Saiten - Ein Appenzeller Lebensgefühl
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Kommen, gehen, pendeln: Porträts aus AR und AI, dem Land der modernen Nomaden. Ausser- dem: Zahme Genos- sen, streitende Schlossgeister und frohe Sommer- pläne.
« . . . er möchte hier schon weg, haben etwas zu sagen zum Walser’schen wenn es sein solle, aber in einem Weggehen und Hierbleiben. Atem sagt er dann auch wieder, Der äussere Anlass für das Thema: er könne auch hier bleiben ... Ausserrhoden und Innerrhoden feiern Nochmals: er sagte klipp und klar, 2013 die fünfhundertjährige Zugehörig- er könne hier weggehen, aber keit zur Eidgenossenschaft. Saiten er- auch hier bleiben – – typisch Ja – scheint daher als Kooperationsnummer Nein . ..» mit dem Jubiläum ARAI 500. Wir danken für die Unterstützung und staunen Der, von dem da die Rede ist, ist Robert über das bemerkenswert experimentelle Walser, Insasse der Heil- und Pflege- Jubel-Programm mit Festspiel, Wander- anstalt in Herisau. Die Einschätzung lie- bühne Ledi und weiteren Aktivitäten. Sicher fert Chefarzt Otto Hinrichsen in ein Grund, hinzugehen ins Appen- einem Brief vom 24. Februar 1937 an zellische – wenn man nicht schon dort Walsers Schwester Lisa. So blieb der ist. Oder, wie Charles Pfahlbauer jr., Dichter bis zum Tod 1956 im Appenzeller- noch eine alte Rechnung zu begleichen hat. land, wohin er als Teufner Bürger 1933 Wo es im Juli und August sonst aus der Berner Waldau verpflanzt worden noch abgeht, darüber informiert der war und von wo er weg- und doch traditionelle Saiten-Kulturführer, diesmal nicht weggehen wollte und konnte. illustriert von Lukas Schneeberger. So wenig Walser vorher mit dem Auf ein fröhliches Pendeln durch den Appenzellerland zu tun gehabt hatte, Sommer! so fraglos nimmt man ihn heute als Appen- peter surber und zeller Autor wahr. Es ist das Schicksal andrea kessler der kleinen Kantone, dass ihre Grossen nicht sehr zahlreich sind. Und es ist das Los der Ränder, dass sie dem Magne- tismus der Zentren unterliegen, mit der Wirkung aller Magnete: Anziehung und Abstossung. Obwohl viele Rand- regionen davon betroffen sind, schien uns diese Bewegung von Hin und Her, von Kommen und Gehen so charakteristisch für das Appenzellerland, dass wir ihr dieses Heft widmen. Entstanden sind Ge- spräche und Begegnungen mit Men- schen, die auf ihre je eigene Art und Weise appenzellisch pendeln. Die eine haut ab, um der Enge zu entkommen, der andre geht aus Zwang, weil Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten fehlen, die dritte kam aus Zuneigung zu Land und Leuten, der nächste legt virtuos den Schalter um zwischen Welten hier und dort. Sie alle eDitorial
Saiten Ostschweizer Kulturmagazin 225. Ausgabe, Juli /August 2013, 8 Reaktionen 20. Jahrgang, erscheint monatlich HERAUSGEBER Verein Saiten, Verlag, Schmiedgasse 15 Postfach 556, 9004 St.Gallen Positionen Tel. 071 222 30 66, Fax 071 222 30 77 REDAKTION Andrea Kessler, Peter Surber, 9 Blickwinkel redaktion@saiten.ch von Florian Bachmann VERLAG/ANZEIGEN 10 Einspruch Peter Olibet, verlag@saiten.ch von Ueli Vogt SEKRETARIAT Gabriela Baumann, 10 Redeplatz sekretariat@saiten.ch mit Matthias Fässler KALENDER Michael Felix Grieder kalender@saiten.ch 12 Stadtlärm GESTALTUNG 12 Wortlaut – Was neu wird und Samuel Bänziger, Larissa Kasper Rosario Florio, grafik@saiten.ch eine Kritik daran VEREINSVORSTAND Susan Boos, Lorenz Bühler, 13 Zum Abgang von René Munz Heidi Eisenhut, Christine Enz, Hanspeter Spörri (Präsident), Rubel Vetsch VERTRIEB Vom Kommen und Gehen 8 days a week, Rubel Vetsch DRUCK Niedermann Druck AG, St.Gallen AUFLAGE 5600 Ex. Saiten 07/08/2013 ANZEIGENTARIFE siehe Mediadaten 2013 SAITEN BESTELLEN Standardbeitrag Fr. 70.–, Unterstützungs- beitrag Fr. 100.–, Gönnerbeitrag Fr. 280.– Tel. 071 222 30 66, sekretariat@saiten.ch INTERNET www.saiten.ch AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEARBEITET Daniel Ammann, Eva Bachmann, Florian Bachmann, Hans Jörg Bachmann, Ladina Bischof, Kurt Bracharz, Matthias alpsteinstrasse in herisau, fotografiert von Daniel ammann und fürs Brenner, Wendelin Brühwiler, Sina cover bemalt von lukas schneeberger Bühler, Gyatso Drongpatsang, Tine Edel, Dorothee Elmiger, Marcel Elsener, Eleonora Farinello, Daniel Fuchs, Brigitta 16 Im Spinnennetz des Hochuli, Damian Hohl, Michael Hug, Appenzellischen Marco Kamber, Stefan Keller, Andreas Ein Skype-Gespräch mit Fotograf Kneubühler, Bettina Kugler, Rolf Müller, Ueli Alder und Schauspielerin Kartin Enzler Charles Pfahlbauer jr., Claire Plassard, über die Barbarei und friedlichere Dinge. Harry Rosenbaum, Anna Rosenwasser, Kristin Schmidt, Lukas Schneeberger, von Hanspeter Spörri Adrian Soller, Hanspeter Spörri, Johannes Stieger, Tatjana Stocker, Ueli Vogt, 19 Kein Mitleid mit den Pendlern Simone Volande Sie haben keine freie Fahrt, KORREKTUR aber auch keine Alternative. Noëmi Landolt, Florian Vetsch von Andreas Kneubühler © 2013: Verein Saiten, St.Gallen. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugs- weise, nur mit Genehmigung. Die Urheber- rechte der Beiträge und Anzeigenentwürfe bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. inhaltsverzeichnis
21 Nüsse knacken Kultur Belinda Koster und Rosmarie Brown- Hohl kommen von weit her, nicht nur um bei Der dreizehnte Ort mitzuspielen. 42 Zwischen Festhütte und von Sina Bühler Kulturtempel. In Rapperswil-Jona scheiden sich 24 Gwyneth trägt Hersche die Geister am Schloss. Von einem, der auszog, die US-Modewelt von Harry Rosenbaum zu erobern. von Andrea Kessler 44 Schon Pläne? Saiten lotst durch den Kultursommer. 26 Einmal Beifahrersitz, bitte Mit Beiträgen von: Eva Bachmann, Matthias Rouven Seidler pendelt zwischen Brenner, Wendelin Brühwiler, Marcel Elsener, Waldstatt und Berlin. Ein Routenbericht. Eleonora Farinello, Brigitta Hochuli, von Claire Plassard Damian Hohl, Michael Hug, Marco Kamber, Andrea Kessler, Bettina Kugler, Kristin 29 Bei den Klangnomaden Schmidt, Johannes Stieger, Tatjana Stocker, Patrick Kessler und Sven Bösiger finden Peter Surber und Simone Volande ihre Musik von Hügel zu Hügel. Illustrationen von Lukas Schneeberger von Peter Surber Bilder von Daniel Ammann Perspektiven 32 Kyoto Saiten 07/08/2013 Flaschenpost von Hans Jörg Bachmann 34 Rapperswil-Jona 35 Vorarlberg 35 Thurgau 37 Schaffhausen 37 Stimmrecht von Gyatso Drongpatsang Report 38 TG: Die Kunst des Verlierens. AR: Hohe Schule des Marketings. 53 Kalender Wie steht es um die SP in der ländlichen Ostschweiz? von Adrian Soller Abgesang 74 Kellers Geschichten 75 Bureau Elmiger 77 Charles Pfahlbauer jr. 79 Boulevard nr. 225, Juli /august 2013
