Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe ??!
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Der ASP-Initiativkreis lädt ein Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe ??! Eine Fortsetzungsveranstaltung Seit 2014 wird in Hamburg die ambulante Eingliederungshilfe für seelisch behin- derte Menschen unter dem Label ASP (Ambulante Sozialpsychiatrie) erbracht, einem trägerbudget-basierten System, das auch niedrigschwellige, präventive Hilfen einschließt. Die ASP ist vonseiten ihrer Erfinder*innen, insbesondere der federführenden Behörde (BASFI), seither auf Tagungen und mittels Veröffentli- chungen ausgiebig gefeiert worden. Kritisches und Unzufriedenheiten mit dem neuen System dagegen waren zwar von Beginn an unter der Hand vernehmbar, wurden allerdings kaum (fach-)öffentlich geäußert. Umso bemerkenswerter war die große Resonanz auf die vom ASP-Initiativkreis im September 2018 veranstal- tete, explizit kritische Tagung „Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe“, zu der nicht weniger als 190 Teilnehmer*innen kamen. Die Resonanz war dabei durchaus nicht nur positiv. Insbesondere innerhalb der BASFI soll bereits die Tat- sache, dass diese kritische Veranstaltung stattfand, als unerhört gegolten haben. Für den 20.1.2020 laden wir Sie nun erneut zu einer Tagung „Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?!“ ein. Montag, 20.Januar 2020 10.00 – 17.00 Uhr Im Hamburg Haus Eimsbüttel Doormannsweg 12 Teilnahmebeitrag: € 30,00 Veranstalter: Initiativkreis „Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?!“ Die Veranstaltung wird unterstützt von SoVD – Sozialverband Deutschland, Landesverband Hamburg e. V. GBPH - Genesungsbegleitung und Peerberatung Hamburg e. V. BdB – Bundesverband der Berufsbetreuer/innen, Landesverband Hamburg e. V. NAPP – Norddeutsche Arbeitsgemeinschaft Psychodynamische Psychiatrie e. V. LapK – Angehörige psychisch erkrankter Menschen, Landesverband Hamburg e. V.
Unser Initiativkreis hat sich in der Folge der Tagung von 2018 erweitert und da- ran gearbeitet, seine Positionen zu systematisieren. Herausgekommen ist ein ausführlicher Forderungskatalog einschließlich „Exkursen“ sowie eine Kurzfas- sung mit den wichtigsten Forderungen. Wir lösen damit das Versprechen ein, entwickelte Forderungen vorzulegen. Wir haben auch allen Grund dazu, weil sich positive Veränderungen nicht abzeichnen und Kritisches und Unzufriedenheit mit dem neuen System anhalten. Wir wollen mit Ihnen unsere Forderungen diskutieren und diese auch in den Hamburger Wahlkampf einbringen. Dazu haben wir vorgesehen: • Im Eingangspodium werden Akteuer*innen aus ihren jeweiligen unter- schiedlichen, im Initiativkreis vertretenen Perspektiven ihre Positionen und Forderungen zur Sprache bringen. • Im Vortrag wird von einer gewissen Außensicht – und zugleich aus der In- siderperspektive eines überregional erfahrenen Beraters und Begleiters der sozialpsychiatrischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – einordnend Bezug genommen auf unsere Forderungen. • In den vier parallel stattfindenden Foren werden Brennpunkte des aktuel- len Veränderungsbedarfs dargestellt und vertieft. • Wir haben die Hamburger Politik aufgefordert, sich mit unseren Positionen auseinanderzusetzen, und erwarten deren Antworten. Für das Polit-Podium haben wir die fachpolitischen Sprecher*innen der Bürgerschaftsfraktionen eingeladen. Man hat die Bürgerschaftswahl im Blick, und so dürfen wir ge- spannt sein auf diese Runde! • Wir möchten Beiträge und Resonanzen aus dem Plenum aufnehmen und in die weitere Diskussion einbringen. Mag also auch unsere kommende Veranstaltung, wer weiß, in manchen Kreisen wieder als „unerhört“ gelten, so sind wir unsererseits doch zu- versichtlich, mit unseren Anliegen nicht gänzlich unerhört zu bleiben! Anmeldungen bitte ausschließlich per e-mail an napp-info@t-online.de Stichwort: ASP-Tagung am 20.01.2020 mit der Angabe des Namens, ggf. der Institution, der Anschrift mit Telefonnummer und der An- gabe Ihrer gewünschten Teilnahme am FORUM Nr. … und ersatzweise am FORUM Nr. … Den Teilnahmebetrag von 30 € überweisen Sie bitte unter Angabe des Verwendungszwecks „ASP-Tagung“ sowie des Namens schnellstmög- lich auf das Konto der NAPP: IBAN: DE51 2001 0020 0560 9242 07, BIC PBNKDEFF
Veranstaltungsprogramm 09.30 Eintreffen Wir wollen eine Gleichbehandlung von Menschen in schwierigen 10.00 Begrüßung und Grußworte Lebenslagen und fordern von der Sozialbehörde die Abkehr von einer Jan-Christian Wendt-Ahlenstorf Sortierung unterstützungsbe- (Sprecher der Initiative) dürftiger Menschen nach Krank- Klaus Wicher (SoVD) heitsbildern. Dr. Claas-Gerhard Happach Tim Fiks, ASP-Mitarbeiter (NAPP) Ingo Vogel, Betreuer 10.30 PODIUM FORUM 3 Forderungen zur Änderung Zwischen Funktionalität und der Hamburger Professionalität. Zum Stellen- Eingliederungshilfe! wert von Beziehungsarbeit Karin Momsen-Wolf (lapk) Was macht gute sozialpsychiatrische Bettina Lauterbach Arbeit aus? Beim Lesen von Ge- (Krankenhaus Sozialdienst) samtplänen drängt sich der Eindruck N. N. (ASP Mitarbeiter) auf, es gehe dem Sozialhilfeträger um das zügige Abarbeiten möglichst Rainer Ott (GBPH) verrichtungsorientierter, d. h. im Klaus Förter-Vondey (Betreuer) „Außen“ liegender, „SMARTer“ Ziele. Moderation: Anne Heitmann Aber wenn man psychische Stö- (ah kommunikation) rungen als Beziehungsstörungen versteht, muss man dann nicht der 11.30 VORTRAG professionellen Beziehungsgestal- Gemeindenahe Beziehungs- deutlich mehr Gewicht und Bedeu- Arbeit mit „schwierigen“ tung beimessen? Rudolf Heltzel (Psychiater) Menschen. Die Sicht des Jan-Christian Wendt-Ahlenstorf Sektorpsychiaters und des (ASP-Mitarbeiter) Supervisors. Dr. Rudolf Heltzel FORUM 4 Arzt für Psychiatrie/Neurologie, Von der Fürsorge zur Selbst- Psychoanalytiker, Gruppen- bestimmung – in Autonomie Analytiker, Supervisor, allein gelassen? Organisationsberater Mehr Mitwirkungspflichten sind die Voraussetzung für den Erhalt von 12.00 Mittagessen Sozialleistungen. Mehr Unter- Vegetarischer Mittagsimbiss stützung bei der Mitwirkung und ein Zusammenwirken von Anbietern erfordern mehr finanzielle Mittel. 13.00 FOREN Tobias Ramert (ASP-Mitarbeiter) Klaus Förter-Vondey (Betreuer) FORUM 1 „Schwierige“ Klient*innen: 14.45 Kaffeepause Wie systembedingte Schwie- rigkeiten überwunden wer- 15.15 PODIUM den können. Perspektiven der Hamburger Weil die Eingliederungshilfe falsche Eingliederungshilfe Anreize setzt, fallen Menschen mit schwierigen Lebenslagen aus dem Podiumsdiskussion mit ambulanten Unterstützungssystem Vertreter*innen politischer heraus. Wir fordern Veränderungen Parteien des Systems! Jörg Zart (ASP-Mitarbeiter) Moderation: Anne Heitmann Angela Roder (Betreuerin) (ah kommunikation) FORUM 2 16.30 GEMEINSAMES ABSCHLUSS- „Ausgeschlossen: Sucht!“ PLENUM Auch abhängige Menschen haben einen Anspruch auf 17.00 Ende der Veranstaltung ambulante Hilfen.
