Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart

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Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
Das Monatsmagazin der Staatstheater Stuttgart
Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Schauspiel Stuttgart   April 2022

 Reihe 1
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
Editorial                                                           3

                                                                                                          Cover               Liebe Leserinnen, liebe Leser,
                                                                                                          Der emotionalen
                                                                                                          Wucht von
                                                                                                          Norbert Biskys      die Inhalte dieser Ausgabe von Reihe 1 entstanden in den ersten
                                                                                                          Bildern kann sich   Februarwochen, als Europa noch ein friedliches war. Bevor sie
                                                                                                          kaum jemand
                                                                                                          entziehen. Der      dann Anfang März in Druck ging, musste unter anderem ein Wort
                                                                                                          Fotograf Jonas      korrigiert werden: im Interview mit dem polnischen Regisseur
                                                                                                          Holthaus hat
                                                                                                          den Künstler in     Krzysztof Warlikowski über dessen Theaterstück Odyssey, über
                                                                                                          seinem Berliner     persönliche, künstlerische und politische Irrfahrten. An einer
                                                                                                          Atelier besucht,
                                                                                                          ab Seite 5          Stelle, an der es um die aktuelle Lage Europas geht, steht nun nicht
                                                                                                                              mehr »Kriegsgefahr«, sondern »Krieg«. Auch die Gedanken der
                                                                                                          Pausenfüller
                                                                                                          Nicolas Mahler,     jungen Regieassistentin Maryna Mikhalchuk lesen sich mit einem
                                                                                                          unser neuer
                                                                                                          Cartoonist für
                                                                                                                              Mal noch drängender. Für ihr Bühnenprojekt sammelte sie zwei
                                                                                                          Reihe 1, zeichnet   Jahre lang Briefe von politischen Gefangenen aus ihrer Heimat
                                                                                                          auf dieser Seite
                                                                                                          kleine Comics
                                                                                                                              Belarus. Mittlerweile laufen an der Grenze des Landes Putins
                                                                                                          aus dem Theater     grausame Angriffe gegen die ukrainischen Nachbarn.
                                                                                                                                 Es sind düstere Tage, für die Ukraine, für Europa, für die Welt.
                                                                                                                              Dennoch möchten wir Ihnen dieses Heft an die Hand geben. ­Damit
                                                                                                                              wir das Drängende im Blick behalten – aber das Schöne nicht aus
                                                                                                                              den Augen verlieren. Die Staatsoper Stuttgart hat den zweiten Teil
                                                                                                                              ihres neuen Rings vollendet, Die Walküre, die von gleich drei Regie­

   »GEORGES« – DER BESTE                                                                                                      teams inszeniert wird, als kollektiver Akt kreativer Verständigung.
                                                                                                                              Und in den Sälen des Stuttgarter Balletts laufen die Proben zu
                                                                                                                              Noverre: Junge Choreographen. Dort gestaltet eine neue Generation

   KESSLER, DEN ES JE GAB.                                                                                                    von Künstlerinnen und Künstlern den Tanz von morgen. All das,
                                                                                                                              das Gemeinschaftliche, das Zukünftige, soll Mut machen, für jetzt.

                                                                                                                              Ihre Staatstheater Stuttgart

Das Meisterwerk aus Deutschlands ältester Sektkel-   Neckar. Geschaffen nach der »méthode tradition-
lerei in wenigen Worten: Gekeltert aus Chardonnay    nelle«. Gelagert über 60 Monate. Und voller Stolz
und Pinot-noir-Trauben des Jahres 2013. Gereift in   getauft auf den Namen, den unser Gründer in seinen
mittelalterlichen Gewölbekellern in Esslingen am     zwanzig Jahren in Frankreich hatte: »GEORGES«.
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
4                             Inhalt                         Sparte  
                                                             Oper / Theater
                                                                     ⁄  Titel des
                                                                               vonStücks
                                                                                    innen   5   5

                                                             Für die Installation
3 Editorial                                                  Walküren-Basislager
                                                             entstehen in Norbert
5 Theater von innen
                                                             Biskys Berliner Atelier
                                                             neue Werke, exklusiv
Norbert Biskys Atelier                                       für die Staatsoper
                                                             Stuttgart

8Projekt Walküre Drei         heute zu tun hat: Gero von
Regieteams für ein einziges   Boehm im Gespräch mit
Stück: wie sich der zweite    dem polnischen Regisseur
Teil des neuen Stuttgarter    Krzysztof Warlikowski
Rings zusammensetzt
                              20Post aus Protest Eine
 Zernagte Ordnung In der
13                            junge Regisseurin sammelt
Walküre sind sie Symbole      Briefe von belarussischen
des Untergangs: Ratten.       Gefangenen. Was erzählen
Ein pelziges Porträt          sie über Freiheit?
14Brünnwohiltande             28How to Noverre In neun
Leitmotive gehören zu         Schritten zur Nachwuchs-
jeder Wagner­oper. Doch       Choreographie. Sonia
wieso fehlen sie gerade       Santiago, ­Projektleiterin
bei zwei der wichtigsten      von Noverre: Junge
­Walküre-Figuren?             ­Choreographen, erklärt
                              sie – step by step
19»Der Mensch schafft sich
seine Hölle selbst« Was       28Ich bin, wir sind Getanzte
Homers Odyssee mit den        Glückseligkeit: Johan
politischen und künst-        Ingers Bliss
lerischen Irrfahrten von
                              32 Spielplan
                              38 Das Ding Holzbein

                              38 Impressum
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
6                Oper / Theater von innen                                                                                                                  7

Ein letzter Pinsel­
strich – und eine
weitere von Biskys
expressiven ­Wal-
küren erblickt das
Licht der Welt

                                                                                                                                                            Biskys bevorzugte
                                                                                                                                                            Technik ist das Malen
                                                                                                                                                            mit Öl, das die be-
                                                                                                                                                            sondere Farbbrillanz,
                                                                                                                                                            Leuchtkraft und
                                                                                                                                                            Intensität ermöglicht,
                                                                                                                                                            die seine W
                                                                                                                                                                      ­ erke
                                                                                                                                                            kennzeichnen

                                                 Das Atelier von Norbert Bisky
                                                 Eine Walküre ist schon da – weitere acht sind im Werden:           Terror, Reisen sowie Einflüsse aus der Medienwelt formen sei-
                                                 Norbert Bisky öffnet sein Berliner Atelier, zurzeit eine Art Au-   ne B ­ ildszenen von Schönheit, Gewalt und Zerstörung. Biskys
                                                 ßenstelle der Staatsoper Stuttgart, ist es doch Geburtsstät-       ­Walküren sind ab dem 30. April in Stuttgart zu bestaunen:
                                                 te der expressiven, farbintensiven Bilder, die alle Premieren,      Im Walküren-Basislager, einer temporären Installation am
                                                 auch die des Rings des Nibelungen, in dieser Saison visuell be-     Hauptbahnhof, flankieren sie zusammen mit weiteren Ver-
                                                 gleiten. Der gebürtige Leipziger zählt zu den erfolgreichsten       anstaltungen die Premiere sowie das sich thematisch um
                                                 Vertretern der zeitgenössischen figurativen Malerei. Erlebter       ­Richard Wagner drehende Frühjahrsfestival der Oper.
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
Oper ⁄  Die Walküre    8
                           Projekt Walküre                                 9

