Reihe 1 Oktober 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
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Das Monatsmagazin der Staatstheater Stuttgart Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Schauspiel Stuttgart Oktober 2021 Reihe 1
AY Editorial 3 Cover Liebe Leserinnen und Leser, Für die Oktober ausgabe von Reihe 1 begleitete diese Ausgabe von Reihe 1 liest sich als kleine Ode an großartige Fotograf David Spaeth den Frauen, auf und hinter der Bühne. Da wäre zunächst das Theater- Orchester kollektiv Hauen und Stechen, das für die Staatsoper Stuttgart inspektor Ralf Kühner. Den Die Verurteilung des Lukullus inszeniert und mit der Forderung Rundgang in »Mehr weibliche Regie!« die Oper von morgen entwirft. Im Bildern finden Sie ab Seite 5 Interview erklären die Künstlerinnen, wie das aussehen könnte. Dann führt der Weg bis nach Mexiko. Das Schauspiel Stutt- gart bringt mit der Premiere von algo pasó (la última obra) ein hochpolitisches Thema auf die Bühne: dass in dem Land immer wieder Menschen verschwinden. Wer nach ihnen sucht? Tausende Mütter. Der Schriftsteller Tino Hanekamp durchleuchtet die Hintergründe in einer gewaltigen Reportage. Und schließlich ist da noch die Figur der Tatjana in John Crankos gefeiertem Handlungsballett Onegin. Der Choreograph machte 1967 aus der Romanvorlage von Alexander Puschkin ein Lehrstück über Selbstbestimmung und Standhaftigkeit. Was junge Frauen heute noch darin lesen können, haben wir außer- dem die Tänzerin Miriam Kacerova gefragt. Ein Heft über Hingabe, Engagement und sehr viel Stärke – wir wünschen eine spannende Lektüre! Die Staatstheater Stuttgart Aus der Reihe von Nadine Redlich
4 Inhalt Oper / Theater von innen 5 3 Editorial 5 Theater von innen Der Orchesterflur 8»Alles auf Augenhöhe« Nachholbedürfnis vs. 22 Eigen, feministisch Neustart Wie ergeht und mit Hingabe: das es jungen Musiker*innen Musiktheaterkollektiv während der Pandemie? Hauen und Stechen über Eine Nachwuchsgeigerin die Oper von morgen berichtet 14Die Splitter In Mexiko 24Die Lichtgestalt verschwinden immer Wie John Cranko mit wieder Menschen. Das der Figur der Tatjana in Stück algo pasó (la última Onegin eine Ausnahme obra) erzählt von einer erscheinung in der schmerzhaften Suche Ballettgeschichte schuf 30Wunderbar widerständig Die Erste Solistin Miriam Kacerova erklärt, was es bedeutet, Tatjana zu tanzen 32 Spielplan 38 Das Ding Der Geldregen Im Orchester graben kann es 38 Impressum eng werden. Umso wichtiger, dass klar ist, wo Podeste, Pulte Fotos: David Spaeth und Personen platziert werden
6 Oper / Theater von innen 7 Alles da, was die Partitur verlangt: Im Instrumenten magazin lagern Tamtams, Xylofone, Kir chenglocken und vieles mehr Der Orchesterflur der Staatstheater Ralf Kühner Das Staatsorchester Stuttgart besteht aus über 140 Musike die Lagerung und die Pflege der Instrumente Sorge. Sie planen transportiert rinnen und Musikern. Rund ein Dutzend Mitarbeiterinnen und alle Aufbauten, stellen Pulte, Stühle und Podeste auf, platzie Fotos: Manuel Wagner Instrumente Mitarbeiter im Haus kümmert sich für sie um die Abläufe im ren Harfen und Kontrabässe und verwahren und verteilen die nicht nur von Hintergrund. Einteilung und Disposition, Notenbibliothek und Noten aller Stimmgruppen vor den Proben und Aufführungen. A nach B, er Logistik werden rund um den Orchesterflur im Souterrain des So ist sichergestellt, dass das vielfältige und komplexe Pensum kann sie auch Opernhauses, in direkter Nachbarschaft des Grabens, orga des Orchesters aus Opern, Balletten und Konzerten umgesetzt reparieren nisiert. Sieben Orchesterwarte tragen dabei für den Transport, werden kann. Dann erst spielt die Musik.
8 Oper / Die Verurteilung des Lukullus »Alles auf 9 Augenhöhe« Eigen, feministisch und mit Hingabe: ein Gespräch mit den Künstlerinnen des Musiktheaterkollektivs Hauen und Stechen über die Oper von morgen Interview: Jakob Hayner Fotos: Max Zimmermann 2012 gründeten Franziska Kronfoth und und Dessau die Hoffnung, den Blick Hintergrund des Zweiten Weltkriegs Julia Lwowski das Musiktheaterkollektiv auf die Geschichte und die Welt zu verstehen. Wir können das nach Hauen und Stechen, mit dem sie ein be verändern. Denn die Geschichte Jahrzehnten ohne Krieg hierzu- wegendes, zeitgemäßes und genreüber greifendes Musiktheater anstreben. Die wird immer wieder über große Män- lande kaum noch nachvollziehen. enge Zusammenarbeit mit unterschied ner erzählt, das ist aber eben nicht Die Verurteilung der Großen und lichen Künstlerinnen und Künstlern wie die Wahrheit, zumindest nicht die Mächtigen, das wirkt abstrakt. Das der Kostümbildnerin Yassu Yabara führt ganze. Bei Lukullus wird ein anderer müssen wir für uns wieder greifbar zu einer performativen und unverwech selbaren Theatersprache. Blick eingenommen, zugunsten der machen. Und das funktioniert über weniger privilegierten Bevölkerung, die Figur des Lukullus sehr gut. Frau Lwowski, Frau Kronfoth der Soldaten, Mütter und Kinder. Yassu Yabara: Mir hat geholfen, und Frau Yabara, in der Oper Die Die Idee ist, Geschichte aus einer Lukullus genauer zu betrachten. Verurteilung des Lukullus, für anderen Perspektive zu schreiben. Er ist nämlich sehr erstaunt über die Bertolt Brecht das Libretto So stellt sich viel eher die Frage, wie seine Verurteilung. Das erleben und Paul Dessau die Musik man im Krieg überleben kann, und wir heute ähnlich, dieses große geschrieben hat, geht es um den die großen Schlachten rücken in den Erstaunen über die Tatsache, dass römischen Feldherrn. Der muss Hintergrund. sich Paradigmen ändern. Oder dass im Totenreich, vor einer Art Die Anklage gegen Lukullus aus Ohnmacht Macht werden kann. Jüngstem Gericht, Rechenschaft endet in dem berühmten Satz: Zugleich ist dieses Erstaunen das über seine Verdienste auf »Ins Nichts mit ihm!« Ist Menschlichste an dem Stück. Denn Erden ablegen. Wie kamen Sie diese Verwerfung der große Lukullus wird immer sprachloser auf den Stoff? Perspektivwechsel? und schriller. Über diese Haltung Julia Lwowski: Die Staatsoper Lwowski: Ja! Es ist auch ein mora- habe ich einen Zugang gefunden. Regisseurin Julia Stuttgart hat uns das Stück vorge lisches Problem, an dem wir uns ab- Einerseits gibt es bei Ihnen Lwowski, Kostüm schla gen. Wir haben uns diese arbeiten. Denn diese Verurteilung, eine große Distanz zu dem Stoff, bildnerin Yassu Yabara, Regis eher selten gespielte Oper aus »Ins Nichts mit ihm!«, ist rigoros. vor allem in Hinblick auf seurin Franziska DDR-Zeiten dann angeschaut, und Und zwar so rigoros, wie zuvor jene die historischen Erfahrungen, Kronfoth und sie hat uns fasziniert. Insbesondere verurteilt waren, die nun urteilen. andererseits einen aktuellen Bühnenbildnerin das Libretto von Brecht. Hier werden die alten Wunden mit Zugang. Sind das verschiedene Christina Schmitt (von links) Franziska Kronfoth: Die Anklage neuen überdeckt. Wo aber ist da die Aspekte des Werks? ist das Politische an dem Werk. Als Lösung? Dieses klare moralische Lwowski: Für uns ist die Oper von die Oper entstand, hatten Brecht Schema müssen wir auch vor dem Brecht und Dessau wie ein geschich
