Rechtfertigungskrise der Sozialen Marktwirtschaft und Global Justice: Voraussetzungen einer sozialen Globalisierung? - Staatswissenschaftliches ...

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Rechtfertigungskrise
der Sozialen Marktwirtschaft
     und Global Justice:
   Voraussetzungen einer
  sozialen Globalisierung?

    Staatswissenschaftliches Forum e.V.
          Tagungsberichte 4/2018
SWF
  Staatswissenschaftliches
  Forum e.V.

    Rechtfertigungskrise
der Sozialen Marktwirtschaft
     und Global Justice:
   Voraussetzungen einer
  sozialen Globalisierung?

     Staatswissenschaftliches Forum e.V.
           Tagungsberichte 4/2018
Impressum
_________________________

S|W|F| Tagungsberichte
4/2018, 4. Jahrgang

HERAUSGEBER
Univ.-Prof. Dr. Herm.-J. Blanke
Prof. Gerald Grusser

REDAKTION
Robert Conrad, M.A.
Staatswissenschaftliches Forum e.V.
c/o Universität Erfurt
Postfach 900221
99105 Erfurt
Telefon: +49 361 737-4750
Fax: +49 361 737-4709
info@swf-forum.de
Dr. Dr. Dietmar Görgmaier, M.A.
Industrie- und Handelskammer Erfurt
Arnstädter Straße 34
99096 Erfurt
Telefon: +49 361 3484-404

BIlDNACHWEIS
Seiten: 7, 10, 19, 20, 35 ,51, 63, 64, 67, 73, 81, 89 (© iStockPhoto)

DRUCK
Druckhaus Gera GmbH
_________________________

ISSN 2509-7032

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Industrie- und Handelskammer Erfurt.

4 | Staatswissenschaftliches Forum
Inhalt

S|W|F| Tagungsberichte | Ausgabe 4 | 2018

01     Die Soziale Marktwirtschaft als Modell eines sozialen Ausgleichs in der Globalisierung           6
       Hermann-Josef Blanke

02     Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden                   16
       Peter Altmaier

03     Die Notwendigkeit eines globalen Gesellschaftsvertrags: Ein wirtschafts- und
       sozialethischer Beitrag                                                                        22
       Elke Mack

04     Globale Institutionen für eine soziale Globalisierung                                          32
       Hermann Sautter

05     Modell der Sozialen Marktwirtschaft als Blaupause für eine soziale Globalisierung?             44
       Andreas Freytag

06     Internationaler Wettbewerb und soziale Verantwortung der Unternehmen: zur Kompatibilität       50
       Edda Müller

07     Globalisierung unter Beschuss: Eine Bestandsaufnahme des Freihandels                           54
       Jens Südekum

08     Globale Ungleichgewichte im Außenhandel und der deutsche Exportüberschuss                      62
       Christoph van Treeck

09     landnahme: Finanzialisierte Unternehmen in transnationalen Wertschöpfungsketten                70
       Klaus Dörre

10     Globalisierung und soziale Gerechtigkeit –
       Herausforderungen für die Evangelischen Kirchen im lutherischen Weltbund                       78
       Christine Lieberknecht

11     Eine lutherische Ermutigung zu wirtschaftlicher Freiheit und Verantwortung                     84
       Thomas A. Seidel

12     Schlussfolgerungen                                                                             88
       Gerald Grusser

                                                                       Staatswissenschaftliches Forum | 5
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

 Die Soziale Marktwirtschaft als Modell eines sozialen Ausgleichs
                     in der Globalisierung

A. Soziale Marktwirtschaft:                                licher Wohlstand bei bestmöglicher sozialer Absiche-
    Anspruch, Ziel und Komponenten                         rung. Der Staat verhält sich aus diesem Grund nicht
                                                           passiv, sondern greift aktiv in das Wirtschaftsgesche-
Zu den normativen Orientierungen Europas gehören           hen z. B. durch konjunkturpolitische, wettbewerbs-
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Markt-         politische und sozialpolitische Maßnahmen ein.
wirtschaft. Zusammen mit Alfred Müller-Armack ent-         Eingriffe des Staates in die Wirtschaft erfolgen im all-
warf ludwig Erhardt in den 1940er-Jahren das Kon-          gemeinen Interesse und in solchen Bereichen, in
zept der sozialen Marktwirtschaft für das Nachkriegs-      denen Anbieter oder Nachfrager durch angepasste,
deutschland, das er dann als erster Bundeswirtschafts-     marktwirtschaftlich vertretbare Maßnahmen geschützt
minister (1949 bis 1963) unter Bundeskanzler Konrad        werden müssen (z. B. beim Verbraucherschutz oder
Adenauer erfolgreich implementierte. Deutschland           bei der Wettbewerbsgesetzgebung). Hier nähern wir
wurde zur Geburtsstätte des “rheinischen Kapitalis-        uns der Frage einer Übertragbarkeit der sozialen Ein-
mus”. Seit über einem Jahrzehnt ist das Ziel einer „in     hegung der Marktwirtschaft auf den Prozess der Glo-
hohem Maße wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirt-          balisierung. Doch wenn dies als Ziel formuliert wer-
schaft“ im Vertrag über die Europäische Union (2007/       den soll, dann müsste das Konzept der Sozialen Markt-
2009) verankert (Art. 3 Abs. 3 EUV). Sie entfaltet
                                         1
                                                           wirtschaft insgesamt – also in seinen wettbewerbli-
sich vor allem im Binnenmarkt.                             chen und sozialen Komponenten – zumindest in
Die Soziale Marktwirtschaft baut zwar auf Elementen        seinem Geburtsland Akzeptanz finden.
der freien Marktwirtschaft auf, ist aber in der tatsäch-
lichen Ausgestaltung durch die wirtschaftstheoreti-        I) Ambivalente Einstellungen zur Sozialen Markt-
schen Vorstellungen des Neoliberalismus und des                wirtschaft
Ordoliberalismus vor allem vom Nationalökonomen
Walter Eucken (1891-1950) und der Freiburger Schule        Bereits im Jahr 2006 publizierte der Münchener
geprägt. Eine der wichtigsten Aufgaben des Staates in      Wirtschaftsethiker und Philosoph Karl Homann ein
der Sozialen Marktwirtschaft ist die Schaffung eines       Papier, in dem er ausführte, dass mehr als die Hälfte
rechtlichen Rahmens, innerhalb dessen sich das             der deutschen Bevölkerung Markt und Wettbewerb
wirtschaftliche Handeln abspielen kann. Dazu zählen        laut Umfragen ablehne.2 Tatsächlich belegt eine Al-
die Sicherung persönlicher Freiheitsrechte wie etwa        lensbacher Umfrage aus dem Jahre 2013 die Am-
das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung und die     bivalenz in der Einstellung der Deutschen gegenüber
Möglichkeit, ein selbstständiges Gewerbe gründen zu        der Marktwirtschaft: Hier verbanden zwar 81 % der
können, das Privateigentum an den Produktionsmit-          Befragten mit einem staatlich organisierten Wirt-
teln, aber auch das Recht, Vereinigungen zur Wahrung       schaftssystem – also einer Planwirtschaft – „Büro-
wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu bilden.        kratie“, 51 % unter ihnen attestierten einem solchen
Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft ist es, die      System aber „Sicherheit“ und 43 % sogar „soziale
Vorteile in der freien Marktwirtschaft wie wirtschaft-     Gerechtigkeit“ als positive Begleiterscheinungen
liche leistungsfähigkeit oder hohe Güterversorgung         (gegenüber 31 % bzw. 12 % hinsichtlich des markt-
zu verwirklichen, gleichzeitig aber deren Nachteile        wirtschaftlichen Wirtschaftsmodells).3 Die Markt-
wie zerstörerischen Wettbewerb, die Ballung wirt-          wirtschaft gelte, so Homann, als unsolidarisch und
schaftlicher Macht oder unsoziale Auswirkungen von         moralisch bedenklich. Sie werde in Deutschland
Marktprozessen (z. B. Arbeitslosigkeit) zu vermeiden.      durchweg mit dem Argument gerechtfertigt, dass sie
Das Ziel dieser Ordnung ist deshalb ein größtmög-          erst der Zusatz des „Sozialen“ ethisch akzeptabel

