SCHAFFHAUSEN 2030 Ein Kraftwerk für soziale Energie - Von Stefan Breit, Karin Frick und Marta Kwiatkowski - Entwicklungsstrategie 2030
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SCHAFFHAUSEN 2030 Ein Kraftwerk für soziale Energie Von Stefan Breit, Karin Frick und Marta Kwiatkowski
Impressum Autoren Stefan Breit, Karin Frick und Marta Kwiatkowski Redaktion Detlef Gürtler Korrektorat Supertext Layout/Illustration Joppe Berlin, www.joppeberlin.de Partner für qualitative Interviews Réka Farkas, intervista AG GDI Research Board David Bosshart, Alain Egli, Jakub Samochowiec, Christine Schäfer © GDI 2021 ISBN 978-3-7187126-3 Herausgeber GDI Gottlieb Duttweiler Institute Langhaldenstrasse 21 8803 Rüschlikon www.gdi.ch Im Auftrag von Projektgruppe Entwicklungsstrategie 2030 www.entwicklungsstrategie-sh.ch
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 1 Inhalt 2 Vorwort 3 Zusammenfassung 4 Ausgangslage: Wo es uns hinzieht 8 Stimmen aus dem Kanton Schaffhausen 10 Flügel und Wurzeln > Das Konzept der Schwarmregion > Für Anywheres und Somewheres 21 Die soziale Energie wird zum Schlüsselfaktor > Menschen ziehen Menschen an > Der R-Wert für Ideen: Wie das Neue um sich greift 28 Das nächste Schaffhausen – ein Zukunftsbild für den Kanton 32 Fazit 33 Anhang
2 SCHAFFHAUSEN 2030 Vorwort Liebe Schaffhauserinnen und Schaffhauser, werte Interessierte Das Jahr 2020 war beispielhaft für den Wandel, in dem sich unsere Welt befindet. Davon ausgeschlossen ist auch die Region Schaffhausen nicht. Megatrends wie die fort- schreitende Digitalisierung, die zunehmende Ressourcen k nappheit, der demografische Wandel, die Urbanisierung oder der gesellschaftliche Wertewandel werden unsere Gesellschaft in naher Zukunft noch stärker und schneller verändern. Doch wie gehen wir damit um? Wie sorgen wir dafür, dass wir unsere Zukunft aktiv mitgestalten, statt nur auf neue Einflüsse zu reagieren? In enger Zusammenarbeit mit der Industrie- und Wirt- schaftsvereinigung Schaffhausen (IVS) und vielen Ak- teuren aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft startete der Schaffhauser Regierungsrat im April 2020 die Ent- wicklungsstrategie 2030, um sich frühzeitig mit diesen Fragen zu beschäftigen. Die Entwicklungsstrategie soll dabei helfen, Potenziale und Prioritäten für die Ent- wicklung unserer Region sichtbar zu machen und die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen. Sie schafft die Basis für ziel- und zukunftsgerichtete Investitions entscheide und ermöglicht es, geplante Massnahmen besser aufeinander abzustimmen und Zielkonflikte bei der Umsetzung zu minimieren. Als stabiles Fundament für diesen partizipativen Krea- tivprozess beauftragte die Projektgruppe das GDI Gott- lieb Duttweiler Institut mit der Erarbeitung eines Zukunftsbilds für Schaffhausen. Dieses soll E rkenntnisse über die kritischen Erfolgsfaktoren unseres Lebens- raums und Wirtschaftsstandorts liefern – und dies bewusst aus einer externen Betrachtungsweise, um neue, provokante Impulse zu setzen und regionale blinde Flecken aufzudecken. Der vorliegende Paradigmenwechsel, auf den persönli- chen Entscheidungen der Menschen und der Kraft der sozialen Energien fussend, bietet definitiv dieses erhoffte
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3 Resultat. Menschen ziehen Menschen an, so lautet die Kernaussage. Das bietet grosses Potenzial für Schaffhau- sen als Schwarmregion, in der sich die Menschen wohl fühlen und dadurch neue Einwohnerinnen und Einwoh- ner anziehen. Das widerspiegelt exakt die Intention des Prozesses der Entwicklungsstrategie 2030. Entsprechend dieser Prämisse soll nun die Entwicklungsstrategie aus der Perspektive der Schaffhauserinnen und Schaffhauser geschrieben werden. Damit bilden die Studienergebnisse einen optimalen Ausgangspunkt für den anstehenden Kreativprozess mit der Bevölkerung und die Ausarbeitung von konkre- ten Projekten und Massnahmen in den nachfolgenden Fokusgruppen. Mit Spannung erwarten wir, wie dieses gedankliche Fundament nun gemeinsam vertieft und gefestigt wird. Wir wünschen uns, dass diese Studie die Diskussion zwi- schen Schaffhauserinnen und Schaffhausern anregt und viele dazu motiviert, sich an der Umsetzung der Ent- wicklungsstrategie bis ins Jahr 2030 zu beteiligen. Brin- gen Sie sich ein, wir freuen uns darauf. Luca Slanzi Projektleiter «Entwicklungsstrategie 2030»
4 SCHAFFHAUSEN 2030 Zusammenfassung Die generelle Attraktivität eines Standorts wird Je mehr Menschen agieren und interagieren, desto stark von den ökonomischen Bedingungen ge- mehr soziale Energie kann produziert werden. prägt. Die individuellen Entscheidungen für oder Gerade für einen relativ einwohnerschwachen gegen einen Lebensmittelpunkt folgen jedoch Kanton wie Schaffhausen kann es deshalb hilf- weit stärker sozialen Präferenzen: Menschen wer- reich sein, die bislang kaum adressierte Personen- den von anderen Menschen angezogen. Bei ver- gruppe der Abgewanderten zu aktivieren. Auch gleichbarer Qualität harter Standortfaktoren wie von jenseits der Kantonsgrenzen fühlen sich viele Arbeits- oder Bildungsmöglichkeiten geben im- von ihnen weiterhin mit der Region verbunden, materielle Werte und soziale Beziehungen den die sie geprägt hat. Eine Stärkung dieser Verbun- Ausschlag. Und das gilt immer häufiger nicht nur denheit, beispielsweise durch ein kantonales für die Entscheidungen der Menschen, sondern Alumni-Programm, kann zum Wachstum der so- auch für die der Unternehmen. zialen Energie im Kanton beitragen. Für die zukünftige Entwicklung des Kantons Schaffhausen spielt deshalb die Produktion von sozialer Energie eine entscheidende Rolle. Diese Energie entsteht durch den Austausch von Ideen, Gedanken und Emotionen. Je häufiger, je länger und intensiver solche Interaktionen sind, desto mehr soziale Energie wird produziert. Der Kanton Schaffhausen kann hier gerade von seiner Mittelposition zwischen Land und Metro- pole profitieren. Denn er kann die Anziehungs- kraft einer Schwarmregion mit der Erdung einer Nestregion verbinden, in die man nach dem Aus- schwärmen immer wieder zurückkommt. Ohne Bienennest auch kein Bienenschwarm – die Ver- bindung scheinbar gegensätzlicher Welten kann ein produktives Spannungsfeld und damit Dyna- mik erzeugen. Die Aufgabe der kantonalen Institutionen ist dabei nicht so sehr, soziale Energie selbst zu produzie- ren, sondern den Menschen Rahmen und Mög- lichkeiten zu schaffen, um selbst Energie zu erzeugen. Hierzu trägt der Aufbau von sozialen und kommunikativen Intra-Strukturen bei, die of- fene Räume und Experimentierflächen für Men- schen, Unternehmen und Institutionen bieten.
