Russischer Überfall auf die Ukraine: Putins brandgefährliches Finale?

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stratos digital   #11   Forum – Russischer Überfall auf die Ukraine: Putins brandgefährliches Finale?   18. März 2022                    1
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          Russischer Überfall auf die Ukraine:
          Putins brandgefährliches Finale?

                             THE O D O R H . WINKLE R

          Abstract
                       Mit dem Überfall russischer                        menbruch der internationalen Ordnung
          Truppen auf die Ukraine im Februar 2022                         besiegeln. Internationale Konflikte und
          endete die Nachkriegszeit. Sie hatte uns                        Spannungen sind in Zukunft sicher. Alle
          seit 1945 Frieden und enormen Fortschritt                       scheinbaren Gewissheiten, auf die wir die
          gebracht. Seit dem von Nukleardrohun­                           internationalen Beziehungen und unser
          gen begleitetem Einmarsch Putins in die                         Weltbild seit dem Ende des Zweiten Welt­
          Ukraine leben wir in einer anderen Ära –                        kriegs aufbauten, sind in Frage gestellt.
          möglicherweise wieder einer Vorkriegszeit.                      Noch fehlen uns die Jalons, die zur Beurtei­
          Die Zukunft ist völlig unberechenbar.                           lung der neuen Lage notwendig sind und
          Krieg, auch ein grosser Krieg zwischen                          mit denen wir eine neue Strategie zur Kris­
          dem Westen und Putins Russland und/                             enbewältigung entwickeln könnten. Die
          oder China ist möglich. China könnte mit                        Lage ist ungewohnt – und brandgefährlich.
          einem Angriff auf Taiwan nun den Zusam­

                                     A LT- B O T S C H A F T E R D R . T H E O D O R H . W I N K LE R   gilt als «sicherheitspolitischer
                                     Vordenker» der Schweiz (Neue Zürcher Zeitung). Er ist einer der Architekten der Schweizer Sicherheits­
                                     politik der 1990er Jahre und geistiger Vater der drei Genfer Zentren des Bundes: Sicherheitspolitik (GCSP),
                                     humanitäre Minenräumung (GICHD) sowie gute Regierungsführung im Sicherheitsbereich (DCAF).
                                     Theodor Winkler stand dem DCAF von 2000 bis 2016 als dessen Direktor vor. Zusammen mit Philippe Burrin
                                     konzipierte Winkler auch die «Maison de la Paix», einen modernen Glaskomplex im Zentrum des interna­
                                     tionalen Genf, der eine der bedeutsamsten sicherheitspolitischen Denkfabriken der Welt beherbergt.
                                     E-Mail: thewinklers@bluewin.ch
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          Entwicklungen der letzten zehn Jahre
                                                           In den                           First»- Ideologie belastete die transatlantischen Be-
          letzten zehn Jahren haben sich aus der Perspektive der                            ziehungen schwer. Tumps Putschversuch vom 6. Ja-
          Sicherheitspolitik tektonische Platten in Bewegung ge-                            nuar 2021, Macrons Qualifikation der NATO als «brain
          setzt: China ist im Begriff, die USA zu überholen und                             dead» und den verstörenden Bildern des Rückzugs der
          zur grössten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Hie-                             NATO und der Amerikaner aus Kabul dürften ihn voll-
          raus leitet Beijing einen Anspruch auch auf eine poli-                            ends überzeugt haben, dass der Westen nicht mehr zu
          tische und militärische Führungsrolle ab. Es ist ent-                             entschlossenen gemeinsamen Handeln in der Lage sei.
          schlossen, seine territorialen Grenzen zu verschieben
         – im Süd- und im Ostchinesischen Meer, im Himalaya,
                                                                                            Machterhalt, nicht Ideologie
          um die Senkaku-Inseln, vor allem aber durch die not-                                                                     Putins Ziel ist die
          falls gewaltsame Wiedereingliederung von Taiwan.                                  Wiederherstellung des Status und der Glorie der aus-
          Dieses Vorgehen trägt das Risiko in sich, zu einem mi-                            einandergebrochenen Sowjetunion. Es geht ihm dabei
          litärischen Konflikt mit den USA zu führen. US-Präsi-                             nicht um Ideologie, sondern um Macht. Er sieht sich
          dent Biden hat bereits erklärt, die USA würden Taiwan                             als Nachfolger Peter des Grossen und er ist entschlos-
          im Falle eines chinesischen Angriffs beistehen. China                             sen, in die Geschichtsbücher einzugehen. Er glaubt,
         weicht diesem Risiko nicht aus, sondern scheint ent-                               dass Russland nach dem Ende des Kalten Krieges vom
          schlossen, die USA als militärische Führungsmacht im                              Westen über den Tisch gezogen wurde, dass insbeson-
         Westpazifik notfalls gewaltsam zu verdrängen. China                                dere Zusagen, dass die NATO auf eine Osterweiterung
          erhöht sein Verteidigungsbudget (das zweitgrösste                                 verzichten würde, gebrochen worden seien. Ganz un-
          Budget der Welt nach jenem der USA) und baut sein                                 abhängig davon, wie rechtsverbindlich sie gewesen
          konventionelles und nukleares Arsenal massiv aus. Die                             seien: für Russland seien sie politisch relevant gewesen.
          moderate Reaktion der westlichen Welt auf die poli-                               Die Fakten sprachen für sich. Russlands Bevölkerung
          tische Gleichschaltung Hongkongs bestätigte Chinas                                schrumpfte um die Hälfte als Folge des Auseinander-
          Präsident Xi Jinping in seiner Meinung, dass die west-                            brechens der UdSSR 1991 (von 290 Mio auf 147 Mio).
