Sogenannt primäre Kopfschmerzen

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Sogenannt primäre Kopfschmerzen
Teil 21

Mathias Sturzeneggera, Andreas R. Gantenbeinb, Peter S. Sandorc
a Neurologische Universitätsklinik, Inselspital, Bern
b Klinik für Neurologie, UniversitätsSpital, Zürich
c Neurologie, ANNR RehaClinic, Kantonsspital, Baden

                                                                                 ergab die Analyse einer HMO in Seattle eine 2- bis
Quintessenz                                                                      4fach höhere Arbeitslosenrate bei Menschen mit Mi-
                                                                                 gräne oder zweifach höhere Schulabwesenheiten ver-
P Individueller Leidensdruck, psychosoziale Belastung und sozioökono-
                                                                                 glichen mit der Durchschnittsbevölkerung [3].
mische Folgen der primären KS sind wegen ihrer hohen Prävalenz enorm.
P Ein therapeutischer Nihilismus ist leider bei Patient und gelegentlich         Klinik
auch beim Arzt immer noch verbreitet, aber fehl am Platz.                        Weniger als ein Viertel hat eine sogenannte Aura, beste-
                                                                                 hend aus fokalen neurologischen Reiz- (Flimmersko-
P Die Triptane haben in der Akuttherapie der Migräne und des Cluster-
                                                                                 tome, Parästhesien) oder Ausfallssymptomen (sensibles
Kopfschmerzes einen beträchtlichen Fortschritt gebracht.
                                                                                 oder sehr selten motorisches Hemisyndrom, Aphasie
P In der Regel verlangt eine effiziente Langzeittherapie auch eine Lang-         usw.) (Tab. 1–3 p) [1]. Anamnestisch wichtiges Krite-
zeitbegleitung des Patienten.                                                    rium zur Unterscheidung von einer transitorischen zere-
                                                                                 bralen Durchblutungsstörung (TIA) ist die Wanderung
P Bei hoher oder zunehmender Kopfschmerz-Häufigkeit (Migräne oder
                                                                                 und Ausbreitung der Symptome: Vergrösserung der Sko-
Spannungskopfschmerz) muss ein Analgetikaabusus erwogen werden.
                                                                                 tome unter gleichzeitiger Wanderung in die Gesichtsfeld-
                                                                                 peripherie und/oder Ausbreitung der Parästhesien über
                                                                                 10 bis 20 Minuten, z.B. von den Fingerspitzen auf die
                     Migräne                                                     Hand und den Unterarm, um dann auf den Mundwinkel
                                                                                 überzuspringen und sich im Gesicht und Oberarm wei-
                     «Jeder Patient hat seine eigene Migräne» – damit soll       ter auszubreiten («cheiro-oral march»).
                     gesagt sein, dass es sich bei diesem Leiden um ein phä-     Wenn aufgrund der Symptomatologie keine klare Unter-
                     nomenologisch recht heterogenes Krankheitsbild han-         scheidung zwischen Migräne-Aura und Durchblutungs-
                     delt. Der episodische Kopfschmerz-(KS-)Verlauf (nicht       störung möglich ist, muss man, aufgrund der möglichen
                     Dauer-KS, sondern KS-Attacken) ist obligat. Diese kön-      Konsequenzen, nach einer Durchblutungsstörung suchen
                     nen sich vom einen zum anderen Mal aber unterschied-        und die Aura als Ausschlussdiagnose betrachten.
                     lich ausprägen und sich auch im Verlaufe des Lebens         Der Kopfschmerz ist das prominenteste Symptom, aber
                     wandeln. Sie variieren ausserdem in Frequenz (meh-          nicht für jeden Patienten das störendste. Seine typischen
                     rere pro Woche bis wenige pro Jahr), Dauer (wenige          Eigenheiten sind: einseitige Lokalisation (~70%), pul-
                     Stunden bis zu 3 Tagen), Schweregrad und Symptoma-          sierende Qualität, mässig bis starke Intensität (7 auf der
                     tologie – nicht nur zwischen verschiedenen Individuen,      VAS [«Visual Analog Scale»] von 0 bis 10) bei >80%,
                     sondern auch bei einzelnen Betroffenen. Dies dürfte         Behinderung alltäglicher Aktivitäten und Verstärkung
                     mit ein Grund sein, dass die immerhin etwa 6–8% der         durch Treppensteigen oder andere alltägliche körper-
                     männlichen und 12–18% der weiblichen Bevölkerung            liche Anstrengungen.
                     betreffende Migräne (1-Jahres-Prävalenz) unterschätzt,      Die dritte Komponente der Anfallssymptomatik besteht
                     oft nicht diagnostiziert (~50%) und häufig ungenügend       in den Begleitsymptomen meist vegetativer Art: Übelkeit,
                     oder falsch behandelt wird [1]. Noch zu oft gibt sich der   Erbrechen, Lärm-, Licht- oder Geruchsüberempfindlich-
                     erstbehandelnde Arzt mit der Diagnose zufrieden, die        keit (je in 60 bis 80%).
                     zwar unabdingbar für eine effiziente Behandlung ist,        Zuweilen lassen sich bestimmte Auslöser der Attacken
                     aber keineswegs genügend. Noch zu weit verbreitet –         (sog. Trigger) eruieren (z.B. bestimmte Wetterlagen wie
                     vor allem bei Patienten, aber selbst bei Ärzten – ist die
                     Meinung, dass sich bei Migräne «nicht viel machen
                     lässt». Die Behandlungsmöglichkeiten sind mittlerweile      Abkürzungen
Mathias              mannigfaltig und ein beträchtlicher Teil des noch beste-    HMO       Health Maintenance Organisation
Sturzenegger                                                                     5-HT1B/1D 5-Hydroxy-Triptamin (Serotonin)
                     henden Leidens gar nicht mehr notwendig. Leidens-           NDPH      New Daily Persistent Headache
                     druck und Beeinträchtigung im Alltag, sowohl bei der        OR        Odds ratio
Die Autoren haben
                     Berufsausübung wie auch in der Lebensqualität («Mi-         TIA       Transitorische Ischämische Attacke
keine finanziellen
oder persönlichen    graine-associated disability»), werden meistens stark       TTH       Te nsion Type Headache (Spannungskopfschmerz)
Verbindungen im      unterschätzt oder oft gar nicht erfasst, was neuere Stu-
Zusammenhang         dien deutlich belegen [3]. Entsprechend sind auch die
mit diesem Beitrag                                                               1 Der 1. Te il von «Sogenannt primäre Kopfschmerzen»
deklariert.
                     durch Migräne verursachten sozioökonomischen Kosten           erschien in Heft 4 am 25.1.2012. Schauen Sie auch unter
                     enorm, insbesondere durch Ausfälle am Arbeitsplatz. So        www.medicalforum.ch/d/set_archiv.html.