8 Kommentare auf Kulturelle Bereicherung Die Frage der Kippa stellt sich halt nicht mehr, da wir die jüdische Gemeinschaft Saiten Online Der Kopftuchstreit von Altstätten be- schon vor langer Zeit verjagt haben. Und schäftigte auch uns. Auf Saiten online das, obwohl St.Gallen bereits 1863 die Höhlenbewohner kommentierte Harry Rosenbaum das zu- jüdische Gemeinschaft anerkannte – erst verhängte und dann wieder aufge- drei Jahre, bevor dies der Bund tat. Wir hobene Verbot unter anderem mit dieser waren einmal ein progressiver Kanton. Einschätzung: Einer, in dem die Werte der Religions- freiheit hoch gehalten wurden. Die Zei- ten sind lange vorbei. ed kaufmann Es wäre natürlich auch möglich, den gan- (pd) zen Koedukationskanon sitterabwärts zu Hätte es die «Kultursparpolitiker» von schicken. In einer reinen Mädchenschu- heute zur Zeit der Höhlenbewohner le – mit ausschließlich weiblichem «Per- (pd) schon gegeben, gäbe es keine Höhlen- sonal» – gibt es keinen Kippaträger. Und malereien zu bewundern. Willi keller «Religiöse Symbole demonstrativ am ei- das Kopftuch kann bei entsprechendem genen Körper zur Schau gestellt – ob das Sichtschutz in dem Fall abgelegt werden. (Zum Beitrag «Kultursparerei (I): nun ein Kreuz, ein Kopftuch oder eine Und das Kreuz mit dem Kreuz wäre auch Die Lokremise» von Peter Surber, 10.06.) Kippa ist – machen, vernünftig betrach- eher keines, da dies ja eher Symbol- als tet, keinen Sinn. Objektiv gesehen scha- Identitätscharakter hat. Sachichgezzma. det diese optische Identitäts-Markie- inge luett Nervig rung aber auch niemandem. Warum also sollte überhaupt eine öffentliche Dis- Ich sehe darin keinen Sinn – zumindest kussion darüber geführt werden? Schuld nicht im schulischen Kontext. Es sollte ist eine politische Zwangsneurose, die möglich sein, auch in gemischten Klas- besagt, dass ein morgenländisches sen eine Lösung zu finden. Alles andere Kopftuch die abendländische Leitkultur ist Symptombekämpfung. Saiten 07/08/2013 ernsthaft bedroht. (...)» corinne riedener (pd) Nachstehend die Reaktionen: Spannendes Thema eigentlich. Umso Ja ... nervig ... die Bauverwaltung sollte langweiliger die parteipolitische Finger- nun endlich mit den Zahlen herausrü- Dass dieser Parallelgesellschaftsbegriff zeigeübung. robert Di Falco cken und dann die südliche Altstadt nur immer so negativ ausgelegt werden für die Anlieferung öffnen. Die Verkehrs- muss . . . Man könnte einen Dorfverein (Zum Beitrag «Doch kein ultimativer zahlen sind bestimmt über den Maximal- ebenfalls als Parallelgesellschaft be- Dresscode» von Harry Rosenbaum, 11.06.) werten. Muss dem mal nachgehen. Doris zeichnen. Oder als kulturelle Bereiche- königer rung. Aber das will man ja nur, wenn Kulturgut aus der eigenen Kultur ge- (Zum Beitrag «Weisse Tischtücher vor dem pflegt wird. corinne riedener Facincani» von Andreas Kneubühler, 14.05.) Solange eine Kippa oder ein Kopftuch lediglich – wie ein Kreuz – von der einen Seite als Symbol verstanden wird und von der anderen als Teil der Identität, bleibt die Frage, was Integration eigent- lich bedeutet/bedeuten kann/bedeuten soll, weiterhin ungeklärt. inge luett Auf saiten.ch kommentieren Saiten-Autorinnen und -Autoren Aktuelles aus der Stadt und Region St.Gallen, beobachten das Kulturge- schehen und stellen kultur- politische Fragen. Diskutie- ren Sie mit! reaktionen
9 Blickwinkel Saiten 07/08/2013 Florian bachmann im selbstporträt vor der touristinfo auf dem bahnhofsplatz st.gallen. positionen
10 Einspruch: Ueli Vogt Redeplatz Baukultur = Gesprächskultur «Frust gehört dazu im Widerstandsleben» Ist der Swica-Neubau an der Teufenerstrasse ein Matthias Fässler kämpft gegen Asyl- «Sündenfall» und daher Grund genug für eine stadt- parlamentarische Anfrage? Vielleicht ja – aber einmal Unrecht und Profitdenken, fürs Kugl und mehr droht so eine architektonische Frage pauschali- die Reithalle. Was treibt ihn an? siert statt differenziert zu werden. Mein zweifacher Einspruch fragt zum einen: Wie viel Demokratie er- Matthias Fässler, deine Veranstaltungsreihe trägt das städtische Bauen? Und fordert zum andern Nachtasyl hat nichts genützt: Am 9. Juni hat das eine neue Diskussionskultur. Volk mit erdrückender Mehrheit Ja zur Ver- Wenn Bauthemen demokratisch ausgehan- schärfung des Asylgesetzes gesagt, sogar in der delt werden, wie beim Marktplatz, kann das Vorhaben Stadt St.Gallen. Frustriert? scheitern, weil auseinanderstrebende Meinungen Das ist natürlich ernüchternd. Eine Niederlage, aber und gutgemeinte Detailvorschläge sich die ablehnen- weniger für die Nachtasyl-Reihe als für schutzbedürftige de Hand reichen: Übrig bleibt ein Flickenteppich, der Migrantinnen und Migranten. Der Kampf muss weiter- gestalterisch wenig Überzeugendes zulässt. gehen, auch wenn 99 Prozent dafür wären. Das ist meine Für die öffentliche Diskussion von architek- Grundüberzeugung. tonischen und städtebaulichen Fragen braucht es Übung. Und dies setzt, zweiter Einspruch, Genauig- Erreicht man mit solchen Anlässen nicht keit in der Sache voraus. bloss immer jene, die sowieso schon auf der Als Übungsfeld steht die ganze Stadt zur eigenen Seite stehen? Verfügung. Machen wir aus den Streitobjekten Studi- Wir haben mit Nachtasyl, vor allem mit dem Konzert in der enobjekte! Oft ist es nicht so einfach, die Qualitäten Grabenhalle zahlreiche, auch junge Leute erreicht, die zu sehen: Manchmal verbergen sich gute Grunddis- nicht politisiert sind. Wichtig ist, dass sie überhaupt abstim- positionen hinter einem schlechten Bau (Beispiel: men. Und wichtig war es auch, so viele Kulturinstitutio- Swica-Neubau an der Teufenerstrasse, Einstein-Kon- nen für ein politisches Anliegen zu mobilisieren. Dass das in Saiten 07/08/2013 gress), manchmal ist es wunderbare Bautechnik dieser Stadt geht, ist ein Hoffnungsschimmer. hinter städtebaulichen Entgleisungen (neue Fach- hochschule), manchmal steckt hinter Eleganz eine Dennoch: Wie gehst du mit diesem Frust um? schlechte Konstruktion ohne räumliche Qualität Frust gehört immer dazu im Widerstandsleben. Und die (neues Bushüsli am Blumenberg), manchmal hat ein Frage ist: Wie weit reagiert man bloss, und wie weit wird Projekt Spitzenqualitäten, wird aber durch seine man von sich aus aktiv und bringt die eigenen Diskurse Nachbarschaft beeinträchtigt (Bundesverwaltungsge- ins Spiel? Mein Ideal wäre es, in St.Gallen eine junge richt). Aber auch wunderbare Bauzeugen können Bewegung für eine menschliche Migrationspolitik aufzu- durch die Entwicklung der Umgebung ihren Wert ver- bauen, vergleichbar den Bleiberecht-Kollektiven in an- lieren (Villa Wiesental). Manche abverheite Situation deren Städten. Das gäbe die Möglichkeit, Forderungen zu wird durch einen neuen Eingriff zur Stadtaufwertung stellen, für globale Bewegungsfreiheit, die Rechte der (Verwaltungsgebäude Oberer Graben), manches Im- Sans-Papiers oder Bleiberecht für alle – Forderungen, die plantat wird aber auch zu einer neuen Problemzone den Parteien zu utopisch sind. (Raiffeisenquartier). Bei all diesen Projekten gilt: Wenn der Auf- Du arbeitest daneben auch im Sozial- und trag klar formuliert ist, braucht es ein Verfahren zur Umweltforum Sufo mit – was ist die Motivation? Ermittlung der bestmöglichen Lösung, meistens sind Grundsätzlich geht es mir um Widerstand gegen einen Kapi- das Wettbewerbe. Und anschliessend ist Vertrauen ge- talismus, dem sich die Politik und unser ganzes Leben fragt. Der Geist eines