1 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! Forderungsprogramm ASP Stand: 20.09.2019 Gliederung: 1. Unsere Sorge 1.1 Einführung der ASP 1.2 Praxis der Hamburger Eingliederungshilfe 1.3 Folgen der Veränderungen 2. Unsere Kritik und Forderungen im Besonderen 2.1 Bedarfsermittlungen 2.2 Bedarfsdeckung 2.3 Finanzierung 3. Unsere Perspektive
2 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP Erstunterzeichner*innen des Forderungsprogramms Marietta Beez, EX-IN, Systemische Beraterin SG Rabea Berka, Dipl.-Sozialpädagogin/Dipl.-Sozialarbeiterin Maja Boiger, Dipl.-Sozialpädagogin Irene Bude, Dipl.-Sozialpädagogin Jurand Daszkowski, Vorstandsmitglied des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Hamburg (LPE) e.V. Anja Feyerabend, Ergo- und Kunsttherapeutin Tim Fiks, Heilerzieher Klaus Förter-Vondey, Berufsbetreuer Rita Fromming, Genesungsbegleiterin Dr. Claas Happach, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bethesda Krankenhaus Bergedorf, Hamburg Christa Heidsieck-Hess , Angehörige Hubert Kroma, Dipl.-Sozialpädagoge Bettina Lauterbach, Vorstandsmitglied DVSG e. V. Karim Malhas, Psychologe / Qualitätsmanagementbeauftragter Dr. Hans Jochim Meyer, Vorsitzender des LV Hamburg der Angehörigen psychisch erkrankter Men- schen Reiner Ott, Genesungsbegleiter Tobias Ramert, Dipl.-Sozialpädagoge Jessica Reichstein, Ergotherapeutin und Dipl.-Sozialpädagogin M.A. Angela Roder, Berufsbetreuerin Helmut Schmidt, Dipl.-Sozialarbeiter Susanne Starck, Diplom-Psychologin Ingo Vogel, Berufsbetreuer, Rechtsanwalt Jan Christian Wendt-Ahlenstorf, Dipl.-Psych., Psychol. Psychotherapeut Frank Werner, psychiatrischer Fachkrankenpfleger Timo Werre Jörg Zart, Dipl.-Pädagoge
3 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP 1. Unsere Sorge 1.1 Einführung der ASP Wir sorgen uns um Menschen, die auf immer höhere Barrieren beim Zugang zu Leis- tungen stoßen, die sie unterstützen sollen, um am Leben in der Gesellschaft teilha- ben zu können. Das lehrt uns die Erfahrung aus der Praxis der vor fünf Jahren in Hamburg eingeführten „Ambulanten Sozialpsychiatrie“ (ASP). Dabei handelt es sich bei der ASP „um eine Leistung zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemein- schaft“. Sie soll seelisch wesentlich behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten Menschen helfen, die sozialen Folgen ihrer Behinderung oder drohenden Behinderung zu überwinden bzw. zu mildern.1 Aber mit der Einführung der ASP sollten neben der Förderung der Teilhabe auch weitere Ziele verfolgt werden: • Mit den „im System vorhandenen Geldmitteln (sind) mehr Menschen bedarfsge- recht zu betreuen“2. • Die Teilhabe von Menschen am Leben in der Gesellschaft soll vornehmlich durch Begegnungsstätten erfolgen. Andere Dimensionen von Sozialräumen werden in diesem Kontext nicht näher betrachtet. • Die UN – Behindertenrechtskonvention soll umgesetzt werden, in dem Menschen mit Behinderungen in Gruppen interagieren, damit sie „Experten in eigener Sache werden können“. Individuelle Aspekte von Teilhabemöglichkeiten werden gegen- über den kollektiven kaum gewürdigt. Die Ziele sollen mit folgenden Maßnahmen erreicht werden: • „Hilfen aus einer Hand“ in Form von Begegnungsstätten, • ein Wechsel von der einzelfallbezogenen Finanzierung zur Budgetvereinbarung mit Trägern (Trägerbudgets), • die Neuausrichtung des Gesamtplanverfahrens zur Ermittlung und Feststellung des individuellen Hilfebedarfs, inklusive der Festlegung von Zielen des Menschen zwecks Steuerung des Unterstützungsprozesses, 1 www.hamburg.de/ambulante-leistungen-erwachsene/4580268/ambulante-sozialpsychiatrie/ 2 Axel Georg-Wiese, BASFI – SI 411, Vortrag zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, 2014
4 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP • Veränderung des Leistungsbescheides, in dem nur noch ein Hinweis auf die Ge- währung bedarfsgerechter Hilfe enthalten ist und • die regelhafte Prüfung und der fast immer vorgenommene Verweis im Gesamt- plangespräch auf „andere Hilfen“ wie z.B. die rechtliche Betreuung oder Behand- lungsleistungen wie Psychotherapie. Begründet wird die Umstellung • mit der „Grenze der Finanzierbarkeit“, • mit einer „evolutionsbiologisch“ hergeleiteten Notwendigkeit der Organisierung von Menschen in Gruppen zum Erlangen von „Überlebensfähigkeit“ (hier: Begeg- nungsstätten) und • mit einer haushaltspolitischen Interpretation der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). 1.2 Praxis der Hamburger Eingliederungshilfe Wir machen uns Sorgen, da die Umsetzung der Hamburger Eingliederungshilfe (EGH) keine Ausgliederung mehr verhindert: • Den Grenzen der Finanzierbarkeit liegt eine politische Bewertung und Entschei- dung zugrunde. Offensichtlich steht die Unterstützung von Menschen mit Behin- derungen in der Wertigkeit deutlich hinter anderen zurück. Die Begründungen und die Maßnahmen zur Umsetzung der ASP sind nur als Ablenkungsmanöver ei- ner an Kosten orientierten Politik zu verstehen. Das geht aus der Begründung für die ASP und aus den Maßnahmen zur Umsetzung hervor. • Es geht auch daraus hervor, dass zunächst die ASP durchgesetzt wird und erst Jahre später beispielsweise ein Psychiatriebericht vorgelegt wird, der erst die Grundlage liefert, um eine Diskussion um Bedarfe von Menschen zu führen. Die Folgen dieses Vorgehens haben das Potenzial, die Barrieren für eine Eingliede- rung zu erhöhen und Ausgliederung zu akzeptieren und gleichzeitig eine gewach- sene soziale Versorgungslandschaft zu beschädigen oder zu zerstören. • Die ASP als Teil der Eingliederungshilfe hat die Teilhabe von Menschen am Leben in der Gesellschaft zum Ziel. Das Ziel „Teilhabe“ wird in der Begründung der ASP aber umgedeutet. Aus „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“3 wird „Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“4. Daraus folgt 3 §1 SGB IX (seit 2018)