6 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

mache. Sozialer Sicherung und Umverteilung werde           Globalisierung genannt.6 In ihrem Reflexionspapier
die Funktion zugeschrieben, die Wunden zu heilen,          „Die Globalisierung meistern" führte die Europäische
die Markt und Wettbewerb schlagen. Sozialpolitik und       Kommission sodann aus, dass „der Begriff «soziales
Wohlfahrtsstaat würden als ethisch geforderte Kor-         Europa» [für manche] eine leere Worthülse [sei]: Sie
rektur der Marktergebnisse angesehen; also führe das       sehen die EU als Katalysator für globale Marktkräfte
Attribut „sozial" zur Forderung nach einer Sozialpoli-     und Vehikel kommerzieller Interessen und befürchten,
tik gegen den Markt. Diese problematische Sicht des        der unbegrenzte Binnenmarkt könne zu «Sozial-
„Sozialen" in der Sozialen Marktwirtschaft erklärt         dumping» führen."7 Kann also noch von einer hinrei-
sich wohl teilweise aus der Entstehung der sozialen        chenden Zahl von Staaten oder Staatengemein-
Sicherungssysteme als Antwort auf die „soziale             schaften (wie der EU) ausgegangen werden, die im
Frage" im 19. Jahrhundert.  4
                                                           Innern beständig eine Zustimmung der Bevölkerung
Mit Blick auf die Entwicklungen in der Europäischen        zur Wettbewerbsfreiheit aufweisen und die auf der
Union stellt die Europäische Kommission im                 Grundlage einer solchen Tradition verlässlich
„Weißbuch zur Zukunft Europas" (2017) fest, dass           Maßstäbe im Wettbewerb der Systeme für andere
„zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ... die         Regierungen setzen?8
Gefahr [bestehe], dass es der heutigen Jugend              Vor allem die Finanzkrise und die damit verbundene
schlechter gehen [werde] als ihren Eltern ... Diese Ent-   Banken- und Eurokrise – in Europa ausgelöst durch
wicklungen [hätten] Zweifel gesät und dazu geführt,        die (seinerzeit) hoch verschuldeten Euroländer Por-
dass die Soziale Marktwirtschaft der EU und ihr Ver-       tugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien
sprechen, niemanden zurückzulassen und dafür zu            (PIIGS) – haben seit 2010 erheblich dazu beigetra-
sorgen, dass es jeder Generation besser geht als der       gen, dass mancher Europäer, darunter auch mancher
vorigen, hinterfragt [würden]... Es [werde] in den         Deutscher, erstmals glaubte, in den sozialen Abgrund
kommenden Jahren sicher nicht einfacher, die Inklu-        zu schauen. Diese Verunsicherung – verbunden mit
sivität, Wettbewerbsfähigkeit und Widerstands-             einem Verlust des Vertrauens in eine „immer bessere
fähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken und       Zukunft“ für künftige Generationen – ist zu einer
sie besser für die Zukunft zu rüsten."5
                                                           bleibenden Erfahrung für jene geworden, die inzwi-
Bereits zuvor hatte das Europäische Parlament unter        schen, auch jenseits des Atlantiks, den nationalen
den „nie dagewesenen Herausforderungen" auch die           rechtspopulistischen Parteien zulaufen.

                                                                               Staatswissenschaftliches Forum | 7
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

II) Bestrebungen einer Renaissance                       tik. Durch die Betonung des sozialen Ausgleichs
                                                         markiert der Katalog gleichwohl – wie bereits die
In einer Entschließung vom 16. Februar 2017 fordert      rechtsverbindliche Charta der sozialen Rechte des Eu-
das Europäische Parlament den Abschluss eines            roparates (1961 und 1996) – den bewussten Gegensatz
neuen Sozialpakts (etwa in der Form eines Sozial-        zur sozioökonomischen Struktur der Vereinigten
protokolls), mit dem die Soziale Marktwirtschaft in      Staaten von Amerika. Der entscheidende Faktor für die
Europa gefördert und Ungleichheiten verringert wer-      Sozialpolitik der Mitgliedstaaten bleibt jedoch bei
den sollen. Dabei sollen die Grundrechte aller           einer verantwortlichen Haushaltspolitik die Potenz der
Bürger, auch die wirtschaftliche Vereinigungsfrei-       nationalen Volkswirtschaften und eine nachhaltige
heit, also nicht zuletzt das Recht, Tarifverhandlun-     Steuerpolitik.
gen zu führen und Tarifvereinbarungen zu treffen,        Anzumerken ist, dass die Union im Jahr 2006 einen
sowie das Recht auf Freizügigkeit, gesichert werden. 9
                                                         kleinen Globalisierungsfonds eingerichtet hat, der
Auch die Koalitionäre im Bund haben in ihrem Ver-        Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen
trag vom 7. Februar 2018 festgestellt, dass „die         soll, die von der Schließung oder Umsiedlung ihrer
Soziale Marktwirtschaft, die auf Unternehmensver-        Fabriken infolge der Globalisierung betroffen sind.
antwortung, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung           Das maximale Budget dieses Fonds für die Anpas-
und einer fairen Verteilung des erwirtschafteten         sung an die Globalisierung liegt bei nur 150 Mio.
Wohlstands beruht, […] eine Renaissance (braucht),       Euro jährlich.
gerade in Zeiten der Digitalisierung“. Innovations-
kräfte sollen freigesetzt und das Wohlstands- und        III) Die sozialen Folgen der Globalisierung
Sicherheitsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft
im digitalen Zeitalter erneuert werden.10 Dies korres-   Die Debatte um die Globalisierung, also die Inten-
pondiert zu dem Ansatz der Europäischen Kommis-          sivierung und Beschleunigung grenzüberschreiten-
sion, die in der „Konvergenz sozialer Standards ein      der Transaktionen bei deren gleichzeitiger räum-
wesentliches Merkmal einer fairen Globalisierung“        licher Ausdehnung,13 hat zwei Seiten: Zum einen
sieht.11                                                 sind die wirtschaftlichen Folgen zu betrachten, ins-
Um den auf die Europäische Union zurückfallenden         besondere für die Faktormärkte und die Technolo-
Verdruss von Arbeitnehmern über Defizite im System       gieentwicklung, die einst längere Phasen des Auf-
der sozialen Sicherheit zu mindern, haben die Präsi-     schwungs, ein inflationsfreies Wachstum bei nied-
denten des Europäischen Parlaments, des Rates der Eu-    riger Arbeitslosigkeit und hoher Produktivität ver-
ropäischen Union sowie der Europäischen Kommis-          hießen. Angesichts der Digitalisierung von Arbeits-
sion im November 2017 eine sog. „Europäische Säule       prozessen (Industrie 4.0) scheint die Perspektive
der sozialen Rechte“ proklamiert. Dieser Katalog bein-   einer niedrigen Arbeitslosigkeit als Effekt der Glo-
haltet im Zeichen eines europäischen Sozialmodells       balisierung inzwischen zu schrumpfen. Zum anderen
eine lange liste all jener sozialen Errungenschaften,    sind die sozialen Auswirkungen der Globalisierung
die Armut verhindern, soziale Teilhabe ermöglichen,      in den Blick zu nehmen, also Szenarien von einem
Beschäftigung garantieren, Gleichberechtigung her-       möglichen Ende der souveränen Handlungsfähigkeit
stellen und Chancen eröffnen sollen. Die Zuständig-
                                     12
                                                         des Nationalstaates und einer Krise der sozialen
keit für die Sozialpolitik liegt indes überwiegend bei   Sicherungsmechanismen.
den Mitgliedstaaten, so dass ihnen auch die Umsetzung    So hat Heiner Geißler, in seinen späten Jahren ein
der Mehrzahl dieser „Rechte“ obliegt; dabei müssen       streitbarer Vertreter des Netzwerkes Attac, im Jahr
die Mitgliedstaaten ihrerseits auf die Autonomie der     2012 beklagt, dass „Rentenpolitik ... ein Opfer der
Sozialpartner Rücksicht nehmen. Deshalb handelt es       Ökonomisierung unserer Gesellschaft geworden
sich bei diesem Kompendium aller jemals in Europa        ist."14 In seiner 2015 erschienen Schrift „Was müsste
erdachten sozialen Rechte eher um symbolische Poli-      luther heute sagen?" schreibt Geißler: ,,Die vor-

