So viel muss sich ändern Das Ende der Ära - Internationale Politik

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Titelthema                 Global gefordert

So viel muss sich ändern Das Ende der Ära
Merkel wird neue Dynamiken auf EU-­
Ebene freisetzen. Die nächste Bundes-
regierung muss radikale Lösungen an-
streben und schnell handeln.
Von Jana Puglierin

                           W
                                     as gut für Europa ist, war und ist   vermittelte, um tragfähige Kompromisse
                                     gut für uns“ – so argumentierte      auszuhandeln. In dieser Erzählung bleibt
                                     Bundeskanzlerin Angela Merkel        Merkel vor allem als ehrliche Maklerin in
                           kurz vor Beginn der deutschen EU-Rats­         Erinnerung, die Deutschland als europäi-
                           präsidentschaft im Juni 2020 in einem          sche Macht im Herzen Europas verankerte
                           Interview mit sechs großen europäischen        und die die Europäer noch schmerzhaft
                           Zeitungen. Umgekehrt traf dieser Satz si-      vermissen werden.
                           cherlich nicht immer auf ungeteilte Zustim-       Die andere Erzählung handelt von einer
                           mung. Deutschlands europäische Partner         deutschen Kanzlerin ohne Visionen für die
                           hatten in den vergangenen 16 Jahren so         Zukunft der EU und ohne den Willen zu
                           manches Mal das Gefühl, dass am deut-          nötigen Reformschritten. Die sich auch
                           schen Wesen die EU genesen solle – und         auf europäischer Ebene oft davor gescheut
                           dass die Europapolitik der Kanzlerin pri-      hat, klare Positionen zu beziehen und es
                           mär dem Wohl Deutschlands und weniger          stattdessen vorzog, Probleme auszusitzen,
                           dem europäischen Gesamtwohl diente.            um dann im letzten Moment auf eine Lö-
                              Rückblickend ragen zwei konträre, sich      sung des kleinsten gemeinsamen Nenners
                           aber nicht unbedingt widersprechende           einzuschwenken. Und die so einen unge-
                           Erzählungen über das europapolitische          sunden Status quo in der EU zementierte,
                           Vermächtnis der Kanzlerin heraus. Die          von dem vor allem Deutschland profitierte.
                           eine handelt von Europas Krisenmanage-
                           rin-in-Chief, der es anderthalb Jahrzehn-      Vielfache Enttäuschungen
                           te lang mit unendlicher Geduld und viel        Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo da-
                           Pragmatismus gelang, die EU zusammen-          zwischen und ganz im Auge des Betrach-
Dr. Jana Puglierin         zuhalten, allen Fliehkräften zum Trotz.        ters, wie es im Englischen sprichwörtlich
leitet das Berliner        Und die in nächtelangen Sitzungen in           heißt. Viele Mittel- und Osteuropäer sahen
Büro des European
Council on Foreign         Brüssel immer wieder zwischen unter-           in Angela Merkel auf europäischer Ebene
Relations (ECFR).          schiedlichen Ansprüchen und Interessen         vor allem ein positives Gegengewicht zum

44 | IP • September/Oktober 2021
So viel muss sich ändern                     Titelthema