einzelnen Kopfes oder eines unterordnet. Gegen Privatisierungen. Gegen all das, was den Kollektivs soll ungestört sein Werk vollbringen, mit Individualismus und den Profit ins Zentrum stellt und einem Vis-à-vis, das mit Sachverstand und Vertrauen nicht das Gemeinwohl. die Aufgabe begleitet. Nehmt den Polemikern den Wind aus den Ist das, als Sohn des Historikers und SP- Segeln! Üben wir uns darin, eine gemeinsame Bau- Politikers Hans Fässler, familiär begründet? Sprache und daraus eine Haltung zu entwickeln. Das Man wird natürlich sozialisiert in einer solchen Familie. Resultat wird man im Stadtbild sehen. Aber ich finde es zu einfach, alles von den politisch en- gagierten Eltern herzuleiten. Hinzu kommen andere Ein- ueli vogt, 1965, ist kurator am flüsse – etwa dass ich in einer Genossenschaftssiedlung zeughaus teufen, ausgebildeter aufgewachsen bin, oder eben das Sufo, das für viele Junge gärtner und architekt. ganz wichtig ist, als Anstoss, sich für eine Sache einzu- setzen. in der rubrik einspruch schreiben wechselnde gast-kommentatoren. positionen
11 Saiten 07/08/2013 Kein Vater-Schatten also, aus dem man sich Party – es soll nicht platt werden und an der Oberfläche befreien muss? bleiben. Generell in der Kultur finde ich wichtig, dass politi- Nein, das ist kein Thema. Meine Eltern sind für mich, wenn sche Forderungen mitgedacht werden. Kultur ist nicht schon, ein Vorbild – auch wenn wir nicht immer gleicher einfach neutral, sie soll Anstösse geben. Zum Beispiel gegen Meinung sind. Zum Beispiel können wir über Nachtbusse die Selbstgenügsamkeit. streiten, oder über die Eventisierung des Kulturbetriebs. Der Kanton schiebt dem Kugl einen Riegel – Du kämpfst auch fürs Kugl und bist im Komitee du hast dich vor kurzem zu einer Aussprache mit für die Reithalle. Keine Event-Gefahr? Regierungsrat Klöti getroffen. Was ist dabei Nein. Es geht uns bei all dem um die Vision einer urbanen herausgekommen? Kultur – dazu gehört das Kugl, aber auch im negativen Nicht viel, ausser paternalistischem Schulterklopfen. Man Sinn das Wegweisungsgesetz, dazu gehört der öffentliche muss jetzt den Rekursentscheid des Verwaltungsgerichts Raum überhaupt. Die Stadt braucht in erster Linie abwarten. Aber das Kugl kann so nicht überleben, trotz Gra- Freiräume, nicht noch mehr Reglementierung und Zwang. tisarbeit und Bands, die billiger spielen. Zu lange hat sich niemand politisch für das Kugl exponiert. Und der Zonen- Dasselbe Anliegen vertritt in Bern «Tanz dich entscheid des Kantons bedroht auch andere Klubs. Man frei» – wobei das friedliche Tanzen dieses Jahr in kann da schon Zusammenhänge sehen, auch etwa zum Gewalt umgekippt ist. Klubhaus oder zur Villa Wiesental: Die Stadt droht zu einem Ich finde, man muss aufpassen, sich nicht den Berichten in leblosen Büro- und Profitkonstrukt zu werden. Dagegen den Medien zu unterwerfen, die sich auf die angebliche wehre ich mich. Wir müssen, wie es Rosa Luxemburg gesagt Gewaltproblematik konzentrieren. Wenn westliche Demo- hat, sehen, wo wir noch immer in Ketten liegen. Und die kratien Krieg führen, wird das akzeptiert, aber wenn ein paar Ketten merkt man nur, wenn man sich bewegt. Leute in denselben Demokratien Steine werfen, ist es mit der Freiheit vorbei. Drum auch die Sache mit der Bewilligung: matthias Fässler, 1990, studiert geschichte Es ist gerade ein Kernpunkt bei einem solchen Anlass, und spanisch in zürich. der Freiraum und Deregulierung fordert, dass er sich nicht dem Zwang zur Reglementierung unterwirft. interview: peter surber bild: tine edel In St.Gallen gibt es kein «Tanz dich frei». Noch nicht, ja. Für mich wäre es sehr wohl denkbar, dass sich auch St.Gallen freitanzt. Aber nicht einfach als positionen
12 Stadtlärm Wortlaut 2014 Ein Geheimgremium für die Baukultur Das Literaturfest wird neu Wortlaut, das St.Galler Literaturfest, fin- det bekanntlich in diesem Jahr nicht statt. Hingegen 2014 wieder – mit neu- em Termin (28. – 30. März), neuem Kon- zept und neuem Team. Unbestritten vorteilhaft ist der neue Termin. 2012 gingen die Be- sucherzahlen zurück, als einen der Gründe vermuteten die Veranstalter den Zeitpunkt: Herbstferienbeginn, da sind viele schon weg. Jetzt ist ein ande- Die Abstimmung über die Neugestaltung des Bahnhofplatzes res Wochenende gefunden, erstaunlich endete bekanntlich mit 10’898 Ja- gegen 9312 Nein-Stimmen. in Festhüttenfreizeitjubeltrubelzeiten: Für ein Projekt, das lange völlig unbestritten war, ist das ein Ende März. Richi Küttel, Wortlaut-Mit- schlechtes Ergebnis. Man kann daraus ein generelles Miss- erfinder, freut sich nicht zuletzt darü- trauensvotum herauslesen. Und dann eine Linie zur Protest- ber, dass man zu jenem Zeitpunkt die wahl von Markus Buschor im letzten November ziehen. Es Frühlingsbücher präsentieren kann, existiert in der Stadt St.Gallen ein schwelender Ärger rund um aber auch Herbsttitel noch nicht ver- das Thema Baukultur. Und zwar von links bis rechts. Einer von staubt sind. vielen Belegen sind die Aktionen von Max Kriemler, der für Und dies, das aktuelle Buch, die Kritik an der Stadtplanung eine Plattform gründen will. soll neu im Zentrum stehen. Bisher ka- Eine ähnliche Entwicklung gab es vor acht Jahren: men neben Neuerscheinungen stets wegen des Fussballstadions, dem St.Leopard und der Domi- auch historisch-literarische Themen nanz des inoffiziellen Stadtbaumeisters HRS. Der grosse zur Sprache, unter anderem im Kult- Unmut hatte politische Folgen. 2007 wurde ein Sachverstän- bau, beim Parfin de siècle oder in der Saiten 07/08/2013 digenrat für Städtebau und Architektur eingesetzt. Er beur- Wyborada. Das wird jetzt anders. «Wir teilt seither alle wichtigen planungsrechtlichen und bau- wollen leibhaftige Autoren da haben», lichen Vorhaben. Die Honorare kosten jährlich 100’000 sagt Küttel. Nichts gegen «rückwärtsge- Franken. Gewählt wurden: Gundula Zach, Architektin richtete» Anlässe – aber nicht mehr am (Zürich), Franz Romero, Architekt (Zürich) und Felix Wett- Wortlaut-Festival. stein, Architekt (Lugano). Hinter der neuen Linie steht Schon mal gehört? die zentrale Änderung: Wortlaut wird Alle drei sind noch im Amt. künftig kuratiert. Bisher war der Anlass Wurde irgendetwas besser? ein organisiertes Jekami: Veranstalter Nach 2007 gab es folgende prägende Bauprojekte: reichten eine Programmidee ein, Richi Kongress Einstein. Bundesverwaltungsgericht. Fachhoch- Küttel und Lukas Hofstetter besorgten schule. Für harsche Kritik sorgten: Der verpasste Kauf Finanzierung und Werbung. Neu gibt es des Güterbahnhofareals. Marktplatz. Olma-Hotel. Villa Wie- ein OK unter dem Dach der Gesellschaft sental (Gundula Zach sass beim Wettbewerb in der Jury). Swi- für deutsche Sprache und Literatur ca-Neubau. Details der Neugestaltung Bahnhofplatz. Die Lis- GdSL; neben Richi Küttel sind Joachim te ist unvollständig. Bitter, Rainer von Arx, Heidi Roth, Ri- Welche Rolle spielte der Sachverständigenrat? Nie- chard Lehner und Maria Schnellmann mand weiss es. Seine Stellungnahmen werden zuhanden der dabei. Man hat