Den ersten Auf-
zug der Walküre
                              Der zweite Teil von Richard Wagners Ring des
gestaltet das
niederländische
                              Nibelungen erzählt die Liebesgeschichte von Sieg-
Theaterkollektiv
Hotel Modern. Das
                              linde und Siegmund, von Göttervater Wotans
Modell en minia-              Suche nach einem Ausweg und von der Befehlsver-
ture lässt die Stim-
mung erahnen:                 weigerung seiner Tochter Brünnhilde. Für die drei
zerstörte Welt
                              Aufzüge des Werks wurden gleich drei verschiedene
                              Regieteams engagiert. Wir stellen sie vor
                              Text: Florian Heurich
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
10                                                             Oper ⁄  Die Walküre                                                                 11
1. Aufzug:                                                                                                                                                                                                                 2. Aufzug:
Postapocalypse Now                                                                                                                                                                                                         Der Lichtmacher
So wie in einem Hotel die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Ideen und                                                                                                                               »Ich arbeite mit dem flüchtigsten Material, das es gibt«,
Welt­anschauungen aufeinandertreffen, so versteht sich auch Hotel Modern als Begegnungsstätte, als                                                                                                                         sagt Urs Schönebaum. »Es hat noch nicht einmal Mate­
Herberge für Künstlerinnen und Künstler verschiedener Sparten. Hotel Modern, das sind die beiden                                                                                                                           rie.« Sein Medium ist das Licht, und Licht ist für Schöne­
ehemaligen Schauspielerinnen Pauline Kalker und Arlène Hoornweg sowie der bildende Künstler und                                                                                                                            baum Architektur. Als Lichtgestalter kreiert und struktu­
Performer Herman Helle, die sich gemeinsam die künstlerische Leitung des Kollektivs teilen. Ende der                                                                                                                       riert er damit Räume, macht sie tief oder flach, behaglich
Neunzigerjahre fand sich das Trio in Rotterdam zusammen. Pauline und Arlène kennen sich bereits seit                                                                                                                       oder harsch, er schafft Skulpturen, die für einen Moment
der Schulzeit und spielten schon als Jugendliche gemeinsam Theater. Dann kam eine Liebes­geschichte                                                                                                                        vorhanden sind, um sich im nächsten zu verändern oder
dazu, denn Pauline und Herman wurden ein Paar.                                                                                                                                                                             gleich ganz zu verschwinden. »Im Idealfall gelingt es mir,
    Die drei wollten weg vom klassischen Texttheater und entwickelten ihre ganz eigene Bühnen­                                                                                                                             allein durch das Licht eine Geschichte zu erzählen«, setzt
ästhetik, in der Film, Puppenspiel, Musik und bildende Kunst miteinander verschmelzen. Für ihre                                                                                                                            er nach. Und vor allem könne man unmittelbar Emotio­
Szenerien fertigen sie Miniaturmodelle verschiedener Schauplätze an, in denen sie rund acht Zen­                                                                                                                           nen anlegen, durch kaltes oder warmes Licht und natür­
                                                                                                                                                           Ein minimalistischer Raum, der sich ins Sakrale
timeter kleine Figuren bewegen. Das Geschehen filmen sie auf der Bühne aus unterschiedlichen                                                               wandelt: Urs Schönebaum skizziert sein Bühnenbild               lich durch Farben.
Perspektiven und projizieren es live als Animation. Auf diese Weise behält das Publikum einerseits                                                         für den zweiten Aufzug als Architektur des Lichts                   Urs Schönebaum kommt von der Fotografie, wollte
den Überblick, sieht von außen, wie Kalker, Hoornweg und Helle Theater machen, und ist andererseits                                                                                                                        zunächst Kameramann werden. Als er sich dafür immer
mitten in der Handlung.                                                                                                                                                                                                    mehr mit den gestalterischen Möglichkeiten des Lichts
    Ein wiederkehrendes Thema in den Produktionen von Hotel Modern sind die Gräuel des Kriegs. Mit                                                                                                                         beschäftigte, fand er dort sein eigentliches Metier. Einige
The Great War, einem Stück über die Erlebnisse von Soldaten im Ersten Weltkrieg, feierten sie 2001 ihren                                                                                                                   Jahre lang arbeitete er als Beleuchter an den Münchner
Durchbruch, 2005 stellten sie in Kamp die Geschehnisse im Konzentrationslager Auschwitz nach – en                                                                            Kammer­spielen bei Max Keller – seinerzeit eine Koryphäe in Sachen Lichtdesign – und kam schließlich
miniature. Was nach Verniedlichung klingt, ist alles andere als das: »Mit Miniaturmodellen zu arbeiten                                                                       als Regieassistent zu Robert Wilson, den Schönebaum als seinen großen Lehrmeister bezeichnet. Neben
bedeutet zwar, dass wir die Größe der Objekte reduzieren, nicht aber die Emotionen, die sie transpor­                                                                        seinen Produktionen am Theater gestaltet Schönebaum auch immer wieder für den Kunstbetrieb. Vor
tieren«, erklärt Pauline Kalker. Dem Kollektiv geht es um eine sehr realistische Nachbildung von Orten,                                                                      allem die Arbeit mit der Performancekünstlerin Vanessa Beecroft, dem Künstler William Kentridge und
Landschaften und Dingen, die der Vergangenheit angehören, aber auch um eine poetische Abstrak­                                                                               dem Maler und Bildhauer Anselm Kiefer beeinflussten seinen Blick auf das Medium Licht und dessen
tion des Dargestellten, um eine ästhetische Überhöhung. Wenn die Kamera also die Zuschauerinnen                                                                              Verwendung. Heute sagt er: »Theater ist Theater, und Kunst ist Kunst. Man tut gut daran, im Theater
und Zuschauer quasi mit den Augen der Lagerinsassen oder der Soldaten im Schützengraben durch                                                                                keine Kunst machen zu wollen. Da ist sehr viel Handwerk dabei, und das ist nichts für die Ewigkeit.«
die Schauplätze führt, sollen die Ereignisse so nach- und miterlebt, ja richtiggehend verdaut werden.                                                                        So wie Schönebaums Licht. Es ist flüchtig.
    Für den ersten Aufzug der neuen Stuttgarter                                                                                                                                 Bereits bei zwei Produktionen hat Urs Schönebaum neben dem Licht auch das Bühnenbild gestaltet,
Walküre hat Hotel Modern eine postapokalyp­                                                                                                                                  die Regie übernommen und so eine Inszenierung aus einem Guss geschaffen. Bei der Walküre merkte
tische Szenerie entworfen, eine zerstörte Welt                                                             Hotel Modern                                                      er aber, dass gerade der Part, der ihm am fernsten liegt, nämlich die Personenregie, der Schlüssel für
mit zerbombten Gebäuden und verbrannten                                                                    entwirft eine                                                     den zweiten Aufzug ist: »Es ist im Grunde ein Kammerspiel, in dem die Figuren genau charakterisiert
Wäldern, in der es kein menschliches Leben                                                                 postapokalyp-                                                     werden müssen«, sagt Schönebaum. Für dieses Familiendrama, wie er es nennt, hat Schönebaum einen
                                                                                                           tische Szenerie
mehr gibt. Nur die Ratten haben überlebt. »Es                                                                                                                                minimalistischen Raum entworfen, der sich ins Sakrale wandelt, mit einer Macht demonstrierenden
ist die Horrorvision einer Zukunft, vor der wir                                                                                                                              Zentralperspektive. Durch das Licht setzt er die nötigen Akzente. Dabei empfinde er es als Chance,
alle Angst haben«, sagt Kalker. Die Geschichte                                                                                                                               nur einen Teil zu gestalten und nicht die ganze Walküre – oder gar den ganzen Ring! –, da er sich auf
um das Geschwisterpaar Siegmund und Sieg­                                                                                                                                    diese Weise viel genauer auf Details fokussieren könne. »Das Projekt Walküre ist wie ein Staffellauf.
linde wird eingebettet in diese Dystopie, in der                                                                                                                             Ich übernehme Siegmund und Sieglinde aus dem ersten Aufzug und gebe Brünnhilde und Wotan an
gebrochene, kaputte Figuren nach einer Kata­                                                                                                                                 den dritten weiter.«
strophe die Liebe suchen – sie aber dennoch                                                                                                                                     Als er sich im vergangenen November mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen beiden
finden. »Es gibt also Hoffnung«, sagt Kalker.                                                                                                                                Teams in Stuttgart traf, um erste Ideen zu präsentieren, wirkte manches wie abgesprochen, obwohl
Zusammen mit ihren Kollegen Hoornweg und                                                                                                                                     jeder sein eigenes Konzept unabhängig von etwaigen Vorgaben entwickeln konnte. Eine gute Vor­
Helle hat sie dafür ein kraftvolles Bild gefun­                                                                                                                              aussetzung für das gemeinsame Projekt, findet Schönebaum. »Und das Gefühl, ein gemeinsames
den: Schnee, der die langsam heilenden Wun­                                                                                                                                  Projekt zu haben, ist auf jeden Fall da.« Die unterschiedlichen Blickwinkel seien absolut zeitgemäß,
den sanft zudeckt. Wenn sich die Sängerinnen                                                                                                                                 schließlich gebe es in einer globalisierten Welt auch nie nur eine Sicht auf die Dinge. Eine Walküre
und Sänger tänzerisch um die Miniaturen auf                                                                                                                                  der vielen also – in neuem Licht.
                                                                                                                             Fotos: Staatsoper Stuttgart