          lichen liberalen Demokratien abgewirtschaftet haben,                              Die Wirtschaft des Landes ist wenig beeindruckend
          dekadent und morsch geworden sind und nicht mehr                                  und gleicht derjenigen eines Entwicklungslandes (85%
          eine globale Führungsrolle spielen können. Er ist über-                           der Exporte sind Rohstoffe). Die Konsumgüterindust-
          zeugt, dass dem chinesischen Modell, das auf dem Kol-                             rie entspricht nicht internationalen Standards. Kein
          lektiv statt dem Individuum aufbaut, die Zukunft ge-                              Mensch fährt nach Moskau, um eine Waschmaschine
          hört. Gleichzeitig schafft Xi Jinping – für den Fall der                          zu kaufen. Im Cyberbereich verliert Russland techno-
          Fälle – einen noch nie gesehenen Überwachungsstaat,                               logisch ständig an Boden. Von den 500 weltweit gröss-
          der Aldous Huxleys «Brave New World» weit in den                                  ten Supercomputern befinden sich gerade mal sechs
          Schatten stellt und verübt Genozid gegenüber den Ui-                              in Russland (verglichen mit 173 in China und 149 in
          guren in seinem Land.                                                             den USA). Aus der Perspektive Putins, der das russi-
                                                                                            sche politische System euphemistisch eine «gelenkte
          Wladimir Wladimirowitsch Putin teilt Xis Einschät-                                Demokratie» nennt, mehren sich seit dem Euromaidan
          zung der liberalen Demokratie. Die Trump-Präsident-                               2013/14 in der Ukraine und den starken Protesten gegen
          schaft, der Brexit, die Erosion der Wertegemeinschaft                             Wahlbetrug durch die Regierungen in Belarus und Ka-
          zwischen Bürger und Staat sowie zwischen den Mitglie-                             sachstan auch die Omen einer politischen Lage, die
          dern der sich in einer Dauerkrise befindlichen EU, das                            seiner Kontrolle entgleitet. Für einen narzisstischen
          Fehlen einer entschiedenen Reaktion auf Russlands                                 Putin, der die Verehrung durch die Bevölkerung sucht
          systematische Einmischung in die Wahlkämpfe in den                                und der sich gerne mit nacktem Oberkörper als männ-
          USA und Europa und auf seine ständigen Provokatio-                                licher Kraftstrotz in allen möglichen Heldenposen ab-
          nen (beispielsweise das Sprengen eines Munitionsde-                               bilden lässt, ist Unzufriedenheit in der Bevölkerung
          pots in Tschechien oder der Giftmord von Salisbury),                              etwas Beunruhigendes. Er sucht aber nicht nach der
          vor allem aber der Annexion der Krim 2014, schienen                               Ursache, sondern nach den Schuldigen. Er ist gegen
          ihm Recht zu geben. Der Westen verhängte damals                                   Kritik einerseits immun, andererseits leicht durch sie
          wohl Sanktionen, aber nicht koordiniert und oft nur                               gekränkt, was ihn rachsüchtig macht. Navalny, der be-
          mit halbem Herzen. Trumps Polterei und «America                                   kannteste Oppositionspolitiker nutzt diese Disposition
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          von Putin, um ihn regelmässig öffentlich als Diktator                             Seine Forderungen, die er nun mit militärischen Mit-
          vorzuführen. Putin sieht die innenpolitische Lage als                             teln durchzusetzen ankündigte, sind fundamental: Ein
          explosiver an als sie in der Realität wohl ist. Er fürch-                         zweites Jalta (Neuaufteilung Europas), die Ukraine, die
          tet, dass eine von der EU-Mitgliedschaft profitierende                            Putin als ethnisch weitgehend russisch einschätzt und
          Ukraine mit deutlichem Wirtschaftswachstum sein Re-                               der er eine staatliche Souveränität abspricht, zu einem
          gime schlecht aussehen liesse und letztlich untermi-                              russischen Satellitenstaat zu machen sowie ein Rück-
          nieren würde. Er glaubte auch aus innenpolitischen                                zug der NATO-Truppen aus Osteuropa. Diese Forderun-
          Gründen, handeln zu müssen.                                                       gen stellen die gesamte politische Entwicklung der
                                                                                            letzten Jahrzehnte auf den Kopf, brechen alle Verträge,
          Russland besitzt mit 6.250 Gefechtsköpfen das grösste                             denen Russland zugestimmt hatte, beginnend mit der
          Nukleararsenal der Welt. Jeder Versuch, Russlands                                 Helsinki-Schlussakte von 1975, und stellt eine atembe-
          Macht zu mehren, dem Land zu neuer Grösse zu verhel-                              raubende Rückkehr zu imperialem Gebaren und Na-
          fen, es zu mehr zu machen als «ein Lesotho mit Kern-                              tionalismus dar.
          waffen» (Helmut Schmidt), muss angesichts dieser Ein-
          dimensionalität zwangsläufig auf militärischer Macht                              Das unmittelbare Ziel der Schaffung eines Gross-Russ-
          aufbauen, also disruptiv sein. Der Versuch muss darauf                            lands wird ergänzt durch ein offensives operatives Vor-
          abzielen, die internationale Ordnung zu schwächen,                                gehen im «Globalen Süden», wo Russland sich bereits
          nicht sie zu stärken. Russland wächst, indem es sich die                          solide im Nahen Osten (insbesondere in Syrien) etab-
          Kadaver anderer Staaten einverleibt. Weltpolitisch ist                            liert hat, in Libyen eine starke Rolle spielt, und Frank-
          es eine Hyäne, nicht ein brüllender Löwe. Russland hat                            reich aus seiner Schlüsselstellung in Mali vertrieben
          aber auch im militärischen Bereich Schwächen, was                                 hat. Auch Venezuelas Regime hängt von Moskau ab.
          der Ukraine-Feldzug mehr als deutlich unterstreicht.
                                                                                             Dieses globale Umpflügen der geopolitischen Land-
                                                                                             karte ist von Putin konzeptionell eingebettet in eine
          Weshalb griff Putin jetzt an?
