt wer-         sende Frauen an eigentlich vermeidbaren Kom­­
 an der Gesellschaft hindern können».             den. Sie ist laut Schätzungen für die Hälfte aller   plikationen während Schwangerschaft
 80 Prozent der Menschen mit Behinderung          Behinderungen verantwortlich, etwa ein               und Geburt. Aber auch Neugeborene erleiden
 leben im Globalen Süden. Es gibt keine           Fünftel entstehen wegen Unter- und Mange­l ­-        Geburtskomplikationen, am häufigsten
 verlässlichen Zahlen dazu, wie viele davon       ernährung. Da der Klimawandel, Natur­                Sauerstoffmangel. Der kann tödlich enden oder
 Kinder sind. Das Kinderhilfswerk der Ver­        katastrophen und kriegerische Auseinander-           eine Schädigung des Gehirns mit schweren
 einten Nationen (Unicef) geht von bis zu 165     setzungen die Notlagen verschärfen, geht             Entwicklungsstörungen, Lähmungen und Be-
 Millionen betroffenen Kindern und Jugend­        man davon aus, dass auch die Zahl der Men-           einträchtigungen zur Folge haben.
 lichen aus.                                      schen mit einer Behinderung steigen wird.
In Ländern des Nordens gehen fast vier
Fünftel der Behinderungen auf Krankheiten
zurück. Drei Prozent der Behinderungen
sind die Folge angeborener Beeinträchtigun-
                                                                                                                2 Mia.
gen, nur ein Prozent sind die Folge von                                                                     Menschen haben keinen
Unfällen oder Berufskrankheiten. Wegen der                                                                    Zugang zu sauberem
hohen Lebenserwartung treten viele Behin-
derungen altersbedingt auf. Rund ein Drittel
                                                                                                         Trinkwasser, doppelt so viele
der Menschen mit einer schweren Behinde-                                                                     leben ohne Zugang zu
rung sind deshalb über 75 Jahre alt, etwa die                                                              sanitären Einrichtungen.
Hälfte zwischen 55 und 74 Jahren und nur
wenige Prozent unter 18 Jahre alt. Ganz
anders sieht es in Ländern des Südens aus.
Dort spielen Faktoren wie Armut, Krieg
und Naturkatastrophen eine grosse Rolle.

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HIKI BULLETIN           2021
                        2021                                   I N T ESRENRAT
                                                                           V I ICOEN A L

Frühe Schädigungen wirken                        Schutzlos ausgeliefert
ein Leben lang                                   Eine weitere Ursache von Behinderungen, vor
Ist die Mutter bereits in der Schwangerschaft    allem in armen Ländern, sind Kriege und
unter- oder mangelernährt, sind Neugebo­         Naturkatastrophen. Dadurch können Kinder
rene ebenfalls untergewichtig. Der Mangel an     so schwer verletzt werden, dass sie eine
  Mikronährstoffen wie Vitaminen, Mineral­       Be­hinderung davontragen. Beispiele für solche
stoffen und Spurenelementen schädigt sie zu­-    dauerhaften und entsetzlichen Bedrohun­-
dem bereits im Mutterleib. Die Ernährung         gen sind die Bürgerkriege in der Demokrati-
der Mutter spielt auch beim Stillen eine ent­    schen Republik Kongo und im Jemen, die
scheidende Rolle. So kann ein Mangel an          Dürrekatastrophen in Somaliland und die jähr­-
Vitamin B12 in der Muttermilch zu Entwick-       lichen Überschwemmungen in Bangladesch.
lungsverzögerungen und neurologischen            In Kriegsgebieten sind Kinder schutzlos Gewalt
Schädigungen des Neugeborenen führen. Auch       und Missbrauch ausgeliefert und werden
im Kleinkindalter sind Unter- und Mangel­        dadurch massiv geschädigt. Neben den kör­-
ernährung ein hoher Risikofaktor für langfris-   perlichen Verletzungen tragen die be­
tige Behinderungen, zum Beispiel Erblindung      troffenen Kinder fast immer auch schwere
wegen Vitamin-A-Mangel oder Beeinträch-          psychische Schäden davon. Besonders
tigung der kognitiven Entwicklung wegen Jod-     gefährdet sind als Soldaten zwangsrekrutierte
­mangel. Zudem besteht das Risiko, dass          Kinder und Jugendliche. Bei Kämpfen und
 be­hinderte Kinder aufgrund mangelnder          in verminten Kriegsgebieten erleiden sie häufig
 el­terlicher Fürsorge und unterstützender       schwerwiegende Verletzungen. NGOs schät-
 Dienste nicht ausreichend Nahrung aufneh-       zen, dass derzeit rund 250 000 Mädchen und
 men können und sich dadurch ihr Gesund-         Jungen weltweit in bewaffneten Konflikten
 heitszustand weiter verschlechtert. Durch       oder Kriegen kämpfen.                             Im Jahr 2019 verzeichnete der von der inter-
 fehlende Versorgung können sich leichte                                                           nationalen Landminenkampagne erstellte
 Behinderungen auch zu schweren und