vier Schwerpunkte aus- Direktion Bau und Planung verfasst. Auskünfte über deren geheckt und unter schöne, von Ernst Wirkung gibt es nicht. Über die Tätigkeit wird jeweils nur mit Jandl abgekupferte Doppelbegriffe ge- ein paar dürren Zeilen im Geschäftsbericht des Stadtrats in- ordnet: «laut und luise, rinks und formiert. Dort steht, wie viele Sitzungen abgehalten und wie lechts». Und, eine weitere Entschei- viele Geschäfte beraten wurden. Das ist alles. dung mit Blick aufs fussgängerische Es ist zu wenig. Buch-Publikum: Wortlaut will sich auf Die Stimmung ist so schlecht wie vor 2007. Das Re- die engere Altstadt konzentrieren. Da- zept hat nicht funktioniert. Ein Sachverständigenrat, der sich her fallen bisherige Lese-Orte weg, ne- nicht an der öffentlichen Diskussion beteiligt und ohne ben dem Kultbau auch das Kaffeehaus Erfolgskontrolle wie ein internes Gremium der Bauverwal- oder das Museum im Lagerhaus. tung funktioniert, ist keine Lösung. Vielleicht braucht es ihn Protest bleibt nicht aus – siehe gar nicht. dazu nachstehend die «Verwortlautba- andreas kneubühler, 1963, rung» von Daniel Fuchs. Richi Küttel kommentiert monatlich die stadtpolitik. will keinen Unfrieden. Aber er sagt zum einen mit Recht: Wer das Risiko trägt, positionen
13 soll auch die Handschrift des Anlasses haus ausgeladen. Die Stadt St.Gallen ist erwähnt das Kulturkonzept, in dem prägen. Und zum andern: Wortlaut wolle offenbar so gross geworden, dass es René Munz Leitlinien der Kulturförde- sich in der Riege der schweizerischen kein Rotmöntler mehr schafft, einen rung und Kulturpflege geschaffen habe. Literaturfestivals behaupten. «Damit Autor aus Haiti im Linsebühl zu hören. Munz zählt weiteres auf: das Wortlaut stärker wahrgenommen wird, Wir haben jetzt ja den Raum für Litera- Theaterhaus Thurgau, regionale För- braucht es ein klares Programm.» Küttel tur in der Hauptpost; auch unter Zeich- derpools, neu die Kulturvermittlung an kann auf Erfolge verweisen – so trifft nung der GdSL. Schulen. Neben «grossen Kisten» sind man sich im Rahmen von Swiss Festivals In der ersten Ausgabe von ihm viele kleine Projekte wichtig. 430 bereits jetzt regelmässig mit Vertretern Noisma definierten die Verantwortli- Lotteriefondsgesuche sind jährlich zu von Buch Basel, der Literaturfestivals chen den Namen der Zeitschrift im Sin- bearbeiten – ihre Zahl hat sich in zehn Leukerbad und Thun, der Solothurner ne von «neu» oder auch «noise» (Lärm). Jahren verdoppelt. Aktiv ist das Kul- Literaturtage oder Buch Luzern. Wortwut und Wortfrust sind noch nicht turamt international und ausserkanto- Trotzdem bleibt die Frage, abgeklungen. Darum schlage ich unse- nal: bei der IBK beispielsweise oder was wichtiger sei: gesteigerte Aufmerk- rerseits vor: Als Beitrag zum kommen- beim Tanzplan Ost. Mit Ressourcen von samkeit in der Rest-Schweiz oder die den Literaturfest verleihen wir dem 260 Stellenprozenten bewältigt das Pflege des Literatur-Humus in der eige- Kernteam die erste, echte St.Galler Thurgauer Kulturamt zudem die Verga- nen Stadt. Im besten Fall gelingt beides. Wortwurst, mit Senf. be von jährlich sechs mit je 25’000 peter surber Daniel Fuchs, 1959, ist Franken dotierten individuellen För- buchhändler a.D. derbeiträgen und jene des Thurgauer Kulturpreises. Verwortlautbarung Seine Nachfolge im Amt wird Ein Protest Abgang es nicht einfach haben. Von einschnei- Fakt ist: 1979 gründeten vier Enthusias- René Munz wechselt vom denden Sparmassnahmen blieb das ten mit Noisma wieder eine St.Galler Thurgau nach Zürich Kulturamt zwar bisher verschont. René Zeitschrift für Literatur. Unter wech- Munz erwartet aber keine Entlastung. selnden Redaktionen weitergeführt, er- Zudem gibt es Baustellen. Ein baureifes schien die letzte Nummer 2004. Ivo Projekt für die Erweiterung des Kunst- Ledergerber und der hier Schreibende museums wurde von der Regierung ge- Saiten 07/08/2013 übernahmen das Erbe von Noisma in stoppt; es sind vergaberechtliche Fra- Form von Lesungen. Mit dem Kultbau gen zu klären. Ein Zukunftsprojekt ist als Veranstaltungsort wurde ein in der die Erneuerung des Historischen Mu- Stadt einzigartiger Raum gefunden. seums. Für ein Kulturzentrum Untersee Nach Ledergerbers Rückzug übernahm in Steckborn wurde vom Kanton eine 2007 Literat Florian Vetsch dessen Million versprochen. Streit blockiert Stelle. In den vergangenen Lesezyklen das Vorhaben. Noch in den Kinderschu- bild: brigitta hochuli lasen an der Konkordiastrasse 27 re- hen steckt in der Hochschulstadt gionale, nationale und internationale Man mag ihn. René Munz, nicht zuletzt Kreuzlingen eine Initiative zu einem Autoren. als ehemaliger Theatermann im Thur- spartenübergreifenden Kulturproduk- Fakt ist auch, dass «Noisma gau tief verwurzelt, ist an Veranstaltun- tionszentrum. Munz signalisierte Un- im Kultbau» an allen fünf Ausgaben der gen ein gern gesehener Gast. Der Satiri- terstützung. St.Galler Literaturtage Wortlaut teilge- ker Thomas Götz küsst ihm in der Rolle Ein Amtschef müsse sich mit nommen hat. Das waren: 1. Die Mara- einer vollbusigen blonden Kantonsrä- Leidenschaft für die Kultur im Thurgau thon-Lesung aus James Joyce «Ulys- tin sogar wehmütig den knallroten Lip- einsetzen, sagt René Munz. Dabei be- ses». 2. Ein Gertrude Stein-Tag. 3. Ein penstift auf die Backen. Denn der Kul- nötigt diese im dezentralen Kanton Paul Bowles-Tag. 4. Ein Abend zum Ex- turamtschef wechselt nach elf Jahren sowohl Breitenförderung als auch Pro- pressionismus. 5. Ein Abend mit litera- nach Zürich als Leiter der kantonalen fessionalisierung. Hier zeigt sich ein rischen Werken von John Cage. Stabsstelle Kulturpolitik in der Fach- Dilemma: Die Leuchtturmstrategie ist Mit diesen Farben hat Nois- stelle Kultur. verpönt. Andererseits leiden viele ma die Carte Blanche, die «Literaturak- Natürlich wollen es einige Künstler unter Wahrnehmungsmangel. tive» bei Wortlaut erhielten, bemalt. schon vor der Bekanntgabe Anfang Juni Ihn zu lindern versucht nun explizit die Nach einer Denkpause hat gespürt haben, aber für die Mehrheit Kulturstiftung des Kantons, die Antago- nun Wortlaut ein neues Konzept entwi- kam dieser Abgang überraschend. Zu- nistin und geniale Ergänzung zum Amt. ckelt. Unter der Ägide der Gesellschaft mal er bereits per Ende September er- Sie will im Herbst das regionale Kunst- für deutsche Sprache und Literatur folgt; viel Zeit für die Neubesetzung schaffen «selbstbewusst und kritisch» (GdSL) sitzen einige Herren und Damen bleibt SVP-Regierungsrätin Monika vorstellen – Eigenschaften, die nebst in einem OK zusammen. Sie werden in Knill nicht. Die Chefin des Departe- der Leidenschaft auch dem oder der Zukunft das Programm der Literaturta- ments für Erziehung und Kultur bedau- Nachfolgerin von René Munz zu wün- ge bestimmen, zentralistisch. Konse- ert den Wechsel. Sie lobt den Ausbau schen sind. quenz: Alle nicht zentralen Veranstal- der Fachstelle zu einem Amt, in dem brigitta hochuli, tungsorte sind gestrichen. «Noisma im fünf kantonale Museen und die Kultur- 1948, ist redaktorin Kultbau», das Kaffee- und das Lager- förderung zusammengefasst sind, und von thurgaukultur.ch positionen