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Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

herrschende Wirtschaftsideologie ökonomisiert auf der      Volksbefragungen die für ihre Ergebnisse aus-
Welt die ganze Gesellschaft einschließlich der             schlaggebenden Motivbündel nicht vorschnell auf
Kirchen." Dieser Gedanke der Ökonomisierung aller
          15
                                                           die Angst vor der Globalisierung reduzieren sollten,
lebensbereiche, getragen von der Einsicht des Jesui-       doch scheint die Entscheidung einer knappen Mehr-
tenschülers, dass „der Kapitalismus [...] genauso falsch   heit der Briten für den Brexit auch ein Beleg für
[sei] wie der Kommunismus", zieht sich wie ein roter
                                   16
                                                            empfundene Entfremdung, ja Überfremdung gerade
Faden durch seine Interviews, Auftritte und Publika-        im Arbeitsleben zu sein.
tionen in den letzten zehn Jahren seines lebens.            Schauen wir aber nicht allein auf die von Teilen der
                                                           Industriebevölkerung so wahrgenommenen nega-
IV) (Empfundene) Globalisierungsverluste und               tiven Effekte der Globalisierung. Globalisierung ist
    vorenthaltene Globalisierungschancen                   primär ein Problem der Exklusion unterentwickelter
                                                           Ökonomien (in Südafrika oder Teilen Südasiens), die
Die Globalisierungsskeptiker und -kritiker verlangen       entweder keine Rechtssicherheit für Investitionen
eine "Bändigung" des "Neoliberalismus", worunter           bieten oder keine Tauschgüter besitzen, die für trans-
sie einen Schutz weiter Bereiche vor dem Weltmarkt         nationale Unternehmen von Interesse sein könnten, um
und dem Wettbewerb verstehen. Mit der zu beob-             transnationale Geschäfte („Interaktion“) abzuschlie-
achtenden starken ordnungspolitischen Eigendyna-           ßen. Diese länder sind – auch wegen des Mangels an
mik der Globalisierung scheint sich (für sie) die          "Humankapital" – von den unbestreitbaren Vorteilen
Auffassung von Adam Smith zu bestätigen, nach der          der Globalisierung vollständig ausgeschlossen.
das Marktsystem, wenn „alle Systeme der Begünsti-
gung und der Beschränkung“ einmal aufgegeben               B. Wirtschaftsethische Maßstäbe für die Globa-
sind, als „einsichtiges und einfaches System der                lisierung
natürlichen Freiheit"    17
                               sämtliche konkurrierenden
Ordnungen verdrängt.                                       Vor dem Hintergrund der hier skizzierten höchst
Auch angesichts eines Prozesses empfundener Ent-           zwiespältigen Einschätzung der Sozialen Markt-
fremdung, ja „Entheimatung“ im eigenen land er-            wirtschaft seitens der Deutschen und anderer Euro-
fahren der Begriff und wohl auch das Gefühl für            päer – ja zum fürsorglichen Staat, aber nein zum
Heimat eine Renaissance. Heimat wird „nicht nur als        unsozialen Markt – sowie der Furcht vieler Men-
physische Konnotation, sondern als Idee, als Weltan-       schen in Westeuropa vor der Globalisierung nimmt
schauung [verstanden], die zu mir passt, als politi-       es nicht wunder, dass als Grund für das aktuell
sche, berufliche, familiäre Heimat".18 Am Tag der          gestiegene Interesse an Ethik eben dieses Phänomen –
deutschen Einheit (2017) hat Bundespräsident Stein-        nicht zuletzt die Internationalisierung der Güter- und
meier erklärt, wer sich nach Heimat sehne, sei nicht       Kapitalmärkte, jüngst vermehrt auch die Konse-
von gestern. Damit verbindet er in seiner politischen      quenzen des globalen Prozesses „Industrie 4.0" für
Botschaft „die Sehnsucht […] nach Sicherheit, nach         die Arbeitsplätze – genannt wird.20 Die negative
Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen           Konnotation von Globalisierung ergibt sich insbeson-
Dingen Anerkennung“. Cem Özdemir und sodann
                              19
                                                           dere daraus, dass der Faktor Kapital nicht nur Macht
Katrin Göring-Eckart sind ihm in dieser Ein-               über den Faktor Arbeit, sondern zunehmend auch
schätzung überaschenderweise gefolgt. Auch wenn            über die Politik gewinnt oder bereits gewonnen hat.
die Neubesetzung dieses Begriffs primär gegen den
Rechtspopulismus in Deutschland gerichtet ist, gerät       I) Normative Gerechtigkeitskriterien
„Heimat" zum Stimulans, Versprechen und Erklä-
rungsangebot, die fast alle lebensbereiche, darunter       Für die Sozialethik wird angesichts der empirischen
selbstredend die Welt der Arbeit, erfassen.                Datenlage die Frage gestellt, welche Gerechtigkeits-
Zutreffend ist betont worden, dass Analytiker von          kriterien es gebe, um die Entwicklungsrelevanz des

                                                                                 Staatswissenschaftliches Forum | 9
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

derzeitigen Globalisierungsprozesses ethisch zu be-     rechtlicher Natur, gegenüber denen, die diese Herr-
urteilen: positiv wie negativ.21
                                                        schaft ausüben, den «Zwang zum besseren Argu-
Nach einer auf J. Rawls (A Theory of Justice) und       ment» geltend machen können“.23
J. Habermas gründenden normativen „Theorie fun-         Die Trias der Ideale von transnationaler Gerech-
damentaler transnationaler Gerechtigkeit“ soll Ge-
                                           22
                                                        tigkeit, Demokratie und Frieden bildet den Rahmen,
rechtigkeit auf intersubjektive Verhältnisse und        um zu bestimmen, was es genau heißt, eine be-
Strukturen zielen, auf „die Herstellung von gerecht-     stimmte ökonomische Verteilungsordnung, wie na-
fertigten sozialen Verhältnissen und Strukturen“.       mentlich den Welthandel und die freien Märkte, als
Demgemäß wird es als die erste Aufgabe der              „universalistisch“ anzusehen. In kritischer Absicht
Gerechtigkeit angesehen, Rechtfertigungsstrukturen      sind sich selbst verabsolutierende, die Eigen-
herzustellen, in denen die Herrschaft der Willkür       ständigkeit und Eigenrationalität eines gesell-
gebannt werden kann, auch entgegen nationaler und        schaftlichen Bereichs verkennende Universalitäts-
internationaler Kraftlinien – „Strukturen, in denen      ansprüche aufzudecken.24 Am Anfang dieser Theo-
diejenigen, die Herrschaft bzw. Beherrschung unter-     rie steht gewiss die Forderung, dass die Betroffenen,
worfen sind, sei die ökonomischer, politischer oder     mithin auch die von der Globalisierung ausge-