                                                 Putin will einen                            enge Partnerschaft mit China – das unter Xi Jinping
          Staatenbund unter russischer Führung schaffen, dem                                 ebenfalls in eine «neue Ära» eingetreten ist und nicht
          Russland, Weissrussland, die Ukraine, die von ihm an-                              zögert, dem Westen seinerseits offen feindselig ent-
          erkannten Splitter-Volkrepubliken des Donezbeckens                                 gegenzutreten. China würde in dieser Partnerschaft
          und Georgiens, allenfalls weitere Absplitterungen                                  die wirtschaftliche Führungsposition einnehmen,
          der Ukraine, wie Cheson, und marode Überreste der                                  Russland die militärische. Der Westen wäre in diesem
          UdSSR, wie Transnistrien, sowie Teile Zentralasiens                                Szenario militärisch handlungsunwillig, wenn nicht
          angehören sollen. Er sah seine Ambitionen durch die                               -unfähig, müsste allenfalls schwere militärische Nie-
          Wiederannäherung Europas und Amerikas nach der                                     derlagen hinnehmen (China rechnet mit einer offe-
          Präsidentschaft Trumps, aber auch durch die wach-                                  nen Konfrontation mit der US-Navy). Die freie Welt
          sende Überlegenheit Chinas gefährdet, dessen Brutto-                               wäre politisch zutiefst gespalten durch eine aus Pu-
          sozialprodukt heute zehnmal grösser ist als das russi-                             tins Sicht wahrscheinliche zweite Trump-Administra-
          sche und Putin auf Dauer zum Junior-Partner von Xi                                 tion politisch zerstritten und weltpolitisch auf dem ab-
          Jinping Gnaden werden lässt. Putin träumt davon, die                               steigenden Ast. Seit Adolf Hitler und seiner Achse mit
          Macht der Zaren wiederherzustellen und nicht zu Chi-                               Italien und den japanischen Militaristen sowie dem
          nas Pudel zu werden. Wenn Russland als noch eigen-                                «Hitler-Stalin-Pakt» hat niemand mehr einen solchen
          ständiger Partner handeln wollte, so hatte es keine Zeit                           radikalen antidemokratischen Plan zur Erringung der
          zu verlieren. Putin dürfte befürchtet haben, dass China                            Weltherrschaft formuliert. Wie heute Putin die Alli-
          bald in Taiwan zuschlagen dürfte, was Russland zwin-                               anz mit China sucht, suchte auch Hitler pragmatisch
          gen würde, China politisch zu unterstützen, gleichzei-                             das Bündnis mit allen, die den Westen niederkämpfen
          tig aber auch den Westen alarmieren dürfte und ihm                                 könnten. Russland, dessen Politik noch unter Trotzki
          so den Weg zu neuer imperialer Grösse definitiv ver-                               und Lenin stark ideologisch geprägt war, degenerierte
          bauen könnte. Die Zeit stand eindeutig nicht auf Pu-                               unter Stalin zu einem Protagonisten reiner Machtpoli-
          tins Seite. Er musste handeln – und er ging aufs Ganze.                            tik. Entsprechend ging es bei Ukrainekrise von Anfang
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          an um mehr als die Ukraine; es geht um nichts weniger
          als darum, in welcher Welt wir leben werden.

         Als Putin im Herbst 2021 seine Absichten aufzudecken                                       «Dass er sie bis zum Einmarsch in die
         begann, war der Westen sprachlos, pilgerte nach Mos-
                                                                                                    Ukraine durchziehen würde, glaubte
         kau, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Der
         absurd lange Tisch, an den Putin Macron und andere                                         allerdings niemand. Als er es dennoch
         westliche Führungspersönlichkeiten setzte, und die                                         tat und zudem die nukleare Keule ins
         zunehmende Verhärtung der russischen Haltung be-                                           Spiel brachte, brach er bewusst mit
         lehrte die Moskau-Besucher schnell eines Besseren. Es
         gab keinen gemeinsamen Nenner, es hatte nie einen
                                                                                                    einer Ära der Zusammenarbeit, der
         solchen gegeben. Putin hatte sie offen angelogen und                                       Verhandlungen, der Diplomatie, der
         er behielt die Eskalationsdominanz. Dass er sie bis                                        Suche nach Stabilität und Frieden.»
         zum Einmarsch in die Ukraine durchziehen würde,
         glaubte allerdings niemand. Als er es dennoch tat und
         zudem die nukleare Keule ins Spiel brachte, brach er
         bewusst mit einer Ära der Zusammenarbeit, der Ver-
         handlungen, der Diplomatie, der Suche nach Stabili-                                nicht bereit, auch nur einen einzigen Wirtschafts-
         tät und Frieden. Seine westlichen Gesprächspartner                                 flüchtling aufzunehmen, und das noch im Sommer
         erkannten, dass sie systematisch hintergangen wor-                                 2021 mit militärischen Mittel die Nahostflüchtlinge,
         den waren, dass kein gemeinsames Tun mehr möglich                                  die Lukatschenko eingeflogen hatte, am Grenzüber-
         war. Nicht nur die Ukraine würde angegriffen werden.                               tritt zu hinderte, nimmt heute hunderttausende, wenn
         Auch die baltischen Staaten (allen voran Litauen, das                              nicht Millionen von Ukraine-Flüchtlingen grosszügig
         Kaliningrad vom Resten Russlands trennt), Polen und                                auf. Orban hat sich von Putin losgesagt. Deutschland
         Georgien fühlten sich akut bedroht. Die Träume von                                 hat eine einmalige Aufstockung seines Verteidigungs-
         einer Détente und einer allmählichen Demokratisie-                                 haushaltes um 100 Milliarden beschlossen und sich
         rung Russlands und Chinas platzten im Februar 2022.                                zum Ziel bekannt, den Verteidigungshaushalt ab 2024
         Die Herausforderung war wohl kalkuliert, umfassend                                 auf 2% des BIP anzuheben. Biden erhielt in seiner «State
         und brandgefährlich. Die Reaktion des Westens war                                  of the Union»-Botschaft auch von den Republikanern
         scharf. Sie war nicht nur rational, sondern auch emo-                              eine Standing Ovation für sein Bekenntnis zur Uk-
         tional. Man sah sich nicht nur bedroht, sondern auch                               raine. Ein milliardenschweres Hilfsprogramm für die
         hintergangen. Man realisierte, dass man viel Zeit, mög-                            Ukraine wird von beiden Parteien getragen, Präsident
         licherweise zu viel Zeit, vertan hatte, dass einem ein                             Selenski für eine Rede vor beiden Häusern des Kon-
         russischer Bär aufgebunden worden war. Typisch für                                 gresses zugeschaltet. Schweden liefert Waffen an Kiew.
         die neue Stimmungslage waren die Bilder des emotio-                                Finnland überprüft seine Neutralität. Die Schweiz hat
         nalen parteiübergreifenden Schulterschlusses im Deut-                              nach anfänglichem Zögern, die Sanktionen der EU in-
         schen Bundestag, das weitverbreitete Erkennen, dass                                tegral übernommen und dadurch seine Neutralitäts-
         eine Zeitenwende im Gang war.                                                      politik modifiziert. Die UNO-Vollversammlung hat mit
                                                                                            141 : 4 Stimmen Russlands Vorgehen verurteilt.