14 Vom Kommen
15 und Gehen Saiten 07/08/2013 Appenzeller Pendlergeschichten Fotografie Daniel Ammann
16 Im Spinnennetz des Appenzellischen Saiten 07/08/2013 Fotograf Ueli Alder zog von Urnäsch nach Zürich, Schauspielerin Karin Enzler aus Appenzell lebt schon lange in Deutschland. Via Skype haben sie mit Hanspeter Spörri über die Heimat nachgedacht. kommen
17 Vom Appenzellerland kommt man nicht so der Mensch ja erst sichtbar. Aber man darf es sich auch nicht einfach los – auch wenn man wegzieht. zu einfach machen: So will der Appenzeller zum Beispiel im Ueli Alder: Das ist zum Glück leider so. Einst brauchte ich kulturellen Feld etwas Markantes und Exotisches darstellen; Abstand vom Appenzellerland. Jetzt sehe ich es von einer im wirtschaftlichen Sektor ist es ihm aber ein Anliegen, als anderen Seite und weiss, dass ich in Zukunft immer wieder modern zu gelten. Daraus können Konflikte entstehen, wie sie zurückkommen werde. Mein Verhältnis zu Zürich ist übri- beispielsweise im Tourismus sichtbar werden. gens ähnlich. Zunächst habe ich es gehasst. Dann entwickel- te sich eine Hassliebe. Und jetzt mag ich die Stadt, in der Die Folge: Appenzell ist auf dem ich wohne. Weg zum Disneyland. Karin Enzler: «Das ist zum Glück leider so» beschreibt dieses Karin Enzler: Es geht nicht darum, den Tourismus schlecht- Phänomen sehr schön! Es gehört zu einem gesunden Ent- zureden, dafür leben zu viele Leute davon. Aber ich spre- wicklungsprozess, dass man sich von der gewohnten Welt che gegen diese appenzellerische Selbstverklärung, wie ur- entfernt, um andere Welten kennenzulernen. Die haben chig wir sind und echt und so weiter. Und dann komme es freilich schwer, mit der Heimat zu konkurrieren. Man wirft ich mal wieder nach AI und bin erstaunt über die Verände- wohl ein Leben lang einen liebevollen – bis hungrigen – rungen: die schüchelige – exgüsi – Betonmauer beim Blick zurück auf diese erste Welt «Heimat». Es ist wie mit dem Friedhof; langweilige neue Wohnbauten mitten im Dorf. Wo ersten Sudel auf einem Blatt Papier: Diese frühen und ist denn da das typisch Appenzellische? Das Einfache kräftigen Spuren bleiben lange sichtbar – auch wenn man und Heimelige, das Bäuerliche und Exotische, das Hand- sie radiert oder drübermalt. werkliche und Qualitative? Weshalb macht man solche «Fehler»? Es stecken gewöhnliche kapitalistische Interessen Es ist kein Verdienst, Appenzellerin zu sein. Aber dahinter. Da war halt noch ein Stück Boden im Zentrum, eine besondere Prägung ist es schon. Weshalb? das an den Meistbietenden verkauft wurde, oder einer hatte Ueli Alder: Darüber habe ich viel und lange nachgedacht, einen guten Bekannten in wichtiger Position – notfalls ohne eine Antwort zu finden. Ich glaube, es ist etwas, das vergisst man dann das Programm «Tradition». Das Ästheti- man erfahren muss. Im Vordergrund steht für mich das, was sche liegt nicht jedem und nicht immer am Herzen! Auge und Ohr anspricht. Das Appenzellerland mit dem Alpstein als Kulisse ist wie eine kleine Insel oder eine Büh- Da kann man als Ausserrhoder nur nicken, oder? ne; eine Miniaturschweiz am Rande der Schweiz. Ueli Alder: In der Tat. Beim Ausserrhoder Tourismus Saiten 07/08/2013 Karin Enzler: Mir kommt es manchmal vor, als wäre jeder eifert man zwar den Innerrhodern nach, wünscht es aber Bildausschnitt eine perfekte Postkartenvorlage. nicht ganz so laut und bunt, allerdings mit der gleichen Energie dahinter. Ich finde, Ausserrhoden müsste sich da Man ist gerne abgesondert, akzeptiert es, nicht an Innerrhoden orientieren. Wenn man den glei- als Sonderling gesehen zu werden. chen Erfolg will, müsste man mit dem gleichen Draufgän- Ueli Alder: Sonderling nicht unbedingt im negativen Sinn. gertum ans Werk gehen – das liegt den Ausserrhodern Wir haben es jedenfalls ins Positive gedreht, kultivieren aber nicht. den Eigensinn. Wer genau hinschaut, sieht allerdings, dass Karin Enzler: Für Tourismus bezahlt man bekanntlich immer die Freiburger und die Berner Oberländer genauso eigen- auch einen Preis. Innerrhoden ist klein, und viel davon sinnig sind. wird genutzt. Ich geniesse es immer mehr, wenn ich ins Ausserrhodische gehen kann, wo es mehr Platz und mehr Ist das die bekannte appenzellische Schlauheit? Ruhe gibt und ich eine normale Wirtschaft ohne ambi- Man wird in eine Ecke gedrängt, wandelt das tioniert grüssende Wanderer finden kann. Negative aber in etwas Positives um. Ueli Alder: Für meine Arbeit gehe ich gerne dahin, wo ich Karin Enzler: Bei Feldkirch existiert angeblich eine Kapelle nicht gestört werde. Aber noch im hintersten Winkel von mit der Inschrift: «Gott bewahre uns vor der Pest und vor Innerrhoden ist es mir passiert, dass zuerst eine Frau im den Appenzellern». Man muss sich schon fragen, was histo- Subaru, dann ein Bauer mit dem Ladewagen vorbeikommt. risch passiert ist, welche Heldentaten oder Zufälle nötig Und beide halten an und fragen, was ich hier mache. waren, bis wir in diese Position gerieten. Grundsätzlich sind wir ja umgängliche und weltoffene Leute – abgesehen da- Die soziale Kontrolle, die Neugierde gehört von, dass wir gerne in die Welt hinausgehen, bis Feldkirch zu dieser Gesellschaft. Es gibt im Appenzellerland oder weiter, kommt auch recht viel Welt zu uns nach aber auch etwas Schwermütiges, Schwerblütiges. Appenzell. Ich glaube nicht, dass es in Appenzell vieles gibt, Karin Enzler: Ich kenne mehrere Leute, die Selbstmord- was es anderswo nicht auch gibt. Und das meine ich in erfahrungen in der eigenen Familie gemacht haben. Auch keinster Weise abschätzig! Aber nüchtern betrachtet könnte statistisch gesehen ist die Suizidrate im Appenzellerland man auch die These aufstellen, dass die Appenzeller extrem hoch. Wieso? Wo wir doch weit weg sind von anony- einfach besonders gut im Marketing und in der Selbstdar- men Lebenssituationen in Grossstädten, und es doch stellung sind. viele selbstbestimmte, wackere, offene und gradlinige Appen- zellerinnen und Appenzeller gibt. Eine Tante erklärte Diese stimmt nicht immer mit der dieses Phänomen einmal so: Man bringe hier die Schönheit Wirklichkeit überein. der Landschaft und das Schwere, das man lebt, nicht in Karin Enzler: Selbstdarstellung erfordert Konsequenz. Na- Übereinstimmung. Diese Enge im Appenzellerland, das Kes- türlich passieren Fehler! Und in diesen Widersprüchen wird selartige, der damit verbundene vermeintliche Überblick gehen