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Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

schlossenen Völker, über das Recht verfügen müs-          um die Globalisierung zu steuern? Auch wenn die
sen, selber zu beurteilen, was für sie gerecht ist, und   Reformatoren, deren Wirken anlässlich der 500.
sie in den Stand versetzt werden müssen, ihre Auf-        Wiederkehr des Wittenberger Ereignisses von 1517
fassungen in einen formalen Konsensfindungs-              im Jahr 2017 in das Bewusstsein einer größeren Öf-
prozess einzubringen.                                     fentlichkeit gehoben wurde, keine ausgearbeitete
                                                          Wirtschaftslehre hinterließen, so haben sie doch in
II) Impulse der katholischen und protestantischen         einer Zeit des Umbruchs vom traditionellen Feudal-
    Soziallehre                                           system zum Frühkapitalismus („erste Globali-
                                                          sierung“) moralische Einsichten vermittelt, die auch
Welche Gerechtigkeitskriterien können die evange-         für die Entwicklung der heutigen Arbeitswelt
lische und katholische Soziallehre jenseits der For-
                                   25
                                                          wesentlich sind.26 Durch Martin luthers Zusammen-
derungen der Gerechtigkeits- und Demokratietheorie        schau der geistlichen Berufung mit dem weltlichen
sowie der Wirtschaftsethik als einer Teildisziplin der    Beruf erhielt die säkulare Alltagsarbeit einen sitt-
Ökonomie/Management und der Philosophie in den            lichen Wert. Max Weber hat die „sittliche Qualifizie-
Katalog einer normativen globalen Ethik einstellen,       rung des weltlichen Berufslebens eine der folgen-

                                                                             Staatswissenschaftliches Forum | 11
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

schwersten leistungen der Reformation" genannt.27         III) Parameter einer globalen Ethik
Die Arbeit wird als Bereich verstanden, in dem
Christen gleichermaßen Gott und dem Nächsten di-          In einer normativen globalen Ethik müssten die Pa-
enen können. Diese Sicht stellt bis zum heutigen Tag      rameter der Gerechtigkeit gegenüber diesen über-
hohe ethische Anforderungen an die Ausgestaltung          kommenen Kriterien, die die christliche Soziallehre
und Wertschätzung von bezahlter Erwerbsarbeit wie         mit Blick auf Arbeit und lohn definiert hat, indes
auch von nicht bezahlter Arbeit.                          deutlich erweitert werden. Grundsätzlich fordern die
Diese theologische Interpretation der Stellung des        Verteidiger einer solchen Ethik, dass neben formal
Menschen in der Arbeitswelt widerspricht der heute        korrekten Konsensfindungsprozessen ein hinrei-
weit verbreiteten These, Kirche und Wirtschaft hät-       chend materiales Gerechtigkeitskriterium zugrunde
ten im Zeitalter der Globalisierung nichts miteinan-      gelegt wird, um eine gerechte Institutionenbildung
der zu tun, weil die Wirtschaft unverrückbaren            zu emöglichen. Dies soll die sog. ,,Grundgüterver-
eigenen Regeln zu folgen habe. Die Reformatoren           sorgung" sein, die institutionell zur ethischen Mini-
dachten auch über die Gestaltung der Wirtschaft           malbedingung gemacht wird.
nach. Für sie bleiben Christen auch in diesem Be-
      28
                                                          Zu diesen Grundgütern, die im globalen Kontext als
reich dem liebesgebot verpflichtet. Unter dem Be-         Universalgüter bezeichnet werden, gehören nach
griff der „Billigkeit" geht luther auf die ethische       John Rawls im politischen Sinne leben, Freiheit,
Verantwortung unter Kunden, Kapitalgebern und Ar-         Gleichheit, Bewegungs- und Meinungsfreiheit, glei-
beitnehmern ein. Mit Blick auf „Gesellschaft und          che Chancen, Freiheit von physischen Schmerzen,
Wirtschaft" ist die Soziale Marktwirtschaft weitge-       eine Basis für Selbstachtung. In einem christlichen
hend zum leitbild evangelischer Sozial- und Wirt-         Sinne müssen wir die Würde des Menschen als un-
schaftsethik geworden. Bis heute ist nämlich die Idee     verzichtbaren Wert, ja als normative Bedingung hin-
des sozialen Ausgleichs in den Denkschriften der          nehmen. Zugleich müssen nach Thomas Pogge die
EKD   29
           wie in den mit der katholischen Kirche         Nahrung und andere existentiellen Güter, wenn denn
gemeinsam verantworteten Texten bestimmend ge-            auch ebenso wie etwa das Freiheitsgut der Versamm-
blieben. Die an das Modell der Sozialen Markt-            lungsfreiheit quantitativ und qualitativ limitiert, als
wirtschaft von den christlichen Kirchen angelegten        Universalgüter anerkannt werden.31
Maßstäbe haben sowohl evangelische als auch ka-           Vergessen wir in unserer westlichen Debatte über
tholische Wurzeln und verbinden im Interesse fairer       Globalisierung, also bei dem oftmals festzustellen-
Marktgestaltung die Prinzipien individueller Frei-        den „Jammern auf hohem Niveau" nicht, was uns die
heit, kollektiver Verantwortung sowie der Subsidiari-     Welthungerhilfe täglich anzeigt: 815 Millionen Men-
tät miteinander. Die Kernbotschaft lautet: Auch die       schen hungern in dieser globalisierten Welt, d.h.
Schwächsten müssen am Wohlstand teilhaben kön-            jeder 9. Mensch hat nicht die minimal erforderliche
nen, nicht aus bloßer Barmherzigkeit, sondern als         Nahrungsmenge zur Verfügung, alle zehn Sekunden
Grundsatz der Wirtschaftsordnung selbst.30                stirbt ein Kind an den Folgen von Mangel- und Un-
Aus dem Gedanken von „Gerechtigkeit und Solidari-         terernährung. Dabei gibt es genug Nahrung, Wissen
tät" hat sich u.a. die sogenannte Sozialpartnerschaft     und Mittel, um Hunger auszumerzen.32
entwickelt, die Arbeitgeber und Betriebsräte, Un-         Es kann hier nur angedeutet werden, dass der
ternehmensverbände und Gewerkschaften gemein-             Wirtschaftsethiker K. Homann eine „Weltrahmen-
sam in die Verantwortung für das Gemeinwohl ruft.         ordnung" fordert, um den Hobbes'schen "Krieg aller
Der demokratische Rechtsstaat hat so der Wirtschaft       gegen alle" auszuschließen. Die Theorie der Markt-
einen Rahmen vorgegeben, der die individuelle Ver-        wirtschaft bestätige sogar, ,,dass Wettbewerb ohne
antwortung fördern und alle Beteiligten schützen          ausreichende Rahmenordnung, mit T. Hobbes ge-
soll. Grundlegend bleibt dabei die Fragestellung:         sprochen: Wettbewerb ohne Recht und Moral, mo-
Was ist ein gerechter lohn für gute Arbeit?               delltheoretisch zu einem Zustand führen müsse, in