                                                                                                  Schweiz Med Forum 2012;12(5):99–103        99
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                                                                                              gränen gibt. Oder anders gesagt, dass die Migräne letztlich
  Tabelle 1. Migräne-Charakteristika.
                                                                                              ein Symptomenkomplex verschiedenster zugrunde liegen-
  Verlauf                                  Beginn im Schulalter                               der Ursachen sein kann.
                                           Episodisch, paroxysmal                             Die Morbidität der Migräne ist durch verschiedene as-
                                           Im Intervall beschwerdefrei
                                                                                              soziierte Krankheiten mitgeprägt, die es bei der Thera-
                                                                                              pieplanung zu berücksichtigen gilt: Depression (OR:
e
Attack              Prodromalstadium       Psychisch: Depression, Hypomanie
                                                                                              3,2–4,2), Neurotizismus (OR: 2,9), Epilepsie (OR: 2,4),
                                           Gastrointestinal: Diarrhoe, Obstipation,           Panik-Krankheiten (OR: 4–12), Schlaganfall bei Frauen
                                           Koliken
                                                                                              unter 45 J. (OR: 4,3), mit Aura (OR: 6,2). Bei Migräne-
                                           Renal: Flüssigkeitsretention                       patientinnen, die rauchen oder orale Antikonzeptiva
                                           Häufiges Gähnen, Essattacken                       verwenden, ist das zerebrovaskuläre Risiko mit einer
                    Kopfschmerz            Anfallsartig, Dauer: Stunden bis Tage              OR von 10,2 bzw. 13,9 deutlich erhöht [1, 3].
                                           Crescendo («build-up»)
                                                                                              Pathophysiologie
                                           Oft seitenbetont, pulsierend
                                                                                              Migräne ist ein primär neuronales Geschehen, basie-
                    Vegetative Zeichen     Nausea, Erbrechen
                                                                                              rend auf einer genetisch determinierten, kortikalen
                                           Blässe, Kältegefühl, Frösteln                      neuronalen Hyperexzitabilität. Diese Voraussetzungen
                                           Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit                 ermöglichen die Entstehung eines Anfalles, auslösbar
                    Aurasymptome           Sehstörungen (in 95%), Parästhesien                durch externe oder interne Trigger, mit einer von okzi-
                                           Typische Ausbreitung, Sprachstörung,               pital über den Kortex sich ausbreitenden Depolarisa-
                                           Paresen (absolute Ausnahme)                        tionswelle, einhergehend mit einer Hyperämie, gefolgt
  «Nachphase»                              Müdigkeit, Erschöpfung, Polyurie                   von einer Hyperpolarisation mit Oligämie. Vaskuläre
                                                                                              Phänomene, wie auch die Aktivierung von Hirnstamm-
  Anamnese          Familie                Migräne
                                                                                              regionen und des peripheren trigeminovaskulären Sys-
                    Persönlich             Als Kleinkind Bauchkoliken
                                                                                              tems als Quellen der Begleitsymptome und des Kopf-
                                           Reisekrankheit                                     schmerzes, die zum Migräne-Syndrom gehören, sind
                                                                                              sekundär [1].

