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Rechtfertigungskrise der Sozialen Marktwirtschaft und Global Justice: Voraussetzungen einer sozialen Globalisierung? Staatswissenschaftliches Forum e.V. Tagungsberichte 4/2018
SWF Staatswissenschaftliches Forum e.V. Rechtfertigungskrise der Sozialen Marktwirtschaft und Global Justice: Voraussetzungen einer sozialen Globalisierung? Staatswissenschaftliches Forum e.V. Tagungsberichte 4/2018
Impressum _________________________ S|W|F| Tagungsberichte 4/2018, 4. Jahrgang HERAUSGEBER Univ.-Prof. Dr. Herm.-J. Blanke Prof. Gerald Grusser REDAKTION Robert Conrad, M.A. Staatswissenschaftliches Forum e.V. c/o Universität Erfurt Postfach 900221 99105 Erfurt Telefon: +49 361 737-4750 Fax: +49 361 737-4709 info@swf-forum.de Dr. Dr. Dietmar Görgmaier, M.A. Industrie- und Handelskammer Erfurt Arnstädter Straße 34 99096 Erfurt Telefon: +49 361 3484-404 BIlDNACHWEIS Seiten: 7, 10, 19, 20, 35 ,51, 63, 64, 67, 73, 81, 89 (© iStockPhoto) DRUCK Druckhaus Gera GmbH _________________________ ISSN 2509-7032 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Industrie- und Handelskammer Erfurt. 4 | Staatswissenschaftliches Forum
Inhalt S|W|F| Tagungsberichte | Ausgabe 4 | 2018 01 Die Soziale Marktwirtschaft als Modell eines sozialen Ausgleichs in der Globalisierung 6 Hermann-Josef Blanke 02 Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden 16 Peter Altmaier 03 Die Notwendigkeit eines globalen Gesellschaftsvertrags: Ein wirtschafts- und sozialethischer Beitrag 22 Elke Mack 04 Globale Institutionen für eine soziale Globalisierung 32 Hermann Sautter 05 Modell der Sozialen Marktwirtschaft als Blaupause für eine soziale Globalisierung? 44 Andreas Freytag 06 Internationaler Wettbewerb und soziale Verantwortung der Unternehmen: zur Kompatibilität 50 Edda Müller 07 Globalisierung unter Beschuss: Eine Bestandsaufnahme des Freihandels 54 Jens Südekum 08 Globale Ungleichgewichte im Außenhandel und der deutsche Exportüberschuss 62 Christoph van Treeck 09 landnahme: Finanzialisierte Unternehmen in transnationalen Wertschöpfungsketten 70 Klaus Dörre 10 Globalisierung und soziale Gerechtigkeit – Herausforderungen für die Evangelischen Kirchen im lutherischen Weltbund 78 Christine Lieberknecht 11 Eine lutherische Ermutigung zu wirtschaftlicher Freiheit und Verantwortung 84 Thomas A. Seidel 12 Schlussfolgerungen 88 Gerald Grusser Staatswissenschaftliches Forum | 5
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung Die Soziale Marktwirtschaft als Modell eines sozialen Ausgleichs in der Globalisierung A. Soziale Marktwirtschaft: licher Wohlstand bei bestmöglicher sozialer Absiche- Anspruch, Ziel und Komponenten rung. Der Staat verhält sich aus diesem Grund nicht passiv, sondern greift aktiv in das Wirtschaftsgesche- Zu den normativen Orientierungen Europas gehören hen z. B. durch konjunkturpolitische, wettbewerbs- Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Markt- politische und sozialpolitische Maßnahmen ein. wirtschaft. Zusammen mit Alfred Müller-Armack ent- Eingriffe des Staates in die Wirtschaft erfolgen im all- warf ludwig Erhardt in den 1940er-Jahren das Kon- gemeinen Interesse und in solchen Bereichen, in zept der sozialen Marktwirtschaft für das Nachkriegs- denen Anbieter oder Nachfrager durch angepasste, deutschland, das er dann als erster Bundeswirtschafts- marktwirtschaftlich vertretbare Maßnahmen geschützt minister (1949 bis 1963) unter Bundeskanzler Konrad werden müssen (z. B. beim Verbraucherschutz oder Adenauer erfolgreich implementierte. Deutschland bei der Wettbewerbsgesetzgebung). Hier nähern wir wurde zur Geburtsstätte des “rheinischen Kapitalis- uns der Frage einer Übertragbarkeit der sozialen Ein- mus”. Seit über einem Jahrzehnt ist das Ziel einer „in hegung der Marktwirtschaft auf den Prozess der Glo- hohem Maße wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirt- balisierung. Doch wenn dies als Ziel formuliert wer- schaft“ im Vertrag über die Europäische Union (2007/ den soll, dann müsste das Konzept der Sozialen Markt- 2009) verankert (Art. 3 Abs. 3 EUV). Sie entfaltet 1 wirtschaft insgesamt – also in seinen wettbewerbli- sich vor allem im Binnenmarkt. chen und sozialen Komponenten – zumindest in Die Soziale Marktwirtschaft baut zwar auf Elementen seinem Geburtsland Akzeptanz finden. der freien Marktwirtschaft auf, ist aber in der tatsäch- lichen Ausgestaltung durch die wirtschaftstheoreti- I) Ambivalente Einstellungen zur Sozialen Markt- schen Vorstellungen des Neoliberalismus und des wirtschaft Ordoliberalismus vor allem vom Nationalökonomen Walter Eucken (1891-1950) und der Freiburger Schule Bereits im Jahr 2006 publizierte der Münchener geprägt. Eine der wichtigsten Aufgaben des Staates in Wirtschaftsethiker und Philosoph Karl Homann ein der Sozialen Marktwirtschaft ist die Schaffung eines Papier, in dem er ausführte, dass mehr als die Hälfte rechtlichen Rahmens, innerhalb dessen sich das der deutschen Bevölkerung Markt und Wettbewerb wirtschaftliche Handeln abspielen kann. Dazu zählen laut Umfragen ablehne.2 Tatsächlich belegt eine Al- die Sicherung persönlicher Freiheitsrechte wie etwa lensbacher Umfrage aus dem Jahre 2013 die Am- das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung und die bivalenz in der Einstellung der Deutschen gegenüber Möglichkeit, ein selbstständiges Gewerbe gründen zu der Marktwirtschaft: Hier verbanden zwar 81 % der können, das Privateigentum an den Produktionsmit- Befragten mit einem staatlich organisierten Wirt- teln, aber auch das Recht, Vereinigungen zur Wahrung schaftssystem – also einer Planwirtschaft – „Büro- wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu bilden. kratie“, 51 % unter ihnen attestierten einem solchen Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft ist es, die System aber „Sicherheit“ und 43 % sogar „soziale Vorteile in der freien Marktwirtschaft wie wirtschaft- Gerechtigkeit“ als positive Begleiterscheinungen liche leistungsfähigkeit oder hohe Güterversorgung (gegenüber 31 % bzw. 12 % hinsichtlich des markt- zu verwirklichen, gleichzeitig aber deren Nachteile wirtschaftlichen Wirtschaftsmodells).3 Die Markt- wie zerstörerischen Wettbewerb, die Ballung wirt- wirtschaft gelte, so Homann, als unsolidarisch und schaftlicher Macht oder unsoziale Auswirkungen von moralisch bedenklich. Sie werde in Deutschland Marktprozessen (z. B. Arbeitslosigkeit) zu vermeiden. durchweg mit dem Argument gerechtfertigt, dass sie Das Ziel dieser Ordnung ist deshalb ein größtmög- erst