REPORT - Hans-Böckler-Stiftung
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REPORT Nr. xxx · Mitbestimmungs-Report Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 UNTERNEHMENSMITBESTIMMUNG IN FRANKREICH Neuere Entwicklungen und Debatten Udo Rehfeldt AUF EINEN BLICK – Frankreich ist eines von 18 EU-Ländern mit Mitbe- sieht. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse ist die stimmung im Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat. Seit Umsetzung derzeit aber wenig wahrscheinlich. 2013 ist sie auch im Privatsektor für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten in Frankreich – Die Frage der Mitbestimmung wird zunehmend bzw. 5.000 weltweit obligatorisch. nicht nur im Zusammenhang mit den wirtschaftli- chen und sozialen Erfordernissen diskutiert, son- – Durch das traditionelle Misstrauen zwischen Ar- dern auch unter dem Gesichtspunkt ökologischer beitgebern und Gewerkschaften hat die Unterneh- Nachhaltigkeit. mensmitbestimmung in Frankreich traditionell ei- nen schweren Stand. Die (meisten) Gewerkschaf- ten befürworten sie aber mittlerweile und fordern eine paritätische Mitbestimmung. – In den letzten Jahren hat sich die wissenschaftli- che, gewerkschaftliche und politische Debatte in Frankreich zum Thema Mitbestimmung spürbar intensiviert. Sie führte u. a. zu einem viel beachte- ten Aufruf in der Zeitung LeMonde. – Selbst Präsident Macron hatte im Wahlkampf eine Ausweitung der Mitbestimmung versprochen. Umgesetzt wurde dies bisher aber nur sehr be- grenzt. – Die sozialistische Fraktion hat einen Gesetzesvor- schlag eingebracht, der u. a. ab 5.000 Arbeitneh- mer / innen eine paritätische Mitbestimmung vor-
INHALT Vorwort – 3 5 Die Vorschläge des Collège des Bernardins – 9 1 Einleitung – 6 6 Die Forderungen der Gewerkschaften – 11 2 Das historische Erbe – 6 7 Bescheidene Verbesserung in der 3 Erste Schritte zur gesetzlichen Mitbestim- Unternehmensreform 2017 bis 2019 – 13 mung im Privatsektor unter Hollande – 7 8 Politischer Ausblick – 13 4 Die Versprechungen von Staatspräsident Macron – 9 AUTOR Udo Rehfeldt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut de Recherches Economiques et Sociales (IRES), dem wirt- schafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungsinsti- tut der französischen Gewerkschaften. udo.rehfeldt@ires.fr Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 2
VORWORT gezeichnet und mit europäischen Wettbewerbern ver- glichen. Das Ergebnis war eindeutig: Unternehmen, In 18 der (derzeit noch) 28 EU-Länder sowie in Norwe- bei denen die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat mitbe- gen haben Beschäftigte das Recht, ihre Vertreterinnen stimmen, haben sich während der Finanzkrise und in und Vertreter in den Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat den Jahren danach wirtschaftlich signifikant besser des Unternehmens zu entsenden. Die Unternehmens- entwickelt als Firmen ohne Mitbestimmung. Offen- mitbestimmung ist in vielen europäischen Ländern sichtlich sind mitbestimmte Unternehmen robuster ein grundlegender Bestandteil der Unternehmensfüh- und zukunftsorientierter. rung und der Interessenvertretung. Die deutsche Mit- Sicher trägt dies dazu bei, dass das Interesse an der bestimmung ist also keineswegs ein „Solitär“ – wie Mitbestimmung im Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat bisweilen behauptet wird, sondern eine starke Refe- (Board of Directors) in mehreren Ländern derzeit grö- renz unter mehreren in Europa. ßer wird. Selbst dort wo es bisher keine ausgeprägte Jedes nationale System der Unternehmensmitbe- Tradition der Unternehmensmitbestimmung gab, ent- stimmung ist auf seine Art einzigartig. Es ist historisch stehen interessante Debatten. gewachsen und in ein Gesamtsystem der Arbeitsbe- Die Akteure und politischen Kontexte unterschei- ziehungen und Unternehmenskultur eingebettet. Dies den sich. Und doch steht im Kern meist die gleiche macht es schwierig, sie miteinander direkt zu verglei- große Herausforderung: Ein Gegengewicht zu einem chen oder gar zu versuchen, ein System in ein ande- entfesselten Finanzkapitalismus zu setzen, in dem Ar- res Land zu übertragen. Die institutionell-rechtlichen beitnehmer- und gesamtgesellschaftliche Interessen Strukturen mögen sich von Land zu Land unterschei- allzu oft das Nachsehen haben gegenüber einem kurz- den. Gleichzeitig scheint die Stimme der Arbeitnehmer fristigen Renditedruck, der nur wenigen dient. (Workers‘ Voice) an der Spitze von Unternehmen ein Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass – an- Element der länderspezifischen Antworten auf ähnli- ders als noch 2008 – die Mitbestimmung offensicht- che Herausforderungen zu sein. Als „funktionale Äqui- lich in vielen Ländern als eine mögliche Antwort dis- valente“ betrachtet werden Unterschiede erfahrbar kutiert wird, um die großen Fragen unserer Zeit anzu- und vergleichbar (mehr dazu im Mitbestimmungsre- gehen. Im Rahmen einer kleinen „Länderreihe“ werfen port Nr. 52). wir den Blick auf die aktuellen Debatten und Entwick- Aus diesem Grund lohnt sich der Blick über den lungen in Frankreich und in Großbritannien. Wir haben nationalen Tellerrand: Zum einen um voneinander zu die beiden renommierten Experten Udo Rehfeldt (IRES lernen und die eigene Tradition „zukunftsfest“ zu ma- Paris) und Lionel Fulton (Labour Research Depart- chen. Zum anderen um zu einem gemeinsamen euro- ment, London) gewinnen können, in ihrem Land die päischen Verständnis zu gelangen, was gute Unter- spannenden Diskussionen für uns nachzuzeichnen, sie nehmensführung ausmacht und welche Rolle Mitbe- zu analysieren und vor dem Hintergrund des spezifi- stimmung hierbei spielt. Mitbestimmung sorgt dafür, schen nationalen Kontexts zu verorten. dass Unternehmen eben nicht nur den Shareholdern eindrucksvolle Renditen bescheren. Sie hat mehr im Blick als Börsenwert, Dividende und Investorenrendi- te. Sie steht für ein breiteres Verständnis von Unter- nehmensführung, das sich am nachhaltigen Erfolg des REPORT REPORT Unternehmens ausrichtet. In Zeiten, in denen Unter- Mitbestimmungsreport Nr. 52, 09.2019 Nummer fehlt uns noch Mitbestimmungsreport Nr. 51, 06.2019 nehmen oft zur reinen Handelsware geworden sind, ist STARKE MITBESTIMMUNG – sie ein immer wichtigeres Korrektiv: Um Perspektiven WORKERS’ VOICE STABILE UNTERNEHMEN für Arbeit und Standorte zu sichern und um den lang- Die Stimme der Arbeitnehmer in der europäischen Corporate Governance – eine Einladung, neue Perspektiven für die Mitbestimmung zu eröffnen Eine empirische Analyse vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise fristigen Unternehmenserfolg im Einklang mit seiner Marc Steffen Rapp / Michael Wolff Umwelt sicherzustellen. AUF EINEN BLICK Historisch gesehen waren es in Europa meist (Ver- – Mitbestimmte Unternehmen waren nicht nur robuster während der Finanz- und Wirtschafts- krise, sie erholten sich auch schneller von den – Mitbestimmte Unternehmen initiierten während der Finanz- und Wirtschaftskrise weniger stra- tegische Änderungen. Simultan engagieren sich trauens-) Krisen und große Herausforderungen, die Auswirkungen der Krise. mitbestimmte Unternehmen weniger stark im Bereich Unternehmensübernahmen. – Mitbestimmte Unternehmen entließen während und nach der Krise weniger Beschäftigte als – Mitbestimmte Unternehmen verzeichneten im Unternehmen ohne Mitbestimmung. Betrachtungszeitraum höhere Renditen und dazu führten, dass Mitbestimmungsgesetze einge- – Während der Krise hielten mitbestimmte Un- ternehmen ihre Investitionen in Forschung und wiesen geringere Kapitalmarktschwankungen auf. Die Unternehmensbewertungen unterlagen einem weniger drastischen Verfall, als bei Unter- Entwicklung und in das Anlagevermögen auf nehmen ohne Mitbestimmung. führt oder ausgeweitet wurden. Vor diesem Hinter- einem höheren Niveau als Unternehmen ohne Mitbestimmung. – Die Rentabilität (Return on Assets) bei mitbe- stimmten Unternehmen fiel (während und nach – Für die Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise der Finanz- und Wirtschaftskrise) weniger stark, grund kann es nur verwundern, wie wenig in Folge wiesen Unternehmen ohne Mitbestimmung als bei Unternehmen ohne Mitbestimmung. Die weniger Fremdkapitalaufnahme und mehr Umsatzrentabilität (Return on Sales) blieb bei Aktienrückkäufe auf, während bei mitbestimm- mitbestimmten Unternehmen während der Krise ten Unternehmen ein gegenläufiger Trend zu ceteris paribus auf Vorkrisenniveau. der großen Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 erkennen ist. unternommen wurde, um Mitbestimmungsrechte zu stärken. Offenbar hat der Schock nicht lange genug angehalten, um nicht doch wieder zu einem Business- Die Stimme der Arbeitnehmer in der eu- Starke Mitbestimmung – Stabile Unterneh- as-usual überzugehen. Welches Potenzial hierbei ropäischen Corporate Governance – eine men. Eine Empirische Analyse vor dem Hin- verschenkt wurde, zeigte zuletzt die beeindruckende Einladung, neue Perspektiven für die Mitbe- tergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise. Studie von Prof. Dr. Marc Steffen Rapp von der Uni- stimmung zu eröffnen. Reihe: Mitbestimmungsreport, Nr. 51. versität Marburg und Prof. Dr. Michael Wolff von der Reihe: Mitbestimmungsreport, Nr. 52. Düsseldorf: 2019, ISSN: 2364-0413 Universität Göttingen. Sie haben für den Zeitraum von Düsseldorf: 2019, ISSN: 2364-0413 2006 bis 2013 die Entwicklung von 280 deutschen Börsengesellschaften aus dem Prime Standard nach- Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 3
Interessanterweise beschränkt sich die Entwick- nur auf Ebene einzelner Länder beschränkt bleiben. lung keineswegs auf den europäischen Kontinent. Nicht zuletzt die Entwicklungen im europäischen Ge- Auch in den USA stößt die Unternehmensmitbestim- sellschaftsrecht zeigen: Mitbestimmungsrechte sind mung „plötzlich“ auf Interesse. So tragen US-Wissen- heute nur dann gesichert, wenn ein starkes nationa- schaftler / innen seit einiger Zeit auf der Website code- les Fundament mit einem funktionierenden Schutz terminationfacts.com Informationen und Fakten rund auf europäischer Ebene einhergeht. Mitbestimmung um die Mitbestimmung zusammen. Prominenteste gehört auf die EU-Agenda. Nachhaltige Unterneh- Befürworterin der Mitbestimmung ist die demokrati- mensführung und stärkere Kollektivrechte müssen in sche US-Senatorin und Präsidentschaftskandidatin den nächsten fünf Jahren zu einer Priorität der neuen Elizabeth Warren. Ihr Gesetzesentwurf sieht vor, dass EU-Kommission werden. Ein Vorschlag für eine Euro- die Beschäftigten 40 % der Mitglieder des Board of päische Rahmenrichtlinie zu Unterrichtung, Anhörung Directors wählen. Er ist eingebettet in ein Maßnah- und Unternehmensmitbestimmung – wie sie etwa der menpaket, dass die einseitigen Marktanreize des „Ak- Europäische Gewerkschaftsbund fordert, wäre hier ein tionärskapitalismus“ verändern soll, die Unternehmen wichtiger Schritt in die richtige Richtung. dazu verleiten, ihren Fokus auf die Maximierung des Ob Klimawandel, erodierender gesellschaftlicher Shareholder Value zu legen statt in ihre Beschäftigten Zusammenhalt, digitaler Wandel oder exzessiver Fi- und die Gesellschaft zu investieren. Der US-Journalist nanzkapitalismus: Wir brauchen mehr denn je zuver- und Buchautor Steven Hill hat die amerikanische De- lässige Mechanismen der Aushandlung guter und batte in einem Beitrag für das Mitbestimmungsportal fairer Lösungen mit Beteiligung aller Betroffenen auf anschaulich analysiert. Augenhöhe. Genau dafür stand und steht die Mitbe- Selbstverständlich geht es nicht darum, die deut- stimmung. Nach Jahren des mitbestimmungspoliti- sche Mitbestimmung eins zu eins zu übernehmen. Ge- schen Stillstands in Deutschland wie in Europa sollten meinsam mit anderen europäischen Modellen ist sie wir offensiv und selbstbewusst dafür kämpfen, dass aber eine wichtige Referenz, um die Diskurse in ande- wieder mehr in die „Mitbestimmungsinfrastruktur“ ren Ländern zu inspirieren und Initiativen zu unterstüt- investiert wird. Sonst droht der „Vorteil Mitbestim- zen, die Workers’ Voice stärken wollen. Und auch in mung“ verloren zu gehen. Deutschland lohnt es sich, die Debatten aus anderen Ländern aufzugreifen und sie für den eigenen Kontext Norbert Kluge, I.M.U. Direktor fruchtbar zu machen. Wichtig ist auch, dass sie nicht Michael Stollt, Referatsleiter am I.M.U. Fokus > Mitbestimmung & Europa Unternehmen agieren mühelos über Grenzen hinweg. Auch die Mitbestimmung muss sich also europäisch aufstellen. Zumal über ihre Zukunft auch in Brüssel, Straßburg und Luxemburg entschieden wird. Im Mitbestimmungsportal stellen wir auf unserer FOKUS- Seite aktuelle Entwicklungen und praxisnahe Informationen zusammen. https://www.mitbestimmung.de/html/thema-mitbestimmung-europa-7076.html Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 4
Wo Arbeitnehmer in der EU mitentscheiden Das Recht auf Mitbestimmung in Führungsgremien gibt es … in privaten und staatlichen Unternehmen in staatlichen Unternehmen nur in Ausnahmefällen in der Regel ab einer Beschäftigtenzahl von … Schweden >25 Finnland >150 Estland Lettland Irland Dänemark >35 Litauen Groß- Niederlande britannien >100 Belgien Polen Deutschland >500 Luxemburg* >1.000 Tschechien Slowakei Frankreich* Österreich** >50 >1.000 >300 Ungarn Slowenien >200 Rumänien >50 Kroatien >200 Italien Spanien Liechten- stein Bulgarien Portugal Malta Griechenland Zypern * andere Schwellenwerte für staatliche Unternehmen ** nur GmbHs, bei AGs kein Schwellenwert, sofern ein Betriebsrat existiert Quelle: ETUI 2015 (Download: bit.do/impuls1558) Wer mehr wissen möchte Basisinfos zu Mitbestimmung in den einzelnen EU-Ländern im Mitbestimmungsportal: https://www.mitbestimmung.de/html/ mitbestimmung-in-europa-166.html Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 5