18 strickt den Filz zusammen, unterstützt die soziale Repres- Das Kreative hat mit Zwischentönen zu tun, sion, dass man sich so manches Mal überlegen muss, die oft nur versteht, wer den lokalen Klang kennt? ob man seine Meinung äussert und damit Gefahr läuft, im Karin Enzler: Es geht nicht nur um das rationale Verstehen, nächsten Jahr keine Aufträge mehr zu erhalten. – Persön- sondern auch um das Emotionale, um die Tuchfühlung. lich würde mich die soziale Kontrolle zur Rebellin machen. Ueli Alder: Zum Spinnennetz fällt mir eine Anekdote ein. Meine Bilder, in denen ich mich als Cowboy inszenierte, Ueli, du bist ein Rebell? trugen den Obertitel Wenn’d gnueg wiit fort goscht, bisch Ueli Alder: Ich weiss es nicht. Als eine befreundete Journalis- irgendwenn wieder of em Heeweg. In Medientexten wurde das tin vor der Landsgemeinde in Innerrhoden recherchierte, immer wieder als altes Appenzeller Sprichwort bezeich- stiess sie gegen eine Wand. Niemand gab ihr Auskunft. net – obwohl es die Übersetzung eines Songtexts von Tom Irgendwie ist das logisch. Jeder kennt jeden. Wenn ich immer Waits ist. Ich fand diesen Titel schon immer super. Auf noch in Urnäsch wohnte, ginge es mir wohl auch so. Aber Englisch funktionierte er aber nicht. Ich wollte ein wenig weil ich weg bin, erlaube ich mir manchmal einen Kommen- das Klischee bedienen und formulierte ihn in extra brei- tar. Ich möchte einen Diskurs führen. Manchmal haben tem Dialekt. So wurde der Satz zum Selbstläufer, obwohl ich wir einen allzu verklärten Blick auf uns. wiederholt sagte, es sei kein Appenzeller Sprichwort. Schon Ende des 18. Jahrhunderts hat der deutsche Offenbar ist es mittlerweile eines geworden. Arzt und Reiseschriftsteller Gottfried Ebel Karin Enzler: Es ist eine Lebensweisheit. Der Spruch fasst den Kontrast zwischen der Vitalität und der vieles zusammen. Aber das ist das Marketing: Sofort ent- Schwermut der Appenzeller beschrieben. steht daraus ein Banner. Man sagt ja, die Appenzeller seien Karin Enzler: Wahrscheinlich gehört das wirklich zusammen: gewiefte Gschäftlimacher. Zu Recht! so, wie es in Zürich die Bahnhofstrasse nur gibt, weil es auch die Langstrasse gibt. Vielleicht neigen wir im Aber es kommt darin auch eine tiefe Sehnsucht Appenzellerland seelisch tatsächlich zu Extremen. nach Heimat zum Ausdruck, nach dem, was in der Globalisierung und wegen der Angleichung Das kommt in der Musik zum Ausdruck, von allem an alles verloren geht. im Appenzeller Blues. Ueli Alder: Was mich künstlerisch interessierte, traf anschei- Ueli Alder: Ein Henderländer Zäuerli, ein Chlausezäuerli nend den Nerv der Zeit. Wenn rund um die Welt die Saiten 07/08/2013 geht mir erst tief, wenn es richtig schwermütig tönt. Ich gleiche Musik gehört wird, wächst die Tendenz, wieder die weiss nicht recht, wieso das so ist. Vielleicht geht es gar eigene Volksmusik zu hören. nicht um die Schwermut. Aber das Gefühl ist eine Tatsache. Eine Wellenbewegung – aber die Reaktionen Ich habe den Eindruck, ihr arbeitet zeigen mehr, was wir verloren haben. beide mit diesem Gefühl. Karin Enzler: Diese Stilisierungen des Urchigen sind einfa- Karin Enzler: Ich habe Mühe, wenn Musik durchgehend in che kulturhistorische Prozesse, Spätfolgen des Individua- Dur gehalten ist, bin extrem zugänglich für das Melan- lisierungsdrucks. Früher hatte niemand das Gefühl, sich selbst cholische und Dramatische. Das Melancholische gibt mir verwirklichen zu müssen. Du warst, was in deinem Dorf die Möglichkeit, mit mir selbst in Kontakt zu kommen – oder deinem Land alle waren. Heute vergleichst du dich mit was wichtig ist, wenn man künstlerisch arbeitet, egal ob in der Schweiz, der ganzen Welt. Hinzu kommt der oft disku- der Fotografie, der Musik, der Literatur, im Theater. tierte Druck: Befreie dich selbst! Sei kreativ! Sei deine eigene Aber der Appenzeller Blues – das ist ja auch schon wieder Marke! Dem Kreativitätszwang steht aber meiner Meinung ein Marketingbegriff. Wenn ich am 8. September auf der nach das Wahrhaftige gegenüber. Und da kommt dann Tra- Wanderbühne Ledi in Teufen meine Lieder singe, die alle dition ins Spiel. Wenn ein afrikanischer Künstler in unserer etwas traurig sind, ist das Appenzeller Blues – gegen Skype-Runde sässe, würde er wohl ähnlich reden über sein diese Zuschreibung habe ich keine Chance, obwohl alles Dorf, vielleicht auch über die Suizidrate, die Vereinsamung, fernab von Appenzell entstanden ist und ich keinen Vergewaltigungen ... Zugegeben: Wenn ich sagen muss, Kontakt zur Musikszene habe. woher ich komme, erzähle ich von den Bergen, vom Frauen- stimmrecht, berichte davon, wie mein Vater den Kaninchen- Ihr ringt beide mit dem Appenzeller Klischee, bock erschlug, der meine Mutter gebissen hatte – und wie merkt aber, dass es wie ein Spinnennetz ist, wir Kinder alle riefen: Erschlag ihn! Die Leute sind dann von dem man nicht loskommt. extrem geflasht oder schockiert und sehen mich als Barbarin. Karin Enzler: Ob ich damit ringe, weiss ich gar nicht. Zu Beginn habe ich Lieder auf Englisch geschrieben – aber Appenzeller kultivieren das Barbarentum? da landete ich immer im Abgedroschenen. Nun, da ich Ueli Alder: Wenn ich in Amerika sagen muss, woher ich Dialekt schreibe, gefällt es mir besser. Es ist meine Sprache, komme, zeige ich ein Filmchen von wüsten Silvester- mein Klang. Wenn man sich mit dem beschäftigt, was chläusen und sage, dass ich auch schon Hundefleisch ge- man wirklich kennt – und ich kenne mich in Appenzell immer gessen habe. Im gleichen Atemzug sage ich vielleicht noch am besten aus, trotz der zwölf Jahre, die ich nun auch, dass es nicht ganz stimmt. Aber das ist der Mythos, im Ausland an wechselnden Orten verbracht habe –, dann das Archaische. kann man aus der Tiefe schöpfen, aus der Kindheit. hanspeter spörri, 1953, ist freischaffender Journalist in teufen. kommen
19 Kein Mitleid mit den Pendlern Sie haben keine freie Fahrt durch die Gallenstadt, die Autopendler aus Ausserrhoden, aber auch keine Alter- nativen. von Andreas Kneubühler Jeden Werktagsmorgen leert sich Appenzell Ausserrhoden Gibt es irgendein Rezept gegen die Pendlerei? Normaler- und der Verkehr an den Ausfallstrassen aus dem Kantons- weise heisst es: öffentlicher Verkehr. Und da gibt es das gebiet nimmt schlagartig zu. Glaubt man einer hochgerech- Projekt Riethüsli-Tunnel samt Durchmesserlinie, das einen neten Statistik des Bundes (Strukturerhebung 2010), dann Teil der Autofahrer zum Umsteigen bewegen soll. So zu- leben im Kanton 29’000 Erwerbstätige. Davon bewegen sich mindest der Plan. Doch die Zweifel sind gross. Der frühere von Montag bis Freitag jeweils zwischen 9700 und 11’500 Ausserrhoder Kantonsingenieur Emil Lanker hatte die Pendler aus Ausserrhoden an einen Arbeitsort irgendwo im Kantonsparlamentarier in Herisau vergeblich dazu aufgefor- Kanton St.Gallen – und am Abend den gleichen Weg dert, doch einmal selber mit der Bahn zu fahren, bevor wieder zurück. sie über das Projekt abstimmten. Das Erlebnis hätte sie von Müssen die Pendler durch die Stadt, ist es kein an- allen Illusionen geheilt, ist er überzeugt. Bisher scheint genehmer Arbeitsweg. Eigentlich wird ihnen signalisiert: das Projekt auch noch unter einem schlechten Stern zu ste- Saiten 07/08/2013 Wir wollen euch nicht. Überall nur Hindernisse, keine Spur hen.Wie es aussieht, fehlt dem Bund das Geld für zusätz- von freier Fahrt für freie Bürger. Allenfalls noch auf dem liche Zugskompositionen, die den angekündigten Viertel- eigenen Kantonsgebiet. Wenn man von Teufen her kommt, stundentakt ermöglichen würden. wird der Verkehr bereits im Riethüsli zäh. Immer wieder Staus, schon weit vor der Kreuzbleiche. Mühsame Tempo- Täter sind auch Opfer Dreissig-Zonen auf der Ausweichroute über St.Georgen. Sind die Pendler vor allem Kostenverursacher? Periodisch Sogar Tempo Zwanzig rund um das Einstein. Feindselige regt sich im Kanton St.Gallen Ärger über die Ausserrhoder Blicke auf dem Gallusplatz. Die Wildeggstrasse zwingt «Profiteure des Steuerwettbewerbs», wie es 2006 in ei- wegen der parkierten Autos zu nervtötenden Slalomfahrten. nem Vorstoss des SP-Parlamentariers Peter Hartmann hiess. Die besten Schleichwege wie die Flurhofstrasse sind Hartmann forderte damals die Regierung auf, den beiden gesperrt. Beschwerlich auch die Fahrt über Herisau in Rich- Appenzell für die St.Galler Zentrumsleistungen von Verkehr tung Winkeln. Die Alpsteinstrasse ein täglicher Alptraum. über Bildung und Kultur bis zum Gesundheitsbereich Seit Jahrzehnten ist dort ein Autobahnzubringer geplant. Ob eine Vollkostenrechnung zuzustellen. 