der Zusatz des „Sozialen“ ethisch akzeptabel 6 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung mache. Sozialer Sicherung und Umverteilung werde Globalisierung genannt.6 In ihrem Reflexionspapier die Funktion zugeschrieben, die Wunden zu heilen, „Die Globalisierung meistern" führte die Europäische die Markt und Wettbewerb schlagen. Sozialpolitik und Kommission sodann aus, dass „der Begriff «soziales Wohlfahrtsstaat würden als ethisch geforderte Kor- Europa» [für manche] eine leere Worthülse [sei]: Sie rektur der Marktergebnisse angesehen; also führe das sehen die EU als Katalysator für globale Marktkräfte Attribut „sozial" zur Forderung nach einer Sozialpoli- und Vehikel kommerzieller Interessen und befürchten, tik gegen den Markt. Diese problematische Sicht des der unbegrenzte Binnenmarkt könne zu «Sozial- „Sozialen" in der Sozialen Marktwirtschaft erklärt dumping» führen."7 Kann also noch von einer hinrei- sich wohl teilweise aus der Entstehung der sozialen chenden Zahl von Staaten oder Staatengemein- Sicherungssysteme als Antwort auf die „soziale schaften (wie der EU) ausgegangen werden, die im Frage" im 19. Jahrhundert. 4 Innern beständig eine Zustimmung der Bevölkerung Mit Blick auf die Entwicklungen in der Europäischen zur Wettbewerbsfreiheit aufweisen und die auf der Union stellt die Europäische Kommission im Grundlage einer solchen Tradition verlässlich „Weißbuch zur Zukunft Europas" (2017) fest, dass Maßstäbe im Wettbewerb der Systeme für andere „zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ... die Regierungen setzen?8 Gefahr [bestehe], dass es der heutigen Jugend Vor allem die Finanzkrise und die damit verbundene schlechter gehen [werde] als ihren Eltern ... Diese Ent- Banken- und Eurokrise – in Europa ausgelöst durch wicklungen [hätten] Zweifel gesät und dazu geführt, die (seinerzeit) hoch verschuldeten Euroländer Por- dass die Soziale Marktwirtschaft der EU und ihr Ver- tugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien sprechen, niemanden zurückzulassen und dafür zu (PIIGS) – haben seit 2010 erheblich dazu beigetra- sorgen, dass es jeder Generation besser geht als der gen, dass mancher Europäer, darunter auch mancher vorigen, hinterfragt [würden]... Es [werde] in den Deutscher, erstmals glaubte, in den sozialen Abgrund kommenden Jahren sicher nicht einfacher, die Inklu- zu schauen. Diese Verunsicherung – verbunden mit sivität, Wettbewerbsfähigkeit und Widerstands- einem Verlust des Vertrauens in eine „immer bessere fähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken und Zukunft“ für künftige Generationen – ist zu einer sie besser für die Zukunft zu rüsten."5 bleibenden Erfahrung für jene geworden, die inzwi- Bereits zuvor hatte das Europäische Parlament unter schen, auch jenseits des Atlantiks, den nationalen den „nie dagewesenen Herausforderungen" auch die rechtspopulistischen Parteien zulaufen. Staatswissenschaftliches Forum | 7
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung II) Bestrebungen einer Renaissance tik. Durch die Betonung des sozialen Ausgleichs markiert der Katalog gleichwohl – wie bereits die In einer Entschließung vom 16. Februar 2017 fordert rechtsverbindliche Charta der sozialen Rechte des Eu- das Europäische Parlament den Abschluss eines roparates (1961 und 1996) – den bewussten Gegensatz neuen Sozialpakts (etwa in der Form eines Sozial- zur sozioökonomischen Struktur der Vereinigten protokolls), mit dem die Soziale Marktwirtschaft in Staaten von Amerika. Der entscheidende Faktor für die Europa gefördert und Ungleichheiten verringert wer- Sozialpolitik der Mitgliedstaaten bleibt jedoch bei den sollen. Dabei sollen die Grundrechte aller einer verantwortlichen Haushaltspolitik die Potenz der Bürger, auch die wirtschaftliche Vereinigungsfrei- nationalen Volkswirtschaften und eine nachhaltige heit, also nicht zuletzt das Recht, Tarifverhandlun- Steuerpolitik. gen zu führen und Tarifvereinbarungen zu treffen, Anzumerken ist, dass die Union im Jahr 2006 einen sowie das Recht auf Freizügigkeit, gesichert werden. 9 kleinen Globalisierungsfonds eingerichtet hat, der Auch die Koalitionäre im Bund haben in ihrem Ver- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen trag vom 7. Februar 2018 festgestellt, dass „die soll, die von der Schließung oder Umsiedlung ihrer Soziale Marktwirtschaft, die auf Unternehmensver- Fabriken infolge der Globalisierung betroffen sind. antwortung, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung Das maximale Budget dieses Fonds für die Anpas- und einer fairen Verteilung des erwirtschafteten sung an die Globalisierung liegt bei nur 150 Mio. Wohlstands beruht, […] eine Renaissance (braucht), Euro jährlich. gerade in Zeiten der Digitalisierung“. Innovations- kräfte sollen freigesetzt und das Wohlstands- und III) Die sozialen Folgen der Globalisierung Sicherheitsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter erneuert werden.10 Dies korres- Die Debatte um die Globalisierung, also die Inten- pondiert zu dem Ansatz der Europäischen Kommis- sivierung und Beschleunigung grenzüberschreiten- sion, die in der „Konvergenz sozialer Standards ein der Transaktionen bei deren gleichzeitiger räum- wesentliches Merkmal einer fairen Globalisierung“ licher Ausdehnung,13 hat zwei Seiten: Zum einen sieht.11 sind die wirtschaftlichen Folgen zu betrachten, ins- Um den auf die Europäische Union zurückfallenden besondere für die Faktormärkte und die Technolo- Verdruss von Arbeitnehmern über Defizite im System gieentwicklung, die einst längere Phasen des Auf- der sozialen Sicherheit zu mindern, haben die Präsi- schwungs, ein inflationsfreies Wachstum bei nied- denten des Europäischen Parlaments, des Rates der Eu- riger Arbeitslosigkeit und hoher Produktivität ver- ropäischen Union sowie der Europäischen Kommis- hießen. Angesichts der Digitalisierung von Arbeits- sion im November 2017 eine sog. „Europäische Säule prozessen (Industrie 4.0) scheint die Perspektive der sozialen Rechte“ proklamiert. Dieser Katalog bein- einer niedrigen Arbeitslosigkeit als Effekt der Glo- haltet im Zeichen eines europäischen Sozialmodells balisierung inzwischen zu schrumpfen. Zum anderen eine lange liste all jener sozialen Errungenschaften, sind die sozialen Auswirkungen der Globalisierung die Armut verhindern, soziale Teilhabe ermöglichen, in den Blick zu nehmen, also Szenarien von einem Beschäftigung garantieren, Gleichberechtigung her- möglichen Ende der souveränen Handlungsfähigkeit stellen und Chancen eröffnen sollen. Die