  Tabelle 2. Migräne ohne Aura (Synonym: einfache Migräne, IHS-Klassifikation),               Therapie
  Diagnosekriterien.                                                                          Traditionsgemäss unterscheidet man in der Migränebe-
                                                                                              handlung zwischen der Anfallsprophylaxe (oder Inter-
  A. Mindestens 5 Anfälle, die B bis D erfüllen.
                                                                                              valltherapie), welche die Reduktion der Anfallsfrequenz
  B. Die Kopfwehattacken dauern 4 bis 72 Stunden (unbehandelt oder erfolglos
                                                                                              und -intensität zum Ziel hat, und der Akuttherapie, durch
     behandelt).
                                                                                              welche ein bereits angelaufener Migräneanfall möglichst
  C. Das Kopfweh hat mindestens 2 der folgenden        Einseitige Lokalisation.
                                                                                              rasch und vollständig unterbrochen werden soll.
     Kennzeichen:
                                                       Pulsierende Qualität.                  In aller Regel haben die Patienten, bevor sie sich wegen
                                                       Mässige bis starke Intensität          KS erstmals in ärztliche Behandlung begeben, eine
                                                       (behindert alltägliche Aktivitäten).   schon längere und schliesslich unbefriedigende Erfah-
                                                       Verstärkung durch Treppensteigen       rung mit Selbstbehandlung hinter sich. Ein früher pos-
                                                       oder andere alltägliche körperliche    tuliertes Stufenmodell («step care») zur Migräneanfalls-
                                                       Anstrengungen.
                                                                                              therapie ist heute zu relativieren. Bei besonders schweren
  D. Während der Kopfschmerzen mindestens eines        Nausea und/oder Erbrechen.             Attacken und bei erheblichen Auswirkungen derselben
     der folgenden Symptome:
                                                       Überempfindlichkeit auf Licht          auf Lebensqualität und Alltagsaktivität empfiehlt sich
                                                       und Lärm.                              aufgrund einer abwägenden Einschätzung («stratified
  E. Anamnestisch oder bei der Untersuchung keine Hinweise für symptomatisches                care») schon initial der Einsatz von Triptanen und/oder
     Kopfweh oder, wenn solcher Verdacht vorhanden, muss er durch adäquate                    einer parenteralen Applikationsform.
     Zusatzuntersuchungen ausgeschlossen werden.
                                                                                              Die Richtlinien der Therapiekommission der Schweize-
                                                                                              rischen Kopfwehgesellschaft, die regelmässig aufdatiert
                      Föhn, Nahrungsmittel wie bestimmte Käsesorten oder                      werden, geben eine validierte Übersicht über die Migrä-
                      auch Nüsse oder die Menstruation). Diese werden ohne                    netherapie [4]. In der Anfallsprophylaxe sind leider in
                      Konstanz, intra- und interindividuell variabel, einzeln                 den vergangenen Jahren kaum Fortschritte erzielt
                      oder auch kombiniert wirksam. Angehörige und Patien-                    worden (Tab. 4 p). Ihr ist dennoch grosse Bedeutung
                      ten beobachten nicht selten eine Vor- und Nachphase                     zuzumessen, gerade bei häufigen Migräneattacken mit
                      (Tab. 1). Erstere kann wiederum mit möglichen Trig-                     der Gefahr des Medikamentenabusus und der medika-
                      gern verwechselt werden (z.B. Lust auf Schokolade).                     menteninduzierten Entwicklung chronischer KS (s. un-
                      Ein charakteristischer zeitlicher Ablauf einer Migräne-                 ten). Letzteres wird zunehmend auch mit den neuen
                      attacke (Aura – KS – vegetative Symptome) wird oft be-                  Anfallstherapeutika, den Triptanen, beobachtet. Die Ent-
                      richtet, ist aber nicht obligat.                                        wicklung und klinische Erprobung der Triptane, potenter
                      Die sehr unterschiedlichen Auslöser, Anfallsabläufe und                 selektiver 5-HT1B/1D-Rezeptoragonisten, stellt eine aus-
                      Langzeitverläufe der Migräne wie auch bisherige gene-                   schlaggebende Ergänzung der therapeutischen Möglich-
                      tische und metabolische Studienergebnisse lassen ver-                   keiten in der Akutbehandlung der Migräne dar (Tab. 5 p)
                      muten, dass es nicht eine, sondern viele Arten von Mi-                  [1, 4]. Auch wenn gewisse pharmakodynamische Eigen-