1 EINLEITUNG Unternehmen beschränkt. Sie wurde erstmals 1937 in den Staatsbahnen (SNCF) eingeführt, dann massiv Frankreich befindet sich in einer paradoxen Situation. nach den Verstaatlichungen von 1944 bis 1945. Die Als erstes europäisches Land führte es bereits 1945 Zusammensetzung der Verwaltungsräte (VR)1 war in wirtschaftlichen Angelegenheiten die überbetrieb- dabei „tripartistisch“, entsprechend einer Forderung liche Mitbestimmung von Arbeitnehmern ein, aller- der Gewerkschaft CGT von 1918. Ein Drittel der Sitze dings zunächst nur im öffentlichen Sektor. Seit 2013 ging an Arbeitnehmervertreter (administrateurs salari- ist sie auch im privaten Sektor obligatorisch – jedoch és). Sie wurden in der Regel von den Gewerkschaften mit der höchsten Schwelle hinsichtlich der Beschäf- vorgeschlagen und von der Regierung entsprechend tigtenzahl und mit der niedrigsten Anzahl von Arbeit- dem Ergebnis der betrieblichen Wahlen ernannt. nehmervertretern aller Länder mit Mitbestimmung Erst in den 1960er Jahren begann die Debatte in Europa. Die Hindernisse für eine Ausweitung der über die überbetriebliche Mitbestimmung in den Pri- Mitbestimmung wurzelten in der französischen Kultur vatunternehmen. Die Protagonisten dieser Debatte der Arbeitsbeziehungen. Diese war gekennzeichnet kamen aus „modernistischen“ Zirkeln wie dem poli- durch Misstrauen zwischen Arbeitgebern und Ge- tischen Club Jean Moulin, in dem sozialkatholische werkschaften sowie durch Ablehnung der Mitbestim- und linksgaullistische Technokraten dominierten. Die- mung seitens der Arbeitgeberverbände und lange se Projekte waren stark vom deutschen Modell der auch seitens der Mehrheit der Gewerkschaftsorgani- Mitbestimmung beeinflusst. In einem 1963 vom Club sationen. Wie schon Staatspräsident Hollande im Jahr Jean Moulin veröffentlichten Buch über die Unterneh- 2012 versprach auch sein Nachfolger, Staatspräsident mensreform sprach sich François Bloch-Lainé für die Macron, während des Wahlkampfes eine Auswei- Einführung eines dualen Unternehmensmodells mit tung der Mitbestimmung. Dieses Versprechen wur- Beteiligung von Arbeitnehmervertretern aus. Diese de jedoch nur sehr begrenzt umgesetzt. In der wis- Idee wurde 1975 von der von Staatspräsident Giscard senschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen d‘Estaing eingesetzten Sudreau-Expertenkommission Debatte gewinnt das Thema seither an Dynamik, wo- weiterentwickelt. Ihr Bericht schlug ein Modell der durch der Druck auf den Gesetzgeber wächst. Diese „Mitaufsicht“ vor mit einem Drittel Arbeitnehmerver- neueren Entwicklungen werden hier nachgezeichnet. treter ohne Stimmrecht im VR oder Aufsichtsrat (AR). Diese Beteiligung sollte für Unternehmen mit 1.000 bis 2.000 Beschäftigten fakultativ sein, ab 2.000 Be- schäftigten obligatorisch. Der Vorschlag blieb auf po- litischer Ebene folgenlos, denn er wurde abgelehnt: 2 DAS HISTORISCHE ERBE nicht nur von den Arbeitgeberverbänden (mit Aus- nahme einiger fortschrittlicher Unternehmerzirkel), Im März 1944, noch unter deutscher Besatzung, erar- sondern auch von den drei großen Gewerkschafts- beite der Nationalrat der Résistance, in dem Parteien bünden CGT, FO und CFDT (zu den Gewerkschaften und Organisationen des Widerstands, darunter auch siehe Infobox 3). Seitens der Gewerkschaft stimmten die Gewerkschaften vertreten waren, ein Programm ihm nur die kleine christliche Gewerkschaft CFTC und der „Wirtschafts- und Sozialdemokratie“. Es sollte die Gewerkschaft der leitenden Angestellten CGC zu. den Arbeitnehmern die Beteiligung an der Unterneh- Damals engagierte sich die CFDT für ein alternatives mensleitung ermöglichen. Dieses Ziel wurde in der Modell der „Selbstverwaltung“ (autogestion), das sie noch heute gültigen Präambel der Verfassung von aber nach 1978 wieder aufgab. 1946 bekräftigt. Darin heißt es: „Jeder Arbeitnehmer Nach dem Wahlsieg der Vereinigten Linken im Jahr beteiligt sich durch seine Delegierten an der kollekti- 1981 und weiteren Verstaatlichungen wurde 1983 das ven Festlegung der Arbeitsbedingungen sowie an der Gesetz zur Demokratisierung des öffentlichen Sektors Führung der Unternehmen.“ In der Privatwirtschaft verabschiedet. Es weitete die Beteiligung im VR / AR wurde dieses Ziel zunächst durch die Einrichtung von auf alle Unternehmen des öffentlichen Sektors aus. Betriebsausschüssen (comités d’entreprise) erreicht Gleichzeitig wurde damit das Prinzip der Bestellung (vgl. Rehfeldt 2019). Laut Alexandre Parodi, Arbeits- der Arbeitnehmervertreter im VR / AR durch direkte minister der ersten Nachkriegsregierung, sollte so Wahlen auf der Grundlage von gewerkschaftlichen schrittweise eine „Arbeiterelite“ geschaffen werden, Vorschlagslisten verallgemeinert. Das Gesetz führte die „den finanziellen und industriellen Problemen jedoch auch Beschränkungen ein: Einer der Sitze war der Unternehmen größere Aufmerksamkeit entge- nunmehr den Vertretern der leitenden Angestellten genbringt“. Gemäß dem schließlich verabschiedeten (cadres) 2 vorbehalten. Die gewählten Arbeitnehmer- Gesetz hatten die Betriebsausschüsse jedoch nur vertreter müssen sämtliche Vertretungsmandate im das Recht auf Unterrichtung und Anhörung. Vom ur- Unternehmen aufgeben. sprünglichen Ziel der Beteiligung an der Geschäfts- führung blieb nur die Teilnahme von zwei bis vier Ver- 1 Damals gab es nur Unternehmen mit monistischer Struktur. Heute haben zahlreiche Unternehmen eine duale Struktur, tretern an den Sitzungen des Verwaltungsrats übrig also einen Aufsichtsrat und einen Vorstand (directoire). – allerdings ohne Stimmrecht. 2 Diese Kategorie ist im französischen Recht weiter gefasst als die der leitenden Angestellten in Deutschland. Sie um- Die überbetriebliche Mitbestimmung in wirtschaft- fasst auch Ingenieure sowie technische und kaufmännische lichen Angelegenheiten war zunächst auf öffentliche Angestellte. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 6
1986 / 87 und erneut nach 1993 nahm die an die 3 ERSTE SCHRITTE ZUR GESETZLICHEN Macht zurückgekehrte Rechte eine Reihe von Priva- MITBESTIMMUNG IM PRIVATSEKTOR tisierungen vor. Das Privatisierungsgesetz von 1994 verpflichtete Unternehmen, die Arbeitnehmervertre- UNTER HOLLANDE tung zum Zeitpunkt der Privatisierung aufrechtzuer- halten: In VR / AR mit weniger als 15 Mitgliedern muss- Während der Kampagne für die Präsidentschaftswah- ten mindestens zwei Arbeitnehmervertreter beteiligt len 2012 versprach der sozialistische Kandidat Fran- sein, in den anderen Fällen mindestens drei. Einer cois Hollande, die Arbeitnehmerbeteiligung im VR / AR Aktionärshauptversammlung steht es jedoch frei, auf alle großen Privatunternehmen auszuweiten. Nach die Zahl der Arbeitnehmervertreter nach Ablauf ihrer seiner Wahl wurde zur Einlösung dieses Versprechens Mandate zu verringern. Ein Gesetz von 2006 sah für Louis Gallois5 mit einem Bericht über die französische die 1986 privatisierten Unternehmen, die freiwillig Ar- Wettbewerbsfähigkeit betraut. Sein Bericht vom No- beitnehmervertreter unterhielten, die Mindestanzahl vember 2012 beklagte den Verlust der industriellen von einem Vertreter in einem VR / AR mit weniger als Substanz der französischen Wirtschaft, wonach die 15 Mitgliedern vor; in den anderen Fällen die Mindest- Industrie nur noch etwa ein Zehntel der Wertschöp- zahl von zwei Vertretern. Dieses Gesetz unterschied fung und der Beschäftigung repräsentiere. Für diesen jedoch nicht zwischen Vertretern der Arbeitnehmer- Rückgang wurde die Unterwerfung der französischen aktionäre und den Vertretern aller Arbeitnehmer im Unternehmen unter die kurzfristige Renditelogik des Unternehmen.3 Bis zur Verabschiedung eines neuen Finanzkapitalismus verantwortlich gemacht. Um die Gesetzes im Jahr 2013 war es daher rechtlich mög- industriellen Investitionen anzukurbeln und die Unter- lich, letztere vollständig zu beseitigen. nehmensstrategien auf langfristige Ziele auszurichten, Dennoch behielten etwa zwei Drittel der privati- forderte der Bericht einen „Pakt für die Wettbewerbs- sierten Unternehmen ihre Arbeitnehmervertretungen fähigkeit“ und empfahl, in Unternehmen