Zuständig- 12 des Nationalstaates und einer Krise der sozialen keit für die Sozialpolitik liegt indes überwiegend bei Sicherungsmechanismen. den Mitgliedstaaten, so dass ihnen auch die Umsetzung So hat Heiner Geißler, in seinen späten Jahren ein der Mehrzahl dieser „Rechte“ obliegt; dabei müssen streitbarer Vertreter des Netzwerkes Attac, im Jahr die Mitgliedstaaten ihrerseits auf die Autonomie der 2012 beklagt, dass „Rentenpolitik ... ein Opfer der Sozialpartner Rücksicht nehmen. Deshalb handelt es Ökonomisierung unserer Gesellschaft geworden sich bei diesem Kompendium aller jemals in Europa ist."14 In seiner 2015 erschienen Schrift „Was müsste erdachten sozialen Rechte eher um symbolische Poli- luther heute sagen?" schreibt Geißler: ,,Die vor- 8 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung herrschende Wirtschaftsideologie ökonomisiert auf der Volksbefragungen die für ihre Ergebnisse aus- Welt die ganze Gesellschaft einschließlich der schlaggebenden Motivbündel nicht vorschnell auf Kirchen." Dieser Gedanke der Ökonomisierung aller 15 die Angst vor der Globalisierung reduzieren sollten, lebensbereiche, getragen von der Einsicht des Jesui- doch scheint die Entscheidung einer knappen Mehr- tenschülers, dass „der Kapitalismus [...] genauso falsch heit der Briten für den Brexit auch ein Beleg für [sei] wie der Kommunismus", zieht sich wie ein roter 16 empfundene Entfremdung, ja Überfremdung gerade Faden durch seine Interviews, Auftritte und Publika- im Arbeitsleben zu sein. tionen in den letzten zehn Jahren seines lebens. Schauen wir aber nicht allein auf die von Teilen der Industriebevölkerung so wahrgenommenen nega- IV) (Empfundene) Globalisierungsverluste und tiven Effekte der Globalisierung. Globalisierung ist vorenthaltene Globalisierungschancen primär ein Problem der Exklusion unterentwickelter Ökonomien (in Südafrika oder Teilen Südasiens), die Die Globalisierungsskeptiker und -kritiker verlangen entweder keine Rechtssicherheit für Investitionen eine "Bändigung" des "Neoliberalismus", worunter bieten oder keine Tauschgüter besitzen, die für trans- sie einen Schutz weiter Bereiche vor dem Weltmarkt nationale Unternehmen von Interesse sein könnten, um und dem Wettbewerb verstehen. Mit der zu beob- transnationale Geschäfte („Interaktion“) abzuschlie- achtenden starken ordnungspolitischen Eigendyna- ßen. Diese länder sind – auch wegen des Mangels an mik der Globalisierung scheint sich (für sie) die "Humankapital" – von den unbestreitbaren Vorteilen Auffassung von Adam Smith zu bestätigen, nach der der Globalisierung vollständig ausgeschlossen. das Marktsystem, wenn „alle Systeme der Begünsti- gung und der Beschränkung“ einmal aufgegeben B. Wirtschaftsethische Maßstäbe für die Globa- sind, als „einsichtiges und einfaches System der lisierung natürlichen Freiheit" 17 sämtliche konkurrierenden Ordnungen verdrängt. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten höchst Auch angesichts eines Prozesses empfundener Ent- zwiespältigen Einschätzung der Sozialen Markt- fremdung, ja „Entheimatung“ im eigenen land er- wirtschaft seitens der Deutschen und anderer Euro- fahren der Begriff und wohl auch das Gefühl für päer – ja zum fürsorglichen Staat, aber nein zum Heimat eine Renaissance. Heimat wird „nicht nur als unsozialen Markt – sowie der Furcht vieler Men- physische Konnotation, sondern als Idee, als Weltan- schen in Westeuropa vor der Globalisierung nimmt schauung [verstanden], die zu mir passt, als politi- es nicht wunder, dass als Grund für das aktuell sche, berufliche, familiäre Heimat".18 Am Tag der gestiegene Interesse an Ethik eben dieses Phänomen – deutschen Einheit (2017) hat Bundespräsident Stein- nicht zuletzt die Internationalisierung der Güter- und meier erklärt, wer sich nach Heimat sehne, sei nicht Kapitalmärkte, jüngst vermehrt auch die Konse- von gestern. Damit verbindet er in seiner politischen quenzen des globalen Prozesses „Industrie 4.0" für Botschaft „die Sehnsucht […] nach Sicherheit, nach die Arbeitsplätze – genannt wird.20 Die negative Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Konnotation von Globalisierung ergibt sich insbeson- Dingen Anerkennung“. Cem Özdemir und sodann 19 dere daraus, dass der Faktor Kapital nicht nur Macht Katrin Göring-Eckart sind ihm in dieser Ein- über den Faktor Arbeit, sondern zunehmend auch schätzung überaschenderweise gefolgt. Auch wenn über die Politik gewinnt oder bereits gewonnen hat. die Neubesetzung dieses Begriffs primär gegen den Rechtspopulismus in Deutschland gerichtet ist, gerät I) Normative Gerechtigkeitskriterien „Heimat" zum Stimulans, Versprechen und Erklä- rungsangebot, die fast alle lebensbereiche, darunter Für die Sozialethik wird angesichts der empirischen selbstredend die Welt der Arbeit, erfassen. Datenlage die Frage gestellt, welche Gerechtigkeits- Zutreffend ist betont worden, dass Analytiker von kriterien es gebe, um die Entwicklungsrelevanz des Staatswissenschaftliches Forum | 9
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung derzeitigen Globalisierungsprozesses ethisch zu be- rechtlicher Natur, gegenüber denen, die diese Herr- urteilen: positiv wie negativ.21 schaft ausüben, den «Zwang zum besseren Argu- Nach einer auf J. Rawls (A Theory of Justice) und ment» geltend machen können“.23 J. Habermas gründenden normativen „Theorie fun- Die Trias der Ideale von transnationaler Gerech- damentaler transnationaler Gerechtigkeit“ soll Ge- 22 tigkeit, Demokratie und Frieden bildet den Rahmen, rechtigkeit auf intersubjektive Verhältnisse und um zu bestimmen, was es genau heißt, eine be- Strukturen zielen, auf „die Herstellung von gerecht- stimmte ökonomische Verteilungsordnung, wie na- fertigten sozialen Verhältnissen und Strukturen“. mentlich den Welthandel und die freien Märkte, als Demgemäß wird es als die erste Aufgabe der „universalistisch“ anzusehen. In kritischer Absicht Gerechtigkeit angesehen, Rechtfertigungsstrukturen sind sich selbst verabsolutierende, die Eigen- herzustellen, in denen die Herrschaft der Willkür ständigkeit und Eigenrationalität eines gesell- gebannt werden kann, auch entgegen nationaler und schaftlichen Bereichs verkennende Universalitäts- internationaler Kraftlinien – „Strukturen, in denen ansprüche aufzudecken.24 Am Anfang dieser Theo- diejenigen, die Herrschaft bzw. Beherrschung unter- rie steht gewiss die Forderung, dass die Betroffenen, worfen sind, sei die ökonomischer, politischer oder mithin auch die von der Globalisierung ausge- 10 