                                                                                                             Schweiz Med Forum 2012;12(5):99–103    100
praxis

                                                                                       nachgewiesene Wirksamkeit Grund genug, die Ergot-
Tabelle 3. Migräne mit Aura (Synonym: klassische Migräne), Diagnosekriterien.          amine in die Medikamentengruppe vierter Wahl zu klassie-
A. Mindestens 2 Anfälle, die B erfüllen.                                               ren. Das Erfordernis dieser Rückstufung wurde in einem
B. Mindestens 3 der folgenden Ein oder mehrere vollständig reversible Aura-            Konsensus dargestellt. Methysergid, das als Prophylak-
   4 Kennzeichen:             Symptome, die fokale Störungen der Hirnrinde             tikum eingesetzt werden kann, wurde neuerdings ganz
                              oder des Hirnstammes anzeigen.                           aus dem schweizerischen Markt gezogen. Die Triptane
                                  Mindestens ein Aura-Symptom entwickelt sich          sind sehr gut verträglich, eine Organotoxizität nicht be-
                                  progredient über wenigstens 4 Minuten, oder          kannt; wichtigste (mehr theoretisch als reelle) Kontra-
                                  2 oder mehr Symptome treten nacheinander auf.        indikation sind zerebro- und kardiovaskuläre Krankhei-
                                  Kein Aura-Symptom dauert länger als 60 Minuten.      ten. Die Unterschiede zwischen den verfügbaren oralen
                                  Kopfschmerz folgt der Aura unmittelbar (freies       Präparaten sind gering und betreffen v.a. die Schnellig-
                                  Intervall weniger als 60 Minuten), kann aber auch    keit des Wirkungseintritts und die Wirkungsdauer. Ent-
                                  vor oder mit der Aura einsetzen.                     scheidend für den optimalen Einsatz der Triptane sind
C. Anamnestisch oder bei der Untersuchung keine Hinweise für symptomatisches           das individuelle Ansprechen und die individuelle Verträg-
   Kopfweh oder, wenn solcher Verdacht vorhanden, muss er durch adäquate               lichkeit. Wichtig zu beachten ist auch, dass kein Triptan
   Zusatzuntersuchungen ausgeschlossen werden.
                                                                                       bei allen Migränepatienten wirkt und im Falle einer un-
                                                                                       genügenden Wirksamkeit oder schlechten Verträglich-
                                                                                       keit sich der Wechsel auf ein anderes Triptan aufdrängt.
Tabelle 4. Migräne-Intervalltherapie (Prophylaxe).
                                                                                       Die oralen Akutmedikamente sind in der Regel genügend
Indikation       Individuell!!, Leidensdruck                                           rasch wirksam; nur selten muss auf parenteral appli-
                 Häufigkeit (>3 Attacken/Monat)                                        zierbare Substanzen gegriffen werden (Tab. 5).
                 Dauer (Attacken >48 Stunden)                                          Es sei betont – und dies muss auch dem Patienten zu
                                                                                       Beginn einer Therapie erklärt werden –, dass die Mi-
                 Art (neurologische Ausfälle)
                                                                                       gräne nicht im eigentlichen Sinn des Wortes heilbar ist.
                 Subjektive Bewertung (unerträglich)
                                                                                       Hingegen lässt sich der durch sie bedingte Leidensdruck
                 Akuttherapie: unwirksam, nicht ertragen, nicht erwünscht              in den meisten Fällen deutlich lindern. Dies verlangt aber
                 Gefahr des Analgetika-Abusus                                          eine langfristige Begleitung des Patienten, Aufklärung über
                 Kontraindikationen für Anfallsmedikamente                             potentielle Auslöser und eigene Möglichkeiten zu deren
Prinzip          Einschleichen – Ausschleichen                                         Beeinflussung (Lebensstil), erreichbare Therapieziele