französischen Präsidenten Emmanuel            (auch in Deutschland) oder Osten weiter
Macron – weil sie anders als dieser immer     anheizen – und umgekehrt. Merkels Reak-
darauf bedacht war, alle EU-Mitgliedstaa-     tion darauf bestand darin, gerade so viel
ten mit ins Boot zu holen, anstatt nur mit    zu verändern, dass das fragile europäische
einigen wenigen voranzugehen. Als es al-      Gesamtgefüge nicht ins Wanken geriet.
lerdings um die Bewältigung der Migrati-
onskrise 2015 ging, stieß Merkels Vorgehen    Merkels Vision
bei ihnen auf schroffe Ablehnung. Auch        Dabei war sich die Kanzlerin bewusst,
ihr stoisches Festhalten am Pipelinepro-      dass die Unterschiede in der Wettbewerbs-
jekt Nord Stream 2 mit Russland, trotz des    fähigkeit innerhalb der EU und des Euro-
erbitterten Widerstands insbesondere der      raums, die Defizite in der Konstruktion der
Polen und der baltischen Staaten, wurde       Wirtschafts- und Währungsunion und der
als Beleg dafür gewertet, dass Deutsch-       Architektur des Schengen-Raums dauer-
land seine eigenen Interessen, wenn es        haft nicht tragfähig sein können.
darauf ankommt, den europäischen In-             2012 sprach sie sich in einer bemerkens-
teressen überordnet und rücksichtslos         werten Rede für eine politische Union aus,
durchboxt.                                    für „eine Europäische Union mit einer
   Die „Frugals“, die „sparsamen“, vor        Kommission, die mit den Kompetenzen,
allem nordeuropäischen Mitgliedstaaten        die wir als Nationalstaaten abgeben, als
(Schweden, Dänemark, die Niederlande,         europäische Regierung fungiert, mit ei-
Österreich) wiederum fühlten sich unter       nem starken Europäischen Parlament –
Merkels Führung in der EU lange Zeit sehr     das im Zuge der europäischen Integration
gut vertreten. Berlins Kehrtwende bei der     schon immer stärker geworden ist –, mit
gemeinsamen EU-Verschuldung zur Be-           einem Rat der Staats- und Regierungs-
wältigung der wirtschaftlichen Folgen der     chefs als zweiter Kammer und mit einem
Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 wur-       Europäischen Gerichtshof als oberster
de jedoch mit starkem Widerwillen und         europäischer Instanz, der wir uns dann
großer Sorge aufgenommen.                     auch fügen müssen“. Fast zehn Jahre
   Dagegen begrüßten insbesondere die         später scheint diese politische Union in
südlichen EU-Staaten aber genau jenen         noch weitere Ferne gerückt als damals
deutschen Sinneswandel, gerade weil er        schon – vielleicht auch, weil Merkel die
in krassem Gegensatz zu Merkels Umgang        dafür notwendigen politischen Reformen
mit der Eurozonen-Krise ein Jahrzehnt zu-     für politisch nicht durchsetzbar hielt und
vor stand. Damals trugen Demonstranten        sich nie mit Verve für sie eingesetzt hat.
in Athen und Thessaloniki Bilder von An-         Als sie 2005 ihr Amt antrat, wusste sie
gela Merkel in Nazi-Uniform und mit Hit-      noch nicht, dass sie zahllose Mitstreiter,
ler-Bärtchen vor sich her, als Reaktion auf   darunter vier französische Präsiden-
das rigide Spardiktat aus Berlin.             ten, drei spanische Ministerpräsiden-
   Auf europäischer Ebene war die Kanz-       ten und ganze acht italienische Regie-
lerin also widerstreitenden Interessen und    rungschefs kommen und gehen sehen
Erwartungen ausgesetzt, und Berlin sah        würde, während sie die EU durch die
sich oft vor einem Dilemma: Politische        globale Finanzkrise, die Krise der Euro-
Maßnahmen, die die EU-Skepsis im Sü-          zone, die Migrationskrise, den Brexit, die
den Europas verringern könnten, würden        Trump-Präsidentschaft und die Pandemie
­unweigerlich die EU-Skepsis im Norden        steuerte – als Leuchtturm der Stabilität in

                                                                                     IP • September/Oktober 2021   | 45
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                           einem immer stärker polarisierten Europa.   fähigkeit (oft im französischen Sinne) und
                           Im Moment ihres Abtretens gibt es abseh-    nicht so sehr um die Geschlossenheit der
                           bar niemanden, der über ein ähnliches po-   EU-27 geht. Hinzu kommt, dass Macron
                           litisches Gewicht in Europa verfügte und    innenpolitisch stark umstritten und sei-
                           ihren Platz einnehmen könnte.               ne Wiederwahl alles andere als sicher
                                                                       ist. Nach der Bundestagswahl bleibt ihm
                           Ein Macron / Draghi-Duo?                    nur wenig Zeit, bevor er selbst mitten im
                           Nicht, dass Emmanuel Macron es nicht        Wahlkampf steht, der einen Großteil sei-
                           versuchen würde. Aber Frankreichs Prä-      ner Energien absorbieren wird.
                           sident wurde in den vergangenen Jahren          Auch der italienische Ministerpräsi-
                           von zu vielen in Europa als Spalter emp-    dent Mario Draghi wird kaum in Merkels
                           funden. Sein Wunsch nach einer Annä-        Fußstapfen treten können. Zwar verfügt er
                           herung an Wladimir Putins Russland und      über viel Erfahrung, kennt sich als ehema-
                           seine Bezeichnung der NATO als „hirntot“    liger Präsident der Europäischen Zentral-
                           haben ihn viele Sympathien in Mittel- und   bank (EZB) mit den EU-Institutionen gut
                           Osteuropa gekostet. Mit seinen Reformvor-   aus und verfügt über ein breites europäi-
                           schlägen wollte er die ungelösten Proble-   sches Netzwerk. Durch seine Rolle an der
                           me der EU angehen. Doch im Gegensatz zu     Spitze der EZB als „Retter des Euro“ ist er
                           Merkel machte er dabei deutlich, dass es    ein glaubwürdiger und vertrauenswürdi-
                           ihm vor allem um europäische Handlungs-     ger Verfechter einer engeren europäischen
                                                                       Integration. Er hat Italien rehabilitiert,
                                                                       nachdem es jahrelang von europaskepti-
                                                                       schen Populisten regiert worden war. Nun
                                                                       will er das Land, das lange als Europas
                                                                       großes Sorgenkind galt, wieder in einen
                                                                       Gestalter innerhalb der EU verwandeln.
                                                                           Man könnte sich leicht vorstellen,
                                                                       dass das Duo Draghi / Macron nach der
                                                                       Bundestagswahl Spielräume nutzt, um
                                                                       einige ehrgeizige Projekte anzuschieben,
                                                                       zum Beispiel indem die beiden die Not-
                        Bild nur in                                    wendigkeit von dauerhaften Stabilisie-
                                                                       rungs- und Transfermaßnahmen für die
                       Printausgabe                                    Währungsunion betonen und sich für eine
                                                                       Ausweitung der Kreditaufnahme durch
                        verfügbar                                      die EU einsetzen.
                                                                           Je mehr sie jedoch in diese Richtung
                                                                       vorpreschen, desto stärker müssen sie
                                                                       mit dem Widerstand der „Frugals“ und
                                                                       ähnlich Gesinnten rechnen. Der nieder-
                                                                       ländische Ministerpräsident Mark Rutte