          Die Folgen: eine erste Einschätzung
                                                       Der Wes-                             Putin steht diesem weltweiten Scherbenhaufen völ-
          ten hat nach diesem Schock entschieden und koordi-                                lig überrascht und hilflos gegenüber. Damit hatte er
          niert reagiert. Die Kriegsbilder aus der Ukraine und                              nicht gerechnet. Die Auswirkungen der Sanktionen
          ihres mutigen Präsidenten brannten sich in unser kol-                             sind unabsehbar. Das Land steht vor dem Staatsbank-
          lektives politisches Bewusstsein ein. Putin hat einen                             rott. Der Rubel befindet sich in freiem Fall. Die Russen
          hoffnungslos gespaltenen Westen in einem Ausmass                                  können nicht mehr ins Ausland reisen. Es gibt keine
          wieder zu einer Wertegemeinschaft zusammenge-                                     Flüge mehr, der Luftraum weiter Teile der Erde ist für
          schweisst, von der noch vor Kurzem niemand auch                                   sie gesperrt, der Erwerb von Devisen unmöglich. West-
          nur zu träumen wagte. Polen, in den letzten Jahren                                liche Firmen schliessen zu Dutzenden ihre Niederlas-
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          sungen. Besonders hart werden die unteren Einkom-                                 Sein Schicksal ist heute untrennbar mit dem Ausgang
          mensklassen und der Mittelstand getroffen. Aber auch                              des Ukraine-Kriegs verknüpft. Ein Funke kann weitere
          mehr als 1.000 Oligarchen und Spitzenbeamten, die                                 Pulverfässer jederzeit zur Explosion bringen.
          Putin besonders nahe sind, erhielten ihre Bankkonten
          im Westen eingefroren. Super-Luxus-Yachten wurden                                  Die Palette der Möglichkeiten reicht nach meiner Ein-
          beschlagnahmt; ebenso ein guter Teil der russischen                                schätzung von einem Sturz Putins durch die Oligar-
          Devisenreserven. Erdöl- und Erdgas-Exporte in die USA                              chen, die Armee oder den Apparat über die Ausdeh-
          und weitere westliche Staaten werden gestoppt, wäh-                                nung des russischen Drucks auf andere Staaten (das
          rend «North Stream 2», die umstrittene Gaspipeline                                 Baltikum und Osteuropa) bis hin zum Einsatz (vermut-
          von Russland via Ostsee nach Deutschland, keine Be-                                lich taktischer) Atomwaffen – etwa gegen die Logistik-
          triebsbewilligung erhält. Weitere Sanktionen werden                                zenten in der westlichen Ukraine und Ostpolen, über
          folgen, sollte Kiew fallen und dort eine Satelliten-Regie-                         die die Ukraine mit Waffen, Kämpfern und Hilfsgü-
          rung eingesetzt werden. Die Sanktionen mögen even-                                 tern aller Art versorgt wird. Die militärische Schwä-
          tuell die Ukraine nicht retten – aber vielleicht Taiwan.                           che, die Putins Truppe in der Ukraine zeigt, wirkt hin-
          China beobachtet, die Reaktion des Westens genau.                                  gegen etwas beruhigend auf Litauen und die seine
          Es dürfte auch mit einer weit milderen Reaktion ge-                                baltischen Nachbarn. Auch Finnland beginnt vorsich-
          rechnet haben.                                                                     tig aufzuatmen. Ein Kernwaffeneinsatz hat angesichts
                                                                                             der besonnen, aber entschiedenen amerikanischen Re-
         Der erbitterte ukrainische Widerstand gegen den An-                                 aktion an Glaubwürdigkeit verloren. In den Vorder-
         greifer und die Wandlung des ehemaligen Komikers                                    grund schiebt sich die Sorge, dass Putin in der Ukraine
         Selenski an der Staatsspitze zu einem genuinen Hel-                                – wie zuvor Assad in Syrien – chemische Waffen einset-
         den, der Menschen und Nation zu inspirieren und die                                 zen könnte. Kehrt wieder Vernunft ein, ist der wahr-
         Welt zu beschämen versteht, war jenseits dessen, was                                scheinlichste Ausgang ein Waffenstillstand in naher
         er kannte. Auf die miserable Leistung seiner Invasions-                             Zukunft, gefolgt von Verhandlungen, nicht der mör-
         kräfte war er ebenso wenig vorbereitet. Die Berichte                                derische Häuserkampf in Kiew und anderen ukraini-
         der russischen Armee über ihre eigene Kampfkraft wa-                                schen Grosstädten. Die russischen Streitkräfte wollen
         ren übertrieben. Wofür Putin Tage einrechnete, waren                                nicht noch mehr Verluste, ja beginnen nicht einmal
         Wochen nicht ausreichend. Panzer, Lastwagenkolon-                                   mehr eine Niederlage auszuschliessen. Selenski weiss,
         nen und anderes Kriegsmaterial blieb im Schlamm,                                    dass er gewonnen hat, wenn die Russen die Operatio-
         der die Jahreszeit auszeichnet, stecken, wurden stehen                              nen unterbrechen. Ob Putin dem zustimmen kann,
         gelassen und verlassen, weil ihnen das Benzin ausging.                              steht auf einem anderen Blatt.