                                                      250 000
                                                                                                   Monitor 5554 Minenopfer, fast alle aus der
 schwersten entwickeln. Ausserdem ist die                                                          Zivilbevölkerung, darunter 1562 Kinder.
 Kindersterblichkeit unter fünf Jahren                                                             Die meisten Opfer wurden in Afghanistan, Sy-
 bei Kindern mit Behinderung weltweit um                                                           rien, Myanmar, Mali und der Ukraine ge­z ählt.
 80 Prozent höher als bei Kindern ohne                                                             Kinder überleben Minenunfälle seltener
Behinderung.                                            Mädchen und Jungen                         als Erwachsene, aufgrund der geringeren Kör­-
                                                         kämpfen weltweit                          per­grösse sind sie dem Zentrum der Explo­-

             80%                                     in bewaffneten Konflikten                     sion viel näher. Etwa die Hälfte aller Minen-
                                                                                                   opfer sterben am Ort der Explosion, bevor
                                                           oder Kriegen.                           überhaupt medizinische Hilfe geleistet wer-
                                                                                                   den kann. Diejenigen, die überleben, müssen
     höhere Kindersterblichkeit                                                                    sich meist gleich mehreren grösseren Ope­
                                                                                                   rationen unterziehen, einschliesslich der Am-
          bei unter fünf-                                                                          putation eines oder mehrerer Gliedmassen.
       jährigen Kindern mit
        einer Behinderung.
Ein weiteres Risiko stellen Umweltbelastungen
dar. Gifte können zum Beispiel zu Gende­
fekten, Fehlbildungen der Gliedmassen oder
einer kognitiven Behinderung führen. Men-
schen, die in einer gesundheitsgefährdenden
Umwelt arbeiten und leben, sei es auf den
Müllhalden der Metropolen oder in Bergbau-
gebieten, sind diesen Risiken besonders
stark ausgesetzt. Arbeitskräfte, die auf gros-
sen Plantagen giftige Pestizide verwenden
oder in Textilfabriken gefährliche Chemikalien
einsetzen müssen, sind ebenfalls gefährdet.
Viele dieser gefährlichen Arbeiten werden
auch von Kindern verrichtet, deren Entwicklung
dadurch eingeschränkt wird, oder von zu-
künftigen Eltern, deren Kinder deswegen mit
Behinderungen auf die Welt kommen.

                                                                                                                                               a

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HIKI BULLETIN            2021                                   I N T ESRENRAT
                                                                            V I CI OE N A L

Noch ein weiter Weg                                                                                 Internationale rechtliche Grundlagen
Kinder mit Behinderung werden in armen Län­-                                                        Mehrere internationale Konventionen bilden
dern kaum medizinisch, sozial und psycho-                                                           die rechtliche Basis dafür, dass Menschen
logisch begleitet oder gefördert. Neun von                                                          mit Behinderung ein Leben als gleichwertige
zehn betroffenen Kindern gehen laut UN                                                              Mitglieder der Gesellschaft führen können.
nicht zur Schule. In den ärmsten Ländern der                                                        Die 1948 verabschiedete Menschenrechtskon­
Welt haben gemäss WHO höchstens 15 Pro-                                                             vention der Vereinten Nationen spricht
zent von ihnen Hilfsmittel wie Rollstühle oder                                                      allen Menschen die gleichen Rechte zu. In den
Sehhilfen.                                                                                          1970er Jahren folgte die «Declaration on
                                                                                                    the Rights of Mentally Retarded Persons» (1971)
HIKI BULLETIN               2021
                            2021                                        SERVICE