                                                                       Wer tritt in der EU in Merkels Fußstapfen? Genannt
                                                                       werden oft der Franzose Macron und der Italiener
                                                                       Draghi – beide kämpfen gegen einigen Widerstand.

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So viel muss sich ändern                     Titelthema

hat es in der Vergangenheit verstanden,       Draghi wäre sowohl wegen seiner proeu-
die Staats- und Regierungschefs der nor-      ropäischen Vision als auch wegen seines
dischen und baltischen Staaten sowie          Charismas und seiner Fähigkeiten ein
Irlands für die gemeinsame Sache gegen        ­legitimer Erbe Merkels, aber seine Bürde
eine solche Reform der Eurozone hinter         ist Italien mit all seinen Schwächen.
sich zu bringen. Nichts deutet darauf hin,
dass er die gemeinsame Schuldenauf-           Spanisches Modell
nahme zur Finanzierung des Wiederauf-         Somit bleibt Spaniens Ministerpräsident
baufonds als Einstieg in eine Fiskalunion     Pedro Sánchez als potenzieller Gestalter
sieht.                                        in der EU nach Merkels Abgang. Spani-
                                              en boxt auf der europäischen Ebene seit
                                              vielen Jahren unterhalb seiner Gewichts-
  Man kann sich leicht vor-                   klasse, nicht zuletzt wegen der instabilen
    stellen, dass das Duo                     innenpolitischen Lage. Von 2016 bis 2019
                                              gingen die Spanier viermal zu den Urnen,
  Mario Draghi / Emmanuel                     um eine neue Regierung zu wählen. Seit
                                              seiner Amtsübernahme im Juni 2018 ist
  Macron versuchen könnte,                    Sánchez jedoch bestrebt, Spanien zu ei-
  nach der Bundestagswahl                     nem stärkeren und sichtbareren Akteur
                                              auf EU-Ebene zu machen.
    Spielräume zu nutzen                         Interessanterweise hat er nicht ver-
                                              sucht, aus dem deutsch-französischen
   Wie auch Macron dürfte Draghi ohne-        Duo ein Trio zu machen, sondern hat sich
hin gezwungen sein, sich vor allem auf        offen für flexible und kreative Koalitionen
die Innenpolitik zu konzentrieren. Seine      gezeigt. Kürzlich hat Spanien gemeinsam
Priorität muss die Wiederbelebung der         mit den Niederlanden ein Non-Paper zur
italienischen Wirtschaft sein, die lange      strategischen Autonomie verfasst – einem
kaum wuchs. Schon vor der Covid-19-­Krise     Land, mit dem es in Sachen europäischer
war Italien hoch verschuldet, es kämpft       Wirtschafts- und Finanzpolitik nur we-
mit großen Problemen bei der Infrastruk-      nig gemein hat. Sánchez versucht aktiv,
tur, Energie und Technologie. Allein die      Brücken zu jenen Ländern zu bauen,
191,5 Milliarden Euro gezielt und effektiv    die weder geografisch noch ideologisch
einzusetzen, die Italien aus dem EU-Kon-      nahe beieinander liegen, und zwar auf der
junkturprogramm erhält, ist eine große        Grundlage sehr spezifischer Interessen.
Herausforderung.                                 Durch die Schaffung und Stärkung
   Die innenpolitische Lage ist nach wie      flexibler Koalitionen zwischen den Mit-
vor prekär, Draghis Regierungskoalition       gliedstaaten zur Bewältigung politischer
instabil und stets am Rande des Zusam-        Herausforderungen steht die spanische
menbruchs. Sein Tagesgeschäft besteht         Europapolitik für einen modernen Ansatz
darin, die vielen verschiedenen Akteure       der EU-Zusammenarbeit jenseits klassi-
in seiner Regierung bei Laune zu halten       scher Lager und Bündnisse. Dies könnte
und Streitigkeiten zu schlichten – wäh-       ein Vorbild für die Zukunft der EU-Integra-
rend die rechtsextreme Partei Brüder Itali-   tion in einem weniger deutsch-zentrierten,
ens inzwischen die zweitgrößte politische     stärker gespaltenen und transaktionalen
Kraft nach der Lega von Matteo Salvini ist.   Europa sein.