der Bühne bewegen, überlagern sich auch hier
die Perspek­tiven. Kleines wird groß und Großes
klein. Was bleibt, ist das Gefühl.
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
12                                                                                                                                                                         Oper / Die Walküre                                                                                                         13
3. Aufzug:
Blick ins Dahinter
Vorhänge gehören im Theater sozusagen zum Inventar, öffnen und schließen die vierte Wand, also
den Bereich zwischen Zuschauern und Bühne. Insofern könnte man meinen: keine große Sache, außer
                                                                                                                                                                           Zernagte Ordnung
eben sehr viel Stoff. Bei Ulla von Brandenburg ist das ein wenig anders. Sie arbeitet hauptsächlich mit                                                                    In der neuen Walküre sind sie pelzige
Stoff. Eines ihrer wichtigsten Elemente dabei: der Vorhang. Das Zwischenstück, eine optische sowie
symbolische Grenze, soll in den Werken von Brandenburgs bewusst überschritten werden. Denn der
                                                                                                                                                                           Symbole einer postapokalyptischen Welt:
Blick hinter die Kulissen ist essenzieller Bestandteil ihrer Arbeiten, die Trennung zwischen Realität und                                                                  Ratten. Ein Porträt
Illusion wird aufgelöst. »Stoffe verdecken das, was dahinter ist«, sagt von Brandenburg. Deshalb könne
sie damit Räume schaffen, in denen man quasi in eine andere Welt eintauche.
    Die gestalterischen Konzepte von Brandenburgs haben oft etwas von einem Tableau vivant. In ihren
inszenierten Räumen sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Akteuren werden, sie sollen sich
darin frei bewegen, die Umgebung verändern und somit Teil des Ganzen werden. Dadurch bekommt
Ulla von Brandenburgs Arbeit etwas Performatives. So auch in ihrer Version des dritten Aufzugs der
Walküre. Mit Stoffen und Vorhängen kleide sie die »schwarze Kiste, die man Bühne nennt« aus, wie                                                                           Ratten sind unheimlich? Die weitverbreitete Aversion hat
                                                          sie sagt, und auf die das Publikum sonst ein­                                                                    mit dem Gefühl zu tun, dass diese Tiere uns ähnlicher sind,
                                                          fach nur draufschaue. Eine bewegliche, wellige                                                                   als uns lieb ist. Mit einer einzigen Ratte, die im Park durch
                                                          Hügellandschaft aus fünf Farben, die sich fast                                                                   das Unterholz raschelt, haben die meisten wohl kein Pro­
                                                          unmerklich in fünf Vorhängen in den Bühnen­                                                                      blem. Aber die Vorstellung, einem ganzen Rudel zu be­             Profil und mehr. Nahrung vergiftet? Schlafplatz gefähr­
                                                          himmel fortsetzt. Von Brandenburg kreiert damit                                                                  gegnen, gar von ihm verfolgt zu werden, macht uns Angst.          lich? Steht alles da, muss nur erschnüffelt werden. Außer
Vielschichtig: Im Bühnenbildmodell von Ulla von           einen psychologischen Raum mit der psychede­                                                                     Man ahnt, dass die Flucht nicht gelingen würde, sollten sich      einem überragenden Geruchssinn hat die Ratte auch ein
Brandenburg werden bunte Stoffe und Vorhänge zum
                                                          lischen Ästhetik der Siebzigerjahre, in dem sie in                                                               diese Tiere zu einem Angriff im Pulk entschließen, und das        gutes Gehör und eine Stimme, von der wir bestenfalls eine
zentralen gestalterischen Element
                                                          das Innere der Figuren vordringen möchte. »Es                                                                    nicht nur wegen ihrer Wendigkeit. Tatsächlich bestimmt            Ahnung haben, denn sie fiept meist im hochfrequenten
                                                          geht dabei auch um Synästhesie. Die Idee, dass                                                                   die Fähig­keit, gemeinsame Sache zu machen, dieses ausge­         Bereich. Sie suchen in Ihrer Wohnung nach einer Ratte?
                                                          Musik in Farbe ausgedrückt werden kann und                                                                       prägt soziale Tier und lässt es so erfolgreich sein in der Er­    Sparen Sie es sich, auf allen vieren in jeden Winkel und
                                                          umgekehrt, finde ich sehr spannend«, sagt sie.                                                                   oberung seiner Umwelt, wie es sonst unter den Säugetieren         unter jedes Notenblatt zu schauen. Der Pfiff einer Artge­
                                                              In ihrer Heimatstadt Karlsruhe hat sie zu­                                                                   nur noch der Mensch ist. Dabei ist uns die Ratte überlegen:       nossin, den Sie nicht hören können, genügt.
                                                          nächst Szenografie studiert und einige Zeit als                                                                  Wir zerstören unsere Welt; was bleibt, das sind die Ratten,           Ratten zu vergiften ist wirklich schwer. Dass man sich
                                                          Bühnenbildassistentin gearbeitet. Ihr Kunstver­                                                                  Symbole unseres Untergangs, die in der Science-Fiction, zu        nicht ungestraft auf unbekannte Futterquellen stürzt, er­
                                                          ständnis ist aber ein sehr viel freieres: So be­                                                                 Riesenratten mutiert, sogar einen Atomkrieg überstehen.           fahren einige der immer hungrigen Ratten im Flegelalter.
                                                          herrscht sie die Codes der Bühne, arbeitet mit                                                                      Das Zusammenleben im Rudel funktioniert, die Mitglie­          Sie bleiben dann üblicherweise die einzigen Opfer von
                                                          Zeichnung und Installation genauso wie mit                                                                       der – zwanzig, fünfzig, hundert – kennen einander, und wer        Vergiftungsaktionen. Denn die anderen Ratten beobachten
                                                          Performance und Film. Sie schöpft aus Litera­                                                                    zur Familie gehört, wird mitversorgt, die Jungen in Nestge­       derlei kulinarische Selbstversuche genau und verzichten im
                                                          tur, Kunstgeschichte, Architektur, aber auch aus                                                                 meinschaften von mehreren Müttern. Ein Artgenosse, der            Fall des Falles weise auf das unfreundliche Angebot aus
                                                          Psychoanalyse und Spiritismus. Die Psycholo­                                                                     anderen Gutes tut, zum Beispiel den Pelz krault oder sein         Menschenhand. Von einer schlecht organisierten Abfall­
                                                          gie der Farben ist für Ulla von Brandenburg von                                                                  Futter teilt, kann auf ihre Hilfe zählen. Außenseiter, die sich   wirtschaft profitieren Ratten nur zu gern. Und so haben die
                                                          wesentlicher Bedeutung. Sie spielt gern mit den                                                                  in das Revier des Clans verirren, riskieren hingegen ihr Le­      Mitglieder der Rattengemeinschaften New Yorks offenbar
Aspekten der menschlichen Psyche. Gerade deshalb liege ihr der dritte Aufzug besonders, da sich mit                                                                        ben. Wenn es eng wird oder die Nahrung knapp, dann greift         aufgrund ungesunder Ernährungsgewohnheiten – Stich­
Brünnhildes Schlaf Räume für un- und unterbewusste Grenzerfahrungen öffneten. »Dieser Teil ist der                                                                         eine natürliche Geburtenkontrolle, Föten sterben ab, und          wort Fast Food – bereits Gewichtsprobleme.
                                                                                                                 Foto: Staatsoper Stuttgart; Illustration: Falk Nordmann