     Menschsein. Wer sind wir füreinander                                           Community-based Rehabilitation:
              D EN N IS K L EI N , O L I V ER S T R I T ZK E , 2018                        CBR Guidelines
     Wie geht man in anderen Ländern mit dem Thema Behinderung                              WO R L D H E A LT H O R G A N IZ AT I O N , 2011
       um? Wie leben behinderte Menschen dort? Der Pädagoge
     Dennis Klein macht sich in diesem Dokumentarfilm auf eine Reise               Mit diesen Richtlinien will die WHO weltweit die gemeinde-
       um die Welt, um Menschen mit Behinderungen zu treffen.                     nahe Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen fördern
                                                                                     und ihre volle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen.
                         www.menschsein-film.de
                                                                                                              www.who.int

                                                 DIES & DAS
                                               BUCH-/FILMTIPPS
           Kinder mit Behinderung:                                                            The State of the World’s
      Unterrichtsbausteine für Klasse 3–6                                                          Children 2013
                     D I E S T ER N SI N G ER E .V. , 2018                                       CH I L D R EN W I T H D ISA B I L I T I E S:
     Was ist eine Behinderung, und was bedeutet sie für den Alltag                              FR O M E XCLUSI O N TO I N CLUSI O N
       von Kindern in ärmeren Ländern? Dieses Bildungsmaterial,                    Kinder mit Behinderungen und ihre Familien zählen weltweit
      bestehend aus Unterrichtsbausteinen und einem Film, lädt                        zu den am stärksten benachteiligten und gefährdeten
        Schülerinnen und Schüler ein, das Thema Behinderung                         Menschen. Der Bericht zeigt ihre Situation weltweit auf und
                und Inklusion im Unterricht aufzugreifen.                              entwirft einen Aktionsplan: Sie sollen nicht länger als
                        www.sternsinger.de/                                       passive Empfänger von Schutz und Hilfe, sondern als volle Mit-
           bildungsmaterial/fuer-schulen/unterrichtsmaterial                        glieder der Familie, Gemeinde und Gesellschaft anerkannt
                                                                                  werden. Dazu müssen physische, kulturelle, ökonomische, kom­-
                                                                                     munikative und mentale Barrieren zur Teilhabe abgebaut
      Behinderung bei uns und weltweit.                                                                      werden.
          Themenheft für Lehrkräfte                                                                            Unicef, 2013
           CH R IS TO FFEL- B L I N D EN M ISSI O N (CB M), 2019                                      www.unicef.org/sowc2013
     Was ist eine Behinderung? Wie hängen Armut und Behinderung
            zusammen? Die Broschüre bündelt grundlegende                          Disability and Development Report:
      Informationen für Lehrkräfte. Sie nimmt dabei die Situation
       von Menschen mit Behinderungen in unserer eigenen Ge-
                                                                                     Realizing the SDGs by, for and
     sellschaft in den Blick, befasst sich aber auch mit der globalen                with persons with disabilities
          Perspektive. Im besonderen Masse widmet sie sich der
                                                                                             U N D EPA R TM EN T O F ECO N O M I C AN D
      Sit­uation von Menschen mit Behinderungen in den ärmsten
                                                                                                     S O CIA L A FFA I R S , 2019
                           Ländern dieser Welt.
                                                                                     Wo steht die Welt auf ihrem Weg zum Erreichen der 17
                                www.cbm.de
                                                                                  Entwicklungs­ziele (Sustainable Development Goals, SDGs) be-
                                                                                     zogen auf Menschen mit Behinderungen? Dieser Uno-­
             World Report on Disability                                            Bericht erhebt einen Zwischenstand, zeigt Fortschritte und
                                                                                     weiteren Handlungsbedarf. Es gibt eine Version des B­e -
               WO R L D H E A LT H O R G A N IZ AT I O N , 2011
                                                                                        richts in leichter Sprache, aber keine auf Deutsch.
     In ihrem ersten gemeinsamen Bericht zur Situation behinderter
                                                                                                              www.un.org
         Menschen gehen die Weltbank und die Weltgesundheits­
      organisation (WHO) davon aus, dass rund 15 Prozent der Welt-
          bevölkerung mit einer Behinderung leben. Das entspricht                              Behinderung und
         einer Milliarde behinderter Menschen weltweit. Der rund
      350 Seiten umfassende Bericht liegt in den Amtssprachen der
                                                                                          internationale Entwicklung
                         Uno vor (Deutsch ist keine).                               I NS T I T U T FÜ R I N K LUSI V E EN T W I CK LU N G , JÄH R L I CH
                                www.who.int                                        Diese Zeitschrift erscheint dreimal jährlich mit Beiträgen zu
                                                                                      sozial- und entwicklungspolitischen, interkulturellen
                                                                                   und pädagogischen Fragestellungen im Zusammenhang mit
                                                                                       der Inklusion von Menschen mit Behinderungen im
                                                                                                         Globalen Süden.
                                                                                                          www.bezev.de/de/
                                                                                           institut-fuer-inklusive-entwicklung/zeitschrift