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5 Ausgangslage: Wo es uns hinzieht Wenn das Leben eine neue Richtung bekommt, rung von einer Gemeinde in eine andere – damit bekommt es oft auch einen neuen Mittelpunkt. ist dieser Wert einer der stabilsten in der gesamten Schule und Studium, Job und Pension, Partner- Schweizer Statistik.3 Die Schweizerinnen und schaft und Trennung, Geburten, Pflege-, Todesfäl- Schweizer werden im Durchschnitt also weder le: Die grossen Ereignisse, die Wendepunkte des sesshafter noch mobiler. Lebens, sind vielfach mit einem Ortswechsel ver- bunden. An diesen Punkten entscheidet es sich, Dass trotz immer besserer Mobilitätstechnologien wo es uns hinzieht. die Muster des Standortwechsels erstaunlich kon stant bleiben, kann auch mit ebendiesen Techno Das Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahr- logien zu tun haben. Wenn beispielsweise die zehnte fand vorwiegend in Städten und Agglomera- Mobilitätsverbindungen immer besser werden tionen statt – in Einklang mit dem globalen Trend und man schneller von A nach B kommt, muss zur Urbanisierung im gleichen Zeitraum.1 Viele man nicht mehr umziehen, sondern kann pen- ländlich geprägte Regionen der Schweiz verzeich- deln. Wir pendeln ungefähr gleich lang wie frü- nen nur geringes Wachstum, an einigen Orten her, da wir aber in dieser Zeit weiter kommen, schrumpft die Bevölkerung sogar.2 Die Beweglich können wir weiter weg von unserem Arbeitsplatz keit der Menschen stellt die Schweizer Regionen wohnen.4 Oder bessere Kommunikationstech also vor unterschiedliche Herausforderungen. nologie kann den Geist mobiler, aber gleichzeitig den Körper sesshafter machen: Wer das Internet Natürlich bewegen sich dabei aber nicht alle nutzt, bewegt sich weniger im Vergleich zu denen, Menschen im gleichen Szenario. Die Bewegungs die das nicht tun.5 muster spannen sich auf zwischen den Heimat verbundenen und den Kosmopoliten. Die Ersten Die Konstanz der Bewegungsmuster kann aber verbringen ihr Leben an ein und demselben Ort auch damit zu tun haben, dass Technik und Digi- und tragen das Erbe der neolithischen Revoluti- talisierung die Zahl der grossen Wendepunkte im on weiter: Sie wohnen und leben dauerhaft an ei- Leben nicht beeinflussen. Und wenn man noch so nem Ort, produzieren Güter, häufen einen viel Dates auf Parship oder Tinder anbahnt – man materiellen Wohlstand an, betten sich in vorherr sucht die eine grosse Liebe. Die meisten machen schende soziale Strukturen ein und identifizieren immer noch genau einen Schulabschluss, und die sich mit der Umgebung. Die Zweiten sind perma Millennials haben ungefähr genauso viele Eltern nent unterwegs und orientieren sich an der Glo und Kinder wie die Generation vor ihnen. Folg- balisierung und Digitalisierung. Sie sind mobil, lich muss man heute auch ungefähr genauso oft pendeln, reisen, fliegen, wohnen an mehreren über den Ort für den nächsten Lebensabschnitt Orten gleichzeitig, ziehen für eine Ausbildung entscheiden wie früher. oder einen neuen Job an einen anderen Ort, ver- bringen ein paar Monate mal hier, mal dort. Die meisten dieser Entscheidungen werden im Al- ter von 20 bis 35 Jahren getroffen. In dieser Le- Rein quantitativ bleibt diese Wohnortmobilität bensphase stehen die meisten Veränderungen an seit Jahrzehnten erstaunlich konstant. Seit dem wie beispielsweise der Beginn und das Ab Beginn der Datenerhebung im Jahre 1980 beweg- schliessen der Ausbildung, ein Jobwechsel oder ten sich jährlich rund 6 % der Schweizer Bevölke- die Gründung einer Familie. Dementsprechend
6 SCHAFFHAUSEN 2030 ist hier die Umzugsfreudigkeit am höchsten.6 Bis Für den Kanton Schaffhausen stellt sich somit die ins Alter von 75 Jahren nimmt die Mobilität ab, Frage, wie er es schafft, in der Zeit der immer frei danach wieder leicht zu – weil man das Wohnen eren Standortwahl für Menschen und Unterneh aufs Altern anpasst. men attraktiv zu bleiben. Was motiviert Menschen und Unternehmen zum Zuzug in oder zum Weg Egal, ob man heimatverbunden oder kosmo zug aus der kleinstädtisch und ländlich geprägten politisch, jung oder alt ist: In den Entscheidungs Region? Wie schafft es die Region, junge Men- situationen stellt man sich regelmässig die gleiche schen anzuziehen? Wie kann sie sich weiter Frage: Wo erhoffen wir uns das bessere Leben? entwickeln, um für diejenigen, die kommen, und Und warum? für diejenigen, die bleiben, attraktiv zu sein? So konstant die Muster für die Wohnort-Entschei dungen der Menschen bleiben, so dynamisch ent- wickeln sich die Standort-Entscheidungen der Unternehmen. Aufgrund einer nie dagewesenen Arbeitsteilung der Wertschöpfungskette rund um den Globus werden sie beweglicher. Viele Unter nehmen zählen nicht mehr grosse, schwere und ortsgebundene Produktionsanlagen zu ihrer Infra- struktur, sondern nur noch Büros – und wo das 1 Bundesamt für Statistik (2020): Binnenwanderung der ständi- gen Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeitskategorie und Homeoffice vorherrscht, noch nicht einmal diese. Geschlecht, 1981–2019. Neuenburg. Online: bit.ly/2Jq0Mqr Sowohl der Arbeitsplatz als auch der Firmensitz ste- 2 Zwischen 1960 und 2018 stieg die Urbanisierungsrate in der hen somit zur Wahl, woraus sich für die Unterneh- Schweiz von 51 auf 74 Prozent, im globalen Durchschnitt stieg men ähnliche Fragen ergeben wie für den Menschen. der Anteil der Stadtbevölkerung im gleichen Zeitraum von 34 auf 55 Prozent. Quelle: United Nations, World Urbanization Vor diesem Hintergrund beschäftigen wir uns in Prospects 2018 dieser Publikation mit der Zukunft des Kantons 3 Bundesamt für Statistik (2020): Binnenwanderung der ständi- Schaffhausen. Diese kleinstädtisch geprägte Regi- gen Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeitskategorie und Geschlecht, 1981–2019. Neuenburg. Online: bit.ly/2Jq0Mqr on fürchtet trotz Bevölkerungswachstum eine Ab 4 Schon in den ersten Grossstädten der Weltgeschichte betrug wanderung ihrer jüngeren Bewohnerinnen und die Entfernung vom Stadtzentrum bis zum Stadtrand etwa 30 Bewohner in grössere Städte der Schweiz und da- Minuten mit den jeweils gängigen Verkehrsmitteln. Dieser Wert mit eine Akzentuierung des ohnehin schon statt- hat sich bis in die Neuzeit kaum verändert – nur die Verkehrs- findenden demografischen Wandels.7 Wenn die mittel sind schneller geworden und damit die Städte grösser. jungen Menschen abwandern, dann nehmen sie Vgl. Schneider, W. (1963): Überall ist Babylon. Die Stadt als ihre Lebendigkeit mit. Die individuelle Lebendig- Schicksal des Menschen von Ur bis Utopia. Econ Verlag. 5 Cooke, T. J. & Shuttleworth, I. (2018): The effects of information keit der Person, und auch die soziale Lebendigkeit and communication technologies on residential mobility and ihrer Beziehungen. Genau diese Lebendigkeit aber migration. Population, Space and Place, 24(3), e2111. ist einer der wichtigsten Treiber für Veränderung: 6 Schnorf, P. & Schläpfer, J. (2017): Umzüge innerhalb der Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwick- Schweiz. Wüest Partner. Online: bit.ly/3fPikIy lungen hängen oft mit den neuen Ideen zusam- 7 Kanton Schaffhausen (2017): Demografiestrategie Kanton Schaff- men, die entstehen, wenn sich Menschen treffen. hausen. Schaffhausen.