10 Oper / Die Verurteilung des Lukullus 11 teter archäologischer Baumkuchen. möglicherweise nur Ideologie? Je ge- Berlin. Eine der frühen Auf- »Ich habe auf Die Schichten bestehen nicht nur nauer man hinschaut, desto mehr Brü- führungen spielte in einem gehört, mich mit dieser Ablehnung aus der Handlung im vorchristlichen che und Widersprüche entdeckt man Hinterhof in Neukölln, auf der zu beschäfti römischen Imperium, sondern auch im Werk. Diese auszustellen, nicht Flucht vor Nachbarn wurde gen«: Franziska aus den verschiedenen Arbeitspha- aufzulösen, das ist für uns interessant. das Publikum mit Taxis in ein Kronfoth setzt sen in Brechts dänischem Exil über Klingt die Musik in Ihren Ohren Bestattungsinstitut gefahren. sich für Kollektive und einen weibli das Nachkriegsdeutschland bis zur noch so, als könnte sie irri- Und nun sind Sie an den großen chen Blick in der jungen DDR. Dann gibt es wichtige tieren? Oder haben sich in den Opernhäusern angekommen. Opernregie ein Inszenierungen, vor allem von Ruth vergangenen siebzig Jahren Was verbinden Sie mit dem Be- Berghaus, Dessaus Frau. Und als wir die Hörgewohnheiten so verän- griff »Kollektiv«? vor drei Jahren mit dem Stück in Kon- dert, dass das gar nicht mehr Kronfoth: Die konzeptionelle Arbeit takt kamen, war die Welt auch noch der Fall ist? findet in der Gruppe statt. Jeder von mal eine andere als jetzt. Lwowski: Mein Lieblingsinstrument uns hat einen eigenen Bereich, die Die Musik von Dessau sorgte bei in Lukullus ist das Trautonium. Nur Hierarchien sind flach. Das meint, der Uraufführung 1951 zum Teil wenige kennen das Instrument noch, dass die Regie nicht der kreative Kopf für Irritationen, insbesondere das war gewissermaßen einer der ist und die anderen nur ausführen, der vielfältige Einsatz des Schlag- ersten Synthesizer. Am ehesten ist es sondern dass sich alle mit ihren Ge- werks. Möglicherweise zeigte bekannt aus Alfred Hitchcocks Film danken und Ideen einbringen. Da- sich darin die Erfahrung des Die Vögel, es macht dort den unheim- durch entsteht eine Vielstimmigkeit, Krieges, es hallte aber vor allem lichen Sound. Lukullus ist sehr fein ein Kaleidoskop aus Perspektiven. »modernistisch« und »forma- instrumentiert, selbst wenn Ketten Als Kollektiv kommen wir mit unse- listisch« nach. Wie gehen Sie mit zum Einsatz kommen oder Steine auf ren Leuten an die Theater, mit der der Musik um? Metallplatten gehauen werden. Oder Schauspielerin Gina-Lisa Maiwald und Kronfoth: Wir haben großes Glück das Fiepen, das Flageolett der Celli, ihrem Kollegen Thorbjörn Björnsson, mit unserem Dirigenten Bernhard beim Eintritt in die Unterwelt, das Martin M allon fürs Video und Christina Kontarsky. Mit ihm zusammen h aben sind sehr präzise eingesetzte musi- Schmitt für die Bühne. Alle bringen wir die Partitur genau studiert und kalische Mittel. Deren Reiz verfliegt sich ein. Alles auf Augenhöhe. interessante Dinge herausgefunden. nicht. Der arme Dessau hat völlig zu Yabara: Es ist nicht immer einfach, Zum Beispiel, dass Dessau viele der Unrecht für seine Musik so viel Kritik wenn wir mit unserem Mikrokos- Szenen neu kontrastierend und cha- einstecken müssen, dabei ist sie ein mos an ein Stadt- oder Staatstheater rakteristisch mit Kammerensembles wahrer Schatz. kommen. Aber wenn man diese besetzt, in verschiedenen Kombina Kronfoth: Die Musik lebt von ihren Offenheit und Neugier spürt wie in tionen. Wir holen die Instrumenta- starken Kontrasten. Und von ihren Stuttgart, wenn es nicht zu Missver- listen dieser Kammermusiken auf experimentellen Momenten. Das ständnissen kommt, kann das sehr die Bühne, den Akkordeonisten, die funktioniert sehr gut für die Oper. bereichernd sein. Für uns ist es ein Flöten, das Trautonium als Unterwelt Das ist ein Werk, das man jederzeit großes Geschenk, auf die Möglichkei- instrument. neu befragen kann, wie es auch Berg- ten eines Opernhauses zurückgreifen Yabara: Hannah Arendt sagte zur haus in ihren zahlreichen Inszenie zu können. Premiere von Lukullus, Brecht sei ein rungen gemacht hat. Sie war sehr Lwowski: Wir vergessen aber auch schlechter Dichter, wenn er lüge. Sie einflussreich, nicht nur für das Musik unsere Anfänge mit der Dunkelheit, warf ihm vor, für die Partei zu schrei- theater der DDR, sondern auch darü- dem Staub und der Enge aus diesen ben. So unterschiedlich wurde das in ber hinaus. Kellerräumen nicht. Ebenso wenig wie Ost und West gesehen, auch im Hin- Bei dem Wort Kollektiv denkt die Geschichte. Franziska kommt aus blick auf den modernistischen Cha- man unweigerlich an die DDR: der DDR, ich selbst aus der Sowjet rakter. Da merkt man, unter welchen Kollektiv der sozialistischen union, das sind prägende Einflüsse. Bedingungen dieses Stück entstanden Arbeit. Los ging es für Hauen und Wir sind auf eine gewisse Weise sehr ist. Man fragt sich: Wo ist Menschlich- Stechen 2012, in den Keller- treu. Auch bei den Arbeitsbeziehun- keit, wo Feinheit, wo Wahrheit? Und wo räumen der Galerina Steiner in gen, die einmal entstanden sind.
12 Oper / Die Verurteilung des Lukullus 13 Was bedeutet das konkret? Lwowski: Wichtig ist auch, dass einzelne Häuser eine eigene Identität Die Regisseurin Julia Lwowski Yabara: Bei uns geht es sehr stark weibliche Kollektive die Möglichkeit entwickeln. Außerdem müsste sich stammt aus der um den Dialog. Das kommt aus dem haben, etwas auf der großen Bühne mehr getraut werden, im Umgang mit Sowjetunion – Bewusstsein dafür, dass man sich in zu zeigen. Es sollte Normalität sein. dem Werk und zusammen mit dem Or- ein prägender einem gemeinsamen Raum befindet. Noch besser wäre es, wenn man es chester. Es muss um Kunst gehen, um Einfluss, den man Wir wollen nicht predigen, uns gefällt nicht extra betonen müsste, aber so Experiment und um Vielstimmigkeit. immer wieder in ihrer Arbeit spürt viel eher die Idee des Rituals, das ge- weit sind wir noch nicht. Apropos Vielstimmigkeit: meinsame Erleben und Herausfinden. Yabara: Julia und Franziska haben Christoph Schlingensief schrieb Und das versuchen wir immer zu be- Hauen und Stechen aus strukturel- einmal, freies Denken ende in rücksichtigen, ob es nun acht oder len Gründen gegründet. Sie hatten Partituren. Wie ist das zu achthundert Zuschauer sind. den Eindruck, dass sie als weibliche verstehen? Wird das freie Denken Kronfoth: Am Ende kommt alles zu- Regisseure nicht wahr- und ernst durch die Partitur beschränkt, sammen, unsere gemeinsame Ausei- genommen werden. Daraus ist eine oder mündet es darin, dass die nandersetzung, ob theoretisch, histo wunderbare künstlerische Identität Partitur der Vielstimmigkeit eine risch oder ästhetisch. Und spielerisch entstanden, aber es begann mit ei- Form gibt? soll es letztlich sein. Es geht nicht ner Ablehnung. Man hat es ihnen als Kronfoth: Jede Theateraufführung nur darum, eine Rolle zu verkörpern, jungen Frauen ohne männlichen Re- ist eine große Partitur, mit allen Ab- sondern mehr noch darum, das Ver- giemeister im Hintergrund nicht zu- läufen, den Auftritten, den Abgängen, körpern einer Rolle zu zeigen, wie bei getraut, eine Oper zu inszenieren. Die der Musik, den Videoeinspielern und Brecht. Aus den verschiedenen Aspek- Sprache unseres Kollektivs wird auch so weiter. Und das ist das Resultat ten setzt sich dann für den Zuschau- immer wieder vehement abgelehnt. der gemeinsamen freien Arbeit, eine er ein Bild zusammen, das zunächst Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Verabredung. auch widersprüchlich sein kann. Je wir all diesen Zweifeln als Gruppe Lwowski: Oder endet das freie Den- reicher das Resultat am Ende ist, ein größeres Gewicht entgegenset- ken eben doch