64 Parlamentarier er gebaut wird, entscheidet absurderweise die Abstim- unterschrieben. In einer eher abwiegelnden Antwort mung über den Preis der Vignette. Kommt die Initiative erklärte die Regierung: «Es ist den Kantonen nicht freige- gegen den Aufschlag durch, fehlt dem Bund das Geld. stellt, Strassenzölle zu erheben». Wer will, kann ein Bedauern hineinlesen. Kein Rezept gegen die Pendlerei Lösungen des Problems sind eher nicht in Sicht. Soll man Mitleid haben? Eigentlich nicht. Zum Ausgleich Es wird weitergependelt. Nicht vergessen gehen sollte ein paar der Probleme, die die Ausserrhoder Autopendler in dabei die Sozialarbeiter-Weisheit, dass alle Täter irgendwie der Stadt St.Gallen verursachen: auch Opfer sind. Auf die Pendlerfrage umgemünzt, muss – Den grösseren Teil des Durchgangsverkehr man konstatieren, dass es ja nicht nur den Verkehr aus den auf dem Gallusplatz beiden Kantonen hinaus gibt: An schönen Wochenenden – Mitverantwortung für die Gewinne, die fallen die Tagesausflügler und Ferienhausbesitzer scharen- die City Parking AG mit Dauermietplätzen weise ein. Vor allem Innerrhoden wirkt dann wie ein be- erzielt, und damit letztlich für deren setztes Gebiet mit zahllosen Kleinfürsten, die sich ihre Terri- Drang, immer neue Tiefgaragen zu bauen torien mit Flaggen oder zumindest kantonsfremden – Rege Beteiligung an den Staus und Autokennzeichen abstecken. An einem schönen Herbsttag verstopften Strassen im Feierabendverkehr sind AR und AI überfüllt: alle Pendler zu Hause, dazu – Vielleicht könnte man ihnen auch noch die die vielen Fremden, die zuerst die Wanderwege verstopfen Südspange und das unselige Projekt eines – und dann die Strassen. Autobahnzubringers beim Güterbahnhof in andreas kneubühler, 1963, die Schuhe schieben. ist freischaffender Journalist in st.gallen. gehen
Zürcher Stadt St.Gallen Sportamt Theater Spektakel 15. August bis 1. September 2013 BÄDERBUS DREILINDEN Sa, 18. Mai bis So, 1. September 2013 Nur bei schönem Wetter. (Auskunft: Telefon 0800 43 95 95) Zürich: Landiwiese, Werft und Rote Fabrik Veranstalterin: Stadt Zürich Kultur Tickets ab 10. Juli über www.theaterspektakel.ch oder www.starticket.ch Montag bis Freitag Abfahrt Abfahrt ab Bahnhof: ab Dreilinden: 11.00 - 18.30 11.15 - 18.45 jede halbe jede halbe Stunde Stunde Samstag und Sonntag Abfahrt Abfahrt ab Bahnhof: ab Dreilinden: 09.30 - 18.30 09.45 - 18.45 jede halbe jede halbe Stunde Stunde Vom (un)heimeligen Zuhause in der Kunst Fahrroute: 6. Juli – 27. Oktober 2013 Im Wasserturm der Lokremise: Christoph Büchel Hauptbahnhof Markplatz Spisertor Schülerhaus Parkplatz Dreilindenstrasse Parkplatz Familienbad Fahr mit! Der Umwelt zuliebe. www.kunstmuseumsg.ch
21 Nüsse knacken Saiten 07/08/2013 Beim Festspiel Der dreizehnte Ort zur AI-AR-Feier machen über 180 Leute mit. Eine davon ist die Chinesin Belinda Koster, die es drauf hat mit dem Humor. Eine andere ist die Häädlerin Rosmarie Brown-Hohl, die «das schwere Leiden» kennt. von Sina Bühler gehen
22 «Ich heisse dich willkommen, im Namen aller Chinesen in den Fremden vertrauen. Dann aber ist man angekommen.» unserem Kanton», sagt Belinda Koster und lächelt. Ihr Und doch findet sie auch nach sechs Jahren das Finden erster Witz – denn von den rund 1500 Ausländerinnen und der innerrhodischen Balance zwischen Nähe und Distanz Ausländern im Kanton Appenzell Innerrhoden ist sie die etwas vom Schwierigsten. «Hier wissen alle alles von- einzige Chinesin. Als für das Theaterstück Der dreizehnte Ort einander, wer schwanger ist, wer bei wem zu Besuch ist, wer eine Darstellerin für die chinesische Fotoreporterin ge- warum streitet! Und dann sind auch noch alle miteinan- sucht wurde, sei halt nur gerade sie zur Auswahl gestanden. der verwandt.» Dass sie selber – die doch eigentlich die dis- Sie sagte sofort zu, als sie angefragt wurde, schon am tanzierte, unnahbare Asiatin darstellen sollte – immer Telefon. Ein Missverständnis, wie sich später herausstellte, wieder das Gefühl hat, sie erzähle viel zu viel Privates, findet ein Sprachproblem: Die Rhythmiklehrerin von Kosters sie lustig. Und dass alle über alles Bescheid wissen? Sie fünfjähriger Tochter Serina hatte Belinda um Mithilfe beim blickt nach links und nach rechts und sagt verschwörerisch: Organisieren einer Kinderchorreise nach Shanghai «Ich verstecke meine dunklen Seiten», dann kichert sie gebeten. Als nun der Mann am Telefon auf deutsch (und wieder los. Die Appenzellerinnen und Appenzeller, sagt sie, zwar schnell) sprach, hörte Belinda Koster nur den Na- erinnerten sie an eine Kokosnuss: aussen hart, innen weich. men der Chorleiterin, von der er die Nummer bekommen habe, das Wort «Hilfe» und rief erfreut: «Ja natürlich!» Dreifache Hochzeit Sie wurde am Tag darauf mit dem Auto abgeholt und nach Die 32-jährige stammt ursprünglich aus der Inneren Mon- Hundwil gefahren. «Liliana Heimberg, die Regisseurin golei, einem autonomen Teil der Volksrepublik China. fragte mich auf Englisch, ob ich wisse, warum ich hier sei? Später, in der Küstenstadt Dalian traf sie 2006 ihren Mann Ich antwortete: ‹Yes, to help the children!