abstrakteste, am wenigsten narrative Teil der Oper, in dem sich alles in Richtung Himmel bewegt«, sagt                                                                     sollte das nicht reichen, frisst die Population ihre Kinder.          Wenn die Ratten Vorboten des Untergangs sind, so
von Brandenburg. Das Ende der Walküre: eine regelrechte Nahtoderfahrung, bei der sich Psyche und                                                                              Seit Jahrtausenden sind kooperierende Ratten der Alb­          betrifft die Zerstörung immer mehr als nur konkretes
Physis voneinander trennen. »Der Feuerzauber ist eine Art Levitation von Brünnhilde.«                                                                                      traum des Menschen, der Vorratshaltung betreibt. Das              Menschenwerk, denn sie zernagen zugleich auch die Ord­
    Wagners Idee des Gesamtkunstwerks passt zu der Arbeitsweise Ulla von Brandenburgs, in der bild­                                                                        Plündern von Getreidespeichern geht in der wohlorga­              nung und das Wertefundament einer Gesellschaft. In der
nerische, szenische und akustische Elemente zusammenwirken. »Tatsächlich schwebt mir bei meiner                                                                            nisierten Gruppe besonders schnell. Was sich unsereins            hemmungslosen Wühlarbeit und Verbissenheit der Ratte
Beschäftigung mit der Walküre eine Art Gesamtkunstwerk vor«, sagt sie. »Aber eben nur inner­halb                                                                           zur Rattenabwehr auch hat einfallen lassen: Irgendeine            scheint die destruktive Konsequenz der Freiheit auf die
des dritten Aufzugs.«                                                                                                                                                      Ratte war immer klüger. Ratten sind nicht nur stark und           Spitze getrieben.
                                                                                                                                                                           intelligent, können springen, balancieren, schwimmen und
Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur. Er schreibt und produziert Reportagen und                                                                                                                                     Karin S. Wozonig lehrt am Institut für Germanistik der
­Features für BR-Klassik, den SWR und den MDR unter anderem über Oper, Literatur, Neue Musik und Welt­                                                                     mehrere Schritte vorausdenken. Sie kommunizieren auch             ­Universität Wien. Ihr Porträt der Ratte erscheint demnächst
 musik. Am 3. Mai läuft auf SWR 2 sein Radiofeature Volkskunst postnational – Der Flamenco in der Neuen Musik.                                                             viel, und zwar flüssig. Der Urin einer Ratte ist ihr Facebook-     in der Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz.
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
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Brünnwohiltande
Richard Wagner spart in seinem Ring nicht mit                                                                                                      Dass diese beiden zentralen Figuren des Rings nicht        dass sonst sie ganz dir gehörte, / du Gott, vergiss das
                                                                                                                                                   durch eigene Gefühlswegweiser charakterisiert wer­         nicht! / Dein ewig Teil nicht wirst du entehren …« Und
musikalischen Leitmotiven. Doch warum verzichtet                                                                                                   den, mag erstaunen. Es könnte darin begründet              in Wagners Prosaentwurf zu diesem Libretto hieß es
er gerade bei zwei der zentralen Figuren, Wotan                                                                                                    liegen, dass beide in der Walküre einen einschnei­         noch deutlicher: »denn sieh! ein theil bin ich von dir,
                                                                                                                                                   denden Identitätsverlust durchmachen, der keine            deine eigene hälfte, weib wo du mann bist!«
und Brünnhilde, darauf?                                                                                                                            musikalisch einheitliche Chiffre duldete: Wotan                Die großen Gespräche der beiden – Wotans Ver­
                                                                                                                                                   gibt seinen Willen auf, Brünnhilde verliert ihre Gott­     zweiflungsmonolog und die lange, einem Gerichts­
Text: Wolfgang Fuhrmann                                                                                                                            heit. Beides führt zu einem unheilbaren Bruch ihrer        prozess ähnelnde Schlussszene – sind Stufen einer
                                                                                                                                                   symbiotischen Einheit. (Erst nach diesem Trauma            wachsenden Entfremdung und wohl auch deshalb
                                                                                                                                                   wird Wotan das Wanderer-Motiv zu eigen, auch die           musikalisch eher spartanisch gehalten; nicht nur
                                                                                                                                                   Brünnhilde der Götterdämmerung hat nun eine sie            in der zurückhaltenden Ausstattung mit Leitmoti­
                                           Die Bezeichnung »Leitmotiv« stammt nicht von Richard Wagner.                                            begleitende melodische Formel.)                            ven, sondern auch im zumeist kahlen und kargen
                                           Dieser sprach lieber von »Themen« oder »melodischen Momenten«,                                              Die ursprüngliche Einheit beider war das Pro­          Orchesterklang. In jener letzten Szene, nach der ra­
                                           die als »Gefühlswegweiser« durch seine Musikdramen dienen soll­                                         gramm, das Wagner von Ludwig Feuerbachs Phi­               senden Flucht der anderen Walküren, dominieren
                                           ten. Gemeint sind melodisch-harmonisch einprägsame Gestalten,                                           losophie übernommen hatte. So wie sich in sei­             lange der spröde Klang gemischter Holzbläser und die
                                           die dramatische Personen, Dinge oder Ideen bezeichnen und in                                            ner Theorie das »Weib« Musik mit dem »­Manne«              düstere Farbe tiefer Streicher. Das fast schüchtern
                                           mannigfaltiger musikalischer Schattierung deren Schicksal nach­                                         Dichtkunst vereinigen musste, um das wahre                 von der Oboe angestimmte Moll-Motiv, das Brünn­
                                           zeichnen, um das Publikum emotional daran teilhaben zu lassen.                                          musika­lische Drama zu zeugen, so musste es auch           hildes ersten Verteidigungsworten vorausgeht, ist
                                           So gesehen trifft es Gefühlswegweiser eigentlich sogar besser als                                       im ­Drama selbst zugehen: »Der wirkliche Mensch            Sinnbild ihrer Liebe zu den Wälsungen; zugleich
                                           das heute übliche Leitmotiv.                                                                            ist Mann und Weib, und nur in der Vereinigung              nimmt es Wotans Unmut-Motiv in sich auf, auf die
                                                Blickt man auf die Leitmotive im Ring des Nibelungen, dann                                         von Mann und Weib existiert erst der wirkliche             symbiotische Nähe der beiden verweisend. Erst am
                                           fällt auf, dass sie entweder abstrakte Ideen, Ding-Symbole (der                                         Mensch«, schrieb er während der Entstehung der             Ende, nach Dur gewendet und im warmen Klang
                                           Ring, das Schwert) oder aber konkrete Personen bezeichnen – und                                         Walküre. In Tristan und Isolde wird diese Idee der         des vollen Orchesters leuchtend, spült dieses Motiv
                                           dies scheinbar unsystematisch. Göttliche Hauptfiguren wie Wotan,                                        Androgynie bis zum Identitätsverlust beschworen.           Wotans Zorn förmlich hinweg. Zu der Szenenanwei­
                                           Fricka oder Brünnhilde, aber auch Mime und Alberich haben kein                                          In der ­Walküre gilt sie nicht nur für die Zwillings­      sung »Brünnhilde sinkt, gerührt und begeistert, an
                                           ihnen zugeordnetes Leitmotiv, während scheinbare Nebenfiguren                                           geschwister Siegmund und Sieglinde, die im jeweils         Wotans Brust; er hält sie lange umfangen« erklingt
                                           wie Freia oder Loge von charakteristischen »melodischen Momen­                                          anderen Spiegel und Echo erkennen, sie gilt auch für       es im vollen Orchestersatz – über nur sechzehn Tak­
                                           ten« begleitet werden.                                                                                  Wotan und Brünnhilde, Vater und Tochter.                   te, aber in einem scheinbar ins Unendliche gedehn­
»Mit mir nur rat’ ich, red’ ich zu dir!«        Bei näherem Hinhören stellt man freilich fest, dass diese ­Motive                                      »Mit mir nur rat’ ich, red’ ich zu dir!«, sagt Wotan   ten Augenblick – und vereint in seiner wärmenden
Wagners Vater-Tochter-Konflikt-            gar nicht den mythischen Figuren in ihrer Individualität gelten:                                        vor seinem großen Monolog, in dem er sein Macht­           Hüllkurve das Paar noch ein letztes Mal. Vielleicht
Gespann, in einer Zeichnung von            Freias Thema steht für die frühlingshaft unsterbliche Liebe (des­                                       streben aufgibt und nur noch die Vernichtung, das          haben sie auch deshalb keine eigenen Motive: weil
Konrad Dielitz, um 1892
                                           halb kehrt ihr Motiv in der sich rasch entwickelnden Leidenschaft                                       Ende, heraufbeschwört. Brünnhilde wiederum                 sie eins sind.
                                           zwischen Siegmund und Sieglinde wieder), Loges Motivik verkör­                                          verweigert ihm den Gehorsam, indem sie an der
                                                                                                                                                                                                              Wolfgang Fuhrmann ist Professor für Musiksoziologie
                                           pert die Idee von gleisnerischem Lug und Trug wie auch die Natur­                                       entscheidenden Wendung des Dramas, statt Sieg­             und Musikphilosophie an der Universität Leipzig.
                                           gewalt des Feuers. Dagegen werden die menschlichen Akteure                                              mund den Tod zu verkündigen, sich auf die Seite            2013 veröffentlichte er gemeinsam mit Melanie Wald
                                           wie Siegmund, Sieglinde, Hunding, Siegfried und selbst die drei                                         der Wälsungen schlägt (musikalisch verliert diese          das Buch Ahnung und Erinnerung. Die Dramaturgie
                                           Gibichungen durch ihre individuellen Motive charakterisiert.                                            erhabene Szene immer mehr ihren starren, eben              der Leitmotive bei Richard Wagner.
                                                Wotan und Brünnhilde sind Motive zugeordnet, die eher                                              ritualhaften Charakter, wird belebter, anteilneh­
                                           ­abstrakte Ideen versinnlichen: Wotans Speer-Motiv bringt ­seine                                        mender, »menschlicher«). Im Grunde tut sie das,
                                                                                                                    Foto: Ebenezer Cobham Brewer

                                            Macht zum Ausdruck, damit aber auch deren Quelle, seine                                                was Wotan sich selbst versagt – sie beweist somit
                                            ­Ver­träge; das Walhall-Motiv die Götterburg als Monument gewor­                                       untreue Treue zu Wotans ihm selbst entfremdeten
                                             denes Machtstreben (nicht zufällig wird es im ersten Rheingold-                                       Ich. In der großen Verteidigung Brünnhildes vor
                                           Zwischenspiel aus dem Motiv des Rings entwickelt). ­Brünnhilde                                          dem zürnenden Gott argumentiert sie denn auch
                                           schließlich ist durch den wilden Walkürenritt mit ihren acht                                            in diesem Sinn: »musst du spalten, was einst sich          Die Walküre
                                           Schwestern verbunden.                                                                                   umspannt, / die eigne Hälfte fern von dir halten, /        im April 1 im Spielplan
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
Schauspiel ⁄ Odyssey. A Story for Hollywood   16   Während Wladimir P     ­ utin                                                                  17
                                                   der Ukraine den Krieg*
                                                   ­erklärt hat, fragen wir uns:
                                                    Welche Rolle spielt
                                                    ­Europa in der Welt? Und
                                                     warum ist es gerade jetzt
                                                     wichtiger denn je, sich zu              Herr Warlikowski, vor dreißig Jahren haben Sie
                                                     erinnern? Der Regisseur                 im Theater begonnen, immer experimentiert
                                                                                             und sich selbst mit vielen Fragen konfrontiert.
                                                     Krzysztof Warlikowski                   Was haben Sie dabei über sich gelernt?
                                                     über sein Stück Odyssey                 Sie fragen also nach meiner eigenen Odyssee … Was
                                                                                             meine Arbeit betrifft, habe ich immer viel durch mein
                                                     und politische, künst­                  Ensemble gelernt. Aber »Odyssee« ist ein gutes Stich­

                                                     lerische sowie persönliche              wort, denn durch unser Stück Odyssey habe ich viel­
                                                                                             leicht am meisten über mich gelernt, vor allem über
                                                     Irrfahrten                              meine eigene Endlichkeit. Wir fingen genau zu dem
                                                                                             Zeitpunkt an, daran zu arbeiten, als die Pandemie
                                                                                             begann, und wussten nicht, was geschehen würde.