on nd Lo
8 SCHAFFHAUSEN 2030 Stimmen aus dem Kanton Schaffhausen So sehr die Megatrends aus Wirtschaft, Demogra Wohnort mit Kindern kann man sich eine fie und Technologie auch die Gesellschaft und das Rückkehr vorstellen. Individuum beeinflussen: Sie bestellen keinen > Zugezogen: Wer nach Schaffhausen zieht, tut Umzugswagen. Megatrends zeigen eine generelle dies aufgrund von Zufällen und motiviert Stossrichtungen auf, können aber nicht indivi durch Familie, Freundschaften oder Liebe. Die duelle Entscheide erklären. Und bei der Wahl des befragten Zugezogenen kannten die Region Lebensmittelpunktes spielen immer auch persön bereits aus ihrer Kindheit – durch Ausflüge, liche Prägungen, Präferenzen und Abneigungen Besuche von Verwandten, Kontakte oder als eine Rolle. Wohnort. So waren sie der Region ohnehin zu- getan, weshalb die Gelegenheiten als günstig Um uns diesen individuellen Motiven anzunä- erschienen und die Entscheidung für den Um- hern, haben wir im Sommer 2020 qualitative In- zug ohne Zögern und mit gutem Bauchgefühl terviews mit Personen mit einem Bezug zum getroffen wurde. Kanton Schaffhausen durchgeführt. In dieser Stu- > Geblieben: Wer im Kanton Schaffhausen bleibt die sind die Gespräche mit neun Menschen zwi- oder dahin zurückkehrt, tut dies, weil er oder schen 22 und 50 Jahren aufgenommen, die sie das private Umfeld, die Verbundenheit mit entweder aus dem Kanton Schaffhausen weggezo- Menschen, Vereinen und Landschaft nicht auf- gen, dorthin zugezogen oder fortwährend dort geben will. geblieben sind. Im Zentrum der qualitativen In- terviews standen zwei Fragen: Warum wohnen Sie Allen drei Typen gemein ist: Ohne persönlichen dort, wo Sie wohnen? Und unter welchen Bedin- Bezug oder bestehende Verankerung würde man gungen könnte sich das zukünftig ändern? den Kanton Schaffhausen nicht als Wohnort in Betracht ziehen. Demnach sind es Menschen, die Die Interviews zeigen, dass bei der Entscheidung andere Menschen anziehen und in einer Region für oder gegen den Lebensmittelpunkt Schaffhau- verankern. Wenn in der Entscheidungssituation sen drei Faktoren häufig genannt werden: Bekannt zur Wahl des Lebensmittelpunkts die Potenziale schaften, Zufall und Opportunitäten. Konkret der Region Schaffhausen bewertet werden, dann bedeutet das Folgendes: steht das Wachstumspotenzial des sozialen Netz werks mindestens gleichwertig neben den Wachs > Weggezogen: Wer aus Schaffhausen wegzieht, tumspotenzialen für Einkommen und Vermögen. sieht diesen Schritt als nötig für die berufliche oder persönliche Weiterentwicklung an. Wich tigster Treiber sind dabei eine frisch angefange- ne Ausbildung und die beruflichen Perspektiven, welche in vielen Branchen insbesondere im Raum Zürich besser ausfallen. Es wird als gege ben hingenommen, dass man für Aus- oder Weiterbildungen die Region verlassen muss, je- doch bleibt bei manchen die Sehnsucht, irgend wann in die Heimatregion zurückzu kehren. Insbesondere für die Familiengründung und als
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9 Steckbriefe von Schaffhauserinnen und Schaffhausern Person 1: Ende 40, weiblich zugezogen Pädagogin Familie kommt aus dem Ausland, zugezogen aus dem Kanton Zürich der Liebe wegen. «Liebe. Es war nur das. Es war wirklich nur die Liebe, die mich in den Kanton Schaffhausen brachte und dort hält.» Wohnsitz in einer ländlichen Gemeinde des Kantons. «Das Schöne des Kleinräumigen kann auch das Schlimme des Kleinräumigen sein. Diese Kleinräu- migkeit heisst: Jeder kennt jeden. Darüber muss man sich einfach klar sein. Man kennt einander.» Sehr zwiespältiges Verhältnis zum Wegziehen und Zurückkommen. «Kaum ist man erwachsen, möchte man weg. Und es gehen auch die allermeisten weg. Und sie sagen, ich komme nie mehr zurück nach Schaffhausen. Allerdings kommen viele doch wieder zurück, wenn sie eine eigene Familie haben.»
10 SCHAFFHAUSEN 2030 Flügel und Wurzeln Das Konzept der Schwarmregion und ein ausdifferenziertes Wohnungsangebot sind zwar notwendige Voraussetzungen für eine Eine «Schwarmregion» ist ein Gebiet, in das be- Schwarmregion, erklären aber nicht, warum eine sonders viele junge Menschen ziehen resp. eine Stadt oder eine Region eine hohe Anziehungskraft Region mit einem überdurchschnittlich hohen ausstrahlt. Die harten Faktoren machen nicht den Anteil junger Menschen.8 Im Ergebnis wachsen entscheidenden Unterschied, wenn sich Menschen und verjüngen sich diese Schwarmregionen, wäh- überlegen, wo sie wohnen möchten. Weiche Stand- rend andernorts die Zahl der jungen Einwohner ortfaktoren geben demnach den Ausschlag bei der konstant sinkt. Sinnbildlich steigen junge Men- Entscheidung für oder gegen einen Lebensmittel- schen aus dem ganzen Land wie Vögel auf und punkt. Dazu gehört als Basis eine lebendige, urba- landen dann als Schwarm in einer Region. ne, vitale Atmosphäre, ein attraktives Image und Schwarmregionen zeichnen sich durch eine hohe ein schönes Erscheinungsbild.12 Lebendigkeit, Vielfalt und Urbanität aus, während andernorts Geschäfte und Restaurants schliessen, Der Fotograf Wolfgang Tillmans sieht das etwas Wohnungen leer stehen und Büroflächen neu be- anders. Er schreibt: «Bei meinen Reisen um die setzt werden müssen. Das Phänomen wurde vor Welt ist mir immer wieder klar geworden, dass ein paar Jahren in Deutschland erforscht – zugege- das Glück der Menschen von guter Verwaltung ben in einem Land, das wesentlich grösser ist als abhängt. Von ganz langweiligen Dingen: von die Schweiz. Hier ist alles kleinräumiger und man wenig Korruption, von Abwasserversorgung, muss nicht unbedingt in eine andere Stadt ziehen, von gerechten Steuern. Dinge, die in der Mitte nur weil man dort studiert oder arbeitet. Dennoch der Gesellschaft verortet sind und sicherstellen, lassen sich aus den Erkenntnissen der Studie wich- dass das Leben funktioniert. Das sind Dinge, die tige Schlussfolgerungen für die Regionen der man nicht sexy machen kann. Aber dort ist das Schweiz ableiten. Die Autorinnen und Autoren der Glück begraben.»13 Studie haben nämlich verschiedene Thesen ge- prüft, warum eine Region zu einer Schwarmregion wird – oder eben nicht. Exemplarisch stellen wir diese Thesen an drei un- 8 Simons, H. & Weiden, L. (2015): Schwarmstädte in Deutsch- tersuchten Beispielen vor. Bremen ist keine land. Ursachen und Nachhaltigkeit der neuen Wanderungsmus- Schwarmregion und zieht deshalb nicht überpro- ter. Endbericht. Empirica AG. Berlin. portional viele junge Menschen an9 – anders als 9 Empirica AG (2018): Schwarmstadt Bremen? Berlin. Online: bit. Leipzig, das bei etwa gleicher Einwohnerzahl über ly/36kfIPL eine deutlich höhere Attraktivität verfügt10. Kob- 10 Simons, H. (2014): Schwarmstadt Leipzig. Empirica AG. Online: lenz ist die kleinste Schwarmregion in Deutsch- bit.ly/2Kn1GVp land.11 Was sind die Gründe für Schwarmsein 11 Empirica AG (2017): Schwarmstadt Koblenz. Berlin. Online: bit. ly/2VjX6Jq oder Schwarmnichtsein? 