›» Unter Ge- Roman, der als Automatiker bei Thyssen-Krupp immer lächter löste sich das Rätsel auf, und Belinda Koster sagte wieder mehrere Monate auf Montage in China war. Belinda ein zweites Mal zu. arbeitete als Englischlehrerin und wurde von einer Freun- din als Übersetzerin hinzugeholt, «weil Roman Englisch mit deutscher Grammatik sprach. Diese Freundin meinte, ich alles voneinander. und dann sind auch würde ihn vielleicht besser verstehen.» Genauso war es und noch ein bisschen mehr. Schon bald heirateten die beiden. noch alle miteinander verwandt. hier in appenzell wissen alle Und grad dreimal. Einmal im kleinen Rahmen chinesisch, ein Saiten 07/08/2013 zweites Mal mit der mongolischen Grossfamilie und ein Jahr später traditionell appenzellisch in Schwende. «Roman meinte, wir müssten auch noch seinen Gott um Erlaubnis Belinda Koster fragen. Ich war sehr erschrocken, dass der offenbar noch nicht informiert war, obwohl doch Serina schon da war.» Sie grinst wieder. Belinda Koster hiess früher anders: Auf mongo- lisch heisst sie Wunlanara. Als sie in die Schule kam, wurde daraus chinesisch Bao Zhengong. Und dann, im Eng- lischunterricht bekam sie ihren westlichen Namen. Das ging so, erzählt sie: «Unsere Lehrerin schrieb eine ganze Liste von englischen Namen auf die Tafel und jeder konnte sich einen aussuchen. Seitdem bin ich Belinda.» Weil ihr Lehrdiplom in der Schweiz nicht aner- kannt wird, arbeitet sie zu fünfzig Prozent in einer Elektronik- Fabrik. Das ist gut gegen die Isolation, meint sie. Und fürs Deutsch natürlich. Und für den Kontakt mit den Appenzeller Frauen, die sie für grosse Vorbilder hält: «Das sind alles perfekte Hausfrauen und Künstlerinnen.» Daran müsse sie Wie Kokosnüsse noch arbeiten, sagt sie und fegt mit der Hand über den Das mit dem Deutsch, das mache ihr halt noch etwas Mühe, Tisch. Sie hoffe ja insgeheim, dass ihr Mann Roman, der sagt sie. Dabei versteht sie inzwischen sogar die Witze Elektroniker, der das ganze Haus so verkabelt hat, dass ihrer Appenzeller Schauspielerkollegen. Im Humor ist sie Storen, Lichter, Türschlösser, Musikanlagen und Heizung ohnehin gross und vielleicht passt sie darum so gut in per Smartphone gesteuert werden können, ihr einen ihren neuen Kanton. Die Ironie, die hat sie drauf. Wie sind Chip ins Gehirn einbaut. Damit sie allein mit ihren Gedan- denn die Appenzeller, ausser lustig? «Ah, jetzt wird es ken das perfekte Appenzeller Abendessen kochen kann. schwierig», sagt sie und schaut auf der Terrasse ihres Hau- ses in Weissbad nach links und nach rechts zu den Nach- Wie Baumnüsse barn: «Sie tragen jedenfalls nicht alle Rolex, wie ich früher Wie die Appenzeller seien? Freundlich, äusserst witzig und dachte.» Der erste Kontakt sei eher distanziert, aber weil sehr melancholisch. «Wie eine Baumnuss, aussen hart, ihr Mann ein Hiesiger sei, falle ihr die Integration vielleicht innen weich», antwortet Rosmarie Brown-Hohl. Sie muss leichter als einer St.Gallerin, die alleine hierherziehe. «Es lachen, als sie hört, dass Belinda Koster die Appenzeller dauert eine Weile, bis die Appenzellerinnen und Appenzeller als Kokosnüsse sieht. «Dann ist wahrscheinlich etwas dran», kommen
23 sagt die Appenzellerin. Sie kennt Belinda Koster von den und ihrer Tochter Nicky. Und weil die Kinder besser Franzö- Theater-Proben in Hundwil. Seit Monaten reist Rosmarie sisch als Deutsch sprachen, zogen sie in die Westschweiz, Brown deswegen unermüdlich hin und her zwischen La nach Morges. Einige Jahre später kam der nächste Umzug, Chaux-de-Fonds, wo sie wohnt, Heiden, wo sie herkommt, Rosmarie Brown erzählt: «Eines Tages rief mich meine und Hundwil, wo sie spielt. Vier Stunden hin, vier Stun- Mutter an. Ein Brief von Eric, einem alten Freund aus Lau- den zurück. An ihrem Rucksack hat sie ein plastifiziertes sanne, sei gekommen.» Ein simpler Freund? Rosmarie Plakat vom Theater befestigt und inzwischen die halbe Brown lächelt. Kurz darauf zog sie mit den Kindern zu Eric Schweiz nach Hundwil eingeladen. nach La Chaux-de-Fonds, wo sie jetzt seit 28 Jahren lebt. In Der dreizehnte Ort spielt sie die alte Seline, die Nicht ohne Heiden zu vermissen, allerdings. Tochter des Doktors aus Heiden. Zwei Parallelen zu Rosmarie Browns eigenem Leben: Geboren wurde sie im Das schwere Leiden Kurort Heiden als Tochter des Dorfarztes. Doch 1960, Ihr Heimweh kann sie auch nicht so genau erklären, denn als Rosmarie fünfzehnjährig war, musste sie fort: «Mein das Heiden ihrer Kindheit sei ja schon ziemlich weit ent- Vater war nach Bern beordert worden, als erster Arzt fernt vom heutigen. Die Hügel, die Luft, die Leute? Alles zu- der soeben gegründeten Invalidenversicherung.» Es war sammen? «Ich bin im Appenzellerland verwurzelt. Ich ein schwieriger Abschied damals. Und ein Jahr später, habe einfach das Gefühl: Hier gehörst du her!», wird sie als der Vater das Haus verkaufte, wurde es noch trauriger. später per SMS schreiben. Und wäre da nicht ihr Eric, Es sah nach einem Abschied für immer aus. Und nicht da- sie wäre längst wieder in den Osten umgezogen. So halb ist nach, dass Rosmarie dereinst 2013 ihre Wochenenden hier sie das sogar. Denn als sie vor sechs Jahren wieder ein- verbringen würde. mal durch ihr Heimatdorf spazierte, kam sie mit einem Mann ins Gespräch, der ihr nach wenigen Minuten den Kauf ihres Elternhauses anbot. Der Mann arbeitete bei der Ge- meinde, der das Haus inzwischen gehörte. Heute ist es Wie eine baumnuss, aussen hart, wieder im Familienbesitz. Und über das Theaterstück ist sie noch viel stärker wieder hier. «Ich spiele zu Ehren mei- Wie die appenzeller sind? ner Ahnen!», sagt Rosmarie Brown. Sie steht auf, holt Buch Rosmarie Brown-Hohl um Buch aus dem Haus und legt sie auf den Gartentisch: ihre Vorfahren, Sänger, Schriftsteller und vor allem heim- Saiten 07/08/2013 kommende Appenzeller. Wie Alfred Tobler, der das erste innen weich. Witzbuch aus dem Appenzellerland schrieb. Sie alle reisten einmal weg, hielten es in der Ferne aus Heimweh kaum aus und kamen wieder zurück. In einem von Alfred Toblers Schriften nennt er dieses Heimweh «das schwere Leiden.» Toblers anderes Buch, «Ulrich Loppachers Sol- datenleben», erzählt übrigens eine ähnliche Geschichte, wie sie Rosmarie Brown jetzt auf der Hundwiler Bühne dar- stellen wird: Denn die alte Seline ist nicht nur die Heidner Arzttochter. Sie ist auch die Mutter eines Söldners. Das Theaterstück hat Rosmarie Browns Lust auf Geschichte ge- weckt. Schrift um Schrift aus Toblers Feder, Geschichte um Biografie ihrer Häädler Ahnen landen wieder im Besitz von Rosmarie Brown. Sie forscht im Internet und bestellt vergriffene Bücher im antiquarischen Online-Buchhandel. «Dieses hier war in Deutschland», sagt sie und zeigt auf Heiden, Neapel, San Francisco die neueste Errungenschaft. Alles kommt zurück ins Appen- Doch von Anfang an: «Ich machte die Handelsschule in zellerland. Lausanne und danach eine Ausbildung zur Arztgehilfin und sina bühler, 1976, Laborantin. Als ich damit fertig war, sagte ich zu meinem arbeitet als redaktorin bei «Work». Vater: ‹Jetzt gehe ich zu Doktor Paul Burkhard im Ospedale Internazionale und mache dort mein Praktikum›. Dr. Der dreizehnte ort. Burkhard, das war Vaters bester Freund, der in Neapel eine Dorfplatz hundwil. Klinik gegründet hatte.» Es klappte, die achtzehnjährige 3. Juli bis 24. august. Rosmarie, die damals noch Hohl hiess, ging in den Süden arai500.ch/festspiel – in die schönste Stadt Italiens. So schön es war, auf Rosmarie wartete damals die Welt: «Als nächstes wollte ich zu Onkel, Tante und Cousins nach Amerika!» Sie besorgte sich ein Visum, fuhr 1966 per Schiff nach San Francisco und plante eigentlich, nur ein, zwei Jahre zu bleiben. Es kam alles anders. Rosmarie Hohl lernte ihren Mann kennen, hiess bald schon Brown, bekam zwei Kinder und blieb. Erst 1980 kam sie in die Schweiz zurück, mit ihrem Sohn Paris gehen
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