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung schlossenen Völker, über das Recht verfügen müs- um die Globalisierung zu steuern? Auch wenn die sen, selber zu beurteilen, was für sie gerecht ist, und Reformatoren, deren Wirken anlässlich der 500. sie in den Stand versetzt werden müssen, ihre Auf- Wiederkehr des Wittenberger Ereignisses von 1517 fassungen in einen formalen Konsensfindungs- im Jahr 2017 in das Bewusstsein einer größeren Öf- prozess einzubringen. fentlichkeit gehoben wurde, keine ausgearbeitete Wirtschaftslehre hinterließen, so haben sie doch in II) Impulse der katholischen und protestantischen einer Zeit des Umbruchs vom traditionellen Feudal- Soziallehre system zum Frühkapitalismus („erste Globali- sierung“) moralische Einsichten vermittelt, die auch Welche Gerechtigkeitskriterien können die evange- für die Entwicklung der heutigen Arbeitswelt lische und katholische Soziallehre jenseits der For- 25 wesentlich sind.26 Durch Martin luthers Zusammen- derungen der Gerechtigkeits- und Demokratietheorie schau der geistlichen Berufung mit dem weltlichen sowie der Wirtschaftsethik als einer Teildisziplin der Beruf erhielt die säkulare Alltagsarbeit einen sitt- Ökonomie/Management und der Philosophie in den lichen Wert. Max Weber hat die „sittliche Qualifizie- Katalog einer normativen globalen Ethik einstellen, rung des weltlichen Berufslebens eine der folgen- Staatswissenschaftliches Forum | 11
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung schwersten leistungen der Reformation" genannt.27 III) Parameter einer globalen Ethik Die Arbeit wird als Bereich verstanden, in dem Christen gleichermaßen Gott und dem Nächsten di- In einer normativen globalen Ethik müssten die Pa- enen können. Diese Sicht stellt bis zum heutigen Tag rameter der Gerechtigkeit gegenüber diesen über- hohe ethische Anforderungen an die Ausgestaltung kommenen Kriterien, die die christliche Soziallehre und Wertschätzung von bezahlter Erwerbsarbeit wie mit Blick auf Arbeit und lohn definiert hat, indes auch von nicht bezahlter Arbeit. deutlich erweitert werden. Grundsätzlich fordern die Diese theologische Interpretation der Stellung des Verteidiger einer solchen Ethik, dass neben formal Menschen in der Arbeitswelt widerspricht der heute korrekten Konsensfindungsprozessen ein hinrei- weit verbreiteten These, Kirche und Wirtschaft hät- chend materiales Gerechtigkeitskriterium zugrunde ten im Zeitalter der Globalisierung nichts miteinan- gelegt wird, um eine gerechte Institutionenbildung der zu tun, weil die Wirtschaft unverrückbaren zu emöglichen. Dies soll die sog. ,,Grundgüterver- eigenen Regeln zu folgen habe. Die Reformatoren sorgung" sein, die institutionell zur ethischen Mini- dachten auch über die Gestaltung der Wirtschaft malbedingung gemacht wird. nach. Für sie bleiben Christen auch in diesem Be- 28 Zu diesen Grundgütern, die im globalen Kontext als reich dem liebesgebot verpflichtet. Unter dem Be- Universalgüter bezeichnet werden, gehören nach griff der „Billigkeit" geht luther auf die ethische John Rawls im politischen Sinne leben, Freiheit, Verantwortung unter Kunden, Kapitalgebern und Ar- Gleichheit, Bewegungs- und Meinungsfreiheit, glei- beitnehmern ein. Mit Blick auf „Gesellschaft und che Chancen, Freiheit von physischen Schmerzen, Wirtschaft" ist die Soziale Marktwirtschaft weitge- eine Basis für Selbstachtung. In einem christlichen hend zum leitbild evangelischer Sozial- und Wirt- Sinne müssen wir die Würde des Menschen als un- schaftsethik geworden. Bis heute ist nämlich die Idee verzichtbaren Wert, ja als normative Bedingung hin- des sozialen Ausgleichs in den Denkschriften der nehmen. Zugleich müssen nach Thomas Pogge die EKD 29 wie in den mit der katholischen Kirche Nahrung und andere existentiellen Güter, wenn denn gemeinsam verantworteten Texten bestimmend ge- auch ebenso wie etwa das Freiheitsgut der Versamm- blieben. Die an das Modell der Sozialen Markt- lungsfreiheit quantitativ und qualitativ limitiert, als wirtschaft von den christlichen Kirchen angelegten Universalgüter anerkannt werden.31 Maßstäbe haben sowohl evangelische als auch ka- Vergessen wir in unserer westlichen Debatte über tholische Wurzeln und verbinden im Interesse fairer Globalisierung, also bei dem oftmals festzustellen- Marktgestaltung die Prinzipien individueller Frei- den „Jammern auf hohem Niveau" nicht, was uns die heit, kollektiver Verantwortung sowie der Subsidiari- Welthungerhilfe täglich anzeigt: 815 Millionen Men- tät miteinander. Die Kernbotschaft lautet: Auch die schen hungern in dieser globalisierten Welt, d.h. Schwächsten müssen am Wohlstand teilhaben kön- jeder 9. Mensch hat nicht die minimal erforderliche nen, nicht aus bloßer Barmherzigkeit, sondern als Nahrungsmenge zur Verfügung, alle zehn Sekunden Grundsatz der Wirtschaftsordnung selbst.30 stirbt ein Kind an den Folgen von Mangel- und Un- Aus dem Gedanken von „Gerechtigkeit und Solidari- terernährung. Dabei gibt es genug Nahrung, Wissen tät" hat sich u.a. die sogenannte Sozialpartnerschaft und Mittel, um Hunger auszumerzen.32 entwickelt, die Arbeitgeber und Betriebsräte, Un- Es kann hier nur angedeutet werden, dass der ternehmensverbände und Gewerkschaften gemein- Wirtschaftsethiker K. Homann eine „Weltrahmen- sam in die Verantwortung für das Gemeinwohl ruft. ordnung" fordert, um den Hobbes'schen "Krieg aller Der demokratische Rechtsstaat hat so der Wirtschaft gegen alle" auszuschließen. Die Theorie der Markt- einen Rahmen vorgegeben, der die individuelle Ver- wirtschaft bestätige sogar, ,,dass Wettbewerb ohne antwortung fördern und alle Beteiligten schützen ausreichende Rahmenordnung, mit T. Hobbes ge- soll. Grundlegend bleibt dabei die Fragestellung: sprochen: Wettbewerb ohne Recht und Moral, mo- Was ist ein gerechter lohn für gute Arbeit? delltheoretisch zu einem Zustand führen müsse, in 12 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung dem «the life of man solitary, poore, nasty, brutish, IV) Einwände gegen einen „ethischen Protektio- and short»“ sei. Vorrang hat danach die Aufgabe, nismus“ eine tragfähige, Markt und Wettbewerb produktiv ausgestaltende Rahmenordnung für die Weltgesell- Manche Ordoliberale sind gegenüber solchen, unter schaft zu entwickeln. An einer solchen Ordnung dem Topos der „Gerechtigkeit" formulierten Forde- hängt dann nicht nur die Effizienz, sondern auch die rungen nach ethischer und sozialer Einhegung von sittliche Qualität der Marktwirtschaft. Der Grund- Globalisierung skeptisch. Sie geben aus historischer gedanke lautet nach Homann: ,,Handlungsbegren- Erfahrung und aktueller Beobachtung zu bedenken: zungen dienen der Erweiterung und Entfesselung der In Ängsten vor offenen Märkten und Gesellschaften Märkte – zum Vorteil der Marktteilnehmer und der bündeln sich vielfach erneut die bekannten Fehl- Allgemeinheit." 