         Nicht einmal die Verpflegung war gesichert. Viele hun-
         gerten in den kilometerlangen Fahrzeugkolonnen, die
                                                                                            Was bedeutet das alles für uns?
         von den modernen Panzerabwehrwaffen und Drohnen,
         die die NATO zu Tausenden lieferte, systematisch zu-                               Erstens: Die Demokratien und die Kooperation
         sammengeschossen wurden. Die Moral sank markant.                                   stärken. Der Westen ist überraschend und völlig un-
         Viele hatten nicht einmal gewusst, dass sie Teil eines                             vorbereitet, quasi über Nacht, in die gefährlichste Kon-
         Angriffs auf die Ukraine waren. Die Verluste stiegen                               fliktsituation seit der Kuba-Krise von 1962 geworfen
         bald ebenso markant. Mit 150.000 Mann mag Putin die                                worden. Es ist entscheidend, wie er mit der Herausfor-
         Ukraine erobern können; um sie zu besetzen und hal-                                derung umgehen kann. Die transatlantische Geschlos-
         ten zu können, sind es zu wenige. Russland scheint in                              senheit ist zwingend (man erschaudert, wenn man an
         den ersten zwei Wochen der Invasion mehr Soldaten                                  eine eventuelle zweite Trump-Administration denkt).
         und mehr schweres Kriegsgerät verloren zu haben als                                Die Erneuerung der Wertegemeinschaft im westlichen
         in den 15 Jahren in Afghanistan (oder die Amerikaner                               Lager bleibt abzustützen durch Gipfel, enge Konsulta-
         in 20 Jahren im Irak). Wenn er nicht schnell einen Aus-                            tionen, flankierende Massnahmen und durch ausge-
         weg aus der von ihm selbst provozierten Krise findet,                              wogene Kompromisse. Eine Bekräftigung der Ziele der
         riskiert Putin alles. Er sieht aber offenbar nur noch die                          Union anlässlich des Versailler EU-Gipfels sollte dem
         Flucht nach vorne – vielleicht auch nur deshalb, weil                              dienen. Die Europäische Union muss zwingend eine
         es für ihn keinen Weg zurück mehr zu geben scheint.                                klare und allseitig getragene geopolitische Vision und
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         eine darauf aufbauende Strategie haben. Neu ist, dass                              auslöst. Chinas Bevölkerung zu zahlreich, um mehr
         der Anstoss hierzu nicht länger nur von der Achse Pa-                              als ein taktisches Bündnis zu gestatten. China hat kei-
         ris-Berlin kommt, sondern nun auch von den kleine-                                 nerlei Interesse an einem Nuklearkrieg. Es hat seine
         ren Partnern – allen voran Polen und dem Baltikum.                                 konventionellen Streitkräfte – insbesondere die Ma-
         Notwendig ist auch eine politische Verschränkung der                               rine – stark ausgebaut. Beijing ordert jedes Jahr Kriegs-
         euroatlantischen Partnerschaft mit den asiatischen De-                             schiffe, die an Tonnage und Bewaffnung der ganzen bri-
         mokratien (z.B. in Form einer «Union of Democracies»).                             tischen Royal Navy entsprechen. Es könnte ab diesem
         Dem Bündnis von China und Russland darf es nicht                                   Herbst eine Korrelation der Kräfte mit der US-Navy in
         gelingen, Europa und Asien gegeneinander auszuspie-                                Westpazifik erreichen, die einen Angriff ermöglichen
         len. Der Westen will keinen Krieg. Sein Haupttrumpf                                würde, Beijing dürfte damit aber noch zuwarten bis
         ist seine Fähigkeit, mit Sanktionen seine Gegenspieler                             seine Trägerkomponente sechs Flugzeugträger um-
         zum Nachgeben zu bewegen. Die westliche operative                                  fasst. Dies würde es China erlauben, durch die Statio-
         Antwort ist somit asymmetrisch zur militärischen He-                               nierung eines solchen Verbandes östlich von Taiwan,
         rausforderung. Sie muss aber getragen werden durch                                 die Insel zu isolieren. Das wird wohl ab Ende 2024
         eine deutliche Stärkung der Verteidigungsanstren-                                  der Fall sein. Hätte Putin mit seinem Vabanquespiel in
         gungen. Das bedarf des Willens, den Gürtel enger zu                                der Ukraine Erfolg, so erschiene ein früher Angriffsbe-
         schnallen und einer Durchhaltefähigkeit. Schliesslich                              fehl wahrscheinlich. Sollte Putin scheitern, dürfte das
         müssen sich die Demokratien im Klaren sein, dass                                   auch Taiwan wertvolle Zeit verschaffen. Die Reaktion
         Sanktionen, die Russland Eindruck machen, auch den                                 des Westens auf Putins Invasion ist daher gleichzeitig
         Westen etwas kosten. Es wird nicht einfach sein, den                               eine strategische Kommunikation mit China. Biden
         Konvoi zusammenzuhalten. Die Einmütigkeit, die der                                 lässt China wissen, dass der er trotz (ja gerade wegen)
         erste Schock schuf, muss bewahrt bleiben.                                          der Krise in Europa Taiwan im Falle einer Invasion
                                                                                            als Alliierter zur Seite stehen würde. Der Westen will
          Zweitens: Trotzdem gemeinsam handeln. Es ist un-                                  nicht den Krieg mit China; aber die Ukraine darf nicht
          endlich schwieriger geworden, die grossen Probleme                                Schule machen, wenn wir einen Weltenbrand vermei-
          unserer Zeit zu lösen: Klimawandel, Bio-Sicherheit und                            den wollen.
          Pandemien, Cyber und der Übergang zu künstlicher In-
          telligenz und Quantencomputern, die demografische                                 Viertens: Das neue Kriegsbild wird jetzt geprägt.