dort, wo die Partitur desto glücklicher sind wir. Die Kraft zen können. Wir zerfasern weniger anfängt? Sobald man eine Improvi- kommt aus der Eigenständigkeit der an Selbstzweifeln, und es bleibt mehr sation aufschreibt, also zur Partitur Beteiligten. Kraft zu überzeugen. macht, ist es keine freie Improvisation Lwowski: Wir kennen uns auch schon Kronfoth: Ich habe aufgehört, mich mehr, das kennt man aus dem Jazz. lange, das ist ein Vorteil. Es beglückt mit dieser Ablehnung zu beschäftigen. Aber, um mir gleich zu widersprechen: und gibt Ruhe. Das ist auch nicht ohne Die gibt es bestimmt immer noch, aus Eine Partitur ermöglicht auch die Frei- Konflikte. Aber zehn Jahre gemeinsa- welchen Gründen auch immer. Am heit der Interpretation, da lässt sich me Geschichte schaffen Vertrauen. Anfang der eigenen Laufbahn lag es so viel machen. Eine Partitur ist erst Ohne das wäre die Verausgabung, die auf der Hand, sich damit auseinan- mal Material. Und dann entsteht ein Ekstase und das Überbordende nicht derzusetzen. Man ist sehr schnell auf großes Miteinander, manchmal auch möglich, was für uns zum Theater un- Geschlechterstereotypen und Genie- Gegeneinander, aber das ist das Tolle bedingt dazugehört. kult gestoßen. Jetzt versuche ich, keine beim Musiktheater. In Lukullus geht es um Macht und Kraft mehr darauf zu verschwenden. Männlichkeit, die angegriffen Es ist wichtig, dass wir unsere Kunst Jakob Hayner war von 2016 bis 2020 Re werden. Eine Debatte, die auch machen: eigen, feministisch, mit Hin- dakteur bei Theater der Zeit. 2020 veröf den Theaterbetrieb zurzeit gabe. Und durch die Arbeiten unsere fentlichte er bei Matthes & Seitz sein Buch Warum Theater. Krise und Erneuerung umtreibt. Wie ist Ihr Blick auf die künstlerische Daseinsberechtigung und wechselte zur Tageszeitung nd, wo er momentane Bühnenwelt? behaupten. inzwischen das Ressort für Geisteswis Kronfoth: Es ist wichtig, dass alle Wie sollte die Oper von morgen senschaft verantwortet. gute Arbeitsbedingungen haben. aussehen? Gute Stücke entstehen nicht durch Kronfoth: Mehr weibliche Regisseure! Kampf, Diktatur und Angst. Gute g e- Und wir müssen weg von dem globa meinsame Arbeit macht Hierarchien lisierten und kapitalisierten Starsystem Die Verurteilung des Lukullus überflüssig. im Opernbetrieb. Das verhindert, dass im November
Die Splitter Die Fotojournalistin Victoria Razo be gleitete 2019 Ange hörige bei der Suche nach vermissten Personen im mexika nischen Bundes- staat Veracruz. Dabei durchforsteten sie auch verlassene Grundstücke wie dieses Im Jahr 2014 verschwinden im mexikanischen Ayotzinapa 43 Studenten. Bis heute ist der Fall ungeklärt. Der Regisseur Thomas Köck verarbeitet das Ereignis in seiner Inszenierung über das Verschwinden, die er mit dem Theaterkollektiv Bola de Carne entwickelt. Wir erzählen die Hintergründe einer schmerzhaften Suche, die von Mexiko bis nach Baden-Württemberg reicht Text: Tino Hanekamp 14 Schauspiel / algo pasó (la última obra) Fotos: Victoria Razo 15
Mexiko. Wer das erste Mal in dieses Land kommt, und Tod. Korruption bedeutet: Der Polizist, der Die Gründe dafür sind komplex. Seitdem der Staat verstand sich gut, hatte die Idee zur Kooperation, ist überwältigt. Von der Schönheit der Natur, dem Polizeichef, der Soldat am Checkpoint, der Bürger 2006 den Kartellen den Krieg erklärte, befindet das Schauspiel Stuttgart stieg sofort ein. Durch Reichtum der Kultur, der Intensität des Lebens. meister, der Innenminister, im Zweifel arbeitet sich Mexiko in einer Gewaltspirale, die sich immer die Pandemie verzögerte sich alles um ein Jahr. Mexiko-Stadt ist Metropole, die Strände der jeder für irgendein Kartell. Die Kartelle machen tiefer in die Gesellschaft schraubt. Erst kamen die Im Mai reisten Köck und sein Team schließlich auf Karibik sind Paradiese, drum herum ist Wilder mehr Geld als ganze Staaten, und ihre Gewalt Morde, gefilmte Hinrichtungen, gefolterte Körper, eigene Faust nach Mexiko und begannen mit der Westen, nur dass die Hüte abgetragener und die bleibt ungesühnt. Sie zersetzen das gesamte die an Brücken hingen, Köpfe am Straßenrand, Arbeit. Ein zentrales Thema ist dabei die Massen- Pferde magerer sind. Man ist wie benommen von Land. Aus dieser Falle kann man sich nur mit Geld Massaker als Botschaften. Dann begann das Ver- entführung von Ayotzinapa. den Farben und Gerüchen, von der Herzlichkeit retten. Oder man hat Glück. Die meisten Mexi- schwinden. Männer verschwinden, weil sie für das der Menschen. Das Chaos wirkt befreiend. kaner vertrauen aufs Glück. Sie begegnen dem falsche Kartell gearbeitet haben, sich weigern, für Es ist der 26. September 2014, ein Freitag, neun Im frühen und späteren zwanzigsten Jahrhun- Leben mit einem seltsam fröhlichen Fatalismus. ein Kartell zu arbeiten, sonst irgendwie im Weg Uhr abends. Nach einer Demonstration in Iguala, dert war Mexiko so etwas wie die Schweiz mit Bis etwas passiert. sind oder einfach zur falschen Zeit am falschen einer Stadt im mexikanischen Bundesstaat Guer- Schusswaffen und Zufluchtsort vieler Auswan- Algo pasó, »etwas ist passiert«, so heißt auch Ort. Frauen verschwinden, weil sie Frauen sind. rero, kapern etwa hundert Lehramtsstudenten fünf derer aus Deutschland und den von Deutschland das neue Stück des österreichischen Autors Sie werden zur Prostitution gezwungen, versklavt, Busse. Das machen sie öfter, die Behörden ließen okkupierten Ländern: Anna Seghers, B. Traven, Thomas Köck. Es ist eine Koproduktion mit der verkauft, vergewaltigt, gefoltert, verscharrt. sie bisher gewähren. Doch diesmal passiert etwas. Erich Fromm, Egon Erwin Kisch, Wolfgang Paalen. mexikanischen Theatergruppe Bola de Carne, Von hundert Morden wird in Mexiko im Schnitt Als die Studenten auf dem Weg zurück zu ihrer Später kamen die Beatniks. Die Rolling Stones die sich dem Thema des Verschwindens widmet. einer aufgeklärt, bei den Fällen Verschwundener Schule im Dorf Ayotzinapa sind, stoppen Unifor- und die Beatles haben hier das erste Mal Pilze Die eingangs erwähnten Exilant*innen spielen sind es noch weniger. Von 2006 bis 2019 hat der mierte die Busse mit Schüssen, es gibt sechs Tote genommen, die Hippies das Weite gesucht, in den eine Rolle. Menschen suchen nach Waffen, die mexikanische Staat 11 706 Ermittlungen wegen und 25 Verletzte, unter ihnen Unbeteiligte. Einige 1990er-Jahren pilgerten westliche Revolutions sie nicht finden. Ein Filmteam irrt durchs Land. Entführungen aufgenommen, 39 davon wurden der Studenten können fliehen, doch von 43 fehlt romantiker zu den Zapatisten nach Chiapas, heu- Und dann sind da noch jene 43 Studenten gelöst. 