                                                                                       und verfügbare Therapiemodalitäten, sowie mindestens
                 Genügend lange (6 Monate)
                                                                                       die Führung eines KS-Tagebuches.
                 Genügend hohe Dosis
                 Ansprechen nicht voraussehbar
Ziel             Reduktion von Häufigkeit/Schweregrad der Attacken                     Kombinations-KS
                 Vermeidung Analgetika-induzierter KS
Medikamente      Betablocker                   Propranolol      20–160 mg/d            Das kombinierte Auftreten von mehreren KS-Formen
                                                                                       bei ein und demselben Patienten ist nicht so selten und
                                               Metoprolol       50–200 mg/d
                                                                                       verlangt nach entsprechend differenzierter Therapie.
                 Kalziumantagonisten           Flunarizin       2,5–10 mg abends
                                                                                       Besonders Spannungstyp-KS und Migräne, aber auch
                                               Verapamil        40–360 mg/d            Migräne und Cluster-KS können gemeinsam auftreten.
                 Antidepressiva                Amitryptilin     langsam, bis 75 mg/d   Als besonders schwierig, zugleich für das gezielte the-
                                               Venlafaxin       75–225 mg/d            rapeutische Vorgehen (adäquater Einsatz von Tripta-
                 Antiepileptika                Valproat         300–1500 mg/d
                                                                                       nen) jedoch sehr wichtig, erweist sich die Unterscheidung
                                                                                       von häufigen Migräneanfällen gegenüber einer «trans-
                                               Topiramat        25–200 mg/d
                                                                                       formierten oder auch chronischen Migräne» mit täg-
                 Magnesium                                      25 mmol/d              lichem chronischem Kopfschmerz, vor allem im Kontext
                 Riboflavin                                     1x 400 mg/d            von Medikamentenübergebrauch.
                 Coenzym Q10                                    300 mg/d
                 Menstruationsabhängig         Naproxen/Naratriptan
                 Anstrengungsabhängig          Betablocker
                                                                                       Seltene primäre KS-Formen
                 Häufige Auren                 Lamotrigin       25–300 mg/d
                                                                                       Zusammen mit der episodischen und der chronischen
KS = Kopfschmerz.                                                                      Variante des Cluster-KS werden die paroxysmale Hemi-
                                                                                       kranie (PH) und das SUNCT-Syndrom zu den sog. trige-
                    schaften der Ergotamine (Mutterkornalkaloide) denen                mino-autonomen KS gezählt [2]. Das Akronym SUNCT
                    der Triptane sehr ähnlich sind, so sind die beträchtlichen         steht für «short lasting unilateral neuralgiform head-
                    Nebenwirkungen (bedingt durch eine viel weniger selek-             ache with conjunctival injections and tearing» und be-
                    tive Rezeptoraffinität), die unberechenbare Pharma-                schreibt somit, was für beide Kopfweharten speziell ist:
                    kokinetik (grosse interindividuelle Variabilität, langsame         kurze (SUNCT PH), streng
                    Absorption, schlechte Bioverfügbarkeit und lange Plas-             halbseitige Schmerzattacken, begleitet von autonomen
                    mahalbwertszeit) sowie die letztlich bis heute nie durch           Symptomen. Therapeutisch zeigen sich aber deutliche
                    eine randomisierte, kontrollierte, doppelblinde Studie             Unterschiede. Während bei SUNCT v.a. Antiepileptika