mit mehr als bei, allerdings mit einer jeweils geringeren Anzahl von 5.000 Beschäftigten mindestens vier Arbeitnehmer- Vertretern. Im Jahr 2007 gab es in Frankreich ca. 160 vertreter im VR / AR (bis zu einem Drittel) obligatorisch Unternehmen mit mindestens einem Arbeitnehmer- zu machen. Der Bericht beruft sich dabei ausdrücklich vertreter im VR / AR. 61 % von ihnen gehörten dem auf das deutsche Mitbestimmungsmodell als ein Bei- öffentlichen Sektor an, 39 % dem privaten Sektor. spiel für gute Praxis, die zur Wahrung der internatio- 87 % Letzterer waren privatisierte Unternehmen. Seit nalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie 1986 ist es zwar im Privatsektor gesetzlich zulässig, beitrage (vgl. Gallois 2012). Premierminister Ayrault freiwillig eine Arbeitnehmervertretung bis zu einer bewertete den Vorschlag zwar positiv, reduzierte ihn Höchstanzahl von einem Viertel des VR / AR einzu- aber sogleich auf „mindestens zwei“ Arbeitnehmer- führen, doch hat hiervon kaum ein Unternehmen Ge- vertreter. Auch wurde er nicht in einen Gesetzentwurf brauch gemacht. Die Anzahl der Arbeitnehmervertre- umgeformt, sondern seine Umsetzung den bereits ter betrug zu dieser Zeit in allen Unternehmen durch- zwischen den Sozialpartnern laufenden Verhandlun- schnittlich 3,4 bei einer durchschnittlichen Größe der gen zur Beschäftigungssicherung überlassen. Sie VR / AR von 17 Mitgliedern. Aufgrund der höheren ge- einigten sich im Januar 2013 auf ein Sozialpartner- setzlichen Verpflichtungen in öffentlichen Unterneh- abkommen, das von den Arbeitgeberverbänden und men war die durchschnittliche Anzahl der Arbeitneh- den drei Gewerkschaften CFDT, CFTC und CFE-CGC mervertreter pro VR / AR hier doppelt so hoch (4,1) wie unterzeichnet wurde, nicht jedoch von der CGT und in den privaten Unternehmen (2,3). 4 der FO (zur „sozialen Konzertierung“ s. Rehfeldt 2018). Das Abkommen enthält einige Themen, zu denen die Verhandlungsführer gegenseitige Zugeständnisse vereinbarten. In dem kurzen Artikel 13 gestanden die Arbeitgeberorganisationen zu, in Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten in Frankreich (oder mehr als 10.000 weltweit) einen Arbeitnehmervertreter im 3 Viele große Unternehmen haben solche Arbeitnehmerakti- VR / AR einzuführen bzw. zwei Arbeitnehmervertreter, onäre. Frankreich ist das europäische Land, in dem Beleg- falls der VR / AR mehr als zwölf Mitglieder hat. Das Ver- schaftsaktienbesitz am weitesten entwickelt ist – vor allem dank der Privatisierungen. Sie ermöglichten es den Arbeit- nehmern, Aktien ihres Unternehmens zu sehr günstigen 4 Anders als für die anderen Formen der Arbeitnehmervertre- finanziellen Konditionen zu kaufen. Seit 2002 muss ein oder tung, für die das Arbeitsministerium regelmäßig Statistiken müssen mehrere Arbeitnehmervertreter von der Hauptver- veröffentlicht, gibt es keine öffentlichen Erhebungen über sammlung bestellt werden, wenn die Belegschaftsaktien die Anzahl der mitbestimmten Unternehmen, der Arbeit- 3 % des Aktienkapitals überschreiten. Diese Verpflichtung nehmervertreter und über die Verteilung der Sitze. Die hier besteht nicht, wenn es bereits gewählte Arbeitnehmerver- genannten Zahlen stammen aus den Arbeiten von Aline treter gibt. In der Praxis gibt es häufig ein Nebeneinander Conchon, die 2014 eine Dissertation zu diesem Thema dieser beiden Arten der Arbeitnehmervertretung. Ein Ge- abgeschlossen hat (vgl. Conchon 2014). Ein Teil ihrer quan- setz zur finanziellen Beteiligung von 2006 sieht vor, dass die titativen Erhebung ist auf der HBS-Webseite sowie in der Vertreter der Arbeitnehmeraktionäre von Letzteren gewählt Zeitschrift Mitbestimmung deutschsprachig verfügbar (vgl. werden müssen. In der Regel stellen die Gewerkschaften Conchon 2006 und 2008). Kandidatinnen und Kandidaten für die Wahl der Arbeitneh- 5 Zuvor Leiter mehrerer großer öffentlicher Unternehmen, mervertreter der Anteilseigner vor. Die großen Gewerk- insbesondere der Staatsbahnen SNCF und von EADS- schaften wie CGT und FO stehen der Entwicklung dieser Airbus. Seit 2014 ist Gallois Aufsichtsratsvorsitzender des Mitarbeiterbeteiligung sehr kritisch gegenüber. Automobilkonzerns PSA. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 7
bot der Kumulation mit anderen Vertretungsmandaten direkte Tochterunternehmen sind von dieser Verpflich- sollte beibehalten werden. tung ausgenommen, auch wenn sie die Größenanfor- Wie versprochen, setzte die Regierung diese Ver- derungen erfüllen. Holdinggesellschaften mit weniger einbarung um: in Form eines Gesetzes über die Siche- als 50 Mitarbeitern wurden zunächst ebenfalls ausge- rung der Beschäftigung. Es wurde im Juni 2013 ver- schlossen. Das Gesetz betrifft Aktien- und Komman- abschiedet. Die Ministerialbürokratie hat jedoch noch ditgesellschaften, einschließlich SEs, hingegen nicht eine Reihe von Einschränkungen und Modifikationen GmbHs, „vereinfachte Aktiengesellschaften“ oder für die Benennung der Arbeitnehmervertreter hinzu- Genossenschaften. gefügt. Man kann vermuten, dass diese Änderungen Die Ernennung der Arbeitnehmervertreter ist nicht das Ergebnis einer intensiven Lobbyarbeit der Arbeit- mehr durch Direktwahl vorgeschrieben. Dafür beste- geberverbände und der eventuell betroffenen Unter- hen jetzt vier alternative Möglichkeiten: Ernennung nehmen sind: Nunmehr müssen Kapitalgesellschaf- durch ten mit 5.000 und mehr Beschäftigten in Frankreich oder 10.000 Beschäftigten weltweit, die ihren Sitz in – Direktwahl, Frankreich und noch keine Arbeitnehmervertretung im – den Betriebsausschuss (ggf. durch den Zentralbe- VR / AR haben, eine solche einführen. Direkte oder in- triebs- oder Konzernausschuss), Infobox 1 Die wichtigsten politischen Parteien Frankreichs La République en Marche (LREM) ist die 2016 ge- Partei 13 % der Stimmen und bei den Europawahlen gründete Partei von Staatspräsident Macron, der zu- im Mai 2019 23 %. In der Nationalversammlung ist der vor Berater des Staatspräsidenten Hollande und dann RN mit 8 Abgeordneten vertreten und erreichte keine Wirtschaftsminister im Kabinett Valls war. Gemeinsam Fraktionsstärke. mit der Zentrumspartei MoDem (Mouvement démo- crate) erhielt LREM im ersten Wahlgang der Parla- Die Sozialistische Partei Parti Socialiste (PS) stellte mentswahlen 2017 32 % der Stimmen. Aufgrund des in der Legislaturperiode 2012 bis 2017 unter Staats- Mehrheitswahlrechtes erhielt LREM nach dem zweiten präsident Hollande die absolute Mehrheit in der Na- Wahlgang mit 306 der 577 Sitze die absolute Mehrheit tionalversammlung. Sie erhielt 2017 gemeinsam mit in der Nationalversammlung. Dazu kommen 46 Sitze den Grünen und der Linkspartei PRG (Parti radical de des MoDem. Die Regierung setzt sich vor allem aus gauche) nur noch 11 % der Stimmen. Bei der Europa- Überläufern anderer Parteien (LR, UDI, PS, Grüne) wahl im Mai 2019 sank die PS weiter auf 6 % ab. In der und Vertretern der „Zivilgesellschaft“ zusammen. Bei Nationalversammlung bildet sie, zunächst unter dem den Europawahlen im Mai 2019 erhielt die gemeinsa- Namen Nouvelle Gauche und jetzt wieder als PS, eine me Liste von LREM und MoDem nur noch 22 % der Fraktion mit 31 Abgeordneten. Stimmen. Die französischen Grünen Europe Ecologie Les Verts Les Républicains (LR) entstand 2015 aus der Um- (EELV) konnten 2017 nur einen Abgeordneten ins