2013 gab die Organisation Human Rights am nächsten Tag jede Spur. te ist Mexiko eine beliebte Destination der Digital aus Ayotzinapa, mit denen das mexikanische Watch bekannt, dass es bei mehr als der Hälfte der Ihr Verschwinden geht um die Welt, es wird Nomads und Aussteiger jeder Art. Man kann hier Menschenverschwinden 2014 an die Weltöffent- dokumentierten Fälle von »forced disappearan- zum Symbol für die Willkür, Korruption und Ge- wunderbar leben, ohne ermordet oder entführt zu lichkeit gelangte. Offiziell gelten in Mexiko mehr ces« zwingende Beweise dafür gebe, dass »staat- walt in Mexiko. Die Menschen im Land geben werden – wenn man kein Mexikaner ist. als 85 000 Menschen als vermisst, die Zahl steigt liche Akteure an der Straftat beteiligt waren«. Die keine Ruhe. Die Regierung beschuldigt korrupte Als Mexikaner ist man in einer Welt voller täglich, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. meisten Menschen bleiben verschollen. Kaum Polizisten, die Studenten dem örtlichen Kartell Korruption und Willkür gefangen, voller Armut In keinem anderen Land der Welt sind es mehr. jemand kehrt zurück. Man findet nicht mal ihre übergeben zu haben, das sie für Mitglieder eines Körper. Ihr Verschwinden ist total. Und die Nach- verfeindeten Kartells hielt, hinrichtete und auf barn raunen »algo pasó«, »etwas ist passiert« … einer Müllkippe verbrannte. Diese Variante der Wahrheit wird schnell widerlegt und bestätigt die Wie soll man dieses gewaltige Grauen zu fassen Zweifel der Menschen, die ahnen, dass da mehr bekommen? Thomas Köck hat es versucht, zu- war. Als gesichert gilt, dass in zwei der gekaper- Knochen splitter und sammen mit seinem Team: dem österreichischen ten Busse Heroin versteckt war, von dem die Stu- Zähne in einer Musiker Andreas Spechtl, der österreichischen Co- denten nichts wussten. Und dass bei dem Angriff Waldlichtung. Regisseurin Anna Laner, dem luxemburgischen auf die Busse und der Ermordung der 43 auch Die Identität Schauspieler Timo Wagner, der Schweizer Schau- das Militär beteiligt war. Wahrscheinlich wurden lässt sich daraus in den spielerin Annina Walt und Micaela Gramajo und sie in Gruppen aufgeteilt und an verschiedenen wenigsten Bernardo Gamboa von Bola de Carne samt dem Orten hingerichtet. Man fand Plastiksäcke mit Fällen ermit mexikanischen Videokünstler und Bühnenbildner Menschenasche und mehrere Massengräber. Erst teln. Es fehlen Daniel Primo und der mexikanischen Kostümbild- 3 der 43 Verschwundenen konnten identifiziert die Daten – und die Mittel nerin Laura Martinez. Algo pasó (la última obra) werden, von Forensikern aus Österreich. entstand in Mexiko und Stuttgart, in der Wüste Der Mann, der die erste offizielle Untersu- von San Luis Potosí und auf der Probebühne des chung leitete, ist seit September 2020 auf der Schauspiels Stuttgart. Flucht, ihm wird Folter, Entführung und Ver Köck spricht von Fragmenten, Skizzen, einem tuschung vorgeworfen. Die neue Regierung des offenen Prozess: »Es ist der Versuch eines Verste- Landes, die erste linke Regierung Mexikos, ange- hens«, sagt er im Juni, mitten in den Proben. »Wir führt von dem Linksnationalisten Andrés Manuel wollen uns dem Phänomen des Verschwindens López Obrador, bemüht sich um Aufklärung und auf mehreren Ebenen nähern, um es irgendwie hat Dutzende Menschen verhaften lassen, die zu begreifen.« Drei Jahre zuvor war er in Mexiko, an der Tat beteiligt gewesen sein sollen. Noch Bola de Carne führte ein Stück von ihm auf. Man ein Detail: Die Busse wurden unter anderem mit 16 Schauspiel / algo pasó (la última obra) 17
G36-Sturmgewehren des deutschen Waffenher- Organisierte Suchtrupps, stellers Heckler & Koch (H&K) beschossen. darunter 2006 bestellt der mexikanische Staat Tausende vor allem Waffen bei H&K, einer Firma mit Sitz im baden- Mütter und württembergischen Oberndorf am Neckar. Laut Aktivistinnen, durchforsten Ausfuhrgenehmigung hätten die G36-Gewehre Wälder nach nie in Guerrero landen dürfen, weil dieser Bundes menschlichen staat neben drei weiteren als besonders proble Überresten matisch gilt. Ein Drogenkrieg tobt, Menschen rechtler schlagen Alarm, Berlin gibt trotzdem grünes Licht. Dann passiert Ayotzinapa. Nur weil der Fall der Studenten publik wird, regt sich was. 2019 befindet das Landgericht Stuttgart, dass die Ausfuhr der Waffen nach Mexiko illegal war, ver- urteilt H&K zu einer Geldstrafe von 3,7 Millionen Euro und zwei ehemalige Mitarbeiter, die sich die Ausfuhrgenehmigung erschlichen haben sollen, zu Bewährungsstrafen. Das Unternehmen geht in Revision. Im März dieses Jahres bestätigt der Bundesgerichtshof das Urteil, in der Presse liest sich die Sache als Randnotiz. »Da wischt sich der deutsche Staat halt auch den Staub von der Weste«, sagt Thomas Köck. Er und sein Team haben gerade nur mit großer Mühe die an algo pasó beteiligten mexikanischen Schauspielerinnen und Schauspieler ins Land be- kommen, es ist ja Pandemie. »Waffen werden ein- fach ausgeflogen. Aber wehe, vier Künstler wollen aus Mexiko nach Stuttgart, da brennt gleich ganz Baden-Württemberg.« Die Zahl 43 sieht man in jeder mexikanischen Stadt auf irgendeiner Hauswand prangen. Als ständige Erinnerung. Man nimmt sie nur schon gar nicht mehr wahr. Letztlich sehen die Spuren nur die, die noch suchen. 85 000 verschwundene Menschen, das sind 85 000 suchende Mütter. Nichts anderes bleibt ihnen. Sie suchen ihre Kinder meist noch Jahre nach dem Verschwinden. Sie können nicht aufhören. Sie hängen Plakate auf, befragen alle, die etwas wissen könnten, und auch jene, die nichts wissen. Sie sieben Asche in der Wüste hinter ihrer Stadt, auf der Suche nach Knochensplittern und Zähnen, oder stochern mit Stielen im Waldboden und rie- chen an den Spitzen; wenn es nach Verwesung riecht, muss man graben. Dabei werden sie von Polizisten begleitet, sonst ist es illegal. Gleichzei- tig verzweifeln sie an der Untätigkeit der Behör- den und haben Angst vor den Uniformierten – wer 18 Schauspiel / algo pasó (la última obra) 19
weiß, wer von ihnen für eines der Kartelle arbei- Unter den Ver tet? Menschenreste finden sie immer. Fünf Kilo missten sind viele junge Männer, die Knochensplitter sind etwa drei Menschen. Nur meisten davon wer sie waren, lässt sich in den wenigsten Fällen Opfer von Drogen- bestimmen. Es fehlen die Daten, die Mittel, viel- handel, krimi- leicht auch der Wille. nellen Banden oder Korruption Die Gruppen der suchenden Mütter von Me- xiko funktionieren wie Ersatzfamilien. Weil die Suche zum einzigen Lebensinhalt wird. Irgend- wann wendet sich sogar das soziale Umfeld ab. Zu groß ist der Schmerz der Mütter. Sie sind nichts anderes mehr, Schmerz und Suche. Die Männer helfen sollen, die Überreste zuzuordnen. Medizi- fangen irgendwann wieder an zu arbeiten, die nische Gutachter sollen jahrelang menschliche Mütter suchen weiter. Die Haustür schließen sie Überreste entsorgt haben, ohne eine Autopsie nicht ab, die Kinder könnten ja zurückkommen. durchgeführt oder DNA-Proben genommen zu ha- Ihre Zimmer bleiben unangetastet, im Wohnzim- ben. Viele Behörden weigern sich, miteinander zu mer errichten sie Altäre, vor denen sie jeden Tag kooperieren. Einige Gouverneure geben nicht mal beten wie vor leeren Gräbern. die Anzahl der Vermissten bekannt, um Investo- ren nicht zu verschrecken. Es ist alles ein riesiges In Köcks algo pasó fordert irgendwann einer ein Chaos. In den zweieinhalb Jahren ihrer Amtszeit Archiv. Ein neues Archiv, ein anderes, eines, das ist Karla Quintana, 42, fast vollständig ergraut. alles festhält und ordnet, das Geschehene und noch nicht Geschehene, das Vergessene, Ver- »Im Hochtal von Mexiko sieht der Mensch sich drängte, Ungesagte. Es ist die pure Verzweiflung, zwischen Himmel und Erde schweben und denn natürlich sind Archive nur weitere Orte des zwischen gegensätzlichen Kräften und Gewalten Verschwindens. Vor allem in Mexiko. mit versteinerten Augen und drohenden Schlün- Als die neue Leiterin der Nationalen Such den hin- und herirren. Die Wirklichkeit, das heißt kommission Mexikos, Karla Quintana, im Februar die Welt, die uns in Mexiko umgibt, besteht aus 2019 in ihr Büro kam, fand sie einen Wust aus sich