                                                                                                      Schweiz Med Forum 2012;12(5):99–103    101
praxis

Tabelle 5. Migräne-Akuttherapie, Anfallstherapie (symptomatisch, abortiv).

Akutmedikamente nicht für länger als 2 bis 3 Tage/Woche (Gefahr der Chronifizierung) einnehmen
Auswahl des Therapeu-       Häufigkeit und Schweregrad der KS
tikums nach
                            Muster der Begleitsymptome
                            Komorbidität
                            Individuelles Ansprechprofil
                            Bisherige Therapieerfahrungen!
Vorgehen                    Ruhe!, dunkler Raum, Schlaf, Eisbeutel, Kaffee und Zitrone
                            Medikamente                                   Ausreichende Dosis
                                                                          Möglichst frühe Einnahme
                                                                          Geeignete Form (Galenik): evtl. löslich, rektal, nasal
Optionen                    Analgetika                                    Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Metamizol
                            NSAR                                          Ibuprofen, Naproxen, Diclofenac
                            Triptane
Medikamente                 Antiemetika (Gastroparese, Nausea)            Metoclopramid                             10–20 mg p.o., Suppositorien, i.v.
                                                                          Domperidon                                20–60 mg Tabletten, Suppositorien, Granulat
                            Peripher wirkende Analgetika                  Acetylsalicylsäure                        1000 mg p.o.
                                                                          besonders empfohlen: Kombination
                                                                          ASS und Antiemetikum: Migpriv®
                                                                          Paracetamol                               1000 mg Brausetabletten
                                                                          Ibuprofen                                 600–1200 mg Suppositorien