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HIKI BULLETIN            2021                                 I N T ESRENRAT
                                                                          V I CI OE N A L

                                                  Weltkarte
                               Wie leben Menschen mit einer Behinderung,
                            insbesondere Kinder, auf der Welt? Dieses Bulletin
                                 stellt die mit Blau markierten Länder vor.
                          Kurze Filmausschnitte geben zudem Einblick in weitere
                            Länder. Einfach QR-Code scannen und reinschauen!

Geschichten im Magazin

                                                                                                        Brasilien    4
                                                                                                        Nachrichten über das Zika-Virus
                                                                                                        alarmierten 2016 die Welt. Die
San Salvador      1                                                                                     Ansteckungsgefahr ist inzwischen
                                                                                                        gesunken, aber was ist mit den
Der 13-jährige Moncho ist schwerbe­
                                                                                                        Kindern, die wegen der Infektion
hindert. Nach vielen Jahren hat er
                                                                                                        mit einer Mikrocephalie geboren
endlich Zugang zu Physiotherapie und
                                                                                                        wurden? Die Facebook-Selbs­t-
einem Minimum an Bildung. Jetzt
                                                                                                        hilfegruppe União De Mães de
wünschen sich seine Mutter und er
                                                                                                        Anjos (Union der Mütter von
noch eines: mehr Anerkennung
                                                                                                        Engeln) versucht, betroffenen
für behinderte Kinder.
                                                                                                        Familien zu helfen.
Moncho erhält jetzt Therapie
                                                                                                        Zika: Children of the Outbreak
                                                                                                        (auf Englisch)

                                                                                 1

         Pe r u   2                           Argentinien     3
         Angeles, Eddú und Carlos Andrés      Glyphosat ist seit den 1970er                 2
                                                                                                    4
         leben mit einer Behinderung          Jahren das weltweit am häufigs-
         in Perus Hauptstadt Lima. Sie zei­   ten eingesetzte Pestizid –
         gen, wie ihr Alltag aussieht         trotz Hinweisen, dass die Sub­
         und was es für sie bedeutet, zu      stanz krebserregend und
         spielen, zu lernen und Freund-       erbgutverändernd sein könnte.
                                                                                                                 Republik
         schaften zu schliessen.              Besonders grossflächig wird
                                                                                                                 Zentralafrika     6
                                              es in Argentinien eingesetzt,
         Willi in Peru
                                              wo sich die Fehlbildungen                         3                Menschen mit Behinderun-
                                              bei Neugeborenen vervierfacht                                      gen leiden in Konflikten und
                                              haben.                                                             Bürgerkriegen noch mehr
                                                                                                                 als alle anderen, vor allem
                                              Glyphosat – Argentiniens
                                                                                                                 auf der Flucht.
                                              kranke Kinder
                                                                                                                 Central African Republic:
                                                                                                                 People With Disabilities Left
                                                                                                                 Behind (auf Englisch)

20
HHIIKKII BBUULLLLEETTIINN           2021
                                    2021                               I N T ESRENRAT
                                                                                   V I ICOEN A L