                                                   Interview: Gero von Boehm                 Der Grund, warum ich das Stück inszenieren wollte,
                                                                                             war ein 83 Jahre alter Schauspieler, damals schon
                                                   Fotos: Jonas Unger                        sehr fragil. Wir brachen die Proben ab und machten
                                                                                             ein Jahr später weiter. Einen Monat darauf starb der
                                                                                             Schauspieler an Covid. Von da an änderte sich ­alles.
                                                                                             Es ging nur noch um Zerbrechlichkeit und um das
                                                                                             Ende. Ich hatte in den vergangenen dreißig Jahren
                                                                                             einerseits einen unglaublichen Heißhunger auf Thea­
                                                                                             ter und auf Erfahrungen, andererseits führte ich mit
                                                                                             meinen Stücken einen Kampf gegen die Welt, wie sie
                                                                                             ist. Und ich hatte sehr oft das Gefühl zu siegen. Im
                                                                                             Lauf der Jahrzehnte nahm dieses Gefühl permanent
                                                                                             ab. Ich wurde zunehmend desillusioniert. Ich sah im­
                                                                                             mer klarer, dass wir in einem großen Lügen­gebilde
                                                                                             leben, das sich aus der Propaganda der Regierun­
                                                                                             gen speist. Und dann gibt es diesen Druck auf die
                                                                                             Menschen, permanent zu konsumieren. Man gaukelt

»Der Mensch
                                                                                             ­ihnen vor, das sei die Erfüllung.
                                                                                             Aber Sie geben nicht auf, Sie kämpfen weiter
                                                                                             gegen die Lügen und wollen, dass Ihre
                                                                                             Zuschauerinnen und Zuschauer sie erkennen.

schafft sich seine
                                                                                             Ja, denn die Welt versucht, dich schmutzig zu ­machen,
                                                                                             dich so werden zu lassen wie alle, die die Lügen ein­
                                                                                             fach nicht sehen wollen. Und dann schlägst du wild
                                                                                             um dich und wehrst dich. Es ist eine Frage der Wahl.

Hölle selbst«
                                                                                             Und ich habe mich für diesen Weg entschieden. Es gibt
                                                   * Dieses Interview wurde geführt          keinen anderen Weg. Der Weg wird immer schma­ler,
                                                   eine Woche bevor der Krieg gegen die      links und rechts gibt es Abgründe, aber man muss ihn
                                                   Ukraine begann. Einzelne Passagen         gehen. Auch wenn man nicht weiß, wohin er führt. Das
                                                   wurden in diesem Zusammenhang
                                                                                             gilt für das Theater. Eine Möglichkeit, sich ein letztes
                                                   nachträglich korrigiert, nicht aber der
                                                   Gesprächsinhalt selbst – Anmerkung        bisschen persönliche Freiheit zu erhalten, besteht darin,
                                                   der Redaktion                             einfach von Ort zu Ort zu wandern, die Schauplätze
Reihe 1 - April 2022 - Die Staatstheater Stuttgart
18            Schauspiel ⁄  Odyssey. A Story for Hollywood
                                                                                                                                                                        »Die Welt verliert zunehmend        19

                                                                                                                                                                        die Richtung. Deshalb suche ich
zu wechseln, um nicht in Agonie zu
versinken und um wenigstens dem ei­
                                            meinen Mund aufmachen, und letzt­
                                            lich geht es in den meisten meiner
                                                                                        Elizabeth Taylor, die zufällig dort war,
                                                                                        sehr laut zu: »Du musst mich spielen!
                                                                                                                                                                        Kontakt zu einer langsam ver-
genen Leben eine Richtung zu geben.
Ich ging von Polen in den Süden, jetzt
bin ich oft in Palermo, auf Sizilien. Und
                                            Stücke auch um Europa. Sie wären
                                            ohne Europa nicht denkbar.
                                            Sie sind Pole, und man weiß, dass
                                                                                        Mein Leben ist ein Hollywoodfilm!«
                                                                                        Dahinter steckte, dass sie um jeden
                                                                                        Preis unsterblich werden wollte. Und
                                                                                                                                                                        schwindenden Generation, die
immer wieder in ­Frankreich.
Klingt auch eher nach einer
                                            die Polen ihre Geschichte als
                                            echte Last empfinden. Ist das bei
                                                                                        auf der anderen Seite gibt es die Ge­
                                                                                        schichte von Homer über Odysseus                                                noch eine andere Welt kannte,
Odyssee. Aber so zu leben schafft
wohl Distanz und hilft auf diese
Weise, die Richtung zu erkennen,
                                            Ihnen auch so?
                                            Ja, es ist wie eine Schlinge, die sich um
                                            den Hals zieht. Teilung, Fremdherr­
                                                                                        und dessen Unsterblichkeit. In der
                                                                                        Covid-Zeit war das alles plötzlich
                                                                                        ganz nah beieinander und mir selbst
                                                                                                                                                                        in der es eine Richtung gab, selbst
in die diese Welt geht, wenn
es überhaupt eine Richtung gibt.
                                            schaft, keine Unabhängigkeit, Krieg.
                                            Das alles ist die Bürde unserer Ge­
                                                                                        ganz nah. Sterblichkeit, das Ende, der
                                                                                        Gedanke daran, was übrig bleibt. Das                                            wenn sie manchmal verloren
                                                                                                                                                                        ging und dann wieder eine Odyssee
Genau darum geht es. Die Welt ver­          schichte, bis weit ins zwanzigste Jahr­     alles ist in das Stück eingeflossen.
liert zunehmend die Richtung. Des­          hundert hinein. Aber man muss versu­        Am Anfang des Stücks sagt
halb suche ich immer mehr Kontakt           chen, diese Bürde neu zu denken und         Odysseus: »Ich werde in
zu einer langsam verschwindenden
Generation, die noch eine andere Welt
kannte, in der es eine Richtung gab,
                                            positive Aspekte zu finden, der Vergan­
                                            genheit eine nützliche Rolle zu geben,
                                            sonst kommt man da nicht heraus.
                                                                                        den Kleidern eines anderen
                                                                                        zurückkommen und mit einem
                                                                                        anderen Namen, und ihr
                                                                                                                                                                        die Folge war. Aber die Erinne-
selbst wenn sie manchmal verloren
ging und dann wieder eine Odyssee
                                            Lange dachte ich, es gebe keinen Weg
                                            zurück, auch nicht in Gedanken. Aber
                                                                                        werdet sagen: Das ist er nicht.
                                                                                        Aber ich werde euch zeigen, dass                                                rungen dieser Menschen sind
                                                                                                                                                                        unendlich wichtig und wertvoll.
die Folge war. Aber die Erinnerungen        um ihn eben doch zu finden, helfen die      ich es bin.« Sind Sie, Krzysztof,
dieser Menschen sind unendlich wich­        Erinnerungen jener Menschen …               ein moderner Odysseus, der
tig und wertvoll. Ohne Erinnerungen         … zu denen auch Hanna Krall                 sich in seiner Arbeit immer wieder
gibt es einfach gar nichts. Ich denke
manchmal, dass die beste Zeit für den
                                            gehört, die das Warschauer
                                            Ghetto überlebte. Ihren Roman
                                                                                        verwandelt und doch derselbe
                                                                                        bleibt?                                                                         Ohne Erinnerungen gibt es ein-
                                                                                                                                                                        fach gar nichts«
Planeten die Zeit nach dem Zweiten          Herzkönig fügen Sie mit der                 Ja, natürlich. Jedes Mal drücke ich
Weltkrieg war. In den Fünfziger-, Sech­     Odyssee von Homer zusammen.                 mich aus, ich kreiere meine eigene
ziger- und Siebzigerjahren ging es vor      Daraus ist das Theaterstück                 Geschichte, alle meine Begegnungen
allem um Freiheit. Die Welt sollte          Odyssey. A Story for Hollywood              und Reisen fließen in die Inszenie­
besser werden. Das war letztlich der        geworden. Wie sind Sie auf Hanna            rungen ein. Es gibt nichts Lineares in
große Plan. Alles war idealistischer.       Kralls Roman gekommen?                      meinen Geschichten.
Sie sind ein europäischer                   Ich habe Izolda getroffen, die Prota­       Das erinnert mich an David Lynch,
Kosmopolit, und Sie profitieren             gonistin des Romans. Hanna Krall            der es in seinen Filmen genauso
von der Vielfalt der Kultur auf             hat uns in Verbindung gebracht. Und         hält. Nichts Lineares, keine
diesem Kontinent, auch als                  Izolda, die damals in ihren Achtzigern      Klarheit. Und man kommt aus
Inspiration für Ihre Stücke. Wie            war und blind, berührte mein Gesicht        dem Kino mit einem sehr                                                                     Gero von Boehm, geboren         Krzysztof Warlikowski, 59,
sehen Sie dieses Europa heute?              und sagte, ich sei ein hübscher Mann.       merkwürdigen, fast körperlichen                                                             1954 in Hannover, ist seit      gehört zu den eigenwilligsten
                                                                                                                                                                                    mehr als dreißig Jahren         und innovativsten Regisseu-
Hat dieser winzige Appendix, der            Dann erzählte sie mir ihr Leben, so         Gefühl, nachdenklich, und                                                                   erfolgreicher TV-Regisseur      ren des europäischen Thea-
an Asien hängt, überhaupt eine              wie Hanna Krall es, sogar in zwei Ro­       alle Sicherheiten, die man vorher                                                           und -Produzent. In seinen       ters. 2021 wurde er mit dem
Chance in der Welt?                         manen, beschrieben hat. Izolda sah          zu haben glaubte, sind für ein                                                              Gesprächsformaten Wort-         Goldenen Löwen der Theater-
Europa gibt es noch gar nicht, es ist       ihr Leben als Vorlage für einen Holly­      paar Stunden dahin. Wollen Sie                                                              wechsel, Gero von Boehm         Biennale Venedig für sein
                                                                                                                                                                                    begegnet oder Close Up inter-   Lebenswerk ausgezeichnet.
                                                                                                                                   Fotos: Alexander Hein, Jonas Unger