                                                                          Naproxen                                  500 mg Suppositorien

                            Parenterale, peripher wirkende Analgetika     Acetylsalicylsäure                        1000 mg i.v.
                                                                          Metamizol                                 1000 mg i.v.
                                                                          Diclofenac                                75 mg i.v./i.m.
                            Triptane (Serotoninagonisten)                 Sumatriptan                               Tabletten 50/100, Nasalspray 20 mg,
                                                                                                                    25 mg Supp., Pen 6 mg s.c.
                                                                          Zolmitriptan                              2,5 mg, Tabletten, lingual, Nasalspray
                                                                          Naratriptan                               2,5 mg, Tabletten
                                                                          Rizatriptan                               10 mg, Tabletten, lingual
                                                                          Eletriptan                                40 mg, 80 mg, Tabletten
                                                                          Frovatriptan                              2,5 mg, Tabletten
                                                                          Almotriptan                               12,5 mg, Tabletten

                   zur Wahl stehen, muss die PH obligat auf therapeuti-                     Chronische, tägliche KS und Medikamenten-
                   sche Dosen von Indomethacin ansprechen. In der Lite-                     Überkonsum-KS (MÜKS)
                   ratur findet man auch die Bezeichnung SUNA, in dem
                   A für «autonomic signs» steht.                                           Etwa 3–5% der Bevölkerung (25 000–40 000 Personen in
                   Die sog. Hemicrania continua ist charakterisiert durch                   der Schweiz) leiden an täglichen KS [1]. Es lassen sich
                   den anhaltenden streng halbseitigen heftigen Kopf-                       5 Typen unterscheiden: transformierte/chronische Mi-
                   schmerz; autonome Begleitsymptome meist nur bei                          gräne (~80%); chronischer Spannungstyp-KS; posttrau-
                   Schmerzexazerbationen. Auch diese Kopfschmerzart                         matische KS; zervikogener KS; neu aufgetretener täg-
                   ist Indomethacin-sensibel, was bei guter Verträglichkeit                 licher KS («New Daily Persistent Headache» [NDPH]).
                   die Therapie der Wahl darstellt. Husten- oder anstren-                   Mindestens 70% aller dieser KS sind auf Medikamen-
                   gungsinduzierter KS, ebenso wie koitaler KS und der                      tenübergebrauch (Analgetika, Ergotamine, Kombina-
                   (nur) nachts den Patienten aus dem Schlaf weckende                       tionspräparate) zurückzuführen, mit meist täglichem
                   hypnische KS, können primär sein, verlangt wird aber                     Konsum über mehrere Monate [5]. Diese Patienten weisen
                   der Ausschluss einer symptomatischen Form, meist                         oft ein abnormes Persönlichkeitsprofil auf (Depression,
                   auch mittels Bildgebung.                                                 Angststörungen, Panikstörung, soziale Phobie, Suchtper-
                   Für alle gilt: Sowohl für die sichere und korrekte Dia-                  sönlichkeit), was als Risikofaktor gilt. Weitere Risiko-
                   gnosestellung wie auch für die weitere Therapie ist eine                 faktoren für einen Übergang einer episodischen in eine
                   Überweisung an den Kopfwehspezialisten dringend                          chronische Migräne oder eines episodischen in einen
                   empfohlen.                                                               chronischen TTH sind Adipositas und belastende Lebens-