          Explosion in Afrika und die daraus resultierenden Mi-                             Der Krieg in der Ukraine hat direkte Auswirkungen
          grationszwänge, die Verknappung von Energie, vor al-                              auf andere Krisenherde der Welt. So fehlt einem gu-
          lem der elektrischen Energie (viele nationale Energie-                            ten Teil Nordafrikas und des Nahen und des Mittleren
          strategien sind de facto schon gescheitert) sowie eine                            Ostens das ukrainische Getreide, dessen Export ein-
          anhaltende (und durch die Sanktionen gegen Russland                               gestellt wurde. Wird das Brot jedoch zur Mangelware,
          noch erhöhte) Volatilität der Finanzmärkte. Hier Lö-                              ist mit Unruhen im Libanon, in Tunesien und in Ma-
          sungen zu finden, erfordert gemeinsames Handeln –                                 rokko zu rechnen. In Serbien und Bosnien könnte Pu-
          und der Wille dazu wird rar sein. Putins Verbrechen                               tin das antiwestliche Klima zum Wiederanstacheln von
          droht, unsere Fähigkeit die Probleme zu lösen, die für                            Feindseligkeiten nutzen. Der Ausgang des Krieges wird
          das Überleben unseres Planeten wichtig sind, mutwil-
          lig zu zerstören.

         Drittens: Das Ukraine-Beispiel darf nicht Schule                                           «Der Westen ist überraschend und
         machen. China nimmt in der gegenwärtigen Krise
         eine Schlüsselstellung ein. Es stützt Russland (Putin
                                                                                                    völlig unvorbereitet, quasi über
         hatte Xi Jinping über seine Angriffspläne vororientiert),                                  Nacht, in die gefährlichste Konflikt­
         «im wichtigsten Bündnis» der Gegenwart – aber nur                                          situation seit der Kuba-Krise 1962
         oberflächlich (und sicherlich zu einem Preis). Die Al-
                                                                                                    geworfen worden. Es ist entscheidend,
         lianz ist letztlich brüchig. Sibirien ist für eine wahre
         Interessensgemeinschaft zu gross. China ist still dabei,                                   wie er mit der Herausforderung
         Sibirien zu besiedeln, was erhebliche russische Unruhe                                     umgehen kann.»
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          auch die künftige Struktur der Streitkräfte beeinflus-                            Souveränität besser schützen können. Die Schweiz
          sen. Russland wird seine irregulären Kräfte, allen vo-                            wird ihr Verteidigungsbudget aufstocken müssen.
          ran die Wagner-Gruppe und die Cyberkampfmittel in
          privater Hand, weiter stärken und öfter einsetzen. Der                            Sechstens: Sicherheitspolitische Prioritäten ver-
          Stellenwert weitreichender Boden-Luft-Raketen wird                                ändern. Wir müssen unsere Diplomatie neu über-
          zunehmen. Die Bedeutung von ausgewogenen Kampf-                                   denken. Die Ukraine-Krise hat alle von uns geliebten
          gruppen, die in der Lage sind, den Kampf der verbun-                              Projekte schwer angeschlagen: Der OSZE-Prozess, die
          denen Waffen zu führen und über ihre eigene Logistik                              Helsinki-Akte, Russland hat alle Auflagen punkto Rüs-
          verfügen, wurde unterstrichen.                                                    tungskontrollen missachtet, ebenso das Minsker Ab-
                                                                                            kommen. Das will nicht heissen, dass wir diese Inst-
         Umgekehrt hat Elon Musk kurz nach der Invasion                                     rumente aufgeben sollten, aber wir werden sie ohne
         seine Firma Space-X angewiesen, das beschädigte Inter-                             Russland verfolgen müssen. Henry Kissinger hat die
         net der Ukraine durch Starlink-Stationen aus dem All                               Diplomatie als das Werkzeug bezeichnet, die Prioritä-
         wieder zu reparieren. Ein Novum, das eine vertiefte                                ten eines Landes zu definieren. Putins Blutbad in der
         Analyse verdient. Das Ringen am Boden wird auch zei-                               Ukraine zwingt uns, unsere Prioritäten zu verändern.
         gen, ob weiter stark gepanzerte Verbände das Schlacht-                             Die Fähigkeit, nicht erpressbar zu werden, gewinnt
         feld beherrschen oder ob diese durch Infanterie mit                                an Bedeutung.
         modernsten panzerbrechenden Waffen und schulter-
         gestützten Flabraketen effektiv nicht nur gestoppt,
         sondern auch in Gegenangriffen geschlagen werden
         können. Der Kampf in stark überbauten, urbanen Ge-
         biet bringt neue Erkenntnisse (Für die Schweiz beson-
                                                                                                    «Die Fähigkeit, nicht erpressbar zu
         ders wichtig: auch für die Frage, wie die Genfer Rot-
         kreuz-Konventionen modifiziert oder ergänzt werden                                         werden, gewinnt an Bedeutung.»
         sollten, um die Zivilbevölkerung besser zu schützen).
         Der Konflikt ist für unsere Einschätzung des Kriegs-
         bildes wichtig.

          Fünftens: Die Verteidigungsfähigkeiten – auch                                     Siebtens: Die klassische Neutralitätspolitik der
          der Schweiz – stärken. Wir müssen uns «wärmer                                     Schweiz hat ausgedient. Die Staatengemeinschaft
          anziehen». Der Westen muss wieder eine glaubwür-                                  ist nicht bereit, Konzepte wie den «Courant normal»
          dige Verteidigungsfähigkeit aufbauen. Das trifft be-                              weiter zu tolerieren. Es wird von uns erwartet, echte
          sonders für Europa zu, gerade auch für die Schweiz.                               und sehr konkrete Beiträge zur Lösung der uns bedrän-
          Der Rückzug der F-35-Initiative und das Streichen der                             genden Probleme zu leisten. So hat die autonome Über-
          GSoA-Passage im Parteiprogramm der SP sind über-                                  nahme der EU-Sanktionen gegen Russland internatio-
          fällig. Die Streitkräfte müssen polyvalenter werden.                              nal ein sehr positives Echo ausgelöst und den Druck
          Eine Generalmobilmachung wie im Zweiten Weltkrieg                                 auf Putin deutlich erhöht. Neutralität muss als Ver-
          ist unwahrscheinlich. Die Armee muss aber jederzeit                               zicht darauf verstanden werden, einer Konfliktpartei
          eine oder mehrere massgeschneiderte Task Forces mi-                               militärisch beizustehen. Sie kann aber nicht bedeuten,
          litärischer oder zivil-militärischer Natur mobilisieren                           dass wir die Werte verraten, für die unser Land steht.