im Entstehen. Work in progress. Jeden       woodfilm. Sie hatte die Konzentra­          das mit Ihren Inszenierungen                                                                viewt er Prominente der zeit-   Seine ersten Inszenierungen
Tag, jede Stunde. Wir müssen dafür          tionslager überlebt, ihr Mann auch,         auch erreichen?                                                                             genössischen Kulturszene.       in Deutschland entstanden
kämpfen, für etwas, das noch nicht          durch ihre Hilfe. Dann lebten sie in        Interessant, dass Sie David Lynch                                                           Die ZDF-Reihe Deutschland-      am Schauspiel Stuttgart: 1999
existiert. Aber es wird nur existieren,     Polen, zwanzig Jahre lang ohne Pass,        erwähnen. Er hat tatsächlich einen                                                          Saga und Europa-Saga            Shakespeares Was ihr wollt
                                                                                                                                                                                    mit Christopher Clark gehö-     und 2000 Der Sturm. 2018/19
wenn wir unseren Mund aufmachen             gingen nach Wien, später zu ihren           Einfluss auf mich gehabt. Er sagt:
                                                                                                                                                                                    ren neben großen Porträts       war seine Inszenierung von
und uns ehrlich austauschen, nichts         Kindern nach Israel. Dort rief sie auf      Gib keine Antworten, stelle lieber                                                          und Reportagen zu seinen        Iphigénie en Tauride an der
unter der Decke halten. Ich werde           dem Flughafen von Tel Aviv einmal           Fragen. Und zwar solche, die nicht zu                                                       ­dokumentarischen Arbeiten.     Staatsoper Stuttgart zu sehen.
­ eantworten sind. Egal, was verstanden wird. Keine
b
                                                                                                         20    Schauspiel ⁄  Odyssey. A Story for Hollywood   21
­Lösung anbieten. Dazu gehört Mut, und Lynch hat
 ihn. Das finde ich vorbildlich. Er geht seinen Weg,
 gegen den Mainstream. Genau das will ich auch.
 Die alten Regeln des Thea­ters gelten noch immer,
 aber man kann auf deren Boden eben auch etwas
 anderes versuchen.
Wir leben in einer Zeit, in der die Realität oft
dunkler und gewalttätiger ist, als jeder
Film, jedes Theaterstück es sein kann. Welche
Rolle sollte das Theater heute spielen?
Es sollte einen Raum bieten für echte Kommunika­
tion. Vielleicht ist es einer der letzten in dieser völ­
lig digital werdenden Welt. Da ist eine Gruppe auf
der Bühne, die den Dialog sucht mit ­einer anderen
Gruppe, dem Publikum im Saal. Für mich sind die
Zuschauerinnen und Zuschauer völlig gleichbe­              Aber unsere Gegenwart ist für uns alle eher
rechtigt mit den Akteurinnen und Akteuren auf              dunkel, wenn wir darüber nachdenken,
der Bühne. Und so entsteht eine Einheit. Man ist           was der Klimawandel, die vielen autoritären
zusammen an einem Platz, erlebt etwas gemein­              Systeme, nun der Krieg in Europa in der
sam, stellt dieselben unbeantwortbaren Fragen.             letzten Konsequenz bedeuten. Wie sehen Sie
Es geht letztlich um das gemeinsame Überleben.             dieses große Ganze?
Vielleicht hat die Pandemiezeit da sogar einen             Wenn man das alles zu Ende denkt, muss man
Effekt gehabt. Wir sind jetzt eher bereit, den Mund        sofort aufhören. Warum kann ein Mensch über
aufzumachen, um Fragen zu stellen, weil es in die­         unser Schicksal, über Krieg und Frieden entschei­
ser Zeit ohnehin keine Antworten gab.                      den? Warum ist die Zeit der grausamen, macht­
Ihre Arbeit ist sehr oft verknüpft mit                     versessenen Pharaonen nicht längst zu Ende? Wir
apokalyptischen Gedanken, mit dem Tod, mit                 dachten, sie gehörten ins alte Ägypten. Aber sie
der Unmöglichkeit zu leben. Woher                          sind noch heute überall. Leute, die einfach nur
kommt diese Affinität zur Dunkelheit?                      Pharaonen sein wollen, aus Machtgier. Warum
Menschen, die voller Aktivität und Licht sind,             geht das immer weiter? Ich verstehe es nicht.
­haben meist auch diese andere Seite, die Dun­             Ist der Mensch von Natur aus böse oder gut?
 kelheit. Ich zähle mich dazu. Ich habe in der             Man muss ja nur die täglichen Fernsehnachrich­
 letzten Zeit viele Künstlerbiografien gelesen und         ten anschauen, um diese Frage zu beantworten.
 festgestellt, dass es in der Natur dieser Menschen        Da sehen wir das Böse. Der Mensch schafft sich
 liegen muss, dass das Dunkle sehr präsent ist. Sie        seine Hölle selbst. Und dann gibt es immer auch
 sind nicht wie gewöhnliche Menschen. Paul Celan,          die andere Seite: jene Menschen, die hinauswollen
 Franz Kafka, sie alle haben gelitten. Und das Lei­        aus der Hölle.
 den ist die Quelle ihrer Kreativität. Das wiederum        Wie drückt sich das in Odyssey. A Story for
 ist etwas ganz Normales.                                  Hollywood aus?
                                                           Da geht es eben nicht nur um die beiden Figuren
                                                           Odysseus und Izolda. Es fließen unterschwellig so
                                                           viele andere Charaktere mit ein: Hannah Arendt
                                                           und Martin Heidegger, Claude Lanzmann, Eliza­
                                                           beth Taylor, Roman Polanski. Sie alle wurden zu
                                                           Odysseus in meinem Stück, auch wenn sie nicht
                                                           genannt werden.
                                                           Wenn Ihr Leben ein Theaterstück wäre,
                                                           was wäre der Titel?
                                                           The End.

                                                           Odyssey. A Story for Hollywood
                                                           im April 2 im Spielplan
Schauspiel ⁄  18 Briefe und eine Fabel aus Belarus   22
                                                          Post aus Protest                                                                                           23

                                                          Die junge Regisseurin Maryna Mikhalchuk hat Briefe
                                                          von politischen Gefangenen aus Belarus gesammelt.
                                                          Was erzählen sie über Freiheit in kriegerischen Zeiten?
                                                          Text: Sarah-Maria Deckert Illustration: Frank Höhne