Par- benennung der UMP (Union pour un mouvement po- lament bringen, der mit Unterstützung von LREM ge- pulaire), die bis 2012 die politische Landschaft domi- wählt wurde und daraufhin zu dieser Partei übergetre- nierte. Bei den Parlamentswahlen 2017 erhielt diese ten ist. Bei der Europawahl 2019 erhielten sie 14 % der Partei der traditionellen Rechten gemeinsamen mit Stimmen. der Mitte-Rechts-Partei UDI (Union des démocrates et indépendants) 18 % der Stimmen. Bei der Europa- La France Insoumise (LFI) ist die Partei der extremen wahl im Mai 2019 erhielt die Liste von LR nur noch Linken von Jean-Luc Mélenchon, der bei den Präsi- 9 % der Stimmen, die von UDI 3 %. In der Nationalver- dentschaftswahlen 2017 mit knapp 20 % der Stim- sammlung hat LR 104 Sitze. Die 16 Abgeordneten von men den vierten Platz belegte. Seine Partei erzielte UDI bilden mit Dissidenten von LR eine gemeinsame bei den Parlamentswahlen 2017 gemeinsam mit eini- Fraktion. gen Kandidaten der Kommunistischen Partei 11 % der Stimmen, jedoch bei der Europawahl 2019 nur noch Rassemblement National (RN) ist seit 2018 der 6 % – wiederum gleichauf mit der Liste der PS, wäh- neue Name des Front National, der Partei der extre- rend die Kommunistische Partei 2,5 % und die Liste men Rechten, geführt von Marine Le Pen. Diese er- Génération.s des PS-Dissidenten Benoît Hamon 3,3 % hielt bei den Präsidentschaftswahlen 2017 im ersten erhielten. In der Nationalversammlung ist LFI mit 17 Wahlgang 21 % der Stimmen, 34 % im zweiten Wahl- Abgeordneten vertreten, die Kommunistische Partei gang. Bei den Parlamentswahlen 2017 erzielte ihre mit 13 Abgeordneten. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 8
– die Gewerkschaft oder die beiden Gewerkschaften Aufhebung des Vorranges der Branchentarife und mit den meisten Stimmen bei den Belegschafts- die Erweiterung der Möglichkeiten, betriebliche Ab- wahlen im Unternehmen, kommen auch ohne Gewerkschaften abzuschließen. – den Europäischen Betriebsrat (oder den SE-Be- Beides hatte der französische Arbeitgeberverband triebsrat) im Falle eines zweiten Vertreters. MEDEF seit dem Jahr 2000 gefordert. Die Verord- nungen enthalten noch weitere Verschlechterungen Gibt es zwei Arbeitnehmervertreter, müssen sie nach für die Arbeitnehmer. Sie erfüllen die Forderung der dem Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter er- Arbeitgeber nach einer „Vereinfachung“ der betrieb- nannt werden. lichen Vertretungsstrukturen, an der die Sozialpart- Die Hauptversammlung des jeweiligen Unterneh- nerverhandlungen 2015 gescheitert waren. Durch die mens hat nach Anhörung des Konzernbetriebsaus- Macron-Reform wird nunmehr die Zusammenlegung schusses zwischen diesen vier Wahlmodalitäten zu sämtlicher gesetzlicher Vertretungsgremien, mit wählen. Fasst die Versammlung keinen Beschluss, Ausnahme der Gewerkschaftsdelegierten, zu einem werden die Vertreter durch eine Wahl ernannt. Nach „Sozial- und Wirtschaftsausschuss“ für alle Betriebe bisher vorliegenden Informationen bevorzugen die obligatorisch. meisten Unternehmen die Ernennung durch den Be- Wie schon zuvor das El-Khomri-Gesetz, wurden triebsausschuss bzw. den Euro-Betriebsrat. die Macron-Verordnungen ohne Mitwirkung der Ge- Im Jahr 2013 wurde aufgrund einer Initiative der werkschaften erarbeitet. Sie führten daher erneut sozialistischen Abgeordneten (und gegen den erklär- zu gewerkschaftlichen Protestdemonstrationen. Auf ten Willen des sozialistischen Arbeitsministers) die mysteriöse Weise war in diesen Verordnungen das Schwelle für die Unternehmensmitbestimmung auf Thema Unternehmensmitbestimmung verschwun- 1.000 Mitarbeiter in Frankreich bzw. 5.000 weltweit den. Dies provozierte eine erklärte „Enttäuschung“ herabgesetzt. Hingegen konnte sich der Arbeitsminis- des Generalsekretärs der CFDT. In der Tat war die ter gegen einen Antrag der sozialistischen Abgeord- CFDT die einzige Gewerkschaft, die nicht nur zur neten im Parlamentsausschuss durchsetzen: Sie hat- Wahl von Macron aufgerufen hatte, sondern auch ten gefordert, die Mindestanzahl der Arbeitnehmer- bereit war, einige der in den Verordnungen enthal- vertreter auf zwei zu erhöhen. Der Antrag wurde in tenen Verschlechterungen der Arbeitnehmerrechte der Plenarsitzung des Parlaments von einer Mehrheit mitzutragen – in der Hoffnung, dass die Regierung bestehend aus Abgeordneten der sozialistischen Par- im Gegenzug die versprochene Ausweitung der Un- tei und der rechten Opposition abgelehnt. Holding- ternehmensmitbestimmung zugesteht. Zwar hat die gesellschaften mit weniger als 50 Beschäftigten sind CFDT sich nicht an den Protestaktionen der anderen nun nicht mehr von der Mitbestimmungspflicht be- Gewerkschaften beteiligt. Doch die folgende Ent- freit – außer es handelt sich um Finanzholdinggesell- wicklung zeigte: Nunmehr stehen sämtliche Gewerk- schaften, die keine Entscheidungsbefugnis hinsicht- schaften in Opposition zu den verabschiedeten und lich der Geschäftsstrategie von Tochtergesellschaften noch geplanten Arbeitsrechtsreformen. haben, die ihre Mitbestimmungspflicht erfüllen. Immerhin kündigte Macron in einem Fernsehinter- view am 15. Oktober 2017 an, dass eine „zweite Welle von Reformen“ folgen werde; sie werde die erste Re- formwelle in Richtung einer Verbesserung der Arbeit- nehmerbeteiligung ergänzen. Allerdings erwähnte er 4 DIE VERSPRECHUNGEN VON STAATS- nur die finanzielle Beteiligung ausdrücklich. PRÄSIDENT MACRON Mit der Wahl von Emmanuel Macron zum Staatprä- sidenten im Jahr 2017 schien sich eine neue Phase der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte zu er- 5 DIE VORSCHLÄGE DES COLLÈGE DES öffnen. Im Wahlkampf hatte Macron seine Absicht BERNARDINS verkündet, die Macht der Verwaltungsräte zu stärken und Anreize für eine bessere Vertretung der Arbeit- Zwischenzeitlich hat sich die wissenschaftliche, ge- nehmer in den Verwaltungsräten zu schaffen. Das werkschaftliche und politische Debatte zum Thema Thema „Verbesserung der Arbeitnehmervertretung Mitbestimmung intensiviert. Begonnen hat sie zu- im VR“ tauchte so im Ermächtigungsgesetz vom nächst in einem kleinen Kreis wissenschaftlicher Ex- 2. August 2017 auf. Mit diesem Gesetz sollte die im perten. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Collège El-Khomri-Gesetz von 2016 begonnene Reform des des Bernardins6, das seit 2009 ein multidisziplinari- Arbeitsrechtes beschleunigt und ohne lange Debat- sches Forschungsprogramm über Unternehmensfüh- ten im Parlament in Form von Verordnungen (ordon- rung und die soziale Verantwortung von Unterneh- nances) fortgesetzt werden (vgl. Rehfeldt 2017). Auf men durchführt. Das Collège veranstaltete bereits im seiner Grundlage erließ die Regierung im September 2017 fünf Verordnungen, denen das Parlament im 6 Kulturelle und wissenschaftliche Einrichtung der Diözese Dezember 2017 Gesetzeskraft verlieh. In der Haupt- von Paris. Sie ist in einem ehemaligen Kolleg des Zisterzien- sache verfolgen diese Verordnungen zwei Ziele: die serordens beheimatet. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 9