selbst heraus, hat ihr Eigenleben«, schrieb der Excel-Tabellen und Word-Dokumenten, in denen mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Namen von 40 000 Vermissten standen, viele Paz in Das Labyrinth der Einsamkeit, seinem doppelt oder falsch geschrieben. Einige der Ver 1950 erschienenen Essay über Mexiko. schwundenen waren nicht mal verschwunden, Wer dieses Land verstehen will, muss dieses die weiter berichten, obwohl in keinem anderen »und ich weiß nicht / was das bedeutet / ver- ihre Akten wurden lediglich verlegt, falsch archi- Buch lesen. Man versteht es dann zwar immer Land der Welt so viele Presseleute sterben wie in schwinden / ich weiß nicht / ob wir wissen / was viert, von den Behörden. noch nicht, aber immerhin versteht man, warum Mexiko. Frauen, die gegen die Frauenmorde pro- das bedeutet / verschwinden / ich weiß nicht / ob Monate später präsentierte Quintana eine man es nicht versteht. Die Menschen hier verste- testieren und die vom ersten linken Präsidenten, wir dieses verschwinden / überhaupt je / begrei- aktualisierte Liste mit mehr als 60 000 Namen. hen es selber nicht. Sie versuchen es nicht mal. Es auf dem so viel Hoffnung liegt, als Terroristinnen fen können.« Auch die war unvollständig. Weil man all die ist, wie es ist. Dass jedes Jahr Tausende Menschen und Agentinnen westlicher Mächte bezeichnet Tino Hanekamp war Musikjournalist, gründete in Ham Verschwundenen schwer in eine Liste kriegt, in verschwinden? Alle wissen es, die Splitter liegen werden. López Obrador leugnet die Femizide. burg zwei Clubs (Weltbühne und Uebel & Gefährlich), einem Land, in dem es in vielen Behörden nicht herum, jeder kennt irgendwen, der irgendwen Aufruhr versus Apathie, noch so ein Antago schrieb einen Roman (So was von da) und ein Buch über mal Computer gibt. Manche Angehörige melden kennt, der sein Kind sucht, den Vater, den Mann, nismus. Mexiko ist voll davon. Schönheit und Nick Cave (beide KiWi). Er lebt im Süden Mexikos. aus Angst vor der Polizei das Verschwinden erst die Frau. Das Menschenverschwinden ist zum Schrecken, Freiheit und Folter, Tod und Blumen. gar nicht. Dann werden zuweilen so viele Leichen Teil ihrer Welt geworden, wie die Morde, die Kor- Und einmal im Jahr treffen sich alle auf dem gefunden, dass Kühltrucks von Stadt zu Stadt fah- ruption, das Nichtfunktionieren des Landes. Die Friedhof und feiern am Día de Muertos die Toten. Algo pasó – »etwas ist passiert«. In Mexiko gelten Tausende Menschen als verschwunden. Gemeinsam ren, um sie einzusammeln, während anderswo meisten nehmen es hin, wie sie alles hinnehmen. »Der Tod erhellt das Leben«, schrieb Paz. »Wenn mit europäischen Künstler*innen und dem mexi Überreste Unidentifizierter in Kartons lagern, in Und dann gibt es noch jene, die keine Ruhe er keinen Sinn hat, hat auch das Leben keinen.« kanischen Theaterkollektiv Bola de Carne geht der unbeschrifteten Grüften und geheimen Gräbern. geben. Mütter und Väter, Aktivistinnen und Akti Doch die Verschwundenen sind nicht tot, sie sind öster reichische Autor Thomas Köck dem Thema Die Namen der Gesuchten stehen in Akten oder visten, die demonstrieren, vor Rathäusern kam einfach nur weg, ohne Ende, ohne Sinn. rund um Korruption, Macht und Gewalt nach. Notizbüchern, in wieder anderen Ordnern sind pieren, Fragen stellen, obwohl es sie das Leben Am Schluss von algo pasó lässt Thomas Köck algo pasó (la última obra) die DNA-Proben der Angehörigen gesammelt, die kosten kann. Journalisten und Journalistinnen, einen der 43 verschwundenen Studenten sagen: im Oktober 1 im Spielplan 20 Schauspiel / algo pasó (la última obra) 21
»Meine musikalische Wie ergeht es jungen Nachwuchsmusiker*innen während der Pandemie? Geigerin Veriko Tchumburidze über 23 Entwicklung Nachholbedürfnisse und den Versuch des Neustarts hat stillgestanden« Die Geigerin Veriko Frau Tchumburidze, wie haben Sie die aber eben ohne Publikum. Solche Aktionen Tchumburidze, 1996 in der Türkei Zeit der Pandemie erlebt, ohne waren zwar wichtig, auch als Zuhörerin geboren, hat Auftrittsmöglichkeiten, ohne Möglichkeiten, hat mir das viel gegeben, aber sie ersetzen georgische Wurzeln die noch junge Karriere voranzutreiben? natürlich keinen Liveauftritt. und lebt in Vor der Pandemie habe ich schon internationale Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen und Ihrer München. Als Ge winnerin einer Konzerte in mehreren Ländern gespielt. Ich Generation Chancen genommen wurden? Ausschreibung des war es gewohnt zu arbeiten. Deshalb hat mir Klassische Musik ist eine ernst zu nehmende Staatsorchesters der Kontakt mit meinen Professoren an der Kunstform. Da sind Konzerte per Facebook oder Stuttgart spielt sie Hochschule und mit dem Publikum gefehlt. Auch YouTube keine Karriere. Dennoch muss man bei dessen Eröff nungskonzert der der Austausch mit anderen Musikerinnen heute flexibler sein und kreative Ideen haben. Saison 2021/22 und Musikern. Plötzlich war jeder auf sich selbst Vor allem bei der Programmgestaltung und Antonín Dvořáks gestellt. Außerdem ist es als freiberufliche der Zusammenstellung unterschiedlicher Violinkonzert. Künstlerin schwierig, den Lebensunterhalt zu Werke. Der Kontakt mit anderen Musikern und bestreiten. Zuvor war ich sehr aktiv, und auf Künstlerinnen ist dabei sehr wichtig. Nicht einmal saß ich allein in meinem Zimmer im nur der virtuelle, sondern der direkte. Und den Studentenwohnheim, meine musikalische Ent- baue ich gerade wieder auf. Wir jungen wicklung hat eineinhalb Jahre stillgestanden. Künstlerinnen und Künstler müssen jetzt härter Was haben Sie getan, um den Kontakt zur daran arbeiten, dass es weitergeht. Musik nicht zu verlieren? Was konnte Ihnen die Musik in der Ich habe mir in dieser Zeit viele neue Stücke schwierigen Pandemiezeit geben? erarbeitet. Wenn man aber nur zu Hause Alle Arten von Kunst waren für mich eine übt, ohne die Möglichkeit, sie im Konzert zu Rettungsinsel. Auch wenn sich die Menschen spielen, ist es schwierig. Das Gefühl, auf dessen nicht immer bewusst sind, aber Kunst der Bühne zu stehen, habe ich sehr vermisst. existiert in unserem Leben zu jeder Zeit. In der Wie war es, zum ersten Mal wieder vor Kunst gibt es ein ständiges Geben und Nehmen, Publikum zu spielen? und dieser Austausch bringt mich selbst als Mein erstes Konzert nach Beginn der Pandemie Künstlerin voran, auch während der Pandemie. fand genau vor einem Jahr im Oktober statt. Beim Eröffnungskonzert des Staats Nach sieben Monaten Pause war das gar nicht orchesters Stuttgart steht das Violinkonzert so leicht. Ich war nervös und habe dieses von Antonín Dvořák auf dem Programm. Konzert ganz anders empfunden als die Kon Das passende Werk für einen Neubeginn? zerte vor der Pandemie. Einerseits war es Ich freue mich sehr, das zu spielen, da es nicht ein tolles Gefühl, wieder für Publikum zu spie- nur ein Violinkonzert ist, sondern auch ein len, andererseits bedeutete es für mich auch sinfonisches Werk, in dem es einen intensiven einen gewissen Stress. Ich musste erst zu mei- Dialog zwischen der Geige und dem Orchester ner Freiheit auf der Bühne zurückfinden. gibt. Es ist ein sehr positives Stück, das Zum Job gehört, gesehen, wahrgenommen mich und sicher auch das Publikum in eine zu werden. Wie konnten Sie während der hoffnungsvolle Stimmung versetzt. Pandemie auf sich aufmerksam machen? Interview: Florian Heurich Wie viele Musikerinnen und Musiker habe ich Foto: Markus Burke neue Formate ausprobiert, digitale Interviews und YouTube-Videos. Vor Kurzem habe ich ein Onlinekonzert mit dem Sinfonieorchester 1. Sinfoniekonzert 22 Oper / 1. Sinfoniekonzert Liechtenstein gespielt, richtig im Konzertkleid, im Oktober 2 im Spielplan