5 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP die Behauptung, „Teilhabe in der eigenen Wohnung ist nicht möglich“5. Das lie- ferte die Grundlage für eine Neudefinition eines Sozialraums und kostensparen- der sozialräumlicher Hilfen - unabhängig vom Wunsch der Klient*innen und ei- nem fachlichen Diskurs. • In einer Gesamtplankonferenz werden mit behördlicher Einflussnahme Ziele der Menschen festgelegt, die sie zu erreichen haben. Aus einer Gesamtplankonferenz wurde ein Gesamtplangespräch vornehmlich zwischen den Klient*innen und den Behördenvertreter*innen. Die Festlegung der Ziele erfolgt mit Hilfe des SMART - Verfahrens6. Die Ziele sind bei Strafe der Versagung der Weiterbewilligung mit Unterstützung des Anbieters zu erreichen. Die Erfahrung mit dem Vorgehen be- stätigen einen oftmals erheblichen und zum Teil krankmachenden Druck auf Kli- ent*innen, eine Bevormundung und die Gefahr einer Entfachlichung der Leis- tungserbringung. • In der Gesamtplankonferenz werden Klient*innen aufgefordert, so genannte „vorrangige Leistungen“ in Anspruch zu nehmen. Dazu zählen Therapien oder rechtliche Betreuungen. Damit wird die Aufgabenstellung der Eingliederungshilfe auf den Kopf gestellt und ein neues Nachrangigkeitsprinzip eingeführt. Eingliede- rungshilfe hat in Unterstützung von Klient*innen Zugänge u.a. zu Therapien zu schaffen – Therapien nicht den Zugang zur EGH. • Klient*innen erhalten Bescheide über die Bewilliung der ASP-Leistung, die ledig- lich den Hinweis der Behörde darstellt, „dass mit dem Bewilligungsbescheid die bedarfsgerechte Hilfe gewährt wird.“7 Klient*innen werden damit Rechtsmittel entzogen und der Anspruchscharakter der ambulanten Eingliederungshilfe wird unterlaufen. • Mit den Bescheiden über bedarfsdeckende Hilfen, dem Trägerbudget und dem Gesamtplanverfahren werden Klient*innen und Anbietern die Verantwortung für die eigene Versorgung und Unterstützung übertragen. Die Leistungsanbieter werden einerseits durch zu enge Zielvorgaben (meistens Maßnahmen) in ihrem fachlich begründeten Vorgehen und an einer gemeinsamen Planung mit den Kli- ent*innen eingeschränkt. In dem unter diesen Bedingungen notwendigen Aus- handlungsprozess mit den Klient*innen erhalten sie eine zusätzliche Verantwor- tung für die Bedarfsdeckung. ASP fördert damit sowohl Überforderung als auch Entfachlichung und begünstigt damit auch mehr rechtliche Betreuungen. 4 www.hamburg.de/ambulante-leistungen-erwachsene/4580268/ambulante-sozialpsychiatrie/ 5 Axel Georg-Wiese, Weiterentwicklung der ambulanten Sozialpsychiatrie, in: http://edoc.sub.uni- hamburg.de/haw/volltexte/2015/2989/pdf/Schoenefeld_Dominik_BA_2015_06_29.pdf 6 zu SMART siehe weiter unten 7 Georg-Wiese, a.a.O.
6 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP 1.3 Folgen der Veränderungen • Menschen, die auf Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe angewiesen sind, können die neuen Barrieren des Hamburger Gesamtplanverfahrens häufig nicht überwinden oder die vorgegebenen Ziele nicht erreichen. Sie erhalten dem- nach keine Leistungen und können nicht mehr oder nicht mehr nach eigenen Vor- stellungen am Leben in der Gesellschaft teilhaben. • Der Sinn der Eingliederungshilfe, nämlich Menschen bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu unterstützen, droht unterzugehen. • Veränderungen in anderen sozialen Bereichen und im Gesundheitswesen führen zu neuen Herausforderungen und Mitwirkungspflichten, die immer mehr Men- schen überfordern und Teilhabe erschweren. Grundsicherungsämter und Jobcen- ter sind kaum mehr erreichbar, Anträge geraten zu Examensarbeiten, Bescheide dauern Monate und sind häufig fehlerhaft. Die ambulante und stationäre Ge- sundheits- und Pflegeversorgung, auf die Menschen mit Behinderungen beson- ders angewiesen sind, droht zu kollabieren8. Das unterstützende Instrument der rechtlichen Betreuung ist konzeptionell veraltet und materiell und strukturell restlos überfordert. Immer mehr Aufgaben werden auf Angehörige abgeladen, die ebenfalls überfordert sind. Die Liste von Mängeln öffentlicher Dienstleistun- gen ließe sich fortsetzen. Es wird Zeit für einen Perspektivwechsel für Menschen mit Behinderungen. Vor diesem Hintergrund sorgen wir9 uns um Menschen, die ein Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft haben und dieses selbstbestimmt in ihrem gewünsch- ten Lebensumfeld (Sozialraum) gestalten wollen und dafür eine Unterstützung in Form von ambulanter ASP benötigen. Unsere Sorge äußern wir aus folgenden Grün- den jetzt: Die Gründe für die desaströse Entwicklung sind offensichtlich: Privatisierung von Dienstleistungen ohne entsprechende Unterstützung und Regelung, gleichzeitige Re- gelungswut von Behörden auf formaler und Kostenebene (Schuldenbremse) und eine auch vom Staat geförderte Kultur, die sich durch ein Gegeneinander auszeichnet und deswegen selbst Ansprüche nur noch mit viel Energie durchsetzbar werden. Ein Perspektivwechsel würde erfolgen, wenn die Forderungen zu den folgenden Aspekten politische und praktische Berücksichtigung finden. 8 Siehe Auseinandersetzung um Personalnot in den Behörden 9 Der Initiativkreis ASP und Unterstützer der Forderungen
7 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP 2. Unsere Kritik und Forderungen im Besonderen 2.1 Bedarfsermittlung Wir stellen fest, dass der Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe, aber auch zu anderen sozialen und gesundheitlichen Leistungen immer mühsamer wird. Men- schen, die in besonderem Maße auf Hilfen angewiesen sind, haben immer größere Schwierigkeiten, sie auch zu erhalten. Die Eingliederungshilfe soll hier wirksam wer- den, kann es aber nicht im notwendigen Umfang. a) Zugänge zu Leistungen Es beginnt damit, dass zu wenig Aufklärung über Möglichkeiten und Zugänge zur Ein- gliederungshilfe für Mneschen mit seelischen Behinderungen geleistet wird. Verant- wortung und Aufgabe des Leistungsträgers ist es, Zugangserleichterungen in Form von geeigneten barrierefreien Websites, Adressen, usw. zu schaffen und für ein breites Bekanntwerden der Möglichkeiten der Eingliederungshilfen zu sorgen! b) Begutachtung zur Zugehörigkeit zum Personenkreis Der ärztliche Fachdienst zur Begutachtung der Frage der Zugehörigkeit zum Perso- nenkreis nach § 53 SGB XII ist in das Fachamt Eingliederungshilfe integriert. Seine fachliche Unabhängigkeit ist daher sehr fraglich. Die Begutachtung zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis muss von unab- hängiger Stelle erfolgen! Anträge scheitern mitunter daran, dass Antragsteller*innen den Weg zur Begutach- tung im Fachamt nicht bewältigen können.10 Dies widerspricht offensichtlich allen Grundsätzen sozialer Teilhabe. Begutachtungen müssen auch in Form von Hausbesuchen möglich sein! Das Ergebnis der ärztlichen Beurteilung wird den Antragsteller*innen nicht regelhaft bekannt gegeben, obwohl es für das weitere Gesamtplanverfahren maßgeblich ist. Beispielsweise trifft der begutachtende Arzt die Entscheidung, ob eine (seelische) Be- hinderung gem. § 53 Abs. 1 im Sinne von Satz 1 („wesentlich“) oder Satz 2 („nicht we- sentlich“) vorliegt. Im letzteren Fall ist die Eingliederungshilfe eine Kann-Leistung, und die Fallmanager*innen sind angewiesen, eine Eingliederungshilfemaßnahme, so sie denn auf Kann-Basis gewährt wird, möglichst schnell zu beenden. Die Bezugnah- 10 Im Sitzungsprotokoll der PSAG Wandsbek vom 18.11.2018 wird der anwesende Arzt vom fachärztlichen Dienst des Fachamts Eingliederungshilfe so zitiert: „Wird ein Klient zu einer Begutachtung eingeladen und er- scheint zu dieser nicht, wird das Verfahren über kurz oder lang eingestellt.“ An Deutlichkeit immerhin lässt diese Auskunft nichts zu wünschen übrig.