                                                Rumänien      8                                     Israel   9

                                                Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989            Der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm
D e u t s c h l a n d /Sy r i e n       7       wurden die unmenschlichen Zustände                  «The Other Dreamers» von Roy Zafrani
                                                in rumänischen Waisenhäusern bekannt, in            (2013) begleitet vier behinderte Kinder wäh-
Die 16-jährige Syrerin Nujeen Mus-
                                                denen meistens Kinder mit einer Behinde­-           rend eines Jahres. Er zeigt ihre Träume und
tafa lebt mit einer Cerebralparese.
                                                rung lebten. Was ist aus ihnen geworden?            Hoffnungen und die Diskrepanz zur Realität.
In ihrem Buch «Nujeen – Flucht in die
Freiheit. Im Rollstuhl von Aleppo               Vor 20 Jahren: Die verlorenen Kinder                Trailer (mit englischen Untertiteln)
nach Deutschland» erzählt sie ihre              von Cighid
Lebensgeschichte.
Nujeen – Flucht in die Freiheit

                                                                                                                                    Sy r i e n 10
                                                                                                                                    Es wird geschätzt, dass 1,5
                                                                                                                                    Mil­lionen Syrerinnen und
                                                                                                                                    Syrer infolge des Krieges eine
                                                                                                                                    Behinderung haben, 86 000
                                                                                                                                    davon mussten Gliedmassen
                                                                                                                                    amputiert werden.
                                                                                                                                    Safa: A Little Girl Fights to
                                                                                                                                    Walk Again (auf Englisch)

7

                  8
                                                                                                                      11
                                                                                                                                    J a p a n 11

                                10                                                                                                  In Japan fehlt es überall an
                                                                                                                                    Betreuungsmöglichkeiten
                            9
                                                                                                                                    für Kinder mit schweren Be-
                                                                                                                                    hinderungen.
                                                                                                                                    Japan’s Handicapped Child-
                                                                                                                                    ren Problem (auf Englisch)
                                                                                                   12

                 6

                                                                  V i e t n a m 12
                                                                  Vor über 40 Jahren ver-
                                                                  sprühten die Amerikaner im
                                                                  Vietnamkrieg massenhaft
                                    5                             das Entlaubungsmittel Agent
                                                                  Orange. Das Dioxin blieb im
                                                                  Boden und Trinkwasser – mit
                                                                  schrecklichen Folgen bis
                             Mosambik       5
                                                                  heute. Über 150 000 Kinder
                             Bis zu 14 Prozent der Kinder zwi-    wurden seither mit einer
                             schen zwei und neun Jahren           Behinderung geboren.
                             im Land sind behindert. Häufig
                                                                  Reportage im Ersten:
                             werden sie von ihren Familien
                                                                  Vietnam
                             versteckt und von der Gesellschaft
                             diskriminiert.
                             Invisible Children:
                             the Disability Challenge in
                             Mozambique (auf Englisch)

21
HIKI BULLETIN   2021                   I N T E R N AT I O N A L

                                      Neuseeland

                            Grosse
                       Hilfsbereitschaft

     Dank Inklusion gehen
     in Neuseeland alle
     Geschwister gemeinsam
     in die Schule.

                      Nach 20 Jahren in Neuseeland hat Ute Keck die
                    Erfahrung gemacht, dass Familien mit Kindern mit
                     Behinderungen im Land sehr zufrieden mit den
                   Förderangeboten sind. Das hängt vielleicht auch mit
                    dem hilfsbereiten Naturell der «Kiwis» zusammen.

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HIKI BULLETIN             2021                                   I N T E R N AT I O N A L

                 Von Ute Keck*

Sophie lebt mit einer schweren Entwick-
lungsstörung, die durch Sauerstoffmangel
während der Geburt verursacht wurde. Als
sogenannte Teacher Aide in Wanaka im Sü-
den von Neuseeland habe ich dieses Mäd-
chen während der ersten zwei Jahre in der
Grundschule begleitet. In der Zusammenar-           Maori nehmen
beit mit den Eltern erlebte ich, wie dankbar
sie für all die Hilfe waren, die für ihre Tochter   Menschen mit
zur Verfügung stand. Obwohl Wanaka ein
kleiner Ort mit nicht einmal 5000 Einwoh-           Behinderung ein-
nern ist, vier Autostunden von der nächst-
grösseren Stadt entfernt, gibt es dort viel
                                                    fach als anders-                                * U t e Ke c k
                                                                                                    Die Sonderpädagogin Ute Keck
Unterstützung und medizinische Betreuung
für Menschen mit Behinderungen.
                                                    artigen Teil ihrer                              stammt aus Deutschland und
                                                                                                    lebt seit 20 Jahren in Neuseeland.