12 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

dem «the life of man solitary, poore, nasty, brutish,    IV) Einwände gegen einen „ethischen Protektio-
and short»“ sei. Vorrang hat danach die Aufgabe,             nismus“
eine tragfähige, Markt und Wettbewerb produktiv
ausgestaltende Rahmenordnung für die Weltgesell-         Manche Ordoliberale sind gegenüber solchen, unter
schaft zu entwickeln. An einer solchen Ordnung           dem Topos der „Gerechtigkeit" formulierten Forde-
hängt dann nicht nur die Effizienz, sondern auch die     rungen nach ethischer und sozialer Einhegung von
sittliche Qualität der Marktwirtschaft. Der Grund-       Globalisierung skeptisch. Sie geben aus historischer
gedanke lautet nach Homann: ,,Handlungsbegren-           Erfahrung und aktueller Beobachtung zu bedenken:
zungen dienen der Erweiterung und Entfesselung der       In Ängsten vor offenen Märkten und Gesellschaften
Märkte – zum Vorteil der Marktteilnehmer und der         bündeln sich vielfach erneut die bekannten Fehl-
Allgemeinheit."   33
                                                         urteile über die Wirkungen der Wettbewerbsfreiheit
Elke Mack plädiert in einem Beitrag über “Globale        und des Freihandels und die angeblichen Vorteile
Gerechtigkeitskriterien“ in Anknüpfung an John           einer interventionistisch-protektionistischen Wirt-
Rawls für eine globale institutionelle Grundordnung:     schafts- und Außenwirtschaftspolitik. Es entwickele
,,Eine personal ausgerichtete christliche Ethik macht    sich mit einem mächtig aufkommenden „ethischen
die Gerechtigkeit einer institutionellen Ordnung         Protektionismus" eine antiliberale Gegenströmung,
nicht nur am formal gerechten Konsensfindungs-           die von dem Bemühen getragen werde, auf euro-
prozess unter Staaten fest, sondern macht sie ab-        päischer und weltweiter Ebene Elemente des na-
hängig von den Auswirkungen und Folgen für alle          tionalen Wohlfahrtsstaates zu etablieren und mit der
mit Würde ausgestatteten Personen, die bei einem         Internationalisierung des wirtschafts- und sozialpoli-
tieferen Verständnis des Konsensprinzips alle zur        tischen Interventionismus notwendige Reformen im
permanenten und wiederkehrenden Zustimmung               eigenen land zu verschleppen.36 Im Rahmen seiner
zum Weltgesellschaftsvertrag und einer globalen          Möglichkeiten ist, so lautet das Credo der Ordolibe-
Ordnung herangezogen werden müssen."       34
                                                         ralen, der Einzelne für sein eigenes Schicksal ver-
Sollten die Vorschläge von Homann und Mack auf           antwortlich.
eine „global economic governance" zielen, so ist
allerdings schon angesichts der Renaissance der Idee     C. Suche nach zeitgerechten Lösungen
des Staates und des von ihm erwarteten Schutzes zu-
gunsten der in seinen Grenzen lebenden Menschen          Indes schließen sich individuelle Verantwortlichkeit
(Metapher: Der Staat als „Dach") auf die Probleme        des Einzelnen für die Gestaltung seines lebens und
bei der Entwicklung und (institutionellen) Durchset-     ein ethischer Verhaltenskodex, der die Globalisie-
zung der „Standards" eines Weltgesellschaftsver-         rung an die Zuteilung von Grundgütern bindet, nicht
trages hinzuweisen. Solidarität ist der legitimierende   aus. ,,Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das
Grund für staatliche Umverteilung. Vor allem im          Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des
Umverteilungsstaat wird deutlich, dass solidarisches     sozialen Ausgleichs zu verbinden" – so Alfred
Verhalten nur bei einer inneren Verbundenheit der        Müller-Armack, auf den der Begriff der „Sozialen
Glieder einer Gemeinschaft eingefordert werden           Marktwirtschaft" zurückgeht. Die Auflösung des
kann. Jede Umverteilung muss mithin in einer Soli-       Spannungsverhältnisses zwischen Eigenverantwor-
darbeziehung gründen, um mit dem Freiheits-              tung und Solidarität kommt auch in der von den Au-
anspruch des Einzelnen vereinbar zu sein. Als            toren des Jenaer Aufrufs zur Erneuerung der So-
Maxime einer universalen Ethik hat sich der              zialen Marktwirtschaft (2008) formulierten Überzeu-
Gedanke menschheitsumspannender Brüderlichkeit           gung zum Ausdruck, wonach „die Doppelnatur des
gar als unrealisierbar erwiesen, denn kein Mensch        Menschen – frei sein zu wollen, um sich bewähren
kann alle Brüder lieben. Nur über Unterscheidung         zu können, und sich zugleich in einer Gemeinschaft
und Ausgrenzung ist Solidarität praktikabel.    35
                                                         aufgehoben zu wissen und sich auch für sie einzuset-

                                                                             Staatswissenschaftliches Forum | 13
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

zen – […] die Grundlage der Sozialen Markt-             2005) – implementiert werden müssen. Dabei müssen
wirtschaft (ist).“
                 37
                                                        sie die Rahmenordnung auch unter den Bedingun-
Zur Verwirklichung ihrer Grundsätze in Zeiten dis-      gen der Globalisierung zugunsten der Freiheit fix-
ruptiver Umbrüche ist ein stetiges Streben nach         ieren und sozialstaatlich ausgestalten. Dies nicht
gerechten lösungen erforderlich. Sind wir dann,         zuletzt im Sinne von Maßnahmen gegen soziale Aus-
wenn wir uns zu Wettbewerb und sozialer Einhegung       grenzung und Diskriminierung, des sozialen Schut-
als gleichberechtigten Komponenten des Systems          zes, aber auch der „Solidarität und gegenseitigen
der Sozialen Marktwirtschaft bekennen, nicht sogar      Achtung unter den Völkern“ (Art. 3 Abs. 5 EUV:
verpflichtet, über soziale Standards nachzudenken,      Ziele der Union). Demgegenüber obliegt es den
die die Kräfte der Globalisierung bändigen? Solche      Sozialpartnern ihre Verhältnisse in diesem von in-
Standards dürfen freilich nicht unter dem Deckman-      ternationalen Vorgaben überwölbten Rahmen in ge-
tel der Ethik in Protektionismus umschlagen, in eine    meinsamer gesellschaftlicher Verantwortung auch
„Angst vor der Weltwirtschaft“ (W. Röpke) umkip-        für die Folgen der Globalisierung zu regeln.
pen, Fehlurteile über die Wirkungen der Wettbe-         Internationale Nichtregierungsorganisationen wie
werbsfreiheit und des Freihandels nähren und die        Transparency International können zu Triebkräften
vermeintlichen Vorteile einer interventionistischen     solcher Entwicklungen – namentlich bei der Erar-
Politik oder des Unilateralismus preisen. Gefordert     beitung ethischer Standards der Globalisierung –
sind "soziale" Unternehmerpersönlichkeiten!             werden. Doch machen wir uns nichts vor: Das Band
Auf absehbare Zeit werden vornehmlich die Staaten,      der Solidarität, das die Völker verbinden soll, ist
insbesondere in Verbindung mit den Sozialpartnern,      noch schwach. Die Europäische Union, die die Glo-
als Garanten für die Wahrung solcher – teilweise aus    balisierung nach einem gemeinsamen Wertekanon
der Sozialen Marktwirtschaft entlehnten – Standards     gestalten soll, ist hierfür ein beredtes Beispiel. Aus
fungieren müssen. Die Staaten können sich auch zur      der Globalisierung folgt jedoch die Herausforderung,
Bewältigung dieser Aufgabe internationaler Organi-      eine „verantwortungsvolle Weltordnungspolitik" zu
sationen – wie etwa der Internationalen Arbeitsorga-    gestalten (Art. 21 Abs. 2 lit. h EUV). Die Mitglied-
nisation (IlO) oder der im Schoß der General-           staaten der Union haben im Vertrag von lissabon
versammlung der Vereinten Nationen angesiedelten        auch an sich selber den Auftrag erteilt, diese Heraus-
Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) –         forderungen anzugehen.
bedienen, auf die sie einzelne Souveränitätsrechte      Zusammen mit den anderen Mitgliedern der interna-
übertragen können. Ob internationale Verträge das       tionalen Gemeinschaft werden sie zu einer Verant-
Sozialdumping verhindern können, ist allerdings         wortungsgemeinschaft zusammenwachsen müssen,
bezweifelt worden. Grundlegende Schutzstandards         um auch Forderungen von „Global Justice" zu er-
können sie – wie im Übereinkommen über die              füllen. Wie diese Gemeinschaft institutionell aus-
Rechts des Kindes (1989 – Art. 28: Recht des Kindes     gestaltet sein wird, ob etwa neben die bestehenden
auf Bildung; Art 32: Schutz vor wirtschaftlicher und    Internationalen Organisationen neue hinzutreten,
sozialer Ausbeutung) – in rechtsverbindlicher Weise     lässt sich nicht vorhersagen. Globalisierung muss
setzen; ihre Wirksamkeit hängt indes von der Kon-       aber auf allen Ebenen gestaltet werden; für uns Euro-
trolle der Vertragsstaaten ab.                          päer ist sie nur europäisch gestaltbar.
Das Prinzip des gerechten lohns, menschenwürdige
Arbeitsbedingungen und die Verfolgung sowie Sank-       Dr. iur. Hermann-Josef Blanke ist Univ.-Professor
tionierung von Korruption, aber auch der Schutz der     für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische
natürlichen, Ressourcen gehören zum Kerngehalt          Integration an der Universität Erfurt und Begründer
von Standards, die von den Staaten – in Umsetzung       sowie Vorsitzender „Staatswissenschaftliches Forum
internationaler Verträge wie dem Übereinkommen          e.V.“.
der Vereinten Nationen gegen Korruption (2003/          __________________________________________