8 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP me auf die richtungsweisende Beurteilung durch den ärztlichen Fachdienst taucht je- doch im Gesamtplan nicht bzw. manchmal nur indirekt auf. Ebenso geht das seit eini- gen Jahren massiv gehäufte Vorschreiben eines Ziels: ambulante Psychotherapie in den Gesamtplänen in aller Regel auf das zuvor erstellte ärztliche „Gutachten“ zurück. Eine darin ausgesprochene Empfehlung für psychotherapeutische Behandlungen wirkt auf die Fallmanager*innen wie eine Anweisung, diese als Ziele in den Gesamt- plänen festzuhalten. Die ärztlichen „Gutachten“ sind den Antragsteller*innen regelhaft bekannt zu ge- ben! Darüber hinaus ist zu hinterfragen, ob die Frage der Zugehörigkeit zum Kreis der An- spruchsberechtigten auf soziale Teilhabeleistungen passenderweise durch eine*n Mediziner*in begutachtet werden soll! Wesentlich angemessener wäre doch, sozialarbeitswissenschaftlich basierte Gutachten als Grundlage für einen sozialen Teilhabebedarf zu verwenden. c) Gesamtplanverfahren Die gegenwärtige Praxis der Bedarfsermittlung beim Gesamtplangespräch steht der Idee echter Teilhabe diametral entgegen. Anliegen, Sicht- und Erlebensweisen der Antragsteller*innen werden nicht ausreichend gehört bzw. berücksichtigt.11 Ziele werden den Antragstellenden diktiert (notorisch: Psychotherapie). Die ggf. mitgebrachte Vertrauensperson der Antragsteller*in wird allenfalls geduldet, aber i. d. R. nicht in die Erörterung des Bedarfs einbezogen und ist jedenfalls nicht eingeladen, die Anliegen der Antragsteller*in aus fachlicher oder beteiligter Sicht zu beschreiben – und im Falle rechtlicher Betreuung - zu vertreten. Gemeinsame Arbeit von professioneller Hilfe und Klientel an einer zu gestaltenden Lebensführung setzt eine Beziehungsgestaltung und damit inhärent die Entstehung von Vertrauen voraus. Im hamburgischen Gesamtplanverfahren wird diese wichtige Arbeits- bzw. Entwicklungsgrundlage unterlaufen: Weder findet sie Berücksichtigung in den „verrichtungsorientierten“ SMART-Zielen, noch ist eine Beziehungskontinuität zwischen Fachamtmitarbeiter*in (MA) und Klient*in sowie zwischen Fachamts-MA und Leistungserbringer vorgesehen. Vielmehr ist das gesamte Verfahren darauf aus- gelegt, die Bedeutung von Beziehung zu verleugnen resp. zu minimieren. 11 Hier – wie auch bezüglich zahlreicher anderer Stellen dieser Ausführungen – gilt: Unsere Kritiken an Positio- nen und Praxen innerhalb des Fachamts Eingliederungshilfe richten sich gegen die erkennbaren behördlichen Vorgaben und daraus sich ergebenden Tendenzen in der Praxis. Wir wissen von zahlreichen Kolleg_innen im Fachamt, welche der vorgegebenen Ausgliederungslogik nicht ohne Weiteres Folge leisten, und fachliche Hal- tungen vertreten, die unseren Auffassungen von beziehungsorientierter sozialpsychiatrischer Arbeit offenbar nahe stehen.
9 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP Das systemische Desinteresse an Lebens- sowie Sichtweisen, Eigenarten und dem le- bensweltlichen Kontext der antragstellenden Menschen findet einen kristallisierten Niederschlag schon im Gesamtplan-Formular: Anstatt zunächst dem Versuch einer wenigstens einleitenden Skizze seiner / ihrer gegenwärtigen Lebenssituation, Anlie- gen, Werte, Besonderheiten – gerne auch in eigenen Worten – Raum zu geben, ist der Blick aufs Ganze von vornherein dadurch verstellt, dass unmittelbar auf die Teile („Lebensbereiche“) fokussiert wird, zu denen jeweils wiederum operationalisierte Ziele nach SMART-Logik abgefragt werden. Die Logik der gegenwärtigen Praxis der Bedarfsermittlung basiert auf der illusionären – oder präziser - ideologischen Vorstellung, dass innerhalb des Rahmens des Ge- samtplangesprächs zwischen Fachamts-MA und Antragsteller*in deren Bedarf an Hil- fen objektiv erhoben und abgebildet werden kann. Ideologisch ist diese Vorstellung deshalb, weil dabei das offensichtlich bestehende Machtgefälle ebenso verleugnet wird, wie die Tatsache, dass die beteiligten Parteien bei der Formulierung der Ziele auch von ihren jeweiligen Motiven und Interessen geleitet sind. Einzig die Interessen eines ggf. begleitenden Anbieter-MA werden identifiziert und misstrauisch eingehegt (s.o., Punkt b). Die Möglichkeit, auch von dieser Seite fachlich wertvolle Beiträge er- halten zu können, fällt dem Generalverdacht anheim. Wir wollen: Zu deckende „Bedarfe“ sind gesetzlich geregelt. Sie sind von subjektiven Erwartungen und Wünschen überformt und individuell zu ermitteln. Der individuelle Bedarf ist von Kontextfaktoren beeinflusst. Eine Bedarfsermittlung unterliegt deswegen auch einem dialogischen (Aushandlungs-)Vorgang, an dem unterschiedliche Parteien beteiligt sind. Der Ermittlungsprozess wird begrenzt durch gesetzliche Regelungen und es fließen unterschiedliche Sichtweisen ein. Die beteiligten Parteien haben ihrer Funktion ent- sprechend zu wirken. Klient*innen äußern ihre individuellen Bedarfsvorstellungen. Anbieter beschreiben ihr Leistungsvermögen und Behörden achten auf die Einhal- tung des gesetzlichen Rahmens. Eine Ausnutzung einer Machtstellung durch Behör- den entspricht nicht dem Sinn der Eingliederungshilfe. Dieses erfolgt aber seitens der Behörde nach den Erfahrungen aus der Praxis. Es ist ein transparenter, auf Vertrauen basierter Austausch unterschiedlicher Anlie- gen im Ermittlungsverfahren zu sichern. Die Position der Antragsteller*innen, ihr Erleben, ihre Anliegen und eigenen Wertungen müssen innerhalb des Aushand- lungsprozesses systematisch gestärkt werden. Dazu kann dienen:
10 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP • ihre eigenen Formulierungen und Worte im Gesamtplanprotokoll wiederzugeben, • eine einleitende skizzierende globale Beschreibung, vor welchem (Er-)Lebens- hintergrund sie den Antrag auf Eingliederungshilfe gestellt haben, • das Zur-Verfügung-Stellen einer unabhängigen Begleitperson (Begleitdienst!), der als Anwalt der Anliegen der Klient*innen fungiert, • im Hinblick auf die Bedarfsermittlung ist hier vor allem zu fordern, dass die Sicht und das Erleben sowie die Werte der Antragsteller*innen von allen beteiligten Seiten vorbehaltlos in den Vordergrund gestellt werden12. Denn: Entstehung von Vertrauen und Gestaltung von Beziehung sind auch das entscheidende Medium Sozialer Arbeit, wenn sie nachhaltig und gelingend sein soll. Dem ist auf allen Be- teiligten des „Leistungsdreiecks“, das eben auch ein „Beziehungsdreieck“ ist, ent- sprechend Rechnung zu tragen! • In Fachkonferenzen sollten Arbeitsbeziehungen zwischen Professionellen und Be- urteilungsmöglichkeiten der Klient*innen gefördert werden. Zwischen Fachamts-MA und der/dem antragstellenden und später Leistungen be- ziehenden Klient*in muss es zu persönlichen Begegnungen kommen können. Ein einzelnes Treffen beim Gesamtplangespräch, wie in gegenwärtiger Praxis, ist deutlich zu wenig, um tatsächliche Lebensumstände und der Klient*innen und Veränderungen daran beurteilen zu können. Gleiches gilt für den Kontakt zwischen Fallmanager*innen und Mitarbeiter*innen der Anbieter. Vor einigen Jahren noch waren den anbietenden (BeWo-) Standor- ten / Trägern jeweils feste Ansprechpartner*innen aus dem Fachamt Eingliede- rungshilfe zugewiesen, mit denen es einen regelmäßigen persönlichen, intensiven Austausch und Termine vor Ort in den Einrichtungen gab. Dieses Setting ließ Be- ziehung zu, mit allem, was dazu gehört: Sich-Einstellen auf den Anderen, Kennen- lernen seiner / ihrer Macken und Eigenarten, Lernen, was im Kontakt geht und was schwierig ist. Nach ein paar Jahren konnte die Zuständigkeit dann auch wie- der wechseln. Diese Art von Beziehungsaufnahme und -pflege stieß bei entscheidender Stelle innerhalb der Behörde auf Missfallen und -trauen. Es wurde durch eine Reihe von Maßnahmen der Aspekt von Beziehung nach Möglichkeit aus dem Umgang zwi- schen Anbieter und Behörde getilgt. Diesen gilt es aber wieder einzuführen. • Auf der Ebene des Kontakts zwischen bezugsbegleitende*r Mitarbeiter*in und Klient*in gelten ebenfalls die Prinzipien der Transparenz:Welche Angebote hat die/der Klient*in zu erwarten, wo sind institutionell gesetzte Grenzen?) und Be- teiligung gleichermaßen. • Die Praxis der gegenwärtigen Bedarfsermittlung im Gesamtplanverfahren greift in die Gestaltung der Bedarfsdeckung ein. Das ist nicht hinnehmbar. „SMARTe“ Ziele mit einem Detaillierungsgrad bis in die Gestaltung von einzelnen Terminen mit 12 Damit verbieten sich – aus fachlicher, aber u. E. auch aus juristischer Sicht – oktroyierte Ziele wie z. B. eine Psychotherapie zu beginnen. Eingliederungshilfe muss unabhängig von der Annahme von Behandlungsleistun- gen nach SGB V erfolgen können.
11 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP der Bezugsbegleiter*in des Anbieters haben in einem Gesamtplan nichts zu su- chen. • Das Verfahren ist nicht hinnehmbar: Die Bedarfsermittlung hat den Gesamtplan und ein Protokoll des Gesamtplangesprächs zur Folge. Dieses ist von Klient*innen und ggf. der Betreuer*innen zu unterzeichnen. Auf der Basis wird ein Bescheid über bedarfsdeckende Hilfe erstellt. Zum Gesamtplan können nach dem Gespräch keine Veränderungen mehr vorgenommen werden. Anmerkungen werden zwar zur Akte genommen, haben aber keinen verändernden Einfluss mehr.Hier muss eine Frist für Veränderungen, die in den Plan aufgenommen werden, gewährt werden. • Der Bescheid ist grundsätzlich nicht akzeptabel. Die Feststellung der bedarfsge- rechten Leistung ist kein Bescheid, da er nicht bestimmt ist. Im § 33 SGB X Be- stimmtheit und Form des Verwaltungsaktes heißt es: (1) Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Unsere Forderungen Das Begutachtungsverfahren zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis der Anspruchsberechtigten muss umfassend renoviert werden. Ein Mindestmaß an fachlicher Unabhängigkeit der begutachtenden Stelle ist ebenso unerlässlich wie die Gewährleistung von Niedrigschwelligkeit (wenn nötig: Hausbesuche!). Die Er- gebnisse der Begutachtungen sind den Antragsteller*innen regelhaft bekanntzuge- ben. Zudem muss die Expertise der beauftragten Mediziner*innen zu Fragen sozialer Teilhabe grundsätzlich geprüft werden. Beim gesamten Prozess der Bedarfsermittlung muss die grundlegende Bedeutung von Beziehung(en) wieder anerkannt werden und führend sein auf allen Durchfüh- rungsebenen – der Ausgestaltung sowohl der Gesamtplankonferenz, als auch des Gesamtplanformulars und der Art der Überprüfung des Maßnahmeverlaufs. Notwendige Voraussetzungen für das Zustandekommen tragfähiger Beziehungen sind Transparenz sowie Beteiligung („Empowerment“). An beidem mangelt es in der gegenwärtigen, von tiefgreifendem Misstrauen geprägten, Praxis vonseiten der BASFI. Aus Klient*innensicht wären essenzielle Schritte hin zu einem Empower- ment, wenn zum einen die Anbieter die Möglichkeiten, aber auch Grenzen ihrer Angebote besser offenlegten, und zum anderen, wenn der Leistungsträger sich end- lich wieder seiner Verantwortung stellte und echte widerspruchsfähige Bescheide herausgäbe.