                                                          »Gestern habe ich mit meiner Familie telefoniert und heu­         Seit den Protesten vor zwei Jahren arbeitet Maryna Mikhal­
                                                          te eine Orange gegessen«, liest Maryna Mikhalchuk vor,            chuk an ihrem Stück. Sie sucht nach passenden Theater­
                                                          während sie sich in einer Zoom-Kachel eine d    ­ unkle, glatte   texten, findet aber nichts, was auch einem deutschen Publi­
                                                          Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Es ist ein kleiner          kum die komplizierte Situation ihrer Heimat näher bringen
                                                          Satz, einer von Hunderten anderen Sätzen, die ihr im Kopf         könnte. Bis sie auf die Briefe stößt. Eine gesellschaftliche
                                                          schwirren. »Weil er so positiv ist«, sagt Mikhalchuk und          Initiative sammelt sie in einem Archiv, auf die wiederum je­
                                                          lacht. »Das ist doch verrückt!?«                                  der, der mag, antworten kann. Eine Art Brieffreundschaft –
                                                              Die junge Regisseurin hat Sätze wie diesen gesammelt,         und ein Protest im Hintergrund. Privatmenschen, Aktivistin­
                                                          Briefe vielmehr, von belarussischen Gefangenen. Seit den          nen und Aktivisten schreiben den politischen Gefangenen
                                                          Protesten rund um die strittige Präsidentschaftswahl von          in Gefängnissen im ganzen Land, um ihnen Mut zu machen,
                                                          Diktator Alexander Lukaschenko im August 2020 wurden              oder schlicht, um sie zu unterhalten. Fernab der Propa­
                                                          unzählige Oppositionelle ins Exil gezwungen – oder inhaf­         ganda, die das staatliche Fernsehen über die Bildschirme
                                                          tiert. Wie Amnesty International in einem Bericht schreibt,       spült. Natürlich werden alle Briefe gelesen und zensiert,
                                                          herrscht in Belarus die eklatanteste Unterdrückung von Mei­       vor allem solche aus dem Ausland. Manche kommen an,
                                                          nungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die das           viele nicht. Die Briefe, die Mikhalchuk besonders beweg­
                                                          Land – von dem aus seit Ende Februar russische Panzer über        ten, verschneidet sie als dokumentarische Versatzstücke
                                                          die Grenze in die Ukraine eindringen – seit seiner Unabhän­       mit Teilen des autobiografischen Romans Camel Travel von
                                                          gigkeit erlebt habe. Von Folter und Misshandlungen ist die        Volha ­Hapeyeva, der das Aufwachsen im (post)sowjetischen
                                                          Rede, von Todesurteilen. »Menschen werden festgenom­              Minsk der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre be­
                                                          men, weil sie in einem Telegram-Chat ihre Meinung sagen«,         schreibt. So entsteht die Geschichte der Politisierung einer
                                                          fährt Mikhalchuk fort. Für eine Woche, ein Jahr oder auch         neuen Generation von Belarussinnen und Belarussen.
                                                          zwölf Jahre, wie die Musikerin Maria Kolesnikowa, die die             »Träume sind gut, aber häufig muss man mit sich selbst
                                                          Proteste mit anführte und zum Symbol der Freiheit wurde.          und seinem Umfeld ringen, bis sie Wirklichkeit werden
                                                              Seit drei Jahren war Maryna Mikhalchuk nicht mehr zu          können, deshalb ist es einfacher, keine zu haben – dann
                                                          Hause. Wenn sie mit ihrer Mutter telefoniert, dann ist da         kann man sich die Enttäuschung ersparen.« So heißt es an
                                                          die Angst, dass jemand mithört. »Ich kann meine Welt und          einer Stelle im Stück. Wovon Maryna Mikhalchuk träumt?
                                                          diese nicht länger miteinander vereinbaren«, sagt sie, eher       Sie dreht den Kopf in ihrer Kachel zur Seite und überlegt.
                                                          lakonisch als traurig. Sie wurde in Brest geboren, 1998, am       Gern würde sie irgendwann mal an einem belarussischen
                                                          Westlichen Bug. Eine deutsche Deutschlehrerin legt ihr in der     Theater zeigen, was sie in Deutschland gesehen und ge­
                                                          Schule Tschick von Wolfgang Herrndorf auf den Tisch. Als sie      lernt habe. »Doch noch wird dort Hamlet gespielt, und zwar
                                                          sechzehn ist, bewirbt sie sich für ein Stipendium in Deutsch­     genauso wie schon vor dreißig Jahren. Wenn ein Darsteller
                                                          land, weil sie ans Theater will. Und weil sie das Gefühl hat,     stirbt, wird er nachbesetzt, für die nächsten dreißig Jahre«,
                                                          dass in ihrem Land etwas nicht stimmt. 2015 beginnt sie           sagt Mikhalchuk. »Ich bin keine Heldin, die ihr Leben für
                                                          ein Theaterwissenschaftsstudium an der LMU München,               die Kunst riskiert«, sagt sie. »Aber wenn nur ein Zuschauer
                                                          seit 2020 ist sie feste Regieassistentin am Schauspiel Stutt­     durch mein Stück Anteil an dem Leben dieser Menschen
                                                          gart. Sie sei ihren Weg intuitiv gegangen, weniger aus einem      nimmt, dann ist das doch auch was, oder?«
                                                          konkreten Verständnis heraus, was in Belarus passiert. Erst
                                                                                                                            Sarah-Maria Deckert ist Chefredakteurin von Reihe 1.
                                                          im Nach­hinein habe Mikhalchuk verstanden, wie viel Glück
                                                          sie hatte. »Für mich als Künstlerin ist es ein Geschenk, in
                                                          Deutschland zu arbeiten. Es gibt die Mittel dazu. Und mit         18 Briefe und eine Fabel aus Belarus
                                                          diesen Mitteln kannst du machen, was du willst.«                  im April 3 im Spielplan
24   Ballett ⁄  Noverre: Junge Choreographen   25
Sonia Santiago (Mitte) mit
ihrem Team aus Choreographen
und Tänzer*innen, von links:
Joana Senra, Clemens Fröhlich,
Flemming Puthenpurayil, Anouk
van der Weijde, Christopher Kunzel­
mann, Henrik Erikson, ­Timoor
Afshar, Angelina Zuccarini, Martino
Semenzato, Edoardo Sartori

In neun Schritten zur Nachwuchs-Choreographie.
Sonia Santiago, Projektleiterin von Noverre: Junge
Choreographen, erklärt sie – step by step
Text: Jana Petersen
Fotos: David Spaeth
26                                                                                                27                                                  Ballett ⁄  Noverre: Junge Choreographen

1. Internationale Recherche                           3. Die Auswahl steht (vier                                Martino Semenzato
(sechs Monate                                         Monate vor der Premiere)                                  Tänzer im Corps de ballet, seit der Spielzeit 2018/19
                                                                                                                beim Stuttgarter Ballett, choreographiert das erste
vor der Premiere)                                     Bei unserem ersten offiziellen Meeting mit allen
                                                      Kandidatinnen und Kandidaten besprechen wir
                                                                                                                Mal für Noverre: Junge Choreographen

Zwischen zehn und zwanzig internationale Choreo­                                                                »Freunde, die selbst schon Stücke kreiert haben,
                                                      Ideen, Besetzungswünsche, Musiken. Tatsächlich
graphinnen und Choreographen bewerben sich                                                                      haben mich zum Choreographieren gebracht. Sie
                                                      ist die Auswahl der Musik entscheidend, denn wir          haben mir das Selbstvertrauen gegeben, es zu ver-
jedes Jahr für Noverre: Junge Choreographen. Ich
                                                      müssen für jedes der gewählten Stücke die Rechte          suchen. Ich hatte mich bereits vor zwei Jahren für
lese ihre Konzepte, schaue mir Videos an, telefo­
                                                      erwerben, und das ist manchmal ganz schön auf­            Noverre angemeldet, doch wegen der Pandemie fiel
niere mit möglichen Kandidatinnen und Kandida­                                                                  das ins Wasser. Damals tappte ich noch völlig im
                                                      wendig. Im vergangenen Jahr etwa mussten zwei
ten, recherchiere im Internet. Der kreative Stand                                                               Dunkeln. Ich wusste nicht, welcher Stil mir gefallen
                                                      Choreographen im letzten Moment neue Musiken
der Projekte ist sehr unterschiedlich, einige haben                                                             würde. Heute ist das anders. Corona hat mich reifen
                                                      wählen, weil die Verlage nicht zugestimmt hatten.         lassen. Ich möchte die Beziehung zwischen Perfor-
schon eine fertige Choreographie, andere wollen
                                                      Für einen Kollegen wurde dann binnen weniger              mern und Publikum untersuchen. Kann ein Ballett
diese erst mit unseren Tänzerinnen und Tänzern                                                                  ohne Zuschauerinnen existieren? Viele sagen: Nein.
                                                      Tage von einem befreundeten Komponisten ein
erarbeiten. Bewerbungen aus den USA oder Austra­                                                                Ich würde sagen: Ja. Tänzerinnen und Tänzer können
                                                      komplett neues, eigenes Stück auf seine Choreo­
lien können wir leider nicht berücksichtigen, die                                                               ein Stück von ihrer Warte aus erleben. So wie es bei-
                                                      graphie komponiert! Für die Musik, aber auch für          spielsweise während der Pandemie
Anreise ist einfach zu aufwendig. Aber Europa ist
                                                      alles andere bin ich bis zur Premiere ständig an­         war. Die Anwesenheit des Publikums
für uns machbar. Gemeinsam suchen der Intendant                                                                 ist nicht essenziell. Doch sie erweitert
                                                      sprechbar. Vor allem kümmere ich mich um die
des Stuttgarter Balletts, Tamas Detrich, und                                                                    die Wirkung, schafft eine kollektive
                                                      Räume, besonders für die heiße Phase der Proben.
ich drei bis vier Gäste aus. Bei der Entscheidung                                                               Erfahrung und verändert das Stück
                                                      Dann brauchen zehn Menschen gleichzeitig Platz,           auch für die Darsteller. Zum Jazz von
hilft uns unser jahrzehntelang geschulter Blick für
                                                      gar nicht einfach zu organisieren in einem Opern­         Eddie Harris will ich diese Idee erkun-
Talent und Bewegungsvokabular.                                                                                  den. Die Möglichkeiten dessen, was
                                                      haus mit einer sehr beschäftigten Compagnie.
                                                                                                                man auf der Bühne machen kann,
                                                      Damit jede und jeder zum Zug kommt, dürfen un­
                                                                                                                bleiben für mich überwältigend. Als
                                                      sere Choreographen maximal dreimal pro Woche
2. Interne Suche                                      in den Ballettsaal, um an ihrem Stück zu arbeiten.
                                                                                                                Choreograph stehe ich plötzlich auf
                                                                                                                der anderen Seite. Ich muss den an-
(vier bis fünf Monate vor                             Übrigens: Alle Proben finden in der Freizeit statt,
                                                      also außerhalb der üblichen Probenzeiten der Com­
                                                                                                                deren erklären, was ich im Kopf habe.
                                                                                                                Das ist die Herausforderung. Ich hof-
der Premiere)                                         pagnie für die laufenden Produktionen.
                                                                                                                fe, dass im Ballettsaal die Krea­tivität
                                                                                                                fließt. Meine größte Angst ist, stecken
Zusätzlich hängt zwei Wochen lang eine interne                                                                  zu bleiben. Als Choreograph rettet
Ausschreibung am Schwarzen Brett im Ballett­                                                                    man keine Leben. Trotzdem will ich
flur, potenziell jede und jeder aus der Compagnie     4. Wir und die Technik                                    mein Bestes geben.«