12 Simons, H. & Weiden, L. (2015): Schwarmstädte in Deutsch- land. Ursachen und Nachhaltigkeit der neuen Wanderungsmus- Die Untersuchungen der Schwarmregionen in ter. Endbericht. Empirica AG. Berlin. Deutschland zeigen: Harte Faktoren wie die Anwe- 13 Deutschlandfunk (2017): Der Fotograf Wolfgang Tillmans. Im senheit von Hochschulen, qualifizierte Arbeitsplätze Gespräch mit Tanja Runow. Online: bit.ly/3p9kEhg
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11 Vergleich von Schwarmregionen in Deutschland: Was macht eine Region zur Schwarmregion? Bremen Koblenz Leipzig These Bildung: Bremen ist ein bekannter Die Studierendenzahlen in Leipzig hat ein vielfältiges Immer mehr junge Hochschulstandort, Koblenz haben in den letz- Bildungsangebot, der Anteil Menschen studieren. dennoch ist die Anzahl ten Jahren zugenommen – der Studierenden an der Hochschulstandorte der Studierenden nicht der Ausbau der Hochschule Einwohnerzahl liegt höher ziehen überproportional so stark gestiegen wie hat zur steigenden Attrakti- als in Bremen. viele davon an. an anderen Orten. vität der Stadt beigetragen. These Arbeitsplätze: Bremen hat zwar eine e twas In Schwarmregionen Die Zuwanderung hat Die Verfügbarkeit von höhere A rbeitslosenquote möchte man auch wohnen, nur einen schwachen A rbeitsplätzen zieht als andere deutsche Städte, wenn man nicht dort Zusammenhang mit dem Menschen an. aber ihr Einfluss auf die arbeitet. Das trifft hier zu: A rbeitsplatzwachstum: Migration ist gering. Bei Die Anzahl der in Koblenz Die Anzahl der neu insgesamt sehr niedriger lebenden Beschäftigten Zuziehenden ist deutlich Arbeitslosigkeit spielt die stieg zuletzt doppelt so höher als das Wachstum Job-Verfügbarkeit kaum stark wie die Zahl der der A rbeitsplätze. eine Rolle. A rbeitsplätze vor Ort. These Erscheinungsbild: Die Lebensqualität in Die Stadt hat sich vor ein Leipzig hat grosse Gründer- Eine angenehme Bremen wird geringer einge- paar Jahren infrastrukturell zeitquartiere und damit für Atmosphäre und ein schätzt als an anderen Orten. (z. B. Verkehrswege, junge Menschen attraktive attraktives städtebauliches Es gibt kaum Menschen, die Einbindung nicht gut Szeneviertel. Insbesondere Erscheinungsbild ziehen nur in Bremen wohnen, nicht erschlossener Gebiete) Linksalternative werden von Menschen an. aber dort arbeiten. verbessert. der Stadt angezogen. These Image: Bremen hat kein schlechtes Koblenz hat keinen Die Region hat mit der Das Image einer Region Image, Bremen hat gar kein Unique Selling Point. «Leipziger Freiheit» ein spielt eine grosse Rolle. Image. Es fehlen sowohl t ypisches Image. Zudem Eine Schwarmregion braucht Trendsetter als auch Trends gilt die Stadt als das neue ein Alleinstellungs – ohne dass dafür eine klare und günstigere Berlin. merkmal. Ursache auszumachen w äre. These Lebendigkeit: Bremen verfügt über eines In der Altstadt gibt es Viele junge Menschen in Die Anziehungskraft der ältesten Szeneviertel Quartiere, in denen man der Stadt versprühen ein entsteht in erster Linie Deutschlands (Ostertor), gleichzeitig wohnt und Gefühl des Aufbruchs und durch ein junges Lebens das aber heute viel gesetz- ausgeht. Diese strahlen ermöglichen kulturelle gefühl, durch eine urbane, ter wirkt als vor 30 Jahren. Lebendigkeit aus. Eine Identifikation. vielfältige, lebendige Entsprechend geringer ist kreative Szene versprüht Atmosphäre. die Ausstrahlung auf junge Energie. Menschen. Quelle: Empirica AG Fazit Bremen ist keine Schwarm- Koblenz ist eine Schwarm- Leipzig hat sich als attrakti- region, weil sie kein Image region, weil sie eine ver Lebensabschnitts und wenig lebendige beliebte Hochschule, mittelpunkt positioniert: Quartiere hat. städtebauliche Qualitäten Von Jung bis Alt zieht die und eine angenehme Stadt Menschen aus ganz Lebendigkeit aufweist. Deutschland an. Quelle: Empirica AG
12 SCHAFFHAUSEN 2030 Steckbriefe von Schaffhauserinnen und Schaffhausern Person 2: Person 3: Mitte 30, männlich Anfang 50, männlich weg- und zurückgezogen, zugezogen Sportler und Gesundheitscoach IT-Manager Aufgewachsen in der Stadt Schaffhausen. Aufgewachsen im Ausland, zugezogen aus dem Kanton Zürich. «In Schaffhausen fühle ich mich zuhause. Ich habe hier mein Netzwerk, mein Umfeld und ich kenne «Wir suchten nach einem etwas ländlicheren viele Leute, und das macht es für mich aus, auch Wohnort in der Schweiz in Pendeldistanz zu hier zu leben.» Zürich. Erst wollten wir nach Luzern. Viele Bekannte sagten aber, dass es schwierig sei, sich Weggezogen nach Zürich, wohnt nun wieder im dort zu integrieren. Wir hörten dann gute Dinge Kanton Schaffhausen – um dort Chancen zu über Schaffhausen, weshalb wir hierhergezogen nutzen, die die Metropole nicht bietet. sind.» «Gerade jetzt, wenn ich ein eigenes Business auf- Entscheidend für die Zufriedenheit mit dem bauen will, geht es um ein grosses Netzwerk. Hier neuen Lebensmittelpunkt in der Agglomeration in der Region habe ich mir schon durch den Sport der Stadt Schaffhausen ist die Kombination von einen Namen gemacht; man kennt mich hier. Das ländlichen und städtischen Elementen. ist in Zürich nicht gegeben – in Zürich kennt mich niemand.» «Unsere Kinder wachsen zweisprachig auf. Die Expat-Community hier hilft uns sehr, auch die Erneuter Wegzug so gut wie ausgeschlossen. englische Sprache im Alltag zu haben. Vor allem als die Kinder klein waren, war die Nähe zu «Ich würde nur wegziehen, wenn meine Partnerin Deutschland ein grosser Vorteil. Windeln sind oder meine Familie wegziehen wollen würde. extrem teuer in der Schweiz.» Oder wenn sich die politische Situation drastisch ändern würde.»