Infobox 2 Agency-Theorie, die die Vorherrschaft der Aktionäre auf der Grundlage der Eigentumsrechte legitimiert. Aufruf zur Ausweitung und Verankerung der Mitbestimmung Die Aktionäre sind jedoch nicht die Eigentümer des Unternehmens, sondern nur der Aktienanteile. Das Der Aufruf ist auf dem Mitbestimmungsportal der Hans-Böckler- Unternehmen hingegen funktioniert auf der Grund- Stiftung in deutscher Übersetzung verfügbar: lage der Zusammenarbeit mehrerer Stakeholder. Um https://www.mitbestimmung.de/html/die-mitbestimmung-muss- einen Ausgleich zu gewährleisten zwischen den Ge- gesetzlich-6192.html#hintergrund [18.7.2019]. winninteressen der Anteilseigner und den Interessen Die Langfassung in französischer Sprache findet sich auf der Web- der Arbeitnehmer, der Umwelt sowie der Gesellschaft seite der Le Monde: als ganzer, bedarf es einer Reform des Gesellschafts- https://www.lemonde.fr/idees/article/2017/10/05/la-codeterminati- rechtes. Die Forschergruppe schlägt konkret vor, das on-est-une-idee-porteuse-d-avenir-qui-doit-trouver-sa-place-dans- im Artikel L1833 des Code Civil (des französischen la-loi_5196511_3232.html [18.7.2019]. Bürgerlichen Gesetzbuches aus der Zeit Kaiser Napo- leons I.) definierte Statut des Unternehmens zu modi- fizieren. Dieser Artikel bestimmte bisher: Das Unter- Kampagne „Mehr Demokratie am Arbeitsplatz“ nehmen hat allein dem gemeinsamen Gewinninteres- se der Teilhaber der von ihnen geschaffenen Kapital- Informationen zur Kampagne sowie eine Liste der Erstunterzeich- gesellschaft zu dienen. Hingegen müsse klargestellt ner finden sich unter https://www.etuc.org/en/pressrelease/euro- werden: Es gibt ein Eigeninteresse des Unternehmens pean-appeal-companies-and-employees-blazing-new-european-trail an seiner Dauerhaftigkeit; es muss daher sozialver- [18.7.2019]. antwortlich im Einklang mit den Interessen der an- Eine deutsche Fassung des europäischen Aufrufs findet sich unter deren Stakeholder handeln. Zu diesem Zweck sollten http://european-appeal.org/app_ge.pdf [18.7.2019] und eine aktuali- die Unternehmen ihre wirtschaftlichen Ziele, ihre sierte Liste der Unterzeichner unter http://european-appeal.org/se- „Mission“ klar definieren. Dabei sollte ihnen gestattet lect.php [18.7.2019]. sein, im Rahmen einer zu definierenden „erweiterten Mission“ auch kollektive, gesamtgesellschaftliche Ziele zu verfolgen. Unter den Stakeholdern des Un- ternehmens spielen zwei Akteure eine besondere, „konstituierende“ Rolle: die Anteilseigner und die Ar- März 2015 und im März 2017 in Zusammenarbeit mit beitnehmer. Beide tragen gemeinsam die Risiken des dem Institut Français des Administrateurs (IFA) zwei Unternehmens; sein Erflog beruht in erster Linie auf Tagungen mit dem Titel Assises des Administrateurs ihrem Engagement und ihrer Zusammenarbeit. Dies Salariés (Versammlung der Arbeitnehmervertreter im rechtfertigt ihre gleichberechtigte Vertretung in Form VR / AR). Daran nahmen sowohl Arbeitnehmervertre- der Mitbestimmung im VR / AR. ter teil als auch Vertreter der Gewerkschaften und der Zwei Mitglieder der Arbeitsgruppe Mitbestim- Arbeitgeberverbände sowie einige mitbestimmungs- mung, Olivier Favereau und Christophe Clerc, ergriffen freundliche Unternehmensleiter.7 2017 die Initiative zu einem Aufruf für die gesetzliche Der letzte der jeweils dreijährigen Zyklen des For- Ausweitung und Verankerung der Mitbestimmung. Er schungsprogramms des Collège hatte 2015 bis 2018 wurde am 6. Oktober 2017 von der Zeitung Le Monde die Corporate Governance zum Thema. Es wurde veröffentlicht (siehe Infobox 2). Zu den Erstunterzeich- ausgearbeitet von drei Arbeitsgruppen; eine von ih- nern gehörten Vertreter der Gewerkschaften, darun- nen behandelte – koordiniert vom Ökonomen Olivier ter der Generalsekretär der CFDT, Laurent Berger9, Favereau – die wirtschaftliche Mitbestimmung im und der Präsident der CFE- CGC, François Hommeril, Unternehmen. Die Ergebnisse und Vorschläge der sowie Akademiker und Experten aus Frankreich und Arbeitsgruppen wurden am 16. / 17. März 2018 der anderen europäischen Ländern. Der Aufruf fand auch Öffentlichkeit vorgestellt in einem abschließenden das Interesse und die Unterstützung des Europäi- Kolloquium, auf dem auch Vertreter der Gewerk- schen Gewerkschaftsbundes (EGB). Er erweiterte ihn schaften, der Arbeitgeber und der Politik Stellung zu einem europäischen Aufruf und integrierte ihn in nahmen.8 Der Kern der Aussagen der Forschergruppe seine Kampagne „Mehr Demokratie am Arbeitsplatz“ besteht in einer Zurückweisung der angelsächsischen (siehe Infobox 2). Der Aufruf und die Arbeiten des Collège des 7 Die Programme der beiden Tagungen sowie Filmaufnahmen Bernardins inspirierten mehrere weitere Initiativen. der Beiträge der ersten Tagung sind auf der Webseite des Collège des Bernardins verfügbar: https://www.collegedes- Im November 2017 brachte die sozialistische Fraktion bernardins.fr/recherche/les-assises-des-administrateurs- der Nationalversammlung unter der Federführung des salaries [18.7.2019]. Dokumente der zweiten Tagung und Abgeordneten Dominique Potier einen Gesetzesent- eine Liste der Teilnehmer sind abrufbar unter https://media. collegedesbernardins.fr/content/pdf/Recherche/secondes- wurf ein. Dessen Ziel war es, eine codétermination à assises-syntheses-enquetes.pdf [18.7.2019]. la française (Mitbestimmung auf Französisch)10 zu eta- 8 Zum Programm vgl. https://www.collegedesbernardins.fr/ recherche/programme-du-colloque-gouvernement-partici- pation-et-mission-de-lentreprise [18.7.2019]. Die Ergebnisse 9 Er wurde im Mai 2019 zum Präsidenten des Europäischen des Zyklus sind zusammengefasst in Segrestin/Vernac Gewerkschaftsbundes (EGB) gewählt. 2018. Die Beiträge der Arbeitsgruppe Mitbestimmung er- 10 So lautete bereits der Titel der programmatischen Broschü- scheinen in Favereau 2019. re von Beffa / Clerc 2013. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 10
blieren. Er sieht in Unternehmen mit mehr als 5.000 aus dem Unternehmen selbst kommen solle, sondern Mitarbeitern eine paritätische Mitbestimmung vor als externer Gewerkschaftsvertreter auch die Interes- und eine Drittelbeteiligung in Unternehmen mit mehr sen anderer Arbeiternehmer, insbesondere der Zulie- als 1.000 Mitarbeitern. In Unternehmen mit mehr als ferunternehmen, vertreten soll.13 500 Mitarbeitern soll es mindestens zwei Arbeitneh- Die CGT fordert eine paritätische Mitbestimmung mervertreter im VR / AR geben. In der Begründung des in allen Unternehmen, gleich welcher Größe. Nur in Entwurfes beziehen sich die Autoren explizit auf die den öffentlichen Dienstleistungen sollen die Arbeit- Arbeiten des Collège des Bernardins sowie auf den nehmervertreter wie zuvor auf ein Drittel beschränkt Aufruf von Olivier Favereau und Christophe Clerc.11 sein, während die beiden anderen Drittel im VR / AR Der Gesetzesentwurf sieht ebenfalls eine Umformu- die öffentliche Hand sowie die Nutzer vertreten sollen lierung von Art. L1833 des Code Civil vor, in der erst- (vgl. CGT 2016). Die CGT fordert eine Abschaffung des mals das „Interesse des Unternehmens“ (und nicht Verbots der Kumulation verschiedener Vertretungs- nur der Anteilseigner) und die Berücksichtigung der mandate, da es zur Isolation der wenigen Arbeitneh- „wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen mervertreter im VR / AR führt und die Koordination seiner Aktivität“ zu den Aufgaben der Unternehmens- mit Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretern er- führung gemacht werden. schwert. Diese Koordination ist ein Schlüsselfaktor Mit seinem Gesetzesentwurf