12 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP 2.2 Bedarfsdeckung Bedarf13 ist „die Bemessung von Art und Umfang sozialer Dienstleistungen und deren Organisation als Geld- oder Sachleistung“.14 Bedarf ist eine „beschaffungsbezogene Konkretisierung von Bedürfnissen“15 und damit eine Zielgröße Sozialer Arbeit auf dem Weg zur Teilhabe, auch wenn nicht alle persönlichen Bedürfnisse von Menschen befriedigt werden können. Die Festlegung zu deckender Bedarfe ist ein Überein- kommen über staatliche Leistungen und im SGB geregelt. Das staatliche Bedarfsde- ckungsprinzip ist die materielle Anspruchsnorm, um eine Lebensführung in Würde zu ermöglichen (GG, SGB). Bedarf ist also etwas „Objektives“, an dem sich Klient*innen und Leistungserbringer zu orientieren haben. Sie sind (nur) politisch veränderbar. Bedarfsanalyse und Bedarfsplanung beziehen sich auf den notwendigen und mögli- chen allgemeinen Leistungsumfang und sind nicht individueller Natur. Bedarfsde- ckung in der Sozialen Arbeit ist die Unterstützung der Befriedigung als lebensnot- wendig eingeschätzter Bedingungen (HzL, aber auch EGH) unter Beachtung der Mög- lichkeit des persönlichen Bewältigungsverhaltens für eine gewünschte Lebensfüh- rung. Bedarfsdeckung in der Hamburger Eingliederungshilfe wird von der zuständigen Be- hörde in erster Linie als Steuerungsinstrument für Ausgaben verstanden: - Das zur Verfügung stellen staatlicher Leistungen wird geknüpft an eine Einfluss- nahme von Leistungsbringern auf das persönliche Bewältigungsverhalten von Men- schen und mit Zielen zur individuellen Lebensführung versehen. Die gewünschte Le- bensführung findet kaum Berücksichtigung. Festgesetzte Ziele haben Entwicklungen zu mehr Selbständigkeit zu beinhalten. Beim Verfehlen von Zielen droht die Einstel- lung von Leistungen. Es wird Einfluss genommen auf persönliche Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen von Menschen mit Behinderungen, auf die Anbieter von Leistungen, die in ihrer an Wis- sen und Situationen geknüpfte Leistungserbringung eingeschränkt werden, so dass fachliches Potenzial nicht zum Tragen kommen kann. Sozialer Arbeit in der Eingliede- rungshilfe droht eine Entfachlichung und eine Entprofessionalisierung. Untermauert wird der Prozess durch eine Pauschalisierung der Finanzierung von Leis- tungen. Die Unterstützung von Menschen für eine Lebensführung in Würde wird in Frage gestellt. Die Art und Weise der Bedarfsfeststellung und Bedarfsdeckung der Hamburger Ein- gliederungshilfe in Form des Gesamtplanverfahrens (ohne Widerspruchsrecht) und 13 Als ein Bedürfnis wird das „Gefühl eines Mangels und der Wunsch, diesen zu beseitigen“, bezeichnet. 14 Hrsg.: Deutscher Verein, Fachlexikon der sozialen Arbeit, Bedarf, 2011 15 Ebenda
13 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP dem Bescheid über bedarfsdeckende Leistungen ist rechtlich zweifelhaft. Die gesetz- lich geregelten materiellen Anspruchsnormen werden umgangen. Rechtsmittel wer- den anspruchsberechtigten Menschen vorenthalten. Eine Entrechtung von Menschen und eine Entprofessionalisierung und Entfachlichung von Sozialer Arbeit ruft in der Unterstützungslandschaft Widerspruch hervor. Er sollte sich auch niederschlagen in der Verdeutlichung der Unterstützungsleistung von Men- schen, die drohen ihre Rechte zu verlieren, in dem eigene Vorstellungen von „guter Unterstützung“ für Menschen nachvollziehbar dargestellt werden (Qualität). Wir fordern: • Ansprüche auf Leistungen für Menschen gegenüber der Behörde wieder durch- setzbar gestalten. • Transparente Leistungszusagen von Anbietern (Standards), die eine individuelle Bedarfsdeckung ersichtlich ermöglichen. • Eine Orientierung der Leistungsgewährung und Erbringung an dem von den Menschen gewünschten Sozialraum. 2.3 Finanzierung a) Grundsätzliche Kritik am aktuellen Trägerbudget: Ziel ist in erster Linie die Deckelung ambulanter sozialpsychiatrischer Leistungen. Dieses Ziel steht im Widerspruch zum Rechtsanspruch auf Bedarfsdeckung. Die aktuellen Leistungsbescheide sorgen für eine Intransparenz bzgl. der bewillig- ten Leistung den Klient*innen gegenüber. Sie verlieren ihren Rechtsanspruch der Behörde gegenüber. Leistungsanbieter geraten in die Rolle der bewilligenden Be- hörde, was zur Vermischung von Aufgaben und zur schlechteren Unterstützung von Menschen führt. Während die inhaltliche Einflussnahme der Behörde ausge- weitet wird, wird die Verantwortung an die Klient*innen und die Leistungserbrin- ger abgetreten. b) Das aktuelle Trägerbudget setzt falsche finanzielle Anreize: Eine Unterversorgung von Menschen, die aufgesucht werden müssen oder deren Unterstützung aufwendiger ist. Es besteht Gefahr der Deprofessionalisierung durch Bevorzugung günstigeren Personals und die des „Creamings“ durch Bevor- zugung weniger betreuungsintensiver Klient*innen. Hinzu kommt die Gefahr der Benachteiligung kleiner Träger durch größere Schwierigkeiten kalkulatorische
14 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP Schwankungen zu kompensieren zu können. Es folgt eine Verschlechterung des Personalschlüssels c) Betreuungsqualität müsste sich insbesondere in diesen Bereichen lohnen: • gezielte Förderung von Maßnahmen zum Beziehungsaufbau, der Gestaltung von Aushandlungsprozessen und Maßnahmen des Vertrauensaufbaus unter Ein- beziehung des sozialen Umfelds, Vorhalten von Fallbesprechungen und Supervi- sionen • Vorhalten strukturierender und offener Angebote • Klient*innen werden darin gestärkt, für sich passende Mittel zur Erreichung der gesetzten Ziele zu bestimmen • individuelle Passgenauigkeit und Stimmigkeit von Krisenplänen • Standards in den gängigen Verfahren und Handlungsabläufen • Ausbildungsgrad und Weiterbildungsangebote für Beschäftigte • gezielte Förderung aufwändiger, aufsuchender und unterstützender Begleitung, um Menschen in ihren eigenen Verhältnissen bei ihrer eigenen Lebensführung zu unterstützen • Unterstützung bei der Installierung persönlicher Budgets auf der Grundlage kla- rerer Umsetzungsleitlinien Unsere Forderungen: Gefordert wird ein Finanzierungsystem, welches nicht vom Spardiktat dominiert ist, sondern eines, dass die fachlich und ethisch richtigen und notwendigen Anreize setzt: Ermöglichung von Teilhabe auch und gerade für die „schwierigsten“ Men- schen mit besonderem Respekt vor deren Eigensinn, auf fachlich höchstmöglichem Stand. Die damit verbundenen unumgehbaren Diskussionen um die Kosten der Eingliede- rungshilfe sind nicht auf haushaltspolitischer Ebene, nicht mit dem Landesrech- nungshof, sondern auf gesundheits- und gesellschaftspolitischer Ebene auszutra- gen.