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Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung

1
    M. Ruffert, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV, Kom-          19
                                                                            BP W. Steinmeier, Festakt zum Tag der Deutschen Einheit,
mentar, 5. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 38, mahnt zur Zurückhaltung bei      Mainz, 3.10.2017.
der Annahme, dass das deutsche Modell der Sozialen Marktwirt-          20
                                                                            Vgl. H.-R. Reuter, Grundlagen der Ethik, in W. Huber/T. Meireis/
schaft in der Prägung durch l. Erhard und A. Müller-Armack von         H.-R. Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015,
der EU schlicht übernommen worden sei. Indes ist der ordolibe-         S. 9 (13 f.); T. Jähnichen, Wirtschaftsethik, ebd., S. 331 (337 ff.,
rale Charakter des Binnenmarktes nicht zu übersehen; vgl. H.-J.        370 ff.).
Blanke, The Economic Constitution of the European Union, in            21
                                                                            Vgl. E. Mack, Globale Gerechtigkeitskriterien zur Beurteilung
H.-J. Blanke/St. Mangiameli (Hrsg.), The European Union after          der Entwicklungsrelevanz von Globalisierungsprozessen, in
lisbon, 2012, S. 369 ff. (370 ff., 373 ff.).                           K. Homann/P. Koslowski/Ch. lütge (Hrsg.), Wirtschaftsethik der
2
    Vgl. K. Homann, Ethik in der Marktwirtschaft, 2006 (Roman          Globalisierung, 2005, S. 305, 307 ff.
Herzog Institut), S. 7 ff.                                             22
                                                                            Vgl. R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer
3
    Was ist gerecht?, Untersuchung im Auftrag der Initiative Neue      konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2007, S. 355 f.,
Soziale Marktwirtschaft (INSM), 2013.                                  377 ff.
4
    K. Homann (Anm. 2), S. 21 f.; vgl. auch 0. Issing, Die Deutschen   23
                                                                            R. Forst, Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie: Zur
und die Marktwirtschaft, Vortrag, 9.12.2014: ,,Richten nicht auch      Überwindung von drei Dogmen der politischen Theorie, in P. Niesen
die Deutschen überhöhte Erwartungen an den Staat und nehmen            (Hrsg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, 2012, S. 29,
gleichzeitig die Segnungen der Marktwirtschaft als selbstverständ-     42 ff. (44).
lich hin? Sehen sie den Wettbewerb weniger als Herausforderung         24
                                                                            Vgl. zu diesen und weiteren Fragestellungen das Exzellenz-
denn als Bedrohung des status quo? Fürsorglicher Staat hier – un-      cluster "The Formation of Normative Orders" an der Goethe-Uni-
sozialer Markt dort? Welche Zustimmung würde dieses Motto in           versität Frankfurt am Main; als Erträge dieser Forschung vgl. etwa
einer Umfrage finden?" (http://www.insm-oekonomenblog.de/ l l 926      R. Forst/K. Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen.
-die-deutschen-und-die-marktwirtschaft/)                               Interdisziplinäre Perspektiven, Bd. I, 2011; R. Forst, Normativität
5
    Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die          und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, 2015.
EU der 27 im Jahre 2025 – Überlegungen und Szenarien, l. März          25
                                                                            Vgl. zur katholischen Soziallehre etwa: J. Althammer, Soziale
2017, S. 9 (https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/      Marktwirtschaft und katholische Soziallehre, in Habisch/Küsters/
files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf).                           Uertz (Hrsg): Tradition und Erneuerung der christlichen Sozial-
6
    Entschließung des EP v. 16.02.2017 zur Verbesserung der Ar-        ethik in Zeiten der Modernisierung, 2012, S. 270 ff.
beitsweise der Europäischen Union durch Ausschöpfung des               26
                                                                            Vgl. zu den nachfolgenden ethischen Prinzipien A. Bordne/T.
Potenzials des Vertrags von lissabon, Ziff. AY Ziff. 1.                löffler/K.-U. Gscheidle, Handreichung der KDA Baden und
7
    Europäische Kommission, Reflexionspapier zur sozialen Di-          Württemberg. Die liebe Gottes in den Ordnungen der Welt.
mension Europas, 26. April 2017, S. 6.                                 Evangelische Sozial- und Wirtschaftsethik in der Tradition refor-
8
    Vgl. zu dieser Fragestellung Konrad-Adenauer-Stiftung, Artikel:    matorischer Theologie, ohne Jahresangabe (http://reformation2017.
Ordoliberalismus (https://www.kas.de/web/soziale-marktwirtschaft/      evpfalz.de/fileadmin/user_upload/projekte/reformation2017/dateien/
ordoliberalismus).                                                     Beruf%20und%20Arbeit%20KDA.pdf).
9
    Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16.02.2017       27
                                                                            Vgl. M. Weber, Die protestantische lehre und der Geist des
zur Verbesserung der Funktionsweise der Europäischen Union,            Kapitalismus, in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie,
Ziff. 96.                                                              Bd. I, 1920, S. 72.
10
     Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, S. 7, 11.                          28
                                                                            Vgl. H. Bedford-Strohm, Martin luthers Wirtschaftsethik, in
11
     Europäische Kommission (Anm. 7), S. 23.                           Politische Studien, Themenheft 2/2013 (Die Renaissance des
12
     Chancengleichheit und Zugang zum Arbeitsmarkt (I.), Faire Ar-     Christlich-Sozialen), S. 30 ff.
beitsbedingungen (II.) sowie sozialer Schutz und Inklusion (III.)      29
                                                                            Vgl. etwa die Denkschrift des Rates der EKD, Unternehmeri-
bilden die drei Kapitel des „European Pillar of Social Rights“.        sches Handeln in evangelischer Perspektive, 2008.
13
     Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages,         30
                                                                            Vgl. H. Bedford-Strohm (Anm. 27), S. 42.
Das Werteverständnis von Christentum und Islam vor dem Hinter-         31
                                                                            Th. Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge/MA.
grund der Globalisierung, 2006, S. 5.                                  2002, S. 38, 50 und 195.
14
     „Der Tod ist total demokratisch. Er packt jeden. Interview von    32
                                                                            Vgl. die Website der Welthungerhilfe (https://www.welthunger-
F. Fuhr mit H. Geißler, Welt N 24 v. 07.09.2012 (https://www.          hilfe.de/hunger.html).
welt.de/politik/deutschland/article l 09074 798/Der-Tod-ist-total-     33
                                                                            Vgl. K. Homann (Anm. 2), S. 51.
demokratisch-er-packt-jeden.html).                                     34
                                                                            Mack (Anm. 21), S. 317.
15
     H. Geißler, Was müsste luther heute sagen?, 2015, S. 238.         35
                                                                            Vgl. H.-J. Blanke/St. Pilz, Solidarische Finanzhilfen als lack-
16
     H. Geißler, Interview am 14. Juli 2008 auf «SZ.de».               mustest föderaler Balance in der Europäischen Union, Europa-
17
     Vgl. A. Smith, Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung          recht 2014, S. 541 (543) m. weit. Nachw.
seiner Natur und seiner Ursachen, hg. von H. C. Recktenwald, 2003,     36
                                                                            Konrad-Adenauer-Stiftung (Anm. 8).
S. 582.                                                                37
                                                                            Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung, 60 Jahre Soziale Marktwirt-
18
     Vgl. Achtsamkeit als Trend. "langsamer machen reicht nicht".      schaft, 2008, S. 7 (8).
Interview von E. Thöne mit H. Rosa, Spiegel Online v. 21.03.2016.