möchte Poitier in für das gute Funktionieren des deutschen Mitbestim- erster Linie die Debatte über die Mitbestimmung be- mungsmodells.14 Um die Isolierung zu überwinden, einflussen. Eine Annahme des gesamten Vorschlags organisieren CGT, CFDT und CFE- CGC regelmäßige durch das Parlament ist angesichts der Mehrheitsver- Treffen ihrer Arbeitnehmervertreter in den VR / AR. Die hältnisse in der laufenden Legislaturperiode 2017 bis CFE- CGC bedauert die Abschaffung des reservierten 2022 wenig wahrscheinlich. In der Nationalversamm- Sitzes für die leitenden Angestellten und fordert seine lung verfügt die Partei des Staatspräsidenten LREM Beibehaltung, wenn sich der Anteil der Arbeitnehmer- über die absolute Mehrheit der 577 Abgeordneten, sitze im VR / AR wie gefordert auf ein Drittel erhöht während die sozialistische Fraktion nur noch 29 Ab- (vgl. CFE- CGC 2015). In der Vergangenheit wurden die geordnete umfasst (siehe Infobox 1). Sitze in der Regel von Gewerkschaftern der CFE- CGC und der CFDT besetzt. Sämtliche Gewerkschaften for- dern eine Rückkehr zum Prinzip der Direktwahl der Arbeitnehmervertreter. Im Januar 2019 griff die CFDT den Gedanken einer 6 DIE FORDERUNGEN DER codétermination à la française auf und erstellte unter dieser Überschrift einen Forderungskatalog für ge- GEWERKSCHAFTEN setzliche Reformen.15 Er enthält genau dieselben Mit- Mittlerweile befürworten vier der fünf repräsentati- bestimmungsproportionen wie der Gesetzesentwurf ven Gewerkschaften die überbetriebliche Mitbestim- der sozialistischen Fraktion. Auch fordert die CFDT, mung auf dem Privatsektor. Nur FO lehnt die Mitbe- dass nunmehr auch Genossenschaften unter die Mit- stimmung nach wie vor ab und beruft sich dabei auf bestimmungspflicht fallen. Darüber hinaus stellte sich die syndikalistische Tradition. André Bergeron, FO- die CFDT hinter die anderen Vorschlägen des Collège Generalsekretär von 1963 bis 1989, fasste diese Ab- des Bernardins zur Änderung des gesetzlichen Sta- lehnung zusammen mit der Formel: „Man kann nicht tuts der Kapitalgesellschaften. gleichzeitig regieren und regiert werden“. CFDT und Die Forderungen des Collège des Bernardins, der CGT haben ihre Positionen schrittweise verändert. Sie sozialistischen Partei und der Gewerkschaften wer- fordern seit 2006 eine Ausweitung der überbetrieb- den zum Teil von Think Tanks unterstützt, darunter lichen Mitbestimmung auf den Privatsektor, wobei – nicht überraschend – von der Jean-Jaurès-Stiftung. allerdings nur die CFDT ausdrücklich den Begriff Mit- Diese steht der Sozialistischen Partei nahe und prä- bestimmung (codétermination) verwendet.12 Innerhalb sentierte im Februar 2018 einen Bericht zum Thema der CFDT wird die Ausweitung der Mitbestimmung insbesondere von der Teilorganisation der leitenden Angestellten (CFDT Cadres) unterstützt, in deren Be- 13 Dies Forderung wird übrigens, aus teilweise unterschiedli- chen Motivationen, auch von Jean-Louis Beffa unterstützt, reich die Mehrzahl der CFDT-Arbeitnehmervertreter einem der wenigen französischen Top-Manager, die sich für im VR / AR angesiedelt ist. CFDT Cadres fordert unter die Ausweitung der Mitbestimmung einsetzen (vgl. Beffa / anderem, dass einer der Arbeitnehmervertreter nicht Clerc 2013). 14 Die Forderung nach Abschaffung des Kumulationsver- botes wird auch von der Arbeitsgruppe der Fabrique de l’Industrie unterstützt. In ihrem Bericht über die Umsetzung 11 Vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/15/propositions/ der Mitbestimmung aufgrund des in Kapitel 3 behandelten pion0476.asp [18.7.2019]. Gesetzes von 2013 bewertet sie das deutsche Mitbestim- 12 In der öffentlichen und gewerkschaftlichen Debatte in mungsmodell positiv (vgl. Gauron / Charlet 2014). Die Fab- Frankreich wurde bisher (und wird auch heute noch viel- rique de l’Industrie ist ein von der Arbeitgeberorganisation fach) der Begriff Mitbestimmung mit cogestion übersetzt, der Metallindustrie UIMM gegründeter Think Tank, an dem was „gemeinsame Unternehmensführung“ oder „Co- unter der Co-Präsidentschaft von Louis Gallois auch Ge- Management“ bedeutet. Dies hat zweifellos zu einem Miss- werkschafter und Ökonomen beteiligt sind. verständnis des deutschen Modells und zu der erwähnten 15 Vgl. https://www.cfdt.fr/portail/actualites/economie-/-deve- Ablehnung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän- loppement-durable/-video-construire-une-codetermination- de beigetragen. a-la-francaise-srv1_580098 [18.7.2019]. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 11
Infobox 3 Frankreichs gewerkschaftliche Akteure Die Confédération Française Démocratique du Arbeitgeberverbänden und Regierungen, verfolgt Travail (CFDT) ist zurzeit der größte französische Ge- FO seit den 1990er Jahren eine autonome Gewerk- werkschaftsbund. Bei den betrieblichen Wahlen im schaftspolitik. Antikommunismus ist noch immer, Privatsektor 2013 bis 2016 erhielt er 26 % der Stim- zusammen mit dem Antiklerikalismus, der wichtigste men. Er entstand 1964 durch die Umbenennung des ideologische Zement von FO. Neuerdings praktiziert 1919 gegründeten christlichen Gewerkschaftsbundes die Gewerkschaft punktuell eine Aktionseinheit mit CFTC. In den 1970er Jahren verstand sich die CFDT der CGT. FO erhielt 16 % der Stimmen bei den betrieb- als linke sozialistische Gewerkschaft mit dem Ziel der lichen Wahlen im Privatsektor 2013 bis 2016. Selbstverwaltung (autogestion). 1978 initiierte sie eine Neuorientierung hin zu rein gewerkschaftlichen Me- Die 1944 gegründete Confédération Générale des thoden und Zielen, die sie durch soziale Konzertierung Cadres (CGC) wurde 1981 in Confédération françai- und Tarifverhandlungen verwirklichen will. Mit dieser se de l‘Encadrement- CGC (CFE- CGC) umbenannt. Umorientierung sollte die „Modernisierung“ der Wirt- Sie versteht sich als unpolitische Vertretung der lei- schaft und der Arbeitsbeziehungen gefördert werden. tenden Angestellten (cadres). Sie erhielt bei den be- trieblichen Wahlen 2013 bis 2016 11 % der Stimmen Die Confédération Générale du Travail (CGT) ist der insgesamt und 19 % im Wahlkollegium der leitenden älteste Gewerkschaftsbund, gegründet 1895. Nach Angestellten (wo die CFDT mit 30 % der Stimmen die dem Zweiten Weltkrieg besetzten Kommunisten die stärkste Gewerkschaft ist). führenden Positionen. In den 1990er Jahren setzte sich die CGT offiziell von der Kommunistischen Par- Die Confédération Française des Travailleurs tei ab. Unter Bernard Thibault, Generalsekretär von Chrétiens (CFTC) setzt seit 1964 setzt die christliche 1999 bis 2013, unternahm die CGT eine strategische Tradition unter dem alten Namen der CFTC fort. Sie Umorientierung mit einer Doppelidentität: sowohl als erhielt 9 % der Stimmen bei den betrieblichen Wah- soziale Bewegung als auch als Verhandlungsgewerk- len im Privatsektor 2013 bis 2016 und konnte damit schaft. 