15 Eingliederungshilfe als Ausgliederungshilfe?! – Forderungsprogramm ASP 3. Unsere Perspektive Die Einführung der ASP in Hamburg führte als erstes zu viel Verunsicherung, Frage- zeichen und Irritationen. Um die eigenen Fragen, Erfahrungen und Kritikpunkte mit- einander zu diskutieren und zu konkretisieren, bildete sich der „Initiativkreis ASP“. Dieser Kreis von Aktiven veröffentliche Diskussionspapiere, die die Kritik an der poli- tischen Ausrichtung der neuerlichen Umstrukturierung und ihre fachlichen Folgen zu- spitzte und versuchte sie auf den Punkt zu bringen. 2018 organisierte der Kreis eine Konferenz mit über 200 Teilnehmenden aus unter- schiedlichen Bereichen. Hier entstand auch das gemeinsame Anliegen, mit eigenen Vorstellungen und eigenen Aktionen Einfluss auf die Politik zu nehmen. Allein die Ar- beit in Gremien konnte die Entwicklung von der Eingliederung zur Ausgliederung nicht verhindern. Gemeinsames Ziel war es, die „Politik der Ausgliederung“ des Se- nats in eine „Politik der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ verändern zu wollen. Im deutlich erweiterten Kreis wurden die verschiedenen Aspekte der Konferenz wei- terdiskutiert und als Zwischenergebnisse verschriftlicht. Kernpunkte der Diskussionen waren dabei die in diesem Papier unter dem Gliederungspunkt 2 gesammelten The- men, an denen die Politik des Senats aus unserer Sicht deutlich wird: Bedarfsermitt- lung, Bedarfsdeckung und Finanzierung. Auch wenn es inhaltlich hier noch einige Überschneidungen und Doppelungen gibt, die sich auch in diesem Papier wiederfinden, konnten so eine Reihe konkreter Forde- rungen gesammelt und ausformuliert werden. Diese sollen dazu beitragen, die Erfah- rungen aus der Praxis zu Vorschlägen für Veränderungen zusammentragen und zur gemeinsamen Grundlage für weitere Aktionen zu machen. Wir hoffen mit diesem Papier möglichst viele Mitstreitende für den weiteren Prozess gewinnen und für unsere nächste geplante Konferenz interessieren zu können. Ziel des dortigen Austauschs soll es sein, die gesammelten Forderungen zu verdich- ten und weitere zu ergänzen. Zudem möchten wir das Entstehen von Zusammen- schlüssen befördern, die die Politik weiter in Richtung von wirklicher Teilhabe bewe- gen helfen. Initiativkreis ASP, August 2019
Zusammenfassung der Forderungen Die Politik wird aufgefordert, 1. ein Finanzierungssystem zu entwickeln, welches nicht vom Spargedanken dominiert ist, sondern welches die fachlich und ethisch richtigen und notwendigen Anreize setzt: Ermöglichung von Teilhabe auch und gerade für die „schwierigsten“ Menschen, mit besonderem Respekt vor deren Eigensinn, auf fachlich höchst möglichem Stand, 2. intensive, auch aufsuchende Leistungen der Eingliederungshilfe auch für nicht bzw. noch nicht suchtmittelabstinente Menschen mit seelischer Behinderung zu ermögli- chen, 3. die bestehenden willkürlichen Zugangsbarrieren zur ASP für wohnungslose seelisch behinderte Menschen abzuschaffen, 4. anzuerkennen, dass die Inanspruchnahme von Psychotherapie sowie anderen Be- handlungsleistungen für zahlreiche seelisch behinderte Menschen aus unterschiedli- chen Gründen nicht oder noch nicht infrage kommt, und entsprechend sicherzustel- len, dass die Gewährung von Eingliederungshilfe grundsätzlich nicht an die Voraus- setzung gebunden werden darf, Psychotherapie, andere Behandlungsleistungen oder Pflegeleistungen in Anspruch zu nehmen, 5. Zugangserleichterungen in Form von bspw. geeigneten barrierefreien Websites, Be- kanntmachen von Adressen usw. zu schaffen und für ein breites Bekanntwerden der Möglichkeiten der Eingliederungshilfen zu sorgen, 6. die Begutachtung zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 53 SGB XII von unabhängiger Stelle, d.h. außerhalb des Fachamtes Eingliederungshilfe, durch- führen zu lassen, 7. sicherzustellen, dass Begutachtungen zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 53 SGB XII auch in Form von Hausbesuchen möglich sind, 8. sicherzustellen, dass die Gutachten zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 53 SGB XII regelhaft den Antragsteller*innen regelhaft bekannt gegeben wer- den, 9. sicherzustellen, dass Gutachten zur Frage der Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 53 SGB XII sozialarbeitswissenschaftlich basiert sind und die soziale Teilhabe in den Mittelpunkt stellen, 1
10. sicherzustellen, dass das Gesamtplanverfahren ein transparenter, auf Vertrauen ba- sierter Austausch unterschiedlicher Anliegen ist, bei dem die Position der Antragstel- ler*in, ihr Erleben, ihre Anliegen und eigenen Wertungen systematisch gestärkt wer- den, 11. sicherzustellen, dass Vertrauenspersonen der Antragssteller*in im Gesamtplanver- fahren systematisch mit einbezogen und ihre Gesichtspunkte im Gesamtplan berück- sichtigt werden, 12. sicherzustellen, dass Antragssteller*innen regelhaft eine unabhängige Begleitperson (Begleitdienst!) angeboten wird, die als „Anwält*in“ der Anliegen der Antragsstel- ler*in fungiert, 13. sicherzustellen, dass Gesamtpläne beginnen mit der einleitenden Skizze der gegen- wärtigen Lebenssituation, Anliegen, Werten, Besonderheiten der Antragssteller*in in eigenen Worten, 14. ausreichend Ressourcen und Personal zur Verfügung zu stellen, die regelmäßige Fachkonferenzen organisieren, bei denen die gegenseitigen Kontakte aller Beteiligten gepflegt und die Beurteilungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Klient*in gefördert werden, 15. sicherzustellen, dass im Rahmen der Gesamtplangespräche Protokolle angefertigt werden, die von der Antragssteller*in und ggfs. der Betreuer*in zu unterzeichnen sind sowie eine Frist für Veränderungswünsche einzurichten, die in den Plan aufge- nommen werden, 16. sicherzustellen, dass die Leistungsbescheide der Eingliederungshilfe im Bereich ASP wieder im Sinne von § 33 SGB X inhaltlich hinreichend bestimmt formuliert werden, sodass diese inhaltlich widerspruchsfähig, und somit Ansprüche der Leistungsberech- tigten gegenüber der Behörde durchsetzbar sind, 17. darauf hinzuwirken, dass Leistungszusagen vonseiten Leistungsanbietern hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen ihrer Leistungserbringungen transparent sind, 18. sicherzustellen, dass sowohl Leistungsgewährung als auch –erbringung sich an dem von den Menschen gewünschten Sozialraum orientieren. 2
1 Exkurse zum Forderungsprogramm des Initiativkreises zur ASP Exkurse zum Forderungsprogramm des Initiativkreises – Die Ausgliederung von Leistungen / Leistungssegmenten An drei relevanten Beispielen soll im Folgenden die Ausgliederungslogik und -praxis auf dem Feld der so genannten Einzelfallsteuerung aufgezeigt und kritisiert werden. Es handelt sich um 1. Die Ausgliederung von Sucht- bzw. sog. Doppeldiagnose-Klient*innen 2. Die Ausgliederung von wohnungslosen Menschen 3. Die Ausgliederung von Klient*innen aufgrund der behaupteten „Vorrangigkeit“ von SGB-V-Leistungen Zu 1.: Die Ausgliederung von Sucht- bzw. sog. Doppeldiagnose-Klient*innen Der von uns kritisierten „Ausgliederungs“-Logik und -Praxis folgt auch der amtliche Umgang mit Sucht- respektive so genannten „Doppeldiagnose“-Betroffenen. Die von uns beklagte systematische Exklusion von Bedürftigen ist hier, zugestandenermaßen, nicht erst mit der Einführung der ASP aufgetreten, sondern besteht vielmehr seit vielen Jahren in Hamburg. Allerdings ist beim groß angelegten „Umbau der Sozialpsychiatrie“ (unter diesem Titel ist das ASP-Modell 2013 bekanntlich angekündigt worden) eine schon damals längst überfällige Revision überkommener, fachlich veralteter Standpunkte zum Umgang mit Sucht- Betroffenen unterlassen worden. Die starre Aufspaltung der Hilfesysteme gemäß der kate- gorialen Störungsauffassung („Sucht“ vs. „psychisch krank“) wurde somit weiter zementiert, mit schädlichen Folgen für den Genesungsprozess