                                                                                                  Staatswissenschaftliches Forum | 15
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden

                         Wohlstand für alle:
      Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden

A. Ludwig Erhard als Wegbereiter                          kriegszeit mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder
                                                          bis hin zur Deutschen Einheit. Man sieht dort auch
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie           ludwig Erhard als einen von denen, die über uns
steht seit der Gründung der Bundesrepublik Deutsch-        wachen, damit wir, die Nachfolger, nicht vom richti-
land in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft        gen Wege abkommen.
und ihres Begründers ludwig Erhard. Aus diesem            ludwig Erhard war als erster Minister prägend für
Grund wurde am 15. Juni 2018 aus Anlass 70 Jahre          die Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums, dem
Soziale Marktwirtschaft der größte Tagungsraum des        er von 1949 bis 1963 vorstand. Auch seine Nachfol-
Bundeswirtschaftsministeriums in „ludwig-Erhard-          ger im Amt, haben Wichtiges und Herausragendes
Saal“ umbenannt.                                          geleistet. Und dennoch ist ludwig Erhard unerreicht
Es ist ein kleines Symbol dafür, wie sehr ludwig Er-       und unvergleichlich.
hard unser leben bis heute prägt und wie sehr wir
seinem Erbe verpflichtet sind.                             B. Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch
Der Namenspatron wacht nunmehr über alle Be-                   Marktwirtschaft und soziale Sicherheit
sucher des Saales. In diesem Saal wurden in der
Kaiserzeit die Militärärzte ausgebildet, die hier ihre     Er war nicht der Begründer der Demokratie, aber er
Vorlesungen hörten. In der Weimarer Republik               hat sie in Deutschland durch Wohlstand und Teilhabe
wurde das Gebäude Teil des Reichsarbeitsministeri-        so vieler entscheidend stabilisiert. Er war weder der
ums und nach dem Krieg in der DDR ein Kranken-            Erfinder der Marktwirtschaft noch der Erfinder der
haus. 1999 wurde es dann von dem damaligen                sozialen Sicherheit. Aber er war der Erste, der beide
Wirtschaftsminister Werner Müller in Betrieb ge-          Konzepte zusammengeführt hat. Er hatte den Mut,
nommen. Dabei wurde dieser Saal in einer wunder-           nach Jahren der Zwangsbewirtschaftung während
baren Weise gestaltet mit einem Deckengemälde, das         des 1. Weltkrieges, nach der Katastrophe der Wei-
Vertreter der Politik, der Wirtschaft und der Gesell-     marer Republik und der Weltwirtschaftskrise 1929,
schaft des 20. Jahrhunderts zeigt – ausgehend von         nach der staatlich gelenkten Wirtschaft im National-
der Zeit des Nationalsozialismus über die Nach-           sozialismus und einer erneuten, fast zehn Jahre
                                                          dauernden Periode der Zwangsbewirtschaftung auf
                                                          die Kräfte des Marktes zu setzen und die Soziale
                                                          Marktwirtschaft gegen alle Widerstände in der Praxis
                                                          durchzusetzen, zu verteidigen und zu entwickeln.

                                                           Vielen Millionen Menschen hat ludwig Erhard erst-
                                                          mals in der Geschichte unseres landes Wohlstand
                                                           und privates Glück ermöglicht. Die Teilhabe von
                                                           Menschen, die über Jahrzehnte ausgeschlossen
                                                           waren von dem wirtschaftlichen Fortschritt, den es
                                                           im Kaiserreich ja durchaus gab, aber der nicht allen
                                                           zugutekam – das ist das Verdienst von ludwig Er-
Peter Altmaier ist Bundesminister für Wirtschaft           hard. Und deshalb ist ludwig Erhard ein moderner
und Energie.                                               Held. Ein Held, der seine Schlachten nicht mit Panz-
__________________________________________                ern und Raketen, sondern mit Zigarren und Reden

16 | Staatswissenschaftliches Forum
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden

geführt und gewonnen, der Vertrauen eingeworben           Blaupause für die Soziale Marktwirtschaft. Es gab
hat, nicht nur in eine neue Wirtschaftsordnung, son-     keine Erfahrungen mit einem solchen Wirtschafts-
dern in einen Gesamtstaat.                                modell. Und deshalb war es ein Akt des Mutes, mit
Deshalb wurde 70 Jahre nach der Währungsreform            der Parole „Wohlstand für Alle“ ein ganz neues
1948 die neue Galerie der Bundeswirtschaftsminis-         Wirtschaftsmodell in Wirkung zu setzen.
ter eingeweiht, wo alle gewürdigt werden, die in den      Die zentrale Staatsaufgabe dabei war es, einen Ord-
letzten fast 70 Jahren das Bundeswirtschaftsminis-        nungsrahmen zu setzen, in dem sich die Kräfte des
terium repräsentiert haben – mit ludwig Erhard an         Marktes und des Wettbewerbes entfalten konnten.
einem besonderen und herausragenden Platz.                Freilich musste der Ordnungsrahmen in jeder kon-
Die Währungsreform begann am 20. Juni 1948 und            junkturellen Phase entsprechend den Anforderungen
wurde kurz darauf komplettiert mit der Aufhebung          des Marktgeschehens angepasst und entwickelt wer-
der staatlichen Bewirtschaftung am 24. Juni dessel-       den.
ben Jahres.                                               Bisweilen gab es Perioden, in denen der Erfolg eines
                                                          Ministers davon abhängig war, wie viele Gesetze im
C. Prinzipien des Ordoliberalismus                        Bundestag eingebracht und verabschiedet wurden
                                                          und wie viele Verordnungen sein Ministerium umge-
Das Ende der Zwangsbewirtschaftung war die Ge-            setzt hat. Um dieser Regulierungsflut Grenzen zu
burtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft. Mit diesen      setzen, wurde im Jahre 2005 mit dem Normenkon-
Maßnahmen wurde der Weg geebnet von der Nach-             trollrat erstmals ein Bürokratiekostenmodell einge-
kriegsmangelwirtschaft zum Wirtschaftswunder. Als         führt. Seither werden Gesetze daraufhin überprüft,
die Bezugsscheine weg waren, war auch die Zi-            ob sie mit diesen Vorstellungen übereinstimmen.
garettenwährung weg. Als das neue, stabile Geld in       ludwig Erhard hatte bereits 1957 als zentralen
Umlauf kam, waren auch die sogenannten „Bück-            Grundstein dieses Ordnungsrahmens das Gesetz
waren“ unter den ladentischen verschwunden.              gegen Wettbewerbsbeschränkungen in den Bundes-
Mit diesen Maßnahmen wurde der Weg dazu geeb-            tag eingebracht, wo es im gleichen Jahr verabschie-
net, dass sich die Regale in Rekordzeit füllten, dass    det wurde. Es ist das Grundgesetz der Marktwirt-
die Menschen echtes Geld in den Taschen hatten,          schaft. Der Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es
dass aus Bittstellern Kunden und schließlich aus          ja, das Prinzip der Freiheit des Marktes mit dem des
Kunden Könige wurden.                                     sozialen Ausgleichs zu verbinden.
ludwig Erhard hat mit der Entscheidung zur Ein-           Wir reden heutzutage wie selbstverständlich über
führung der Sozialen Marktwirtschaft die wissen-          den Markt, aber wir machen uns selten klar, worin
schaftlichen Ideen der „Freiburger Schule“ umge-          sein entscheidender Vorteil besteht. In der Planwirt-
setzt, die sich grundlegend vom Manchester-libera-        schaft des Sozialismus oder etwa im chinesischen
lismus des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Der Ordo-      Staatskapitalismus entscheidet der Chef der staat-
liberalismus setzt auf Markt und staatliche Regel-        lichen Planbehörde mit einigen hundert oder tau-
und Rahmengebung gleichermaßen. Dieses Modell             send Beamten darüber, was richtig und falsch ist,
wurde in den 30er Jahren als freiheitliche Alterna-       welche Schuhe in den Regalen stehen und welche
tive zu einem reinen Kapitalismus, aber auch zu na-       Autos produziert werden.
tionalsozialistischen und kommunistischen Ideen           In der Marktwirtschaft dagegen treffen Millionen
einer staatlich gelenkten Planwirtschaft entwickelt.      von Verbraucherinnen und Verbrauchern, von Ar-
Und es hat funktioniert. Das konnte ludwig Erhard         beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Unter-
nicht wissen und diejenigen, wie z.B. sein Wegge-         nehmerinnen und Unternehmern diese Entschei-
fährte Alfred Müller-Armack, die ihm den Weg frei         dungen – dezentral und in eigener Verantwortung.
machten für seine Pläne und Vorhaben, wussten es          Und Millionen von diesen Menschen sind viel klüger
auch nicht. Es war ein Wagnis. Es gab damals keine        als jeder, der allein am grünen Tisch solche Entschei-

                                                                               Staatswissenschaftliches Forum | 17
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden

dungen trifft und herbeiführt.                             sicherung und andere leistungen der sozialen
Wenn beispielsweise der Chef einer zentralen               Sicherheit Fremdwörter sind.
staatlichen Planbehörde einen Fehler begeht, dann          70 Jahre Soziale Marktwirtschaft stehen für Wachs-
müssen Millionen von Menschen dafür büßen. Wenn            tum, Wohlstand und Teilhabe – gerade in Ausnah-
ein Unternehmer in der Marktwirtschaft einen Fehler        mesituationen. Diese Elemente im demokratisch
begeht, dann wird er möglicherweise Umsatz- und            verfassten Staatswesen haben sich bewährt in der
Gewinneinbußen erleiden oder vom Markt ver-                Wiedervereinigung und in der Finanzkrise 2007 und
schwinden. Dieses Risiko geht er bewusst ein und           danach. Vergleichen wir nur die Finanzkrise Ende
mit diesem Risiko muss er leben. Aber andere wer-         der zwanziger Jahre, mit dem „Schwarzen Freitag“
den von seinen Fehlern profitieren oder werden seine      an der New Yorker Börse 1929, der verheerende Ar-
Fehler in der Zukunft vermeiden.                           beitslosigkeit und politische Destabilisierung bewirkt
Die Teilhabe aller, die in der sozialen Verpflichtung      hat, mit der Banken- und Börsenkrise des Jahres
des Eigentums begründet liegt, das war ein Verdienst       2008 und 2009: In dieser Krise brach das Wirt-
von Konrad Adenauer, der als erster Nachkriegs-            schaftswachstum weltweit wesentlich tiefer ein als
regierungschef eine hervorragende Symbiose mit            während der „Großen Depression“ 1929 und die Jahre
ludwig Erhard, seinem Wirtschaftsminister, einge-          danach. Trotzdem konnten wir nach 2009 die Aus-
gangen war. ludwig Erhard hat das Wirtschafts-             wirkungen viel schneller überwinden und die Stabi-
wachstum begründet, Finanzminister Fritz Schäffer          lität unseres landes und seiner Wirtschaft bewahren.
hat das Steueraufkommen, das in die Steuerkassen           Deshalb müssen wir die Soziale Marktwirtschaft
floss, gut und zinsbringend angelegt, aber auch in die     heutzutage nicht neu erfinden – sie hat sich nach
Infrastruktur investiert und damit die Wettbewerbs-        1948 stets bewährt. Wir müssen sie jedoch in jeder
fähigkeit des landes gestärkt, den Wiederaufbau, die       Generation neu verteidigen, neu bewerben und neu
soziale Teilhabe und den sozialen Ausgleich vor-           durchsetzen, weil es nicht selbstverständlich ist, dass
angebracht.                                                80 Millionen Bürgerinnen und Bürger jeden Tag
Dieses Modell bestimmt die Wirtschafts- und                darüber nachdenken, was die Voraussetzungen un-
Gesellschaftspolitik bis heute: die Montanmitbe-           seres Wohlstandes eigentlich ausmachen.
stimmung, der lastenausgleich, die dynamische
Rente in den fünfziger Jahren und die Pflegever-           E. Herausforderungen an der Schwelle zur
sicherung als vorläufiger Schlussstein in den neun-            digitalen Gesellschaft
ziger Jahren. Dies alles wurde geschaffen, um
angesichts der demografischen Veränderungen Prob-          Wir stehen nunmehr an der Schwelle zur digitalen
leme für die arbeitende Bevölkerung im aktiven Er-        Gesellschaft und müssen dafür sorgen, und klar
werbsleben zu vermeiden.                                  darüber werden, was wir angesichts der vierten in-
                                                          dustriellen Revolution in der Zukunft erreichen
D. Die Soziale Marktwirtschaft als Modell für             wollen. lassen Sie mich abschließend dies in sechs
    Europa und die Welt                                   Thesen skizzieren:

Die Ausstrahlung der Sozialen Marktwirtschaft geht        Erstens: Staatseingriffe begrenzen und Leistungs-
über unsere Grenzen hinaus. Wir sprechen heute            gerechtigkeit fördern
vom europäischen Sozialmodell. Dieses europäische         Wir müssen wieder mehr Freiheit für private Un-
Sozialmodell ist einzigartig in der Welt. Noch heute       ternehmen, für privates Unternehmertum erarbeiten.
gibt es länder in Afrika, Asien und lateinamerika, in      Es ist keine gute Entwicklung, wenn die Zahl der
denen es keine gesetzliche Krankenversicherung für         Menschen, die sich selbstständig machen, zurzeit
alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Noch heute gibt          rückläufig ist. Gewiss, angesichts des boomenden
es länder, in denen Rentenversicherung, Unfallver-         Arbeitsmarkts gibt es viele attraktive Angebote für

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