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13 Zusammenspiel von Schwarm- und Nestregion Austausch Entspannung Spannung Ruhe Entdeckung Wandel Geborgenheit SCHWARM NEST Heimat Erkundung Halt Bewahrung Neugier Sehnsucht Wärme Bindung Quelle: GDI Tillmans scheint hier das genaue Gegenteil einer dabei zu helfen, ihre eigenen Erfahrungen zu ma- Schwarmregion zu zeichnen. Doch es handelt chen und diese Erfahrungen wiederum auch den sich eher um deren Ergänzung. Das wird deut- anderen zugutekommen zu lassen. lich, wenn man beim Bild des (Bienen-)Schwarms bleibt. Bienen fliegen aus, um etwas zu finden, Für Anywheres und Somewheres wovon sie sich ernähren können. Und wenn sie eine attraktive Nahrungsquelle (oder einen ge- Im Jahr 2017 prägte der britische Journalist Da- fährlichen Feind) gefunden haben, fliegen sie im vid Goodhart ein Gegensatzpaar von Begriffen, Schwarm dorthin. Aber danach – fliegen sie zum das den Riss verdeutlichen sollte, der durch viele heimatlichen Nest zurück. Im Nest ziehen sie den moderne Gesellschaften geht: «Anywheres» und Nachwuchs gross, im Nest erzählen sie Ge- «Somewheres». schichten, im Nest verzehren sie, was draussen eingesammelt wurde. Ohne Bienennest kein Bie- «Die Anywheres gehören in der Regel zu der mo- nenschwarm – die Perspektive der Region bilen Minderheit, die eine Universität ausserhalb Schaffhausen kann darin liegen, die Perspektive ihrer Heimatstadt besucht und dann einen ent- der Schwarmregion mit derjenigen der Nestregi- sprechenden Beruf ergriffen hat, in der Regel ohne on zu verbinden. Eine Heimat, aus der man aus- in ihre Heimatstadt zurückzukehren. (…) Sie ent- schwärmt, und in die man immer wieder scheiden sich eher für Autonomie und Selbstver- zurückkommt – die prägende Erfahrung, die ein wirklichung als für Stabilität, Gemeinschaft und Leben lang nachwirkt. Und eine neue Heimat, Tradition.»14 die Erfahrungen möglich macht, die das weitere Leben prägen. Nestregion zu sein bedeutet eben nicht, sich abzu- 14 Goodhart, D. (2020): The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, kapseln und möglichst niemanden herein- oder Familie und Gesellschaft neu denken müssen. Books On De- hinauszulassen. Es bedeutet, den Stakeholdern mand, Hamburg, S. 58.
14 SCHAFFHAUSEN 2030 Zusammenspiel von Anywheres und Somewheres Mobilität Gelassenheit Tempo Vertrautheit Selbstver- wirklichung Verlässlichkeit Urbanität ANYWHERES SOMEWHERES Stabilität Abenteuer Gemein- Sicherheit schaft Diversität Offenheit Treue Tradition Quelle: GDI «Die Somewheres machen eine zahlenmässig viel zen sind Anywhere und Somewhere, Flügel und grössere Gruppe aus und sind viel weiter verbrei- Wurzeln, praktisch überall präsent – wenn auch tet als die Anywheres. (…) Sie stammen aus den in unterschiedlicher Dosierung. So spielt in der stärker verwurzelten Gesellschaftsschichten, aus Stadt Schaffhausen die Verwurzelung eine grösse- kleinen Städten und Vorstädten. (…) Sicherheit re Rolle als in der Metropole Zürich, aber eine und Vertrautheit sind ihnen sehr wichtig, und ih- kleinere Rolle als etwa in Stein am Rhein. re Gruppenbindung ist stark ausgeprägt, sowohl in lokaler als auch in nationaler Hinsicht.»15 Gerade eine Region in Pendeldistanz zu einer Me- tropole kann ein dynamisches Gleichgewicht zwi- Goodharts Ansatz bezog sich in erster Linie auf ei- schen Offenheit und Verwurzelung erzeugen. nen politischen Konflikt: Die kosmopolitische Elite Denn natürlich haben nicht alle Bewohnerinnen entferne sich immer weiter von den Bedürfnissen und Bewohner die gleichen Ansprüche an einen der bodenständigen Mehrheit. Doch die scheinbar Ort. Während beispielsweise ein Kind Spielplätze unversöhnlichen Gegensätze von Anywhere und liebt, bringen diese einer älteren Person herzlich Somewhere können sich auch hervorragend ergän- wenig. Die Bedürfnisse an einen Ort verändern zen. Das zeigt sich beispielsweise in der Pädagogik. sich aber nicht nur aufgrund des Alters, sondern Denn sowohl in der Erziehung als auch in der Bil- hängen auch davon ab, wie lange man an einem dung sind ein solides Fundament und ein offener Ort verbringt. Geist gleichermassen wichtig. Am prägnantesten drückte das 1953 der US-Journalist Hodding Carter aus: «Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.»16 15 Goodhart, D. (2020): The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, Auch im regionalen Kontext kann die Spannung Familie und Gesellschaft neu denken müssen. Books On De- zwischen diesen beiden Begriffen produktiv ver- mand, Hamburg, S. 58. wendet werden. In der Schweiz mit ihren kleinen 16 Carter, H. (1953): Where Main Street Meets the River. New Räumen und relativ geringen sozialen Gegensät- York, S. 337.
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15 Bedürfnisgruppen für den Kanton Schaffhausen + SO ME AN WH YW ER HE ES RE Betagte S Locals Zweitwohnungs- besitzende Verbundenheit 65+ Studierende und Auszubildende New Arrivals High Skilled Pendlerinnen Touristen und Pendler Multilokale - - Aufenthaltsdauer + Quelle:GDI Sowohl unter den stationären Bewohnerinnen Typologie der Bedürfnisgruppen und Bewohnern als auch unter den nur temporär Die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche eine Region Nutzenden zeigen sich in der Regel sind heute stark lebensabschnittsgeprägt. Das grosse Unterschiede in der Aufenthaltsdauer und klassische Altern mit Fokus auf Ausbildung, Er- in der Verbundenheit zur Region. Diese Diversität werbszeit und Pension hat sich schon längst auf- gilt es zu verstehen, zu managen und auch pro- gelöst. Institutionell laufen die Folgen aber immer duktiv nutzbar zu machen. noch weiter. Planung verläuft nicht mehr für ein ganzes Leben, sondern ist temporärer, ausgerich- Touristen tet auf den jeweiligen Lebensabschnitt. Diese un- Touristen haben sehr kurzfristige Bedürfnisse und terschiedlichen Bedürfnisse steigern auch die sind vor allem an Unterhaltung, Kulturevents, Re- soziale Komplexität eines Ortes. Heute sehen wir: staurants, Besichtigungen etc. interessiert. Ein Fo- Konfliktlinien entstehen entlang der rasch wach- kus liegt auf den klischierten Aushängeschildern senden unterschiedlichen Bedürfnisse der Be- der Region, die für die lokale Bevölkerung eine wohnerinnen und Bewohner. weniger grosse Rolle spielen. Touristen kümmern sich nicht um lokale Bedürfnisse, Abfall oder Ver- Vor diesem Hintergrund leiten wir eine Typologie sorgungsinfrastruktur. Sie bringen Dynamik, von Bedürfnisgruppen für den Kanton Schaffhau- Internationalität und gute Laune mit, ihre Ver- sen ab, welche es alle zu berücksichtigen gilt und bundenheit mit der Region sowie auch ihre Auf- von denen es eine ausgeglichene Mischung braucht. enthaltsdauer sind jedoch gering.