Die 24 Ballett /Onegin 25 Lichtgestalt Die Figur der Tatjana in Onegin ist eine Ausnahme erscheinung. Zurück geht sie auf einen Roman von Alexander Puschkin. Wie John Cranko daraus ein Lehrstück über selbstbestimmte Frauen, toxische Männer und Standhaftigkeit geschaffen hat Text: Katharina Teutsch Illustration: Karolina Niedzielska Im siebten Kapitel, also schon gegen Ende weil sie ihm nichts zu geben vermag. Es von Eugen Onegin, formuliert der Erzähler sei ein gebieterisches Schicksal, das es das Verhängnis seiner weiblichen Hauptfigur, der tapferen Tatjana befehle, ihn und nur ihn Tatjana. Da wurde bereits ein Liebesbrief zu lieben, heißt es in der literarischen Vor kalt zurückgewiesen, ein Herz gebrochen, lage: den zynischen Snob Eugen Onegin. eine Freundschaft ruiniert und ein Poet beim »Ein melancholischer und gefährlicher Duell erledigt. Für all diese Dramen verant- Exzentriker, ein Geschöpf der Hölle oder des wortlich: ein Mann, der aus der Stadt in die Himmels, dieser Engel, dieser h ochmütige Provinz kam, um dort das Leben des braven Teufel, was ist er?«, so fragt sich der Erzähler. Landadels aufzumischen. Ein reicher Tauge So fragt sich auch noch heute die Leserin nichts, wie der Autor dieses Versromans dieser Geschichte, mit der Puschkin die rus- von 1833, Alexander Puschkin, schreibt. Ein sische Literatur von der französischen Frauenverschleißer, der bald vom Liebes Sprachvormundschaft befreite. Ein toxischer spiel gelangweilt ist, der sich der Literatur Mann, das wäre in der Populärpsychologie zuwendet, aber auch davon wieder ablässt, des 21. Jahrhunderts die wohl treffendste
26 Ballett /Onegin 27 Bezeichnung für einen wie Eugen Onegin. avanciert. Wer schon bei Puschkin nah. Und so wird sie von Cranko konge- Der begehrt, was er nicht bekommen gelegentlich dachte, der Roman müsse nial transponiert, wobei er keinen diabo- kann. Und bekommt er es doch, erkaltet eigentlich Tatjana Larina heißen, der lischen Mann ins Zentrum setzt, sondern er und fertigt seine Trophäe ab. Er ist erlebt bei Cranko, dass sie die einzige die Lichtgestalt einer Frau. Hiermit er- ein Opfer seiner ungestillten Sehnsucht Figur ist, die tatsächlich zu einer wirk weist sich Onegin als ein Ballettklassiker nach Nähe. Ein Gefühl, das stärker lichen Entwicklung fähig ist. Tief verankert mit umgekehrten Vorzeichen. ist als das Glück der Erfüllung selbst. in den bäuerlichen Traditionen ihres Herzschmerz, Liebesdrama, Todes- Und nur wachgehalten werden kann, Milieus, in Naturmystik ebenso zu Hause rausch: All das gibt es auch in anderen indem der Eroberungsfeldzug nie zum wie in der Fantasie der romantischen Werken, bei Schwanensee, Giselle Stillstand kommt. Liebe hat da keinen Romanliteratur, ist Tatjana eine Frau mit oder Romeo und Julia. Was unterscheidet Platz. Der Andere wird immer nur Mittel Wurzelwerk: Sie ist verführbar, beugt und Onegin von ihnen? Folgendes: Weder zum Zweck sein, immer nur Objekt, nie wiegt und krümmt sich sogar vielleicht wird Tatjana zum Opfer ihrer unerwider Subjekt. Onegin handelt nach heutigem hier und da, aber sie bleibt standhaft. ten Liebe (sie hat lediglich Liebeskum- Erkenntnisstand also nach einem Muster, Crankos Onegin entsteht vor der mer). Noch muss sie erlöst werden wie das sein Begehren und sein Lieben auf gesellschaftlichen Kulisse der späten die Schwanenprinzessin oder Dorn fast schicksalhafte Weise regiert. Bei 1960er-Jahre. 1961 revolutioniert die röschen. Oder gar sterben wie Giselle Puschkin gibt es zwar Ennui, Depression Antibabypille die Vorstellung weiblicher oder die Sylphide, jene Fee, der bei der und Reue. Aber keine Therapie. Selbstbestimmung. Zehn Jahre später ersten Berührung mit ihrem mensch- Tatjana ist fasziniert von der schil- demonstrieren Zehntausende Frauen lichen Geliebten die Flügel abfallen. lernden Melancholie des Sonderlings, der in Deutschland unter dem Slogan Mein Stattdessen ist Tatjana das Privileg der ihr Bücher leiht und sie immer stärker Bauch gehört mir. Es ist nicht nur das Emanzipation vergönnt. an sich bindet. Als sie ihm in einem Jahrzehnt der Popmusik, sondern auch Nicht umsonst ist sie, wie Puschkin herzergreifenden Brief ihre Liebe gesteht, der zweiten Frauenbewegung. Ein sie zeichnet, eine aufmerksame Leserin. sich offenbart, sich bloßstellt, wendet sich bekennend homosexueller Choreograph Will heißen: Tatjana hat nicht nur Herz, Onegin entnervt von ihr ab. Wer schon kann sich in diesem Zeitgeist nicht wider- sondern auch Verstand. Und beides einmal Liebeskummer hatte, der weiß, in spruchslos der Darstellung ausgelieferter zusammen befähigt sie zu konsequenten welch tiefe Verunsicherung und Verzweif- Frauenfiguren verschreiben. Schon Entscheidungen. Während Onegin sich in lung solch brüske Zurückweisung führen Puschkins Romanvorlage legt das nicht einen kindischen und für Freund Lensky kann. Sollte alles nur ein Traum gewesen tödlichen Streit verwickelt, weil er dessen sein? So suggeriert es John Cranko in sei- Liebster den Kopf verdreht, versucht Tat- ner berühmten, für das Stuttgarter Ballett jana, sich einen Reim darauf zu machen. entwickelten Kreation aus dem Jahr 1967. Sie wird nicht schlau aus Onegin. Und Zum Schreiben ihres Briefs setzt sich muss es auch nicht. Tatjana an einen Tisch. Dort schläft sie Unternimmt man zwischendurch ein, mit pochendem Herzen über ihrem eine kleine Familienaufstellung der Luftschloss – und Onegin erscheint im Larins, so ergibt sich übrigens ein weib Spiegel. Der Pas de deux zwischen den liches Dreieck: stabil, verbunden, vermeintlich Liebenden, der darauf geschlossen. Olga, Tatjanas leichtlebige folgt, wird getanzt im Reich der Träume Schwester, erholt sich nach kurzer Zeit und spiegelt letztlich nur eines wider: vom Duelltod ihres Verlobten Lensky Tatjanas Wunschdenken. und heiratet einen schmucken Offizier. Crankos Choreographie gehört zu Tatjana ist eine Frau mit Wurzel Olgas und Tatjanas verwitwete Mutter den gefeierten Handlungsballetten werk: Sie ist verführbar, beugt und hat derweil das Glück ihrer Töchter fest in der Ballettgeschichte des zwanzigsten im Blick. Sie arrangiert ein Treffen mit Jahrhunderts. Was das Stück so heraus- wiegt und krümmt sich sogar einem angesehenen General, der darauf- ragen lässt, ist die Verschiebung des Fokus von der titelgebenden männlichen vielleicht hier und da, aber sie bleibt hin Tatjanas Ehemann und Vater ihrer Kinder wird. »Auch ihr, die Mamas, solltet Hauptfigur auf Tatjana, die zum Leitbild standhaft strenger auf eure Töchter aufpassen;