          können, die dem Staat als Schwerpunktmittel zur Be-                               Wir werden während unserer UNO-Sicherheitsratsmit-
          kämpfung von spezifischen Krisen dienen können (Ver-                              gliedschaft nicht daran gemessen, ob wir brav sind,
          teidigung, Katastrophenhilfe, Empfang von Flüchtlin-                              sondern was wir konkret für den Frieden tun.
          gen und Grenzsicherung, Bio-Sicherheit/Pandemien,
          andere subsidiäre Einsätze). Europa kann es sich nicht                            Dazu gehört nicht nur unsere Disponibilität für Gute
          länger leisten, erpressbar zu sein, bzw. letztlich von                            Dienste, sondern zwingend auch unsere Bereitschaft,
          den USA abhängig zu sein. Die anstehenden Wahlen                                  aktiv nach Optionen zu suchen, die zur Entspannung
          in den USA belegen, an welch seidenem Faden die Ko-                               beitragen und gleichzeitig unseren Interessen und
          häsion der westlichen Welt hängt. Wir müssen unsere                               Möglichkeiten entsprechen. Wir haben ein Interesse,
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         im Viereck USA-China-Russland-EU formelle und in-                                   gehalten, über neue Formen der Guten Dienste nach-
         formelle Gesprächskanäle zu eröffnen, die mögliche                                  zudenken, die unsere Welt in raschem Wandel benö-
         Kooperationsbereiche identifizieren und diese gezielt                               tigt. Das internationale Genf mit seiner weltweit füh-
         entwickeln. Die Palette von Möglichkeiten ist breit. Sie                            renden Konzentration an Wissen – von der WHO über
         reicht von Track 1-Gesprächen (informelle Treffen der                               die Weltmeteorologische Organisation bis zum CERN
         Entscheidträger) bis Track 2-Gesprächen (Regierungs-                               – ist in dieser Hinsicht ein unschätzbarer Trumpf. Das
         spezialisten) bis zu verschiedenen anderen Formen                                   gleiche trifft für die Maison de la Paix in Genf, die ETH
         gegenseitigen Abtastens. Denkbar sind etwa thema-                                   in Zürich und die EPF Lausanne zu. Die Schweiz muss
         tische Mittagessen auf Botschafterebene in Genf und                                 ihr Wissen nur mobilisieren – und sich aus den en-
         New York über Bereiche, wo zur Lösung eine interna-                                 gen, restriktiven Bahnen des Neutralitätsdenkens des
         tionale, multidisziplinäre Kooperation nötig ist. Die                              19. Jahrhunderts lösen.
         Schweiz sollte aktiv abklären, wo multilaterale Zusam-
         menarbeit noch möglich ist, bzw. welche Entwicklun-                                Achtens: Mit Putin wird kein Weiterkommen sein.
         gen eine multilaterale Kooperation erzwingen. Aus                                  Seit dem Einmarsch wirkt er täglich aufgedunsener,
         diesen informellen Kontakten sollte idealerweise ein                               erschöpfter. Er suggeriert mit seinen theatralischen
         Gewebe von Kooperationsbaustellen entstehen, die ein                               Inszenierungen (Nationaler Sicherheitsrat, Flugperso-
         vollständiges Abstürzen der gegenseitigen Beziehun-                                nal), dass er alles vollumfänglich unter Kontrolle hat.
         gen unter den grossen Vier verhindern. Zu unserem                                  Das ist stark zu bezweifeln. Er dürfte weitgehend be-
         Angebot sollte gerade auch die Simulation der Zusam-                               ratungsresistent sein. Der Kreis der Vertrauten um ihn
         menarbeitsmöglichkeiten im Falle gravierender Natur-                               herum hat stark abgenommen. Es sind vorwiegend
         Ereignisse (Ausbruch eines Supervulkans; Sonnenerup-                               alte Kumpane aus seinen KGB-Zeiten (was insbeson-
         tionen, die die Erde mit elektromagnetischen Stahlen                               dere den Streitkräften sauer aufstösst). Wie bei den
         treffen; grosser Asteroid, der auf Kollisionskurs mit der                          meisten Diktaturen schrumpft die Qualität des Bera-
         Erde ist; wie einem Pandemie-Risiko begegnen, das von                              terstabes schnell. Kritische Expertise wird durch nutz-
         einem besonders gefährlichen Erreger ausgeht – wie                                 lose Ja-Sagerei ersetzt. Putin steckt seit dem Ausbruch
         z.B. von einem luftübertragbaren Ebola-Erreger). Diese                             der Corona-Pandemie weitgehend in seinen Bunkern,
         Simulationen eignen sich nicht nur, um den Dialog am                               trifft niemanden. Da nichts von seinen Auftritten dem
         Leben zu erhalten, sondern retten konkret tausende                                 Zufall überlassen bleibt, geben die Bilder, die er evo-
         von Leben, wenn eine solche Katastrophe eines Tages                                ziert, besonders zu denken: Etwa der Schreibtisch mit
         eintreten würde. Wesentlich ist, gerade in diesen Be-                              einer ganzen Batterie veralteter analoger Telefone im
         reichen den Gesprächsfaden nicht abreissen zu lassen.                              Hintergrund. Er scheint nicht zu bemerken, dass das
         Wir müssen uns von den traditionellen Guten Diens-                                 Bild Abgeschottetheit und Rückständigkeit vermittelt.