16 SCHAFFHAUSEN 2030 Zweitwohnungsbesitzende bezogen werden können. Die Aufenthaltsdauer Die Teilzeitansässigen sind einerseits geprägt vom entspricht einem Karriereabschnitt und die Ver- touristischen Klischee, haben andererseits aber bundenheit ist eher gering. auch höchste Ansprüche an Versorgung und Inf- rastruktur. Nicht selten erwarten sie dieselben Multilokale Rahmenbedingungen wie an ihrem Hauptwohn- Diese Gruppe von Menschen ist in ihrer Aus- sitz. Die Verbundenheit mit dem Kanton kann gangslage und Einstellung vergleichbar zur Grup- hoch sein, die Aufenthaltsdauer ist aber eher sehr pe der High Skilled. Sie sind aber auf mehrere kurz und verstärkt zudem meist die touristischen Standorte verteilt; überall und nirgends zuhause. Peak-Zeiten. Für Steuereinnahmen ist diese Grup- Der «fixe» Wohnort ist höchstens mit dem Bezah- pe sicherlich interessant, für die soziale Energie len von Steuern und dem Pass verknüpft. Die Ver- am Standort aber kaum. bundenheit besteht daher eher zu einem Kontext denn zu einem Standort, und die Dauer des Auf- Studierende und Auszubildende enthalts ist von Opportunitäten geprägt. Studierende und Auszubildende sind eine sehr mobile und dynamische Gruppe. Entschlossen un- New Arrivals entschlossen. Sie sind offen per Definition, da Ler- New Arrivals kommen mit der Absicht, sich an nen den Lebensabschnitt massgeblich bestimmt. einem guten Ort niederzulassen. Sie haben eine Neue Begegnungen, neue Einflüsse und neue Orte Entscheidung für einen neuen Lebensmittel- bestimmen diese volatile Gruppe und sie wächst punkt getroffen, wenn auch die Wahl nicht im- stetig, gemessen an der Altersgruppe. Es herrscht mer bewusst auf diesen speziellen Ort gefallen ein globaler Run auf die Tertiärbildung – alle wol- ist – manchmal war er auch nur ein Zufallser- len lernen und bessere Titel bei besseren Schulen, gebnis oder das kleinere Übel. Die dieser Gruppe um ihre Lebenschancen zu erhöhen. Sie haben we- Zugehörigen sind von äusseren Umständen wie niger Ansprüche an das Wohnen als an den öffent- Jobopportunitäten, Partnern oder einer Migrati- lichen Raum und an öffentliche Begegnungsorte. onsgeschichte geprägt. Sie suchen das gute Le- Sie haben eine sehr unterschiedliche Verbunden- ben, stabile Umstände und Sicherheit. An den heit und Aufenthaltsdauer. Manche bleiben an ih- Rest passt man sich an. Die Verbundenheit rem Studienort hängen, andere ziehen weiter. Die wächst und die Aufenthaltsdauer ist in der Ten- Verbundenheit hängt stark ab vom «emotional de- denz hoch. sign» der Studentenstädte. Pendlerinnen und Pendler High Skilled Tägliche Pendler aus Agglomerationswohnorten Karriereorientiertes Business People, vielleicht der Region oder jene, die tagtäglich sogar aus dem auch Expats in der Rush Hour des Lebens. Sie sind Kanton hinauspendeln und abends wieder zum dort, wo es sich lohnt zu sein; wo die Kombination Schlafen nach Hause kommen, haben in der der Annehmlichkeiten stimmt. Arbeit, Sport, Schweiz insgesamt zugenommen. Eine mobil gut Freizeit und Kultur sind auf den Lifestyle opti- erschlossene Region wird geradezu zum Opfer ih- miert. Das Ziel ist nicht, sich zu integrieren, son- res eigenen Erfolgs: Man ist schnell weg und wie- dern möglichst zu profitieren. Die Dienstleistungen der da. Andererseits verstetigen die Pendelströme aller Art sollen einfach, unkompliziert und schnell die Bevölkerungsentwicklung: Wer pendelt, zieht
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17 Steckbriefe von Schaffhauserinnen und Schaffhausern Person 4: Person 5: Mitte 30, männlich Anfang 30, weiblich geblieben weggezogen IT-Consultant Immobilienbewerterin Aufgewachsen im Kanton Schaffhausen und Aufgewachsen im Kanton Schaffhausen, heute dort geblieben. mit Partner im Kanton St. Gallen. «Wenn ich wegziehen würde, dann wäre ich ja nur «Für mich ist Heimat dort, wo ich aufgewachsen weiter weg von Freunden, vom Freundeskreis, von bin. Daheim ist aber dort, wo ich die Leute kenne, der Familie und auch von den Hobbys. Und wenn wo ich verwurzelt bin. Ich bin dort zuhause, wo man auch schon 18 Jahre in der Feuerwehr ist, hat die Familie und mein Freund sind.» man dort auch wieder Kollegen und einen Zusammenhalt.» Die Rückkehr in die Region Schaffhausen ist ei- ne der Optionen des weiter mit dem Heimat- Pendelt seit 15 Jahren für Ausbildung und kanton verbundenen Paares. Job. Stark in der Region verankert und dort engagiert. «Ich wohne hier, weil mein Partner hier eine Eigentumswohnung gekauft hat. Wir haben aber «Wir hatten das Gefühl, dass im Dorf selber fast den Traum eines Hauses, und den träumen wir nichts läuft. Wir haben deshalb einen Verein auf- gemeinsam.» gebaut, damit nicht alle nach Schaffhausen oder nach Zürich in den Ausgang gehen müssen.»
18 SCHAFFHAUSEN 2030 nicht weg. Die Bedürfnisse der Pendelnden an den bewussten dritten Lebensabschnitt. Man möchte Wohnort sind primär auf Convenience ausgelegt. zur Ruhe kommen und auch in Ruhe gelassen Nicht nur bei der Lebensmittelversorgung, son- werden. Man kultiviert Neues in bekanntem Kon- dern auch in Sachen Kultur oder Gastronomie. text. In der Regel bleibt man nach 65 dort, wo man Das verändert das Angebot und den Raum, da hier sich niedergelassen hat – und selbst wenn man völlig andere Versorgungsketten eine Rolle spie- den Ort wechselt, dann eher nicht die Einstellung. len. Langjähriges Dauerpendeln verringert zudem Die Verbundenheit wächst. den regionalen (politischen) Bezug: Viele werden mental multilokal. Sie sind zwar für lange Zeit vor Ort, aber bleiben in ihrer Verbundenheit volatil. Locals Sie leben oft über Generationen hinweg in der Re- gion. Viele erkennt man sogar am Nachnamen, der in den lokalen Heimatgemeinden wurzelt. Die Locals kennen ihre Region wie ihre rechte Hosen- tasche. Finden blind den Weg zu ihrer Haustüre, wissen, wie es an einer bestimmten Strassenecke riecht, und kennen den Metzger schon seit Kind- heitstagen. Die Locals sorgen für dieses regional- spezifische Ambiente und sind Hüter des Originals, das gewissermassen auch immer eine individuelle Interpretation ist. Sie brauchen und suchen Konti- nuität, zeichnen sich durch eine hohe Identifikati- on und Aufenthaltsdauer aus. Betagte Menschen, die auf ein erfülltes Leben zurückbli- cken dürfen, leben von ihren Erinnerungen. Sie sind veränderungsavers, dafür hüten sie lokale Geschichte und Geschichten. Sie sind die lebende lokale Wikipedia und die Storyteller der Region. Sie möchten einen ruhigen, sicheren und gut ver- sorgten Lebensabend in gewohnter Umgebung verbringen. Ihre Verbundenheit und Aufenthalts- dauer bleibt unübertroffen. 65+ Fängt jetzt das Leben erst richtig an? Die Kinder sind aus dem Haus, der Brotjob getan. Man kann sich nochmals neu orientieren, vielleicht für einen
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19 Steckbriefe von Schaffhauserinnen und Schaffhausern Person 6: Anfang 20, weiblich geblieben Fachfrau Betreuung Aufgewachsen im Kanton Schaffhausen. «Meine Familie wohnt hier überall. Und meine Freunde auch. Ja, es ist halt Heimat.» Nicht nur die Menschen verbinden mit der Heimat, sondern auch die Natur. «Am liebsten bin ich am Rhein, oder auf dem Rhein – mit meinem Stand-up-Paddle-Board – oder im Rhein. Ich bin wirklich fast jeden Tag am Rhein; ich finde es einfach schön, wie der so durchfliesst.» Ein Wegzug ist durchaus möglich, sowohl aus beruflichen wie aus privaten Gründen. «Zum Beispiel könnte ich mich in einen Deutschen verlieben und dann … Immerhin kann man ja auch nach Deutschland gehen und trotzdem am Bodensee bleiben.»