28 Ballett /Onegin 29 haltet euer L orgnon gerade!«, rät der Erzäh- Nein: no drama! Bloß die Ernüchterung ler bei Puschkin den reiferen Leserinnen. eines Durchschnittsmenschen, der sich John Cranko hatte Tatjana in seiner ersten für Höheres bestimmt sah und auf dem Weg Fassung von 1965 noch als Mutter auftreten dahin Raubbau an jenen verübte, die lassen. Zwei Jahre später korrigierte er diese versuchten, ihn zu lieben. Ein Mensch mit Facette seiner Heldin. Er wollte vermeiden, baudelaireschem Spleen und hohler Lust dass man Tatjanas Entschluss gegen Onegin am Laster. Solche Kreaturen verschließen bloß als mütterliche Entscheidung contre sich dem Glück durch eigene Schuld. Seit cœur interpretieren würde. Sigmund Freud wissen wir, dass dies gar Die Zeit jedenfalls vergeht, zehn Jahre, um nicht leicht zu durchschauen ist. So ist genau zu sein. Tatjana, mittlerweile eine an- Tatjana besonders in der Bearbeitung John erkannte Dame der Gesellschaft, trifft erneut Crankos eine fabelhaft widerständige Person, auf Onegin. Als er der verheirateten Fürstin die ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt. nun seinerseits einen Brief überbringt, zer- Das macht sie handlungsfähig, schön und reißt sie diesen. »Wie kann ein Mann mit für den ewigen Jäger Onegin schließlich Ihrem Herzen, mit Ihrem Geist Sklave eines auch begehrenswert. Cranko lässt in einem niedrigen Gefühls sein?« Was für ein Satz! ergreifenden Schlussbild den nun selbst Und auch wenn diese Zeit die alten Wunden zurückgewiesenen Onegin im Hintergrund nicht geheilt hat – denn Tatjana liebt Onegin der Bühne verschwinden, während Tatjana immer noch, die Zurückweisung seiner Wer- dem Zuschauer näher rückt. Tatjana gewinnt bung geschieht durchaus verquält –, so hilft an Größe und wächst buchstäblich über sie doch, ihre Würde zu bewahren. einen Mann hinaus, der sie vermutlich nur Dass man nicht außerhalb der Gesell- weiterhin kleingehalten hätte, hätte sie schaft lieben kann, das gilt noch für Leo sich von ihm überreden lassen. Tolstois törichte Anna Karenina und andere Insofern ist Crankos Ballett ebenso zeit Heldinnen der großen Frauenromane los wie die Geschichte von Puschkin. Mit des neunzehnten Jahrhunderts, wie G ustave einer drängend aktuellen Botschaft für all Flauberts Emma Bovary und Theodor jene Frauen, die nach wie vor gefordert Fontanes Effi Briest. Wer sich seinen Leiden- sind, ihren Selbstwert zu erkennen – und schaften hingibt, der erniedrigt sich, lernt zu verteidigen. Nach #MeToo und vor den man dort. Puschkin hat fünfzig Jahre früher Mut machenden Wortmeldungen vieler mit Tatjana eine Heldin entworfen, die Female-Empowerment-Aktivistinnen tut es all dies durchschaut. schlichtweg gut, eine Frau auf der Bühne Er präsentiert uns keine Frau, die aus zu sehen, die Haltung bewahrt. Es klingt im Standesvernunft im falschen Leben lebt ersten Moment nicht danach, aber es und von Onegin an ihre wahre Bestimmung bleibt: ein Kunststück. erinnert wird. Er zeichnet vielmehr eine Katharina Teutsch, geboren 1977, schreibt Frau, die weiß, dass in dieser Liebe nicht nur als Literaturkritikerin für FAZ und Zeit keine Zukunft, sondern auch kein echtes sowie als Feature-Autorin für den Deutsch- Glück für sie liegt. Er zeichnet eine modern landfunk. D arüber hinaus moderiert sie dort die literarische Abendsendung Studio denkende Frau, die ihren Illusionen nicht LCB. 2015 veröffentlichte sie Der Mops. erlegen ist: konsequent, stolz, vielleicht auch Kulturgeschichte eines Gesellschaftshundes einfach nur herrlich pragmatisch. Über bei Matthes & Seitz. Onegin heißt es indes: »Die Tage flogen vorü- ber; in den lauen Lüften nahte das Ende des Winters; Onegin ist kein Dichter gewor- den, er ist nicht gestorben und hat auch Onegin nicht den Verstand verloren.« im Oktober 3 im Spielplan
30 Ballett / Onegin 31 Was bedeutet es für eine Onegin zurückgewiesen, das Drama mit Lensky passiert … Das verändert Tatjana. Sie weiß, dass Ballerina, die Rolle der ihre Liebe verloren ist und dass sie Fürst Gremin treu bleiben wird. Als sie Onegin das zweite Mal Tatjana zu tanzen? Miriam begegnet, ist es, als würde das Leben sie auf die Kacerova erklärt es Probe stellen. Und sie widersteht. Das macht sie besonders. Wie war es, die Tatjana zum ersten Mal zu tanzen? Ziemlich hart, um ehrlich zu sein. Die Compagnie ging nach Singapur auf Tournee, und es war an- Frau Kacerova, wissen Sie noch, wann Sie fangs nicht geplant, dass ich mitfahre. Doch eine Onegin zum ersten Mal gesehen haben? Woche vor Tourstart verletzte sich eine der Ersten Das muss in meiner ersten Spielzeit beim Stutt Solistinnen. Und so wurde ich gefragt, ob ich nicht garter Ballett gewesen sein. Also vor sechzehn Tatjana tanzen wolle. Ich hatte also nur eine Woche, Jahren, ich war zwanzig oder einundzwanzig. Ich um mich auf die Premiere vorzubereiten. Ich weiß hatte den Roman von Alexander Puschkin nie gele- nicht genau, wie, aber es ist mir gelungen. sen, aber ich kannte die Geschichte. Die Generation Haben Sie einen Lieblingsmoment in der meiner Mutter hat das zu Schulzeiten noch auf Rus- Choreographie? sisch auswendig gelernt, die Passage mit Tatjanas Ich mag den Anfang gern, wenn sie liest, in ihrer Brief zum Beispiel. Manchmal bedaure ich sogar, eigenen Welt ist, verträumt und naiv. Hier kann dass wir das nicht mehr mussten. Es wäre toll, diese man Tatjanas Charakter schon andeuten. Wenn Worte einfach aufsagen zu können. sie das erste Mal auf Onegin trifft, muss man dem Was hat Sie damals am meisten berührt? Publikum zeigen, wie es ist, sich zu verlieben. Das Es war die Art und Weise, wie John Cranko die hat einen Zauber. Die größte Herausforderung aber Geschichte erzählt. Cranko hat diese einzigartige ist der letzte Pas de deux im dritten Akt, als Onegin Klarheit. Das Stück erklärt sich von selbst, es ist sie zurückgewinnen will. Da muss man gegen die auch nicht zu lang, man verliert sich nicht darin. eigenen Gefühle ankämpfen, Onegin soll nicht Menschen, die zuvor noch nie im Ballett waren, sehen, wie schwer es einem fällt, Nein zu sagen. verlieben sich auf der Stelle. Noch dazu hat mich Man muss sich zusammenreißen, bis er abgeht. die Interpretation von Sue Jin Kang sehr bewegt, Glauben Sie, Tatjana wäre mit Onegin glücklich der damaligen Primaballerina. Sie war eine wun- geworden, wenn sie durchgebrannt wären? derschöne Tatjana. Früher oder später hätte sie sicher festgestellt, dass Wie ist Ihre Tatjana? sich Onegin niemals ändern wird. Wieso also für so Jede Tänzerin tanzt sie ein bisschen anders. Und ich jemanden noch andere Menschen verletzen? Nein, würde gern meine eigene Tatjana erschaffen. Das ist das war schon richtig so. wie ein Puzzle, das sich immer neu zusammensetzt. Was haben Sie von Tatjana gelernt? Für mich ist es wichtig, die Persönlichkeit der Figur Dass man zu seinen Entscheidungen stehen soll- zu verstehen, deshalb lese ich so viel, wie ich kann, te. Das erzählt die Geschichte jungen Frauen über die Geschichte, über die anderen Charaktere. auch heute noch: nicht so wankelmütig zu sein, Man braucht das große Ganze für ein stimmiges Bild. nicht ständig seine Meinung zu ändern, sich treu Manche Tänzerinnen sagen, dass sie zu bleiben. Auf gewisse Weise bin ich der jungen diese Rolle zumindest einmal in ihrem Leben Tatjana ganz ähnlich. Ich bin auch eher schüchtern, Die Erste So listin Miriam getanzt haben wollen. Was ist das und manchmal kostet es mich viel Überwindung, Kacerova Besondere an dieser Figur, im Unterschied mir selbst zu vertrauen. Aber er lohnt sich, dieser in der dra zu Julia, Marguerite oder Giselle? Glaube an sich selbst. matischen Foto: Roman Novitzky Wenn man sich Tatjana zu Beginn des Balletts Rolle von John Crankos ansieht, ist sie noch nicht stark. Sie ist jung, hoff- Tatjana nungslos verliebt. Im Roman steht sogar, dass sie Das Interview führte Sarah-Maria Deckert, regelrecht krank vor Liebe ist. Dann wird sie von Chefredakteurin von Reihe 1.