33 urteile über die Wirkungen der Wettbewerbsfreiheit Elke Mack plädiert in einem Beitrag über “Globale und des Freihandels und die angeblichen Vorteile Gerechtigkeitskriterien“ in Anknüpfung an John einer interventionistisch-protektionistischen Wirt- Rawls für eine globale institutionelle Grundordnung: schafts- und Außenwirtschaftspolitik. Es entwickele ,,Eine personal ausgerichtete christliche Ethik macht sich mit einem mächtig aufkommenden „ethischen die Gerechtigkeit einer institutionellen Ordnung Protektionismus" eine antiliberale Gegenströmung, nicht nur am formal gerechten Konsensfindungs- die von dem Bemühen getragen werde, auf euro- prozess unter Staaten fest, sondern macht sie ab- päischer und weltweiter Ebene Elemente des na- hängig von den Auswirkungen und Folgen für alle tionalen Wohlfahrtsstaates zu etablieren und mit der mit Würde ausgestatteten Personen, die bei einem Internationalisierung des wirtschafts- und sozialpoli- tieferen Verständnis des Konsensprinzips alle zur tischen Interventionismus notwendige Reformen im permanenten und wiederkehrenden Zustimmung eigenen land zu verschleppen.36 Im Rahmen seiner zum Weltgesellschaftsvertrag und einer globalen Möglichkeiten ist, so lautet das Credo der Ordolibe- Ordnung herangezogen werden müssen." 34 ralen, der Einzelne für sein eigenes Schicksal ver- Sollten die Vorschläge von Homann und Mack auf antwortlich. eine „global economic governance" zielen, so ist allerdings schon angesichts der Renaissance der Idee C. Suche nach zeitgerechten Lösungen des Staates und des von ihm erwarteten Schutzes zu- gunsten der in seinen Grenzen lebenden Menschen Indes schließen sich individuelle Verantwortlichkeit (Metapher: Der Staat als „Dach") auf die Probleme des Einzelnen für die Gestaltung seines lebens und bei der Entwicklung und (institutionellen) Durchset- ein ethischer Verhaltenskodex, der die Globalisie- zung der „Standards" eines Weltgesellschaftsver- rung an die Zuteilung von Grundgütern bindet, nicht trages hinzuweisen. Solidarität ist der legitimierende aus. ,,Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Grund für staatliche Umverteilung. Vor allem im Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des Umverteilungsstaat wird deutlich, dass solidarisches sozialen Ausgleichs zu verbinden" – so Alfred Verhalten nur bei einer inneren Verbundenheit der Müller-Armack, auf den der Begriff der „Sozialen Glieder einer Gemeinschaft eingefordert werden Marktwirtschaft" zurückgeht. Die Auflösung des kann. Jede Umverteilung muss mithin in einer Soli- Spannungsverhältnisses zwischen Eigenverantwor- darbeziehung gründen, um mit dem Freiheits- tung und Solidarität kommt auch in der von den Au- anspruch des Einzelnen vereinbar zu sein. Als toren des Jenaer Aufrufs zur Erneuerung der So- Maxime einer universalen Ethik hat sich der zialen Marktwirtschaft (2008) formulierten Überzeu- Gedanke menschheitsumspannender Brüderlichkeit gung zum Ausdruck, wonach „die Doppelnatur des gar als unrealisierbar erwiesen, denn kein Mensch Menschen – frei sein zu wollen, um sich bewähren kann alle Brüder lieben. Nur über Unterscheidung zu können, und sich zugleich in einer Gemeinschaft und Ausgrenzung ist Solidarität praktikabel. 35 aufgehoben zu wissen und sich auch für sie einzuset- Staatswissenschaftliches Forum | 13
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung zen – […] die Grundlage der Sozialen Markt- 2005) – implementiert werden müssen. Dabei müssen wirtschaft (ist).“ 37 sie die Rahmenordnung auch unter den Bedingun- Zur Verwirklichung ihrer Grundsätze in Zeiten dis- gen der Globalisierung zugunsten der Freiheit fix- ruptiver Umbrüche ist ein stetiges Streben nach ieren und sozialstaatlich ausgestalten. Dies nicht gerechten lösungen erforderlich. Sind wir dann, zuletzt im Sinne von Maßnahmen gegen soziale Aus- wenn wir uns zu Wettbewerb und sozialer Einhegung grenzung und Diskriminierung, des sozialen Schut- als gleichberechtigten Komponenten des Systems zes, aber auch der „Solidarität und gegenseitigen der Sozialen Marktwirtschaft bekennen, nicht sogar Achtung unter den Völkern“ (Art. 3 Abs. 5 EUV: verpflichtet, über soziale Standards nachzudenken, Ziele der Union). Demgegenüber obliegt es den die die Kräfte der Globalisierung bändigen? Solche Sozialpartnern ihre Verhältnisse in diesem von in- Standards dürfen freilich nicht unter dem Deckman- ternationalen Vorgaben überwölbten Rahmen in ge- tel der Ethik in Protektionismus umschlagen, in eine meinsamer gesellschaftlicher Verantwortung auch „Angst vor der Weltwirtschaft“ (W. Röpke) umkip- für die Folgen der Globalisierung zu regeln. pen, Fehlurteile über die Wirkungen der Wettbe- Internationale Nichtregierungsorganisationen wie werbsfreiheit und des Freihandels nähren und die Transparency International können zu Triebkräften vermeintlichen Vorteile einer interventionistischen solcher Entwicklungen – namentlich bei der Erar- Politik oder des Unilateralismus preisen. Gefordert beitung ethischer Standards der Globalisierung – sind "soziale" Unternehmerpersönlichkeiten! werden. Doch machen wir uns nichts vor: Das Band Auf absehbare Zeit werden vornehmlich die Staaten, der Solidarität, das die Völker verbinden soll, ist insbesondere in Verbindung mit den Sozialpartnern, noch schwach. Die Europäische Union, die die Glo- als Garanten für die Wahrung solcher – teilweise aus balisierung nach einem gemeinsamen Wertekanon der Sozialen Marktwirtschaft entlehnten – Standards gestalten soll, ist hierfür ein beredtes Beispiel. Aus fungieren müssen. Die Staaten können sich auch zur der Globalisierung folgt jedoch die Herausforderung, Bewältigung dieser Aufgabe internationaler Organi- eine „verantwortungsvolle Weltordnungspolitik" zu sationen – wie etwa der Internationalen Arbeitsorga- gestalten (Art. 21 Abs. 2 lit. h EUV). Die Mitglied- nisation (IlO) oder der im Schoß der General- staaten der Union haben im Vertrag von lissabon versammlung der Vereinten Nationen angesiedelten auch an sich selber den Auftrag erteilt, diese Heraus- Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) – forderungen anzugehen. bedienen, auf die sie einzelne Souveränitätsrechte Zusammen mit den anderen Mitgliedern der interna- übertragen