                                                                                     IP • September/Oktober 2021   | 47
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                           Neue deutsche Europapolitik                    tale Revolution und ihre Entwicklungen
                           Und welche Rolle könnte der nächste Bun-       zu spät und zu halbherzig aufgegriffen.
                           deskanzler oder die nächste Bundeskanz-           Anders als in Frankreich oder Italien
                           lerin spielen? Ob Armin Laschet, Anna­         gab es außerdem während der Merkel-Jah-
                           lena Baerbock oder Olaf Scholz am Ende         re keine grundlegende Erosion des poli-
                           das Rennen machen – alle sind überzeug-        tischen Parteiensystems. Zwar zeichnet
                           te Europäer, deren Ziel es sein wird, den      sich ein solcher Umbruch auch nach dieser
                           deutschen Einfluss auf europapolitischer       Bundestagswahl nicht ab, aber die nächs-
                           Ebene zu erhalten.                             te Kanzlerin oder der nächste Kanzler wird
                              Allerdings verfügen sie alle nicht über     voraussichtlich in einer auf Bundesebene
                           Merkels politisches Gewicht in Europa,         noch nie dagewesenen Dreierkonstella­tion
                           das sie am Ende einfach schon dadurch          regieren müssen und deshalb weniger in-
                           hatte, dass sie länger als alle anderen am     nenpolitischen Rückhalt haben.
                           Ruder war. Noch entscheidender aber ist,          Und auch die EU hat sich verändert.
                           dass sich die Voraussetzungen für die          Merkel hat dem Autoritarismus Viktor Or-
                           deutsche Europapolitik sehr verändert          báns lange zugeschaut, und auch beim
                           haben und die „Methode Merkel“ an ihre
                           Grenzen stößt.
                              Merkel hat sich auch deshalb so sehr            In der Merkel-Ära war
                           für den Erhalt des Status quo in der EU
                           eingesetzt, weil Deutschland wie kein an-
                                                                           Deutschland der klare Ge-
                           deres europäisches Land davon profitierte.         winner des Status quo
                           Anders als viele seiner Nachbarn ging es
                           als klarer Gewinner aus dem vergangenen          in der EU; es mangelte an
                           Krisenjahrzehnt hervor. Das Land blieb
                           von den politischen und wirtschaftlichen
                                                                             Motivation, auf radikale
                           Problemen verschont, mit denen andere           Veränderungen zu drängen
                           Teile Europas zu kämpfen hatten: Die
                           deutsche Wirtschaft boomte, die Arbeits-
                           losigkeit war auf einem Rekordtief und der     Konflikt um die Unabhängigkeit der polni-
                           Haushalt ausgeglichen.                         schen Justiz hoffte sie bis zuletzt auf einen
                              Folglich mangelte es den Deutschen an       Kompromiss, der beide Seiten zufrieden-
                           Motivation, auf radikale Veränderungen         stellen könnte. Doch die EU kann nicht
                           zu drängen. Sie gehörten zu den größten        überleben ohne gemeinsame Standards
                           Nutznießern des EU-Binnenmarkts und            für die Unabhängigkeit der Justiz, die
                           der Eurozone, so wie sie bislang aufgestellt   Achtung der in den Artikeln 2 und 19 des
                           waren. Es ist keinesfalls garantiert, dass     EU-Vertrags verankerten Werte und die
                           dieser Wohlfühlmodus noch lange anhält         Anerkennung des Gerichtshofs der Euro-
                           – nicht nur, weil die Nachbarn ihn nicht       päischen Union als letzte Instanz, wenn
                           mehr mittragen wollen, sondern auch, weil      es um die Auslegung dieser Grundsätze
                           die Pandemie und der sich verschärfende        geht.
                           Konflikt zwischen China und den USA die           Die Verhandlungen über das EU-Haus-
                           von Globalisierung und Export abhängige        haltspaket und den Rechtsstaatsmecha-
                           Wirtschaft vor enorme Herausforderungen        nismus haben gezeigt, welch enormes
                           stellen. Zudem hat Deutschland die digi-       Erpressungspotenzial Länder wie Ungarn