darf sich dort eintragen. Allerdings kann nur eine
begrenzte Anzahl von Choreographien an einem
                                                      (sieben bis acht Wochen
Abend gezeigt werden, sodass nicht mehr als acht      vor der Premiere)
bis zehn Personen pro Jahr bei Noverre mitmachen      Die Unterstützung im gesamten Haus ist riesig,
können, inklusive der bereits nominierten Gäste von   ­Hilfe kommt aus der Kostümabteilung, der Maske,
außerhalb. Häufig bewerben sich mehr Personen,         der Requisite, von den Licht- und Tontechnikern.
als wir annehmen können, in einem Jahr wollten         Ich bin die Schaltstelle, vermittle zwischen den
sogar einmal achtzehn unserer Tänzerinnen und          Choreographen und den Fachleuten im Haus. Das
Tänzer dabei sein. In solchen Fällen wählen wir        Niveau der Produktionen ist mittlerweile sehr hoch.
nach dem Prinzip »First come, first serve« aus, da     Etwa zwei Monate vor der Premiere treffen sich
gab es schon Tränen.                                   die Verantwortlichen der Ton- und Lichttechnik mit
                                                       den Choreographen. Spätestens an diesem Punkt
                                                       wird ihnen klar, dass ein Stück mehr ist als Schritte
                                                       und Bewegungen. Welche Lichtstimmungen sind
                                                       gewünscht? Braucht jemand eine Nebelmaschine?
                                                       Einen bestimmten Soundeffekt? Sind besondere
                                                       Kulissen oder Requisiten notwendig? Die Kollegin­
                                                       nen und Kollegen aus der Technik versuchen, alle
                                                       Wünsche zu erfüllen.
28   Ballett ⁄  Noverre: Junge Choreographen                                                                                                                                      29

                                                                        5. Programmzettel (vier                               8. Generalprobe & Premiere
                                                                        Wochen vor der Premiere)                              Die Generalprobe findet am Tag der Premiere statt,
                                                                                                                              um zwölf Uhr, das hat Tradition. Und dann heißt
                                                                        Tamas Detrich und ich schreiben je ein Vorwort,
                                                                                                                              es toi, toi, toi! Wir feiern endlich unsere Premiere.
                                                                        manche der Choreographen stellen zu ihrer Beset­
                                                                                                                              Der Abend ist eine Institution, hier haben viele
                                                                        zungsliste eine Widmung, ein Gedicht oder einen
                                                                                                                              ­Karrieren ihren Anfang genommen, etwa die von
                                                                        kleinen Text.
                                                                                                                               Christian Spuck, Marco Goecke, Bridget Breiner
                                                                                                                               und von Demis Volpi. Und da ist noch eine andere

                                                                        6. Endspurt: Dramaturgie                               Tradition: Es gibt keine Premierenfeier. Stattdessen
                                                                                                                               zelebrieren wir die Dernière, also den Tag der letzten
                                                                        des Abends (eine bis zwei                              Vorstellung.

                                                                        Wochen vor der Premiere)
                                                                        Im Ballettsaal schaue ich mir jedes Stück an. So      9. Nachbereitung
                                                                        bekomme ich ein Gefühl für den Abend. Manche          Wenn der Trubel vorbei ist, wird ein Pressespiegel
                                                                        Choreographinnen oder Choreographen tanzen am         erstellt, und wir sondieren die Texte und Kommen­
                                                                        selben Abend in Werken ihrer Kollegen, dann muss      tare zum Abend. Ein wichtiges Tool für die jungen
                                                                        ich gewährleisten, dass sie genügend Zeit zum         Choreographen sind ihre Social-Media-Kanäle.
                                                                        Umziehen haben. Wenn der Plan steht, laden wir        Dafür werden sie mit Foto- und Videomaterial von
                                                                        unseren Inspizienten ein, der für den reibungslosen   der Premiere und aus der Probenphase versorgt.­
                                                                        Ablauf der Vorstellungen zuständig ist. In einem      Eini­ge der Choreographinnen und Choreographen
                                                                        sogenannten Preview kann er sich mit den Stücken      werden nach den Vorstellungen mit ihren Stücken
                          Timoor Afshar                                 vertraut machen. Wann betreten die Tänzerinnen        in ­andere Häuser eingeladen. Und manchmal be­
                          Halbsolist, seit der Spielzeit 2016/17 beim   und Tänzer die Bühne? Wo und wann wird welches        geistert sich Tamas Detrich für ein Stück, nimmt es
                          Stuttgarter Ballett, choreographiert das
                          dritte Mal für Noverre: Junge Choreo-         Licht gebraucht? Welche Musik setzt wann ein?         ins Repertoire auf oder beauftragt jemanden, eine
                          graphen                                                                                             Choreographie für die Compagnie zu erarbeiten.

                            »Mir gefällt am Choreographieren vor        7. Technische Einrichtung                             Jana Petersen ist Journalistin. Als Schülerin der
                                                                                                                              ­Ballettschule der Hamburgischen Staatsoper
                            allem der Entstehungsprozess eines
                            Stücks, der Austausch mit den Tänze­        (zwei bis drei Tage vor der                            war sie häufig dabei, wenn im Ballettsaal neue
                                                                                                                               ­Choreographien entstanden.
                            rinnen und Tänzern. Oft muss ich nach
                            Worten, nach Bildern suchen, damit sie      Premiere)
                            verstehen, was ich meine. Spannend fin-     Kurz vor der Premiere haben wir für ein paar Tage
                            de ich es, ein anderes Medium in Tanz
                            zu übersetzen. Für mein Stück hat mich      die gesamte Bühne für uns, das wird direkt zu
                            Thomas Manns Zauberberg inspiriert.         Beginn der Spielzeit so eingeplant. Die Techniker
              Darin stellt Mann die Frage nach der Zeit. Wie begreift   sind ganztägig für uns da. Jeder Choreograph, jede
              ein Mensch Zeit? Je älter ich werde, desto schneller      Choreo­graphin hat die Bühne etwa zwei Stunden
              vergeht sie. Sie tickt anders als früher. Warum sind
              trotzdem manche Ereignisse immer noch lebhaft in          lang für sich, kann Tänzerinnen und Tänzer platzie­
              Erinnerung? Wie kommt es, dass manches wieder             ren, Abläufe proben, Requisiten einrichten, Licht,
              ganz nah rückt, obwohl es schon lange her ist? In mei-    Ton und Effekte testen. Dabei wird sehr genau
              nem Stück will ich den gemeinsamen Nenner zwischen        notiert, wann was wo auf der Bühne passiert. Die­
              Zeit und Erinnerungen finden. Ich werde Dialoge aus
                                                                        sen Ablaufplan bekommen die Techniker, um im
              dem Zauberberg tänzerisch einbauen, aber letztlich
              bleibt meine Choreographie abstrakt. Dafür habe ich       richtigen Moment reagieren zu können. Am Schluss
              experimentelle Musik gewählt. Lucrecia Dalt spricht       machen wir zwei komplette Durchläufe, einen »tro­
              in ihrem Song Edge von Organen, also ganz konkret         ckenen«, wie wir es nennen, in Trainingskleidung
              vom Körper. Das korrespondiert mit Thomas Mann,
                                                                        und mit nur angedeuteten Schritten, und einen mit
              der den Begriff ›Zeitorgan‹ verwendet. Der zweite
              Titel stammt von dem mexikanischen Künstler La            Kostüm und »ausgetanzten« Choreographien.
              Kriego. Er nimmt seine Musik in großen Räumen auf,
              wodurch sie ganz anders klingt als aus dem Studio.
              Das erste Stück spiegelt für mich die Begrifflichkeit
              von Zeit, das zweite betrifft unsere Wahrnehmung.«                                                              Noverre: Junge Choreographen
                                                                                                                              im April 4 im Spielplan
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