Neuseeland hat einen ländlichen Charak-
                                                    Familie wahr.                                   Zurzeit arbeitet sie in Dunedin
                                                                                                    als Kulturvermittlerin im Chinese
                                                                                                    Garden und setzt sich für die
ter mit vielen Farmgebieten. Von den fünf                                                           Integration von Migrantinnen und
Millionen Einwohnern lebt eine Million in                                                           Migranten und Flüchtlingen ein.
Auckland. Das Land ausserhalb der vier
grösseren Städte Auckland, Wellington,
Christchurch und Dunedin ist sehr dünn              Frühe Hilfe                                     Alle Neuseeländer haben Zugang zu medizi­
besiedelt. Die grösste Herausforderung in           Entstehen Behinderungen während der             nischer Versorgung. Kinder unter 14 Jahren
Neuseeland liegt denn auch in den weiten            Geburt – was durch das verbreitete System       müssen für Arztbesuche und verschriebe-
Anfahrtswegen zu Einrichtungen und dem              der Hebammengeburten doch recht häufig          ne Medikamente nichts bezahlen, darüber
Zugang zu Informationen. Vielen Leuten an           auftritt – oder sind sie dann schon bekannt,    kostet jeder Arztbesuch 47 neuseeländische
der kaum bevölkerten Westküste ist wahr-            ist die erste Anlaufstelle der Arzt oder das    Dollar (ungefähr 30 Franken) und jedes ver-
scheinlich nicht bekannt, welche Unterstüt-         Krankenhaus. Später werden Wachstums-           schriebene Medikament 5 (etwas über 3
zungsmöglichkeiten vorhanden sind.                  und Lerndefizite oft bei den Reihenuntersu-     Franken). Operationen und Behandlungen
                                                    chungen von Plunket und Oranga Tamariki         im öffentlichen Krankenhaus sind für alle
Eine weitere Herausforderung ist die Diversi-       entdeckt. Diese beiden Organisationen un-       kostenlos. Weil die Regierung nur ein be-
tät der Bevölkerung. Auf der Nordinsel leben        tersuchen alle Kinder bis zum Schuleintritt     grenztes Budget für Ärzte und Pflegeper-
viele Maoristämme und verschiedene Grup-            mit fünf Jahren routinemässig, bieten allge-    sonal hat, das weit unter dem Bedarf liegt,
pen von den Pazifischen Inseln, die eine            meine Hilfe für die Familien und vernetzen      führt dies bei weniger dringlichen Opera­
ganz andere Einstellung zu Menschen mit             sie mit anderen Organisationen. Werden bei      tionen zu ellenlangen Wartelisten. Es kommt
Behinderung haben als eher westlich ge-             einem Kind durch die Needs Assessment           vor, dass Patienten sieben Jahre auf eine
prägte Menschen. Ein Bericht zeigte neulich         and Service Coordination, NASC, einer vom       Knieoperation warten!
auf, dass Maori Menschen mit Behinderung            Gesundheitsministerium beauftragten Or-
einfach als andersartigen Teil ihrer whanau         ganisation Special needs diagnostiziert, ste-
oder extended family wahrnehmen – dem               hen der Familie finanzielle und medizinische
Familienklan, in dem Maori bis heute leben.
Dies im Gegensatz zu den Pakeha – den
                                                    Hilfe sowie Frühförderung zur Verfügung.
                                                    Die NASC koordiniert auch die Unterstüt-
                                                                                                    Alle Neuseeländer
Nachfahren der weissen Siedler –, die eine
Behinderung als Defekt ansehen, der Inter-
                                                    zung für die Familien, zum Beispiel für Ent-
                                                    lastungsbetreuerinnen und -betreuer.
                                                                                                    haben Zugang
ventionen bedarf. Die Statistik belegt, dass
bei den Maori nur ein geringer Prozentsatz
                                                                                                    zu medizinischer
der Kinder mit leichten bis mittleren Behin-                                                        Versorgung –
derungen gemeldet ist und damit Zugang
zu Unterstützung hat.                                                                               Kinder unter 14 Jah-
                                                                                                    ren sogar gratis.
                                                                                                                                             a

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