können. Ob internationale Verträge das tionalen Gemeinschaft werden sie zu einer Verant- Sozialdumping verhindern können, ist allerdings wortungsgemeinschaft zusammenwachsen müssen, bezweifelt worden. Grundlegende Schutzstandards um auch Forderungen von „Global Justice" zu er- können sie – wie im Übereinkommen über die füllen. Wie diese Gemeinschaft institutionell aus- Rechts des Kindes (1989 – Art. 28: Recht des Kindes gestaltet sein wird, ob etwa neben die bestehenden auf Bildung; Art 32: Schutz vor wirtschaftlicher und Internationalen Organisationen neue hinzutreten, sozialer Ausbeutung) – in rechtsverbindlicher Weise lässt sich nicht vorhersagen. Globalisierung muss setzen; ihre Wirksamkeit hängt indes von der Kon- aber auf allen Ebenen gestaltet werden; für uns Euro- trolle der Vertragsstaaten ab. päer ist sie nur europäisch gestaltbar. Das Prinzip des gerechten lohns, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und die Verfolgung sowie Sank- Dr. iur. Hermann-Josef Blanke ist Univ.-Professor tionierung von Korruption, aber auch der Schutz der für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische natürlichen, Ressourcen gehören zum Kerngehalt Integration an der Universität Erfurt und Begründer von Standards, die von den Staaten – in Umsetzung sowie Vorsitzender „Staatswissenschaftliches Forum internationaler Verträge wie dem Übereinkommen e.V.“. der Vereinten Nationen gegen Korruption (2003/ __________________________________________ 14 | Staatswissenschaftliches Forum
Hermann-Josef Blanke | Soziale Marktwirtschaft als Modell einer sozialen Globalisierung 1 M. Ruffert, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV, Kom- 19 BP W. Steinmeier, Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, mentar, 5. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 38, mahnt zur Zurückhaltung bei Mainz, 3.10.2017. der Annahme, dass das deutsche Modell der Sozialen Marktwirt- 20 Vgl. H.-R. Reuter, Grundlagen der Ethik, in W. Huber/T. Meireis/ schaft in der Prägung durch l. Erhard und A. Müller-Armack von H.-R. Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, der EU schlicht übernommen worden sei. Indes ist der ordolibe- S. 9 (13 f.); T. Jähnichen, Wirtschaftsethik, ebd., S. 331 (337 ff., rale Charakter des Binnenmarktes nicht zu übersehen; vgl. H.-J. 370 ff.). Blanke, The Economic Constitution of the European Union, in 21 Vgl. E. Mack, Globale Gerechtigkeitskriterien zur Beurteilung H.-J. Blanke/St. Mangiameli (Hrsg.), The European Union after der Entwicklungsrelevanz von Globalisierungsprozessen, in lisbon, 2012, S. 369 ff. (370 ff., 373 ff.). K. Homann/P. Koslowski/Ch. lütge (Hrsg.), Wirtschaftsethik der 2 Vgl. K. Homann, Ethik in der Marktwirtschaft, 2006 (Roman Globalisierung, 2005, S. 305, 307 ff. Herzog Institut), S. 7 ff. 22 Vgl. R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer 3 Was ist gerecht?, Untersuchung im Auftrag der Initiative Neue konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2007, S. 355 f., Soziale Marktwirtschaft (INSM), 2013. 377 ff. 4 K. Homann (Anm. 2), S. 21 f.; vgl. auch 0. Issing, Die Deutschen 23 R. Forst, Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie: Zur und die Marktwirtschaft, Vortrag, 9.12.2014: ,,Richten nicht auch Überwindung von drei Dogmen der politischen Theorie, in P. Niesen die Deutschen überhöhte Erwartungen an den Staat und nehmen (Hrsg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, 2012, S. 29, gleichzeitig die Segnungen der Marktwirtschaft als selbstverständ- 42 ff. (44). lich hin? Sehen sie den Wettbewerb weniger als Herausforderung 24 Vgl. zu diesen und weiteren Fragestellungen das Exzellenz- denn als Bedrohung des status quo? Fürsorglicher Staat hier – un- cluster "The Formation of Normative Orders" an der Goethe-Uni- sozialer Markt dort? Welche Zustimmung würde dieses Motto in versität Frankfurt am Main; als Erträge dieser Forschung vgl. etwa einer Umfrage finden?" (http://www.insm-oekonomenblog.de/ l l 926 R. Forst/K. Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen. -die-deutschen-und-die-marktwirtschaft/) Interdisziplinäre Perspektiven, Bd. I, 2011; R. Forst, Normativität 5 Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, 2015. EU der 27 im Jahre 2025 – Überlegungen und Szenarien, l. März 25 Vgl. zur katholischen Soziallehre etwa: J. Althammer, Soziale 2017, S. 9 (https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/ Marktwirtschaft und katholische Soziallehre, in Habisch/Küsters/ files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf). Uertz (Hrsg): Tradition und Erneuerung der christlichen Sozial- 6 Entschließung des EP v. 16.02.2017 zur Verbesserung der Ar- ethik in Zeiten der Modernisierung, 2012, S. 270 ff. beitsweise der Europäischen Union durch Ausschöpfung des 26 Vgl. zu den nachfolgenden ethischen Prinzipien A. Bordne/T. Potenzials des Vertrags von lissabon, Ziff. AY Ziff. 1. löffler/K.-U. Gscheidle, Handreichung der KDA Baden und 7 Europäische Kommission, Reflexionspapier zur sozialen Di- Württemberg. Die liebe Gottes in den Ordnungen der Welt. mension Europas, 26. April 2017, S. 6. Evangelische Sozial- und Wirtschaftsethik in der Tradition refor- 8 Vgl. zu dieser Fragestellung Konrad-Adenauer-Stiftung, Artikel: matorischer Theologie, ohne Jahresangabe (http://reformation2017. Ordoliberalismus (https://www.kas.de/web/soziale-marktwirtschaft/ evpfalz.de/fileadmin/user_upload/projekte/reformation2017/dateien/ ordoliberalismus). Beruf%20und%20Arbeit%20KDA.pdf). 9 Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16.02.2017 27 Vgl. M. Weber, Die protestantische lehre und der Geist des zur Verbesserung der Funktionsweise der Europäischen Union, Kapitalismus, in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Ziff. 96. Bd. I, 1920, S. 72. 10 Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, S. 7, 11. 28 Vgl. H. Bedford-Strohm, Martin luthers Wirtschaftsethik, in 11 Europäische Kommission (Anm. 7), S. 23. Politische Studien, Themenheft 2/2013 (Die Renaissance des 12 Chancengleichheit und Zugang zum Arbeitsmarkt (I.), Faire Ar- Christlich-Sozialen), S. 30 ff. beitsbedingungen (II.) sowie sozialer Schutz und Inklusion (III.) 29 Vgl. etwa die Denkschrift des Rates der EKD, Unternehmeri- bilden die drei Kapitel des „European Pillar of Social Rights“. sches Handeln in evangelischer Perspektive, 2008. 13 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 30 Vgl. H. Bedford-Strohm (Anm. 27), S. 42. Das Werteverständnis von Christentum und Islam vor dem Hinter- 31 Th. Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge/MA. grund der Globalisierung, 2006, S. 5. 2002, S. 38, 50 und 195. 14 „Der Tod ist total demokratisch. Er packt jeden. Interview von 32 Vgl. die Website der Welthungerhilfe (https://www.welthunger- F. Fuhr mit H. Geißler, Welt N 24 v. 07.09.2012 (https://www. hilfe.de/hunger.html). welt.de/politik/deutschland/article l 09074 798/Der-Tod-ist-total- 33 Vgl. K. Homann (Anm. 2), S. 51. demokratisch-er-packt-jeden.html). 34 Mack (Anm. 21), S. 317. 15 H. Geißler, Was müsste luther heute sagen?, 2015, S. 238. 35 Vgl. H.-J. Blanke/St. Pilz, Solidarische Finanzhilfen als lack- 16 H. Geißler, Interview am 14. Juli 2008 auf «SZ.de». mustest föderaler Balance in der Europäischen Union, Europa- 17 Vgl. A. Smith, Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung recht 2014, S. 541 (543) m. weit. Nachw. seiner Natur und seiner Ursachen, hg. von H. C. Recktenwald, 2003, 36 Konrad-Adenauer-Stiftung (Anm. 8). S. 582. 37 Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung, 60 Jahre Soziale Marktwirt- 18 Vgl. Achtsamkeit als Trend. "langsamer machen reicht nicht". schaft, 2008, S. 7 (8). Interview von E. Thöne mit H. Rosa, Spiegel Online v. 21.03.2016. Staatswissenschaftliches Forum | 15
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden A. Ludwig Erhard als Wegbereiter kriegszeit mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder bis hin zur Deutschen Einheit. Man sieht dort auch Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ludwig Erhard als einen von denen, die über uns steht seit der Gründung der Bundesrepublik Deutsch- wachen, damit wir, die Nachfolger, nicht vom richti- land in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft gen Wege abkommen. und ihres Begründers ludwig Erhard. Aus diesem ludwig Erhard war als erster Minister prägend für Grund wurde am 15. Juni 2018 aus Anlass 70 Jahre die Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums, dem Soziale Marktwirtschaft der größte Tagungsraum des er von 1949 bis 1963 vorstand. Auch seine Nachfol- Bundeswirtschaftsministeriums in „ludwig-Erhard- ger im Amt, haben Wichtiges und Herausragendes Saal“ umbenannt. geleistet. Und dennoch ist ludwig Erhard unerreicht Es ist ein kleines Symbol dafür, wie sehr ludwig Er- und unvergleichlich. hard unser leben bis heute prägt und wie sehr wir seinem Erbe verpflichtet sind. B. Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Der Namenspatron wacht nunmehr über alle Be- Marktwirtschaft und soziale Sicherheit sucher des Saales. In diesem Saal wurden in der Kaiserzeit die Militärärzte ausgebildet, die hier ihre Er war nicht der Begründer der Demokratie, aber er Vorlesungen hörten. In der Weimarer Republik hat sie in Deutschland durch Wohlstand und Teilhabe wurde das Gebäude Teil des Reichsarbeitsministeri- so vieler entscheidend stabilisiert. Er war weder der ums und nach dem Krieg in der DDR ein Kranken- Erfinder der Marktwirtschaft noch der Erfinder der haus. 1999 wurde es dann von dem damaligen sozialen Sicherheit. Aber er war der Erste, der beide Wirtschaftsminister Werner Müller in Betrieb ge- Konzepte zusammengeführt hat. Er hatte den Mut, nommen. Dabei wurde dieser Saal in einer wunder- nach Jahren der Zwangsbewirtschaftung während baren Weise gestaltet mit einem Deckengemälde, das des 1. Weltkrieges, nach der Katastrophe der Wei- Vertreter der Politik, der Wirtschaft und der Gesell- marer Republik und der Weltwirtschaftskrise 1929, schaft des 20. Jahrhunderts zeigt – ausgehend von nach der staatlich gelenkten Wirtschaft im National- der Zeit des Nationalsozialismus über die Nach- sozialismus und einer erneuten, fast zehn Jahre dauernden Periode der Zwangsbewirtschaftung auf die Kräfte des Marktes zu setzen und die Soziale Marktwirtschaft gegen alle Widerstände in der Praxis durchzusetzen, zu verteidigen und zu entwickeln. Vielen Millionen Menschen hat ludwig Erhard erst- mals in der Geschichte unseres landes Wohlstand und privates Glück ermöglicht. Die Teilhabe von Menschen, die über Jahrzehnte ausgeschlossen waren von dem wirtschaftlichen Fortschritt, den es im Kaiserreich ja durchaus gab, aber der nicht allen zugutekam – das ist das Verdienst von ludwig Er- Peter Altmaier ist Bundesminister für Wirtschaft hard. Und deshalb ist ludwig Erhard ein moderner und Energie. Held. Ein Held, der seine Schlachten nicht mit Panz- __________________________________________ ern und Raketen, sondern mit Zigarren und Reden 16 | Staatswissenschaftliches Forum
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden geführt und gewonnen, der Vertrauen eingeworben Blaupause für die Soziale Marktwirtschaft. Es gab hat, nicht nur in eine neue Wirtschaftsordnung, son- keine Erfahrungen mit einem solchen Wirtschafts- dern in einen Gesamtstaat. modell. Und deshalb war es ein Akt des Mutes, mit Deshalb wurde 70 Jahre nach der Währungsreform der Parole „Wohlstand für Alle“ ein ganz neues 1948 die neue Galerie der Bundeswirtschaftsminis- Wirtschaftsmodell in Wirkung zu setzen. ter eingeweiht, wo alle gewürdigt werden, die in den Die zentrale Staatsaufgabe dabei war es, einen Ord- letzten fast 70 Jahren das Bundeswirtschaftsminis- nungsrahmen zu setzen, in dem sich die Kräfte des terium repräsentiert haben – mit ludwig Erhard an Marktes und des Wettbewerbes entfalten konnten. einem besonderen und herausragenden Platz. Freilich musste der Ordnungsrahmen in jeder kon- Die Währungsreform begann am 20. Juni 1948 und junkturellen Phase entsprechend den Anforderungen wurde kurz darauf komplettiert mit der Aufhebung des Marktgeschehens angepasst und entwickelt wer- der staatlichen Bewirtschaftung am 24. Juni dessel- den. ben Jahres. Bisweilen gab es Perioden, in denen der Erfolg eines Ministers davon abhängig war, wie viele Gesetze im C. Prinzipien des Ordoliberalismus Bundestag eingebracht und verabschiedet wurden und wie viele Verordnungen sein Ministerium umge- Das Ende der Zwangsbewirtschaftung war die Ge- setzt hat. Um dieser Regulierungsflut Grenzen zu burtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft. Mit diesen setzen, wurde im Jahre 2005 mit dem Normenkon- Maßnahmen wurde der Weg geebnet von der Nach- trollrat erstmals ein Bürokratiekostenmodell einge- kriegsmangelwirtschaft zum Wirtschaftswunder. Als führt. Seither werden Gesetze daraufhin überprüft, die Bezugsscheine weg waren, war auch die Zi- ob sie mit diesen Vorstellungen übereinstimmen. garettenwährung weg. Als das neue, stabile Geld in ludwig Erhard hatte bereits 