2014 kam sie in eine schwere interne Krise, knapp die gesetzliche 8-Prozent-Hürde überspringen, aus der bisher keine neue strategische Ausrichtung um ihren Status als repräsentative Gewerkschaft auf führte. Sie erhielt 25 % der Stimmen bei den betriebli- nationaler Ebene zu wahren. chen Wahlen im Privatsektor 2013 bis 2016. Die Union Nationale des Syndicats Autonomes Force Ouvrière (FO) wurde 1948 gegründet und ist (UNSA) ist ein 1993 gegründeter Zusammenschluss eine antikommunistische Abspaltung der CGT. Ihre autonomer Gewerkschaften vor allem des öffent- Generalsekretäre waren meist Mitglieder der Sozia- lichen Sektors. Sie erreichte bei den betrieblichen listischen Partei, aber es gibt auch syndikalistische, Wahlen 2013 bis 2016 5 % der Stimmen und damit trotzkistische und gaullistische Strömungen. FO ist nicht den Status einer repräsentativen Gewerkschaft im öffentlichen Sektor stärker präsent als in der Pri- auf nationaler Ebene, den sie jedoch im öffentlichen vatwirtschaft. Lange Zeit bevorzugter Partner von Sektor hat. (vgl. Schmite / Valiergue / Victoria1 6 2018). Er will sich von Staatspräsident Macron. Der Autor des Berichts, jedoch zur Höhe des Anteils der Arbeitnehmerver- Martin Richer, ist Unternehmensberater und war treter im VR / AR nicht festlegen. Im März 2018 folgte Mitglied in der Mitbestimmungsarbeitsgruppe des ein Bericht des Think Tanks Terra Nova (vgl. Richer Collège des Bernardins. Sein Bericht fordert zwei Ar- 2018). Dieser befürwortet ebenfalls eine Reform des beitnehmervertreter im VR / AR in Unternehmen mit Gesellschaftsrechtes und eine Ausweitung der Mit- 500 bis 1.000 Mitarbeitern, darüber eine Drittelbetei- bestimmung. Terra Nova stand früher der Sozialisti- ligung, aber keine paritätische Mitbestimmung in den schen Partei nahe und unterstützt jetzt die Reformen- Großunternehmen. 16 Pierre Victoria ist CFDT-Arbeitnehmervertreter im VR eines Großunternehmens. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 12
7 BESCHEIDENE VERBESSERUNG IN kapitalstärksten Unternehmen 111 Arbeitnehmer im VR / AR vertreten, so wird sich diese Zahl nur um zwölf DER UNTERNEHMENSREFORM 2017 erhöhen; der durchschnittliche Arbeitnehmeranteil in BIS 2019 jedem VR / AR nur von 7,5 % auf 8 %. Die Gewerkschaften intensivierten daraufhin ihre Nach seiner Fernsehansprache im Oktober 2017 be- Bemühungen und bildeten neue Allianzen. Im März auftragte Staatspräsident Macron den Wirtschafts- 2019 legten die CFDT, CFTC, UNSA gemeinsam mit und Finanzministerminister Bruno Le Maire mit der einigen NGOs „66 Vorschläge für einen sozialen und Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs zur Unterneh- ökologischen Pakt“ vor, der unter Nr. 63 erneut die mensreform. Er trägt den Namen Loi PACTE (Plan paritätische Mitbestimmung in den VR / AR fordert.17 d’action pour la croissance et la transformation des Eine zentrale Rolle spielte hierbei die Allianz zwischen entreprises = Aktionsplan für das Wachstum und die dem CFDT-Vorsitzenden, Laurent Berger, und Nicolas Transformation der Unternehmen). Le Maire ist ein Hulot, der im August 2018 als Umweltminister zurück- Überläufer der traditionellen Rechten Les Républi- getreten war, nachdem er das liberale Abdriften der cains (LR) (zu den politischen Akteuren siehe Infobox 1). Regierung und die Behinderung seiner Arbeit durch Transformation bezeichnet hier sowohl die Umwelt- mächtige Lobbys angeprangert hatte. verträglichkeit als auch die Digitalisierung. Weiterhin Macron selbst äußerte schon verschiedentlich sollte das Gesetz die Vereinfachung der gesetzlichen seine Abneigung gegen die früher unter Hollande Auflagen für Firmengründungen und Unternehmens- praktizierte Abstimmung mit den „intermediären Kör- führung behandeln sowie die Förderung von Innovati- perschaften“ wie den Gewerkschaften, von denen er on und internationaler Wettbewerbsfähigkeit und die eine Blockierung seiner Reformpläne befürchtet. Die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen. Umgehung der Gewerkschaften führte zu deren wei- Das Thema Partizipation wurde zunächst wieder nur teren Schwächung; ihre Protestaktionen blieben wir- durch die finanzielle Beteiligung aufgegriffen. kungslos und konnten die Verabschiedung der Refor- Das änderte sich schlagartig, als der Umweltminis- men nicht verhindern. Überraschenderweise führte ter Nicolas Hulot im Dezember 2017 forderte, dass das im November 2018 eine geplante Erhöhung der Mine- Gesetz auch eine Reform des Gesellschaftsrechtes im ralölsteuer und eine Geschwindigkeitsbeschränkung Sinne der Vorschläge des Collège des Bernardins ent- auf Landstraßen zu spontanen Demonstrationen der halten müsse, um eine Verträglichkeit der Unterneh- sogenannten Gelbwesten, die sowohl die Regierung mensführung mit den Bedürfnissen der Umwelt und als auch die Gewerkschaften überraschten. Nach der Arbeitnehmer sicherzustellen. Der Wirtschafts- anfänglicher Ratlosigkeit reagierte die Regierung ge- minister beauftragte daraufhin Nicole Notat (1992 bis schickt mit einer Einberufung dezentralisierter Foren 2002 Generalsekretärin der CFDT und seither Leiterin im Rahmen einer „nationalen Debatte“. Die zur De- der Rating-Agentur Vigeo) und Jean-Dominique Sé- batte unterbreiteten Themen betrafen vor allem steu- nard (damals Präsident des Michelin-Konzerns, heu- erliche Erleichterungen und neue Formen der politi- te Präsident des Renault-Nissan-Konzerns) mit der schen Beteiligung (etwa durch Bürgerinitiativen und Erarbeitung von Vorschlägen. Der von den beiden Referenden), nicht aber die Beteiligung an betriebli- im März 2018 vorgelegte Bericht (vgl. Notat / Sénard chen und wirtschaftlichen Entscheidungen. 2018) übernimmt fast vollständig die Vorschläge des Collège des Bernardins zur Umgestaltung des Gesell- schaftsrechtes und insbesondere die Neuformulie- rung von Art. L1835 aus dem Potier-Gesetzentwurf. Bezüglich der Mitbestimmung fordert der Bericht 8 POLITISCHER AUSBLICK bescheiden, die Zahl der Arbeitnehmervertreter im VR / AR zu erhöhen: und zwar auf zwei in VR / AR mit Das PACTE-Gesetz sieht vor, dass die Regierung nach mehr als acht Mitgliedern und auf drei in VR / AR mit drei Jahren einen Bericht über seine Umsetzung hin- mehr als 14 Mitgliedern. sichtlich der Mitbestimmung vorlegt. Er soll die volks- Der Wirtschaftsminister folgte diesen Vorschlägen und betriebswirtschaftlichen Auswirkungen der Mit- nur zum Teil. Das im Mai 2019 endgültig verabschiede- bestimmung evaluieren und erwägen, ob a) die Anzahl te PACTE-Gesetz enthält eine Neuformulierung von Art. der Arbeitnehmervertreter erhöht wird und b) eventuell L1835, der nunmehr lautet: „Das Unternehmen wird in auch Arbeitnehmervertreter aus den Niederlassungen seinem sozialen Interesse geführt, unter Berücksich- im Ausland in die VR / AR aufgenommen werden. Der tigung der sozialen und ökologischen Aspekte seiner Bericht wird im Jahr 2022 mit den Präsidentschafts- Tätigkeit.“ Außerdem wird die Mitbestimmungspflicht und Parlamentswahlen zusammenfallen. auf Genossenschaften ausgeweitet. Doch die Anzahl Es ist zweifellos verfrüht, über den Ausgang dieser der Arbeitnehmervertreter wird noch bescheidener Wahlen zu spekulieren. Allerdings stehen die Chancen als im Notat-Senard-Bericht vorgeschlagen auf nur für eine Wiederwahl von Emmanuel Macron und sei- zwei in AR / VR mit mehr als acht Mitgliedern erhöht. ner Parlamentsmehrheit zurzeit sehr gut. Trotz des ra- Nach Berechnungen des Institut Français des Admi- nistrateurs (IFA) wird dies nur zu geringen quantitati- 17 Vgl. https://www.cfdt.fr/upload/docs/application/pdf/2019- ven Auswirkungen führen: Waren bisher in den 120 03/pacte_pouvoir_de_vivre.pdf [18.7.2019]. Mitbestimmungsreport Nr. 53, 10.2019 Seite 13
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