20 SCHAFFHAUSEN 2030 Steckbriefe von Schaffhauserinnen und Schaffhausern Person 7: Person 8: Anfang 40, weiblich Ende 30, weiblich zugezogen weggezogen Pflegerin Softwareengineer Aufgewachsen im Kanton Glarus, zugezogen in Aufgewachsen im Kanton Schaffhausen. eine ländliche Gemeinde des Kantons Schaff- hausen durch eine persönliche Bekanntschaft. «Für mich ist Schaffhausen das herzige, kleine Städtchen am Rhein. Und das ist es auch geblie- «Ich habe meine Freunde hier in meinem Dorf. ben. Hier sind sie mit weniger zufrieden. Sie brau- Die sind letztendlich der Grund, warum ich chen keinen Ferrari vor dem Haus, um das Leben hierhin gekommen bin.» geniessen zu können. Eine Vespa reicht.» Hohe Wertschätzung für die Offenheit und Aus beruflichen Gründen Umzug nach Zürich. Lebendigkeit des neuen Lebensmittelpunkts. «Ich hätte nicht von Anfang an in Schaffhausen «In meinem Wohnort gibt es sehr offene Men- bleiben können. Das wäre für mich zu langweilig schen. Das kann ich nicht von vielen Orten sagen, gewesen, von der Kindheit her bis ins Erwachsenen- an denen ich gelebt habe. Es ist auch einfach, ein leben und bis ins Alter immer nur dort zu bleiben.» bisschen den Anschluss zu finden, zum Beispiel bei Dorffesten. Man kommt mit den Leuten gut ins Nach fast zwei Jahrzehnten in der Stadt Gespräch, und das schätze ich sehr.» Zürich Umzug in die Agglomeration Zürich mit Mann und Kind. Ein Wegzug in einen anderen Kanton ist durch- aus im Bereich des Möglichen. «Ich habe 17 Jahre in der Stadt Zürich gewohnt. Dort haben alle meine Freunde gewohnt, doch jetzt «Es wäre wirklich praktisch, wenn Schaffhausen ziehen sie aufs Land. Und wir auch. Unseren irgendwie zentraler wäre. So wie zum Beispiel Zug.» neuen Wohnort haben wir gefunden, weil wir auf einer App eingegeben haben, dass wir mit dem ÖV in 40 Minuten in Zürich sein wollen. E ntscheidend sind nicht die Kilometer, sondern die Zeit.»
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21 Die soziale Energie wird zum Schlüsselfaktor Menschen ziehen Menschen an ton liegt gemessen am durchschnittlichen BIP pro Kopf an sechster Stelle aller Kantone. Was können Regionen tun, damit sie eine hohe Anziehungskraft auf Menschen haben? Die tradi- Die Kriterien, die über die Wohnortwahl ent- tionelle Antwort darauf lautet: attraktive Arbeits- scheiden, zeigen also eine ähnliche Hierarchie, plätze schaffen. Menschen bewegten sich aufgrund wie sie sich auch in Maslows Bedürfnispyramide von Wohlstandsunterschieden, folgten also dem ablesen lässt. Zuerst müssen die Grundbedürfnis- Geld und bewegten sich von einem Ort mit weni- se befriedigt werden: die harten Standortfaktoren ger Wohlstand an einen Ort mit mehr Wohlstand. wie Arbeit, Wohnung, Bildung, Sicherheit. Je Die aktuelle Migrationsbewegung aus Afrika mehr sie erfüllt sind, desto wichtiger werden die Richtung Europa beispielsweise bestätigt diese sozialen Bedürfnisse: die weichen Standortfakto- Auffassung, da sie in hohem Mass auf das Wohl- ren wie Kultur, Freundschaft, Schönheit. standsgefälle zwischen beiden Kontinenten zu- rückzuführen ist. Die Standortpromotion des Kantons konzentriert sich bislang stark auf die harten Faktoren. Die Die Interviews mit Einwohnerinnen und Einwoh- wirtschaftlichen und infrastrukturellen Vorteile nern des Kantons Schaffhausen, die für diese Stu- werden aufgezählt, und auf Werbebroschüren die geführt worden sind, zeigen ein anderes Bild: werden der tiefe Steuersatz und die guten Mobili- Menschen ziehen Menschen an. Das Wachstum- tätsanbindungen betont.18 Natürlich dürfen die spotenzial des sozialen Netzwerks spielt eine harten Standortfaktoren nicht vernachlässigt wer- wichtigere Rolle als das Wachstumspotenzial des den, wenn die gute ökonomische Position nach- Sozialprodukts. haltig sicher bleiben soll. Denn diese harten Faktoren versorgen und nähren das Bienenvolk Auch eine Studie zum Migrationsverhalten in ver- und sind eine grundlegende Voraussetzung für schiedenen Regionen der Europäischen Union nachhaltigen Wohlstand. Doch gerade weil der kommt zum Schluss, dass es eher soziale Netzwer- Kanton Schaffhausen in einer ökonomisch sehr keffekte und humankapitalbezogene Charakteris- guten Ausgangslage ist und hier über Jahre an gu- tika statt finanzielle Faktoren sind, die die ten Voraussetzungen gearbeitet worden ist, müs- Wohnortwahl beeinflussen.17 Das heisst beispiels- sen sie ergänzt werden um eine weitere, weise, dass die Anwesenheit von Personen mit entscheidende Komponente – die soziale Energie. ähnlichen Eigenschaften oder die Verfügbarkeit In dieser sozialen Energie liegt der Schlüssel für eines guten Bildungssystems entscheidende Ele- attraktive Regionen der Zukunft. mente der Wanderbewegungen sind. Wir folgen also nicht blind dem Geld, sondern den Möglich- keiten, die sich dadurch ergeben. Diese Resultate treffen vor allem auf Regionen zu, 17 Rodríguez-Pose, A. & Ketterer, T. (2011). Do we follow the mo- die bereits einen hohen Wohlstand haben – und ney? The drivers of migration across regions in the EU. REGI- dazu zählt der Kanton Schaffhausen allemal. Die ON, 2(2), pp. 27–45. Wirtschaftskraft des Kantons ist im Vergleich zu 18 vgl. Wirtschaftsförderung des Kantons Schaffhausen, bit. anderen Schweizer Kantonen sehr gut. Der Kan- ly/2JooR1h
22 SCHAFFHAUSEN 2030 Zusammenspiel von sozialer Energie und Wirtschaftlichkeit Interaktion Wertschöpfung Inspration Engagement Face to Face Ideen Etablierung SOZIALE ENERGIE WIRTSCHAFTLICHKEIT Wachstum Mindset Innovation Investition Nähe Anziehungskraft Pionier Beteiligung Quelle: GDI Soziale Energie erzeugt Individuen liegt, sondern in den sozialen Wech- selwirkungen zu suchen ist.»19 Mit der sozialen Lebensqualität und Erfolg Energie bringt man also keine Lampe zum Leuch- Eine hohe Lebensqualität hat viel mit sozialen ten und keinen Motor zum Laufen, zündet aber Kontakten zu tun. Wenn Menschen zusammen- Lebendigkeit, Emotionen und Geschichten. kommen, dann entsteht Energie. Es handelt sich dabei nicht um Energie im physikalischen Sinne, Die soziale Energie ist aber nicht nur die Kirsche es handelt sich vielmehr um soziale Energie. Diese auf der Sahnetorte. Es gibt eine Rückkopplung auf Energie entfaltet sich durch Interaktionen in einer die Wirtschaftlichkeit. Denn die hohe Chance für Gruppe. Zum Beispiel, wenn Freunde eine lebhaf- Face-to-face-Kontakte gilt als Schlüsselfaktor für te Diskussion führen, an einer Hochzeit feiern den Erfolg einer Stadt.20 Eine hohe oder an einer Beerdigung trauern. Es gibt auch Bevölkerungsdichte schafft viele Gelegenheiten Momente bei Demonstrationen oder nach Fuss- für gezielte und zufällige Face-to-face-Kontakte ballspielen, die plötzlich von einem sehr hohen und erzeugt dadurch ein innovatives Klima. Je Energieniveau geprägt scheinen. Diese Energie dichter die Menschen zusammenleben, umso entsteht aus Wechselwirkungen, welche sich ge- grösser ist die Chance, Neuem wie Menschen, Ide- genseitig verstärken und anstacheln. Körperliche en, Projekten und Produkten zu begegnen – ein Nähe ist für viele Erinnerungen eine entscheiden- wichtiger Grund, wieso Grossstädte so viele junge de Komponente. Der Soziologe Hartmut Rosa, der den Begriff der sozialen Energie während der Co- ronakrise geprägt hat, sagt dazu: «Wenn meine 19 Die Zeit (2020): Leiden wir an einem gemeinschaftlichen Beobachtung zutrifft, dass viele jetzt das Gefühl Burn-out? Interview mit Hartmut Rosa. Hamburg. Online: bit. haben, durch die tendenzielle Isolation ihre Ener- ly/3o9r67u gie verloren zu haben, dann bestätigt das nur die 20 Storper, M. & Venables, A. J. (2004): Buzz: face-to-face contact Vermutung, dass die Quelle, welche die Bewe- and the urban economy. Journal of economic geography, 4(4), gungsenergie der Moderne erzeugt, nicht in den 351–370.
GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23 Leute anziehen. Und das hat letztlich gar Auswir- Village» mit sieben Milliarden Menschen hat es kungen auf den Wohlstand. Im Durchschnitt, so vor allem erlaubt, diese Vielfalt auszublenden und Markus Schläpfer vom Future Cities Laboratory sich in einer «Filter Bubble» mit Gleichgesinnten der ETH Zürich, steigt nämlich die Produktivität einzurichten – so sind global sieben Milliarden einer Stadt mit ihrer Grösse. Die Logik dahinter individuelle Dörfer entstanden. ist folgende: Je grösser eine Stadt, desto mehr In- teraktionen gibt es. Das führt zu Innovation. Diversität und offener Austausch müssen deshalb Denn Neues nährt sich hauptsächlich von unter- organisiert werden. Nicht erzwungen – offener schiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Austausch lässt sich nicht erzwingen. Er braucht Ideen, Fähigkeiten und Inspirationen.21 attraktive Angebote; Angebote der Kommune, des Kantons, der Zivilgesellschaft. Eine Aufgabe Diversität steigert die der Regionalentwicklung kann darin bestehen, die bereits vorhandene Diversität zu erfassen. Auf Produktivität dieser Basis lassen sich zum einen Fehlstellen Eine der wichtigsten Aufgaben der kantonalen In- identifizieren, die in der Standortkommunikation stitutionen bei der Erzeugung von sozialer Ener- direkt adressiert werden können, und zum ande- gie ist demnach die Produktion von Diversität. ren lassen sich darauf Angebote ausrichten, die Denn Diversität, also die soziale und generatio- den Bedürfnissen der derzeitigen Einwohnerin- nelle Durchmischung von Interaktionen, verbes- nen und Einwohner entsprechen. sert die Qualität des Austauschs und dessen Ergebnisse. Bekannt ist das bereits aus der Unter- Schaffhausen kann nicht (und will nicht) Zürich nehmensforschung: Unternehmen, die sich durch werden. Aber auch Schaffhausen kann die Inter- einen hohen Grad an Diversität auszeichnen, ha- aktionen innerhalb der Region und damit die Pro- ben eine grössere Wahrscheinlichkeit, überdurch- duktivität erhöhen: schnittlich profitabel zu sein.22 > Durch die Erhöhung der Anzahl der Einwoh- nerinnen und Einwohnern oder auch der indi- Diese Diversität stellt sich nicht von alleine ein – rekt Verbundenen – beispielsweise durch die weder in Schaffhausen noch in Thayngen noch in Einbeziehung der Abgewanderten (siehe den Zürich. Denn Menschen interagieren am liebsten nächsten Abschnitt). mit anderen, die ihnen selbst ähnlich sind. Es ist deshalb nicht überraschend, dass selbst in grossen Städten Dörfer konstruiert werden. Weil in Met- ropolregionen viele Freunde einer Person wieder- um miteinander befreundet sind, lässt dies vermuten, dass Menschen, egal wo sie leben, gern Schläpfer, M. et al. (2014): The scaling of human interactions 21 with city size. Journal of the Royal Society Interface, 11(98), in eng gestrickte Gemeinschaften eingebunden 20130789. sind. Die Idee vom Dorf wird somit in der urba- 22 Hunt, V., Yee, L., Pince, S. & Dixon-Fyle, S. (2018): Delivering nen Kulisse weitergelebt.23 Die Digitalisierung hat through Diversity. McKinsey. Online: mck.co/2WyKYFk diese Tendenz nicht geschwächt, sondern ganz im 23 Schläpfer, M. et al. (2014): The scaling of human interactions Gegenteil befeuert. Die unendliche Vielfalt und with city size. Journal of the Royal Society Interface, 11(98), Komplexität möglicher Verbindungen im «Global 20130789.
24 SCHAFFHAUSEN 2030 > Durch einen höheren Austausch unter den Ein- schaftsprüfungsgesellschaften für ihre ehemaligen wohnerinnen und Einwohnern (siehe den über- Beschäftigten. «Establishing a corporate alumni nächsten Abschnitt). network», so der LinkedIn-Gründer Reid Hoff- man, «is the next logical step in maintaining a re- Das Potenzial der lationship of mutual trust, mutual investment, and mutual benefit in an era where lifetime em- Abgewanderten ployment is no longer the norm.»24 Den Alumni Wer im Kanton Schaffhausen aufwächst, wird da- kommt dabei ein Netzwerk zugute, das viel weiter von fürs Leben geprägt: der erste Schritt, der erste reicht als ihr individueller Erfahrungshorizont; Rausch, der erste Sex, alle made in Schaffhausen. entsprechend mehr Karrierechancen können sich Diese Prägung kann verdrängt, aber nicht verges- daraus ergeben. Und auch für die Betreiber kön- sen werden. Auch nicht von denen, die den Kan- nen sich ökonomische Vorteile ergeben: indem ton verlassen. Die wichtigsten Gründe zur Studierende zu Spendenden werden, oder Ange- Abwanderung liegen nicht in einer Ablehnung stellte zu Kunden. der Heimatregion, sondern in besseren Perspekti- ven, die sich anderswo in Beruf, Bildung und Pri- Im kommunalen oder kantonalen Kontext ist es vatleben bieten. Und das oft zu Recht: Ein nicht üblich, sich um Ehemalige in ähnlicher Fussballtalent, das davon träumt, Champions Form zu kümmern. Wenn ehemalige Bewohne- League zu spielen, wird diesen Traum nicht in rinnen und Bewohner des Kantons eine Verbin- Schaffhausen verwirklichen können. Wo auch im- dung aufrechterhalten (was die meisten tun), dann mer ein Filmschauspieler geboren wird, ob in über Familie, Vereine oder Klassentreffen, nicht Schweden wie Greta Garbo, in Deutschland wie über die Verwaltung des Kantons. Doch die po- Marlene Dietrich, in Österreich wie Arnold tenziellen wechselseitigen Vorteile, die den Alum- Schwarzenegger, in Spanien wie Antonio Bande- ni-Programmen zugrunde liegen, können auch ras – zum Weltstar wird man in Hollywood. hier eine Rolle spielen – und zwar eine immer grö- ssere Rolle, je grösser die Lebensabschnittsmobili- Für Unternehmen wie Regionen gilt: Es gibt Ta- tät wird. Abgewanderte Schaffhauserinnen und lente, die man halten sollte, und es gibt Talente, Schaffhauser, die dem Kanton weiter verbunden die man ziehen lassen sollte, weil sie sich andern- bleiben, können Inspirationen, Informationen orts besser entfalten können. Und je besser das oder Investitionen ermöglichen. Umgekehrt kön- Gefühl, das der Ort vergangener Prägung hervor- nen sie von den Erfahrungen und Kontakten an- ruft, desto grösser die Chance, auch zukünftig derer Schaffhausen-Alumni profitieren. voneinander zu profitieren. Im beruflichen Kontext wird dieses Potenzial be- reits vielfach genutzt: durch Alumni-Programme. Insbesondere Institutionen und Unternehmen, die typische Startplätze für Karrieren an anderer Stelle sind, betreiben ein intensives Alumni-Ma- nagement: Universitäten für ihre ehemaligen Stu- 24 Hoffman, R. (2014): Four reasons to invest in a corporate alumni dierenden, Unternehmensberatungen oder Wirt network, LinkedIn Business. Online: bit.ly/38lnfOf
Sie können auch lesen