         ten als Paradebeispiel lösen. Die Interessenvertretung                             Auch viele seiner Handlungen vermitteln nicht den
         gehört ins Kapitel des Nationalstaates. Dieses wird je-                            Eindruck eines Mannes, der die Lage im Griff hat. Be-
         doch von der Globalisierung überholt. Wir sind daher                               sonders die Drohung mit der Atombombe und die Ab-
                                                                                            setzung von acht Generälen wegen Unfähigkeit und
                                                                                            zweier hoher Beamter des Geheimdienstes zwei Wo-
                                                                                            chen nach Kriegsbeginn sandten ganz andere Signale
                                                                                            an die Welt als Putin beabsichtigt hatte. Er sieht aus
          «Neutralität muss als Verzicht darauf
                                                                                            wie ein Mann, der alles auf eine Karte gesetzt hat und
          verstanden werden, einer Konflikt­                                                sich verzweifelt gegen die Erkenntnis sträubt, dass er
          partei militärisch beizustehen. Sie                                               verloren haben könnte. Er gibt die Schuld anderen, er
          kann aber nicht bedeuten, dass wir                                                ist zur Selbstkritik nicht fähig. Man muss aber noch
                                                                                            weiterdenken. Es ist fraglich, ob er zur kühlen Ana-
          die Werte verraten, für die unser Land
                                                                                            lyse fähig ist, was im Ukraine-Feldzug schieflief. Es
          steht.»                                                                           besteht vielmehr die Gefahr, dass er dieselben Fehler
                                                                                            erneut macht – mit den baltischen Staaten oder Polen
                                                                                            als Ziel. Er dürfte die Ukrainekrise politisch auf Dauer
                                                                                            nicht überleben.
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          Er mag Kiew einnehmen und die dortige Regierung                                   dieser Frage der Konsens der ersten Stunde verloren
          stürzen, aber er kann nicht die Ukraine unterwerfen.                              geht.
          Das IKRK rechnet mit mehr als 10 Millionen Flüchtlin-
          gen. Diese Diaspora enthält ein gewaltiges Konflikt-                              In seiner Anfangsphase hat der Krieg den Westen ge-
          potential, sollte die russische Eroberung von einem                               eint. Trumps Aktien etwa begannen, in den Keller zu
          Guerillakrieg gefolgt werden. Je brutaler der Feldzug                             fallen. Ob diese Einmütigkeit ein Abkommen zur Been-
          und je länger die Ukraine Widerstand leistet, desto                               digung der Feindseligkeiten überlebt, steht auf einem
          kostspieliger wird Putins Abenteuer; im wachsenden                                anderen Blatt geschrieben. Die Antwort hat entschei-
          Berg von Toten, im Schwinden seiner Ressourcen, in                                denden Einfluss auf die Frage, wie Putins Flucht nach
          sich stetig noch weiter verschärfenden Sanktionen                                 vorn von der russischen Seite bewertet wird.
          und einer internationalen Isolierung, bzw. in einer zu-
          nehmenden Abhängigkeit von China. Die Streitkräfte,                               Offen bleibt auch der Einfluss auf das chinesisch-rus-
          für die Putin ein Tschekist (Geheimdienstler) ist, wer-                           sische Verhältnis: Sieht Xi Putins Gewaltexplosion als
          den sich nicht aufreiben lassen. Sie dürften auch ein-                            einmaligen Versuch zu einem Befreiungsschlag aus
          schreiten, sollte er die nukleare Schwelle überschrei-                            dem drohenden langsamen Bedeutungsverlust Russ-
          ten wollen (wie dies die amerikanischen Militärs in der                           lands? Oder sieht China Moskau jetzt als «loose cannon
          Endphase von Trumps Präsidentschaft taten). Die Sank-                             on board», die jederzeit erneut loszubrechen fähig ist?
          tionen werden zunehmend schmerzen. Das Risiko                                     Geht die Reduktion Putins, wenn er denn überlebt, zu
          eines offenen Krieges mit der NATO bleibt hoch. Olig-                             Xis Pudel schneller voran?
          archen und Bevölkerung werden dies nur beschränkt
          hinnehmen. Putin hat sich in eine Sackgasse manöv-
          riert, aus der er kaum mehr herausfinden dürfte. Das
          russische Ukraine-Abenteuer ist sehr wahrscheinlich
          nicht nur ein weltpolitischer, sondern auch ein russi-
          scher Wendepunkt.                                                                     «Wir sind nicht länger nur von Freun­
                                                                                                den umgeben. Einige der Akteure in
          Mögliche Verhandlungspositionen                                                       unserem Umfeld wollen uns übel. Wir
                                                      Die unmit-
          telbare Zukunft hängt stark davon ab, ob es Putin ge-
                                                                                                müssen die Mittel, gerade auch die
          lingt, die Bilanz seiner kurzsichtigen Aktion zu opti-                                militärischen Mittel beschaffen, um es
          mieren. Dies spräche für einen Verhandlungsfrieden,                                   jederzeit mit ihnen aufnehmen zu
          unter dem die Ukraine die Krim und die beiden Volks-
                                                                                                können.»
          republiken des Donezk an Russland abtreten und die
          immerwährende Neutralität in ihre Verfassung schrei-
          ben würde. Die Ukraine dürfte im Gegenzug das Recht
          auf die Mitgliedschaft in der EU fordern und keinerlei
          Rüstungskontrollauflagen (ausserhalb des Bereiches
                                                                                            Schlussbemerkungen
          der Massenvernichtungswaffen) akzeptieren. Das mag                                                             Die Zukunft bleibt weit
          mehr sein, als Putin zuzugestehen bereit ist. Viel hinge                          offen. Klar ist jedoch, dass dem Westen nur Einheit,
          davon ab, ob sich die Parteien auf einen Waffenstill-                             Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft helfen werden.
          stand einigen können, oder ob unter dem Leid eines                                Wir sind nicht länger nur von Freunden umgeben. Ei-
          erbitterten Häuserkampfes verhandelt wird. Je grös-                               nige der Akteure in unserem Umfeld wollen uns übel.
          ser die Zahl der Opfer, umso schwieriger wird es sein,                            Wir müssen die Mittel, gerade auch die militärischen
          einen Kompromiss zu finden. Und: Putin braucht nicht                              Mittel beschaffen, um es jederzeit mit ihnen aufneh-
          einen Kompromiss, sondern muss zu Hause einen Sieg                                men zu können.
          verkünden können. Ebenso offen ist, was der Westen
          als Bedingung für die Aufhebung seiner Sanktionen
          verlangen wird – und ob er verhindern kann, dass in
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