1957 als zentralen Umlauf kam, waren auch die sogenannten „Bück- Grundstein dieses Ordnungsrahmens das Gesetz waren“ unter den ladentischen verschwunden. gegen Wettbewerbsbeschränkungen in den Bundes- Mit diesen Maßnahmen wurde der Weg dazu geeb- tag eingebracht, wo es im gleichen Jahr verabschie- net, dass sich die Regale in Rekordzeit füllten, dass det wurde. Es ist das Grundgesetz der Marktwirt- die Menschen echtes Geld in den Taschen hatten, schaft. Der Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es dass aus Bittstellern Kunden und schließlich aus ja, das Prinzip der Freiheit des Marktes mit dem des Kunden Könige wurden. sozialen Ausgleichs zu verbinden. ludwig Erhard hat mit der Entscheidung zur Ein- Wir reden heutzutage wie selbstverständlich über führung der Sozialen Marktwirtschaft die wissen- den Markt, aber wir machen uns selten klar, worin schaftlichen Ideen der „Freiburger Schule“ umge- sein entscheidender Vorteil besteht. In der Planwirt- setzt, die sich grundlegend vom Manchester-libera- schaft des Sozialismus oder etwa im chinesischen lismus des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Der Ordo- Staatskapitalismus entscheidet der Chef der staat- liberalismus setzt auf Markt und staatliche Regel- lichen Planbehörde mit einigen hundert oder tau- und Rahmengebung gleichermaßen. Dieses Modell send Beamten darüber, was richtig und falsch ist, wurde in den 30er Jahren als freiheitliche Alterna- welche Schuhe in den Regalen stehen und welche tive zu einem reinen Kapitalismus, aber auch zu na- Autos produziert werden. tionalsozialistischen und kommunistischen Ideen In der Marktwirtschaft dagegen treffen Millionen einer staatlich gelenkten Planwirtschaft entwickelt. von Verbraucherinnen und Verbrauchern, von Ar- Und es hat funktioniert. Das konnte ludwig Erhard beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Unter- nicht wissen und diejenigen, wie z.B. sein Wegge- nehmerinnen und Unternehmern diese Entschei- fährte Alfred Müller-Armack, die ihm den Weg frei dungen – dezentral und in eigener Verantwortung. machten für seine Pläne und Vorhaben, wussten es Und Millionen von diesen Menschen sind viel klüger auch nicht. Es war ein Wagnis. Es gab damals keine als jeder, der allein am grünen Tisch solche Entschei- Staatswissenschaftliches Forum | 17
Peter Altmaier | Wohlstand für alle: Wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich verbinden dungen trifft und herbeiführt. sicherung und andere leistungen der sozialen Wenn beispielsweise der Chef einer zentralen Sicherheit Fremdwörter sind. staatlichen Planbehörde einen Fehler begeht, dann 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft stehen für Wachs- müssen Millionen von Menschen dafür büßen. Wenn tum, Wohlstand und Teilhabe – gerade in Ausnah- ein Unternehmer in der Marktwirtschaft einen Fehler mesituationen. Diese Elemente im demokratisch begeht, dann wird er möglicherweise Umsatz- und verfassten Staatswesen haben sich bewährt in der Gewinneinbußen erleiden oder vom Markt ver- Wiedervereinigung und in der Finanzkrise 2007 und schwinden. Dieses Risiko geht er bewusst ein und danach. Vergleichen wir nur die Finanzkrise Ende mit diesem Risiko muss er leben. Aber andere wer- der zwanziger Jahre, mit dem „Schwarzen Freitag“ den von seinen Fehlern profitieren oder werden seine an der New Yorker Börse 1929, der verheerende Ar- Fehler in der Zukunft vermeiden. beitslosigkeit und politische Destabilisierung bewirkt Die Teilhabe aller, die in der sozialen Verpflichtung hat, mit der Banken- und Börsenkrise des Jahres des Eigentums begründet liegt, das war ein Verdienst 2008 und 2009: In dieser Krise brach das Wirt- von Konrad Adenauer, der als erster Nachkriegs- schaftswachstum weltweit wesentlich tiefer ein als regierungschef eine hervorragende Symbiose mit während der „Großen Depression“ 1929 und die Jahre ludwig Erhard, seinem Wirtschaftsminister, einge- danach. Trotzdem konnten wir nach 2009 die Aus- gangen war. ludwig Erhard hat das Wirtschafts- wirkungen viel schneller überwinden und die Stabi- wachstum begründet, Finanzminister Fritz Schäffer lität unseres landes und seiner Wirtschaft bewahren. hat das Steueraufkommen, das in die Steuerkassen Deshalb müssen wir die Soziale Marktwirtschaft floss, gut und zinsbringend angelegt, aber auch in die heutzutage nicht neu erfinden – sie hat sich nach Infrastruktur investiert und damit die Wettbewerbs- 1948 stets bewährt. Wir müssen sie jedoch in jeder fähigkeit des landes gestärkt, den Wiederaufbau, die Generation neu verteidigen, neu bewerben und neu soziale Teilhabe und den sozialen Ausgleich vor- durchsetzen, weil es nicht selbstverständlich ist, dass angebracht. 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger jeden Tag Dieses Modell bestimmt die Wirtschafts- und darüber nachdenken, was die Voraussetzungen un- Gesellschaftspolitik bis heute: die Montanmitbe- seres Wohlstandes eigentlich ausmachen. stimmung, der lastenausgleich, die dynamische Rente in den fünfziger Jahren und die Pflegever- E. Herausforderungen an der Schwelle zur sicherung als vorläufiger Schlussstein in den neun- digitalen Gesellschaft ziger Jahren. Dies alles wurde geschaffen, um angesichts der demografischen Veränderungen Prob- Wir stehen nunmehr an der Schwelle zur digitalen leme für die arbeitende Bevölkerung im aktiven Er- Gesellschaft und müssen dafür sorgen, und klar werbsleben zu vermeiden. darüber werden, was wir angesichts der vierten in- dustriellen Revolution in der Zukunft erreichen D. Die Soziale Marktwirtschaft als Modell für wollen. lassen Sie mich abschließend dies in sechs Europa und die Welt Thesen skizzieren: Die Ausstrahlung der Sozialen Marktwirtschaft geht Erstens: Staatseingriffe begrenzen und Leistungs- über unsere Grenzen hinaus. Wir sprechen heute gerechtigkeit fördern vom europäischen Sozialmodell. Dieses europäische Wir müssen wieder mehr Freiheit für private Un- Sozialmodell ist einzigartig in der Welt. Noch heute ternehmen, für privates Unternehmertum erarbeiten. gibt es länder in Afrika, Asien und lateinamerika, in Es ist keine gute Entwicklung, wenn die Zahl der denen es keine gesetzliche Krankenversicherung für Menschen, die sich selbstständig machen, zurzeit alle Bürgerinnen und Bürger gibt. Noch heute gibt rückläufig ist. Gewiss, angesichts des boomenden es länder, in denen Rentenversicherung, Unfallver- Arbeitsmarkts gibt es viele attraktive Angebote für 18 | Staatswissenschaftliches Forum
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