vieler Betroffener. Denn wir haben es bei der angesprochenen Personengruppe beileibe nicht mit einem Ran- daspekt der psychiatrischen Versorgung zu tun, wie eine Zahl hier verdeutlichen mag: Laut verschiedenen Untersuchungen beträgt für Menschen mit einer psychischen Störung (außer Sucht) die Lebenszeitwahrscheinlichkeit, auch eine Suchterkrankung zu entwickeln, über 50 %. Aus der anderen Perspektive betrachtet, nämlich bei der Frage nach der Wahrscheinlich- keit (Prävalenz), zusätzlich zur Suchtstörung unter einer oder mehreren weiteren psychi- schen Störungen zu leiden, kommt man auf noch höhere Bezifferungen. Die Bezifferung der „Doppeldiagnose“-Betroffenen mag an dieser Stelle allerdings lediglich als ein erster, grober Anhalt dafür dienen, dass wir es angesichts der strikten „Versäulung“ und Aufspaltung der Hilfesysteme „Sucht“ sowie „psychische Erkrankung“ mit einer haus- gemachten, chronifizierten Struktur zu tun haben, die sehr vielen Betroffenen nicht gerecht wird. Weiter unten werden wir die Diagnose-Orientierung kritisieren, die in spezifische Sack- gassen führt (s. u., „Vorder- / Hintergrund“-Problematik), und insbesondere bei der Ein- schätzung des konkreten Hilfebedarfs einer konkreten Person wenig hilfreich und manchmal sogar irreführend ist. 1
2 Exkurse zum Forderungsprogramm des Initiativkreises zur ASP Aus der Perspektive betroffener Menschen stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Nach Stellen eines Antrags auf Eingliederungshilfeleistungen wird die Antragsteller*in in der Regel vom ärztlichen Dienst des Fachamts Eingliederungshilfe begutachtet hinsichtlich der Frage ihrer Zugehörigkeit zum Personenkreis der Anspruchsberechtigten für Eingliederungs- hilfe für seelisch behinderte Menschen. Die begutachtende Ärztin entscheidet aufgrund ihrer Gesprächseindrücke sowie auf Grundlage etwaiger vorliegender Unterlagen zum einen, ob grundsätzlich eine Zugehörigkeit gegeben ist und damit eine Anspruchsberechtigung vor- liegt. Des Weiteren wird aber auch geprüft, ob beispielsweise (zusätzlich) eine Suchterkran- kung (i. S. v. schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit) vorliegt. Ist dies der Fall, so befindet die Ärztin gemäß einer berüchtigten Formel darüber, welche Erkrankung „im Vordergrund steht“: „die“ Sucht oder „die“ psychische Erkrankung. Diese kurze Formel enthält nun gleich drei fatale Nachlässigkeiten, um nicht zu sagen fach- lich-methodologische Fehler: a) Es wird suggeriert, dass das Störungsbild „Sucht“ nicht zu den (eigentlichen) psychi- schen Störungen gehört. Dies ist aber fachlicher Unsinn. b) Es werden zwei unterschiedliche Krankheitskategorien hypostasiert und einander ge- genübergestellt: „die“ Sucht versus „die“ psychische Erkrankung. Dadurch droht aber diejenige Frage aus dem Blick zu geraten, die bei der Begutachtung eigentlich leitend sein sollte – nämlich die Frage, in welchen funktionalen (psychodynamischen) Zu- sammenhängen bei einer jeweiligen konkreten Person jeweils süchtige und andere psychische Symptome stehen.1 c) Nachdem die beiden Erkrankungen auf dem hier benannten Weg hinreichend isoliert sind, entscheidet die begutachtende Ärztin am Ende eine Frage, die sie sich selbst ge- stellt hat, nämlich welche der „beiden“ Erkrankungen „im Vordergrund steht“. Auf- grund der selbst gegebenen Antwort darauf wird die Antragstellerin einem der bei- den infrage kommenden Eingliederungshilfesysteme zugeordnet, die in Hamburg auch noch von unterschiedlichen Behörden geführt werden: dem System der seeli- schen Behinderung (BASFI) oder dem der Suchterkrankungen (BGV). Die Frage nach dem Vordergrund bzw. Hintergrund ist aber aus den hier in den obi- gen Punkten a) und b) genannten Gründen falsch gestellt und somit nicht seriös be- antwortbar. Zudem verrät bereits die in den Begutachtungstexten regelmäßig ge- wählte räumliche Metaphorik eines Vorder- vs. Hintergrundes einiges von der Prob- 1 Beispiele für solche o. g. funktionalen Zusammenhänge zwischen den gezeigten Sucht- und anderen psycho- pathologischen Symptomen sind: − Suchtmittelkonsum als „Selbstmedikation“ bei Angststörungen / Depression / Psychosen; − Konsum bestimmter Rauschdrogen zur Regulation des fragilen Selbstwerts; − Konsum von Drogen, um bestimmte unaushaltbare Zustände, die im Zusammenhang mit ichstrukturel- len Defiziten stehen, aushaltbar zu machen; − Suchtmittelkonsum als Parallel- oder Alternativabwehr zu anderen psychopathologischen Symptomen. Einordnungsversuche der gezeigten Symptome vor diesem Hintergrund, wird man in den Beurteilungen des ärztlichen Fachdienstes vergeblich suchen. 2
3 Exkurse zum Forderungsprogramm des Initiativkreises zur ASP lematik der Unentscheidbarkeit in dieser Frage: Vorder- / Hintergrund kann niemals etwas objektiv Bestehendes sein (und kann daher auch nicht „objektiv“ diagnostiziert werden), sondern ist per se relational und perspektivisch, also als betrachterabhängig aufzufassen. Im Vordergrund sieht der Betrachter das, was aus seiner gegenwärtigen Perspektive im Vordergrund steht. Macht er sich einmal die Mühe und wechselt den Standort seiner Betrachtung, so wird sich ihm das Objekt mit anderem Vorder- / Hin- tergrund zeigen.2 Auf der Grundlage der ärztlichen Beurteilung wird die Antragstellerin nun unter Umständen nicht, wie vielleicht beantragt, in das System der Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Menschen geschleust (wegen „Sucht im Vordergrund“). Sondern es wird empfohlen und damit zur Voraussetzung für eine Eingliederungshilfemaßnahme für seelisch behinderte Menschen gemacht, dass sie sich zunächst um die Behandlung ihres „vordergründigen“ Suchtproblems kümmern solle. Dies kann sie auf verschiedenen Wegen angehen. Beispiels- weise: - Stationäre Entgiftung, ggf. mit anschließender stationärer oder teilstationärer Lang- zeit-Entwöhnungsbehandlung; - ggf. daran anschließend ambulante Reha; - Teilnahme an Sucht-Selbsthilfegruppen; - Maßnahmen der Eingliederungshilfe für Suchterkrankte. In Hamburg ist das System aufgeteilt in Vorsorge- sowie Nachsorgeeinrichtungen. Alle Eingliederungshilfen im Suchtbereich werden stationär oder teilstationär erbracht; - Anbindung an eine niedrigschwellige Suchtberatungsstelle. Die genannten Elemente des Suchthilfesystems haben sich über Jahrzehnte ausdifferenziert und für zahlreiche suchterkrankte Menschen zweifellos bewährt. Sie sollen in ihrem Bestand auch gar nicht kritisiert werden. Uns geht es vielmehr darum, diejnigen Punkte zu benennen, an denen das System nachweisliche Lücken aufweist und wo es zu unflexibel (geworden) ist: a) Die erheblichste Versorgungslücke finden wir im Fehlen eines ambulant- aufsuchenden Angebots für (nicht abstinente) Suchterkrankte. Im Sinne einer Orien- tierung an harm reduction gäbe es viel konkrete, tätige sozialarbeiterische Hilfen zu leisten, um ein (weiteres) Abrutschen von Menschen heraus aus ihren sozialen Bezü- gen, möglichen Wohnungsverlust, weitere gesundheitliche Gefährdungen etc. zu verhindern. „Nebenbei“ würde die intensive Beziehungsarbeit auch ermöglichen, die Veränderungsmotivation zu stärken! b) Allzu starr erweist sich das System damit zugleich im Hinblick auf die vorgegebene Orientierung an der Abstinenz. Die bestehenden Elemente sind klar am allgemeinen 2 Überdies ist zu bemerken, dass das „Objekt“ des Psychiaters wiederum selbst Subjekt ist, das dessen prüfen- de Frage („Was steht im Vordergrund? Was im Hintergrund?“) zu erkennen vermag und, zumindest im Verlauf seiner Patient*innenkarriere, lernen wird, sich je nach Opportunität zu drehen, d. h. die ihm oder ihr am vor- teilhaftesten erscheinende Seite zu zeigen. Auf diese Weise lernt man, in gespaltenen Hilfesystemen zu überle- ben. Mit Genesung hat dies freilich nicht viel zu tun. 3
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