32 Spielplan / Oktober 2021 33 Unser Programm im Oktober. Bitte informieren Sie sich über die 5 Di Ballettabend: New/Works Choreographien von Christian Spuck, Marco Goecke, Edward Clug und William Forsythe Einblicke Führung durch Theatergebäude und Werkstätten 11 Uhr, Treffpunkt Freitreppe Opernhaus, 10/5 € Wiederaufnahme Onegin Ballett von John Cranko nach Alexander Puschkin 19 Uhr, Opernhaus, 8–90 €, Abo 15 19 Uhr, Opernhaus, 8–115 €, Abo 42 aktuell geltenden Bestimmungen Weitere Termine: 9. Oktober, 19 Uhr, 8–108 €, Abo 17; Weitere Termine: 17., 24., 31. Oktober, 14.15 Uhr Weitere Termine: für Ihren Besuch bei unserem 10. Oktober, 14 Uhr, 8–90 €; 10. Oktober, 19 Uhr, 8–108 €; Europäischer Dramatiker*innen-Preis Panel: Rewriting Europe – 3 S. 24 28. Oktober, 19 Uhr, 8–108 €, Abo 22; 31. Oktober, 18 Uhr, 8–115 €, Abo 58 Kartenservice und auf unseren 12. Oktober, 19 Uhr, 8–90 €, Abo 24; 14. Oktober, 19 Uhr, 8–90 €, Abo 23 Europäisches Theater heute 14.30 Uhr, Unteres Foyer, Schauspielhaus, Uraufführung Websites. Wiederaufnahme Eintritt frei, Einlasskarten über den Kartenservice erhältlich algo pasó (la última obra) (UA) von Bola de Carne, Thomas Köck, Anna Laner Der Würgeengel & Andreas Spechtl nach dem Film von Luis Buñuel Europäischer Dramatiker*innen-Preis 20 Uhr, Kammertheater, 25 € 19.30 Uhr, Schauspielhaus, 8–36 €, Abo 76 Preisverleihung Inszenierung: Thomas Köck 1 Fr Nesenbach 18 Uhr, Stadtraum, Eintritt frei Weiterer Termin: 2. Oktober, 15 Uhr Inszenierung: Viktor Bodó Weitere Termine: 6. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €; 12. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 78; 17.30 Uhr, Schauspielhaus, Eintritt frei, Einlasskarten über den Kartenservice erhältlich 1 Weitere Termine: 24., 30., 31. Oktober, 17 Uhr; 24. Oktober; 26. Oktober, Junges Abo A; 27. Oktober, Junges Abo B; Ökozid (UA) 13. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €; 14. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 86 15 Premiere Der Untergang der Titanic S. 14 29., 30., 31. Oktober, 20 Uhr, 20/7 € 24 von Andres Veiel & Jutta Doberstein von Hans Magnus Enzensberger 1. Sinfoniekonzert 6 Fr 19.30 Uhr, Schauspielhaus, 8–39 €, Abo 91 Die Zauberflöte 20 Uhr, Nord, 23 € Werke von Antonín Dvořák Inszenierung: Burkhard C. Kosminski von Wolfgang Amadeus Mozart Inszenierung: Nick Hartnagel 11 Uhr, Liederhalle, Beethovensaal, 8–42 €, Abo 8 A So Mi 19 Uhr, Opernhaus, 8–115 €, Abo 64 2 Weitere Termine: Weitere Termine: 19., 20., 21., 22., 26., 27., 28., Weiterer Termin: 2. Oktober, 16 Uhr, 8–39 €, Abo 69; Weiterer Termin: 7. Oktober, 19 Uhr, 8–115 €, Abo 62 29., 30. Oktober (zum letzten Mal), 18/7 € S. 22 25. Oktober, 19.30 Uhr, 8–37 €, Abo 9 A 8 2. Oktober, 19.30 Uhr, 8–39 €, Abo 94; 16 18. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 73 A; Europäischer Dramatiker*innen-Preis Ballettabend: Beethoven-Ballette 19. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 73 B; Die Durstigen / Die Kollektionen 20–22 Choreographien von Hans van Manen und 20. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 € Fr Audiowalk Sa Mauro Bigonzetti von Wajdi Mouawad 19 Uhr, Schauspielhaus, 8–60 € Schrecklich amüsant – 19 Uhr, Treffpunkt vor dem Schauspielhaus, 10/5 € Weitere Termine: 17. Oktober, 14 Uhr; aber in Zukunft ohne mich Inszenierung: Citizen.KANE.Kollektiv 17., 29., 30. Oktober, 19 Uhr von David Foster Wallace Weitere Termine: 8. Oktober, 19.15 Uhr; 17 20 Uhr, Hof 3, 12/7 € 9., 10. Oktober, 19 & 19.15 Uhr Einführungsmatinee Inszenierung: Valentin Richter und Felix Strobel zu Die Verurteilung des Lukullus Wiederaufnahme 2 So 12 Uhr, Opernhaus, 5 € Karten & Information Madama Butterfly Die Nacht kurz vor den Wäldern Theaterkasse, Königstraße 1 D 18 von Giacomo Puccini von Bernard-Marie Koltès Montag bis Freitag 10 bis 19 Uhr Was uns anrührt — Klang, Wort, Poesie Sa 19 Uhr, Opernhaus, 8–115 €, Abo 60 20 Uhr, Kammertheater, 12/7 € Samstag 10 bis 14 Uhr Lesung mit Musik in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Inszenierung: Annalisa Engheben 19.30 Uhr, Liederhalle, Mozartsaal, 12/10/6 €, Telefonischer Kartenservice Mo Weitere Termine: 8. Oktober, 8–115 €, Abo 31; Weitere Termine: 9., 10. Oktober Karten über den Kartenverkauf des 0711.20 20 90 13. Oktober, 8–108 €, Abo 30; Literaturhaus Stuttgart Montag bis Freitag 10 bis 20 Uhr 16. Oktober, 8–115 €, Abo 63; 24. Oktober, 8–115 €, Abo 32 9 Sa Ein Haus für die Maus Sitzkissenkonzert für Kinder von 3 bis 6 Jahren 14 Uhr, Nord, 10/5 € 19 Theaterlabyrinth zu Ökozid (UA) Samstag 10 bis 18 Uhr Abonnement 3 0711.20 32 220 An und Aus Weitere Termine: 9. Oktober, 15.30 Uhr; Di 18 Uhr, Treffpunkt Foyer Schauspielhaus, 5 € abo@staatstheater-stuttgart.de von Roland Schimmelpfennig 12., 19., 21. Oktober, 9.30 & 11 Uhr; 23 Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr So 15 Uhr, Schauspielhaus, 8–36 €, Abo 71 A 23. Oktober, 14 & 15.30 Uhr Wiederaufnahme Samstag 10 bis 14 Uhr Inszenierung: Burkhard C. Kosminski Der Besuch der alten Dame Europäischer Dramatiker*innen-Preis Sa von Friedrich Dürrenmatt Weitere Termine: Stuttgarter Premiere 16 Uhr, Schauspielhaus, 8–39 €, Abo 301 3. Oktober, 18.30 Uhr, 8–36 €, Abo 71 A; Seuls Die Newsletter der Staatstheater Stuttgart 15. Oktober, 19.30 Uhr, 8–39 €, Abo 92; Inszenierung: Burkhard C. Kosminski Halten Sie sich auf dem Laufenden von und mit Wajdi Mouawad 31. Oktober, 15 Uhr, 8–36 €, Abo 96; 19.30 Uhr, Schauspielhaus, 8–42 €, Abo 68 A Weitere Termine: und abonnieren Sie unsere Newsletter unter 31. Oktober, 18.30 Uhr, 8–36 €, Abo 97 23. Oktober, 19.30 Uhr, 8–39 €, Abo 93; www.staatstheater-stuttgart.de Inszenierung: Wajdi Mouawad 24. Oktober, 16 Uhr, 8–36 €; Der Rosenkavalier Weiterer Termin: 10. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 € 24. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 69; von Richard Strauss, konzertant 25. Oktober, 19.30 Uhr, 8–36 €; 16 Uhr, Opernhaus, 8–108 €, Abo 61 Weitere Termine: 17. Oktober, 17 Uhr, 8–108 €, Abo 47; 10 So Europäischer Dramatiker*innen-Preis Matinée mit Wajdi Mouawad 11 Uhr, Schauspielhaus, Eintritt frei, 26. Oktober, 10 Uhr, 8–36 €; 26. Oktober (Schulvorstellung), 19.30 Uhr, 8–36 €, Abo 76 Folgen Sie uns in den sozialen Netzwerken Oper Ballett 30. Oktober, 17 Uhr, 8–108 €, Abo 36 Einlasskarten über den Kartenservice erhältlich Schauspiel
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