48 | IP • September/Oktober 2021
Titelthema

Die Zustimmung für Europa ist kein Selbstläufer, vie-
lerorts bröckelt sie. 55 Prozent der Deutschen halten

                                                                     Bild nur in
das politische System der EU für dysfunktional.

und Polen haben, wenn sie wissen, dass
es für Berlin im Zweifelsfall wichtiger                             Printausgabe
ist, sie an Bord zu halten, als eine poli-
tische Entscheidung auf die Gefahr hin                               verfügbar
durchzusetzen, sie zu verlieren. Die neue
Bundesregierung sollte klarstellen, dass
es in Sachen Rechtsstaatlichkeit keine
Sowohl-als-auch-Politik geben kann und
dass sie hier keine Kompromisse macht.
   Viele der anstehenden Probleme erfor-
dern nicht nur kosmetische Anpassungen
auf EU-Ebene, sondern radikalere Lösun-
gen und schnelles Handeln, zum Beispiel
beim Klimawandel und beim wachsenden
geopolitischen Wettbewerb. Wenn die EU
ohne Vertragsänderungen (für die es der-                 trauen bekunden, stellen dabei die größte
zeit wohl keine Mehrheit gibt) nicht schnell             Gruppe. 33 Prozent der Deutschen meinen,
genug vorankommt, sollte die nächste                     die Krise zeige, dass die EU-Integration zu
Bundesregierung entschiedener mit einer                  weit gegangen sei, verglichen mit 23 Pro-
Gruppe von willigen Partnern in einzelnen               zent im Jahr 2020.
Themenfeldern vorangehen.                                   Merkels Nachfolgerin oder Nachfolger
                                                        wäre gut beraten, weniger oft davon zu
Wachsende EU-Skepsis                                    sprechen, dass Deutschland aufgrund
Anderthalb Jahre nach Ausbruch der Co-                  seiner Geschichte, Größe und Lage eine
ronavirus-Krise zeigt sich, dass auch die               „besondere Verantwortung“ in Europa
Deutschen gegen die wachsende EU-Skep-                  hat. Er oder sie sollte der Bevölkerung viel-
sis nicht immun sind. Die nächste Kanz-                 mehr erklären, wie die Bundesregierung
lerin oder der nächste Kanzler würden                   die EU-Ebene nutzt, um ihren weltweiten
einen Fehler begehen anzunehmen, dass                   Einfluss zu vergrößern und den Wohl-
die fortgesetzte Unterstützung der EU-Inte-             stand, die Prosperität und die Sicherheit
gration in Deutschland ein Selbstläufer ist.            der deutschen Bevölkerung zu verbessern.
   Eine vom European Council on Foreign                     Das berühmte Zitat aus Giuseppe
Relations im April 2021 durchgeführte Um-               ­Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“,
frage zeigt, dass 55 Prozent der Deutschen               dem zufolge sich „alles ändern muss, da-
das politische System der EU mittlerweile                mit alles bleibt, wie es ist“, war eine Art
für dysfunktional halten – ein Anstieg von               inoffizielles Leitmotiv für die deutsche
11 Prozentpunkten seit April 2020. 49 Pro-               Europapolitik während der Merkel-Jahre;
zent der Deutschen geben an, seit Beginn                 und die „notwenigen Änderungen“ blie-
der Coronavirus-Krise weniger oder viel                  ben stets minimal. Für die Zukunft aber
weniger Vertrauen in die EU zu haben.                    gilt: Vieles muss sich ändern, weil es so,
Jene 28 Prozent, die „viel weniger“ Ver-                 wie es ist, nicht bleiben kann.

                                                                                                 IP • September/Oktober 2021   | 49
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