                                                                                                               Schweiz Med Forum 2012;12(5):99–103           102
praxis

ereignisse (Scheidung, Tod in der Familie, Arbeitsplatz-       drom entwickelt. Therapeutisch stehen zuvorderst mul-
wechsel). Je höher die Frequenz von Migräne oder               timodale, multidisziplinäre Therapieansätze. Ein allfäl-
TTH, desto grösser das Risiko eines Übergangs in die           liger Medikamentenübergebrauch muss aktiv gesucht
chronische Form und damit einen täglichen KS.                  und mittels eines adäquaten ambulanten oder stationä-
Im Zusammenhang mit KS bei Medikamentenfehl-                   ren Entzugs behandelt werden. Neuere Studien belegen
und Übergebrauch findet man einen typischen KS-                die Wirksamkeit von Onabotulinomtoxin A, aber auch
Medikamenteneinnahme-Zyklus. Die Patienten rappor-             von Topiramat in der Behandlung der chronischen
tieren einen täglichen, vorhersagbaren und oft                 Migräne.
frühmorgendlich auftretenden KS, mit Präzipitation
durch (geringe) physische/intellektuelle Anstrengung
und einem migräne-/spannungstypartigen Schmerz-                Ausschau
charakter. Begleitsymptome sind oft Asthenie, Nausea,
Ruhelosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrations-, Gedächt-          Mit den sich abzeichnenden zunehmend genaueren
nisstörungen, Schlafstörungen. Es besteht der unwider-         Kenntnissen über die detaillierten pathophysiologi-
stehliche Drang zum Medikamentengebrauch («einzig              schen Abläufe bei den primären KS ist auch eine effizi-
wirksame Massnahme»), oft schon antizipativ.                   entere KS-Prophylaxe zu erwarten. Die Erkenntnisse
Zur Therapiestrategie gehören Information, Erklären            aus Schmerzmodellen werden aber stets der klinischen
(Medikamenten-Effekte), ein Entzug (meist stationär)           Bestätigung durch aufwendige, kontrollierte klinische
der täglich eingenommenen Medikamente, Diät (bei Emp-          Studien an grossen Patientenkollektiven bedürfen.
findlichkeit des Patienten laut Kopfschmerzkalender
Zurückhaltung bei tyraminhaltigen Speisen wie z.B.
                                                               Korrespondenz:
Weichkäse und Rotwein, Coffein …) und der Einsatz
                                                               Prof. Dr. med. Mathias Sturzenegger
einer prophylaktischen Basismedikation (Betablocker,
                                                               Neurologische Universitätsklinik
Amitryptilin, Valproat, Topiramat). Bei Bedarf überbrü-        Inselspital
ckend über wenige Tage Steroide. Damit lässt sich in           CH-3010 Bern
ca. 80% ein guter Effekt erzielen. Die Rückfallquote ist       matthias.sturzenegger[at]insel.ch
allerdings hoch (~50% innert 5 Jahren).
Die Definition der chronischen Migräne verlangt KS an
15 oder mehr Tagen, wovon an 8 oder mehr Tagen die             Literatur
                                                               1 Mathew PG, Garza I. Headache. Semin Neurol. 2011;31:5–17.
Diagnosekriterien für eine Migräne erfüllt sein müssen.        2 Headache Classification Committee of the International Headache Soci-
Wichtig ist v.a. der Ausschluss eines Medikamenten-              ety. The international classification of headache disorders. 2nd edition.
übergebrauchs und einer anderen sekundären Ur-                   Cephalalgia. 2004;24(Suppl.1):9–160.
                                                               3 Buse DC, Rupnov MFT, Liptom RB. Assessing and managing all aspects
sache. Das Konzept der «transformierten Migräne»                 of migraine. Mayo Clin Proc. 2009;84:422–35.
geht davon aus, dass sich eine episodische Migräne auf-        4 Schweizerische Kopfwehgesellschaft. Therapieempfehlungen für Kopf-
grund verschiedener Kofaktoren, wegen zu häufigem                und Gesichtsschmerzen. 7. Revidierte Auflage 2010. www.headache.ch/
                                                                 Therapieempfehlungen.
Gebrauch von Akutmitteln oder aber auch im Sinne von           5 Evers S, Marziniak M. Clinical features, pathophysiology, and treatment
«natural course» in ein chronisches Kopfschmerzsyn-              of medication-overuse headache. Lancet Neurol. 2010;9:391–401.

CME www.smf-cme.ch

1. Welche der folgenden Kriterien definieren eine Migräne      2. Welche Angaben erwecken Verdacht auf einen Kopf-
am exaktesten?                                                 schmerz durch Medikamenten-Übergebrauch?
A Episodischer Kopfschmerz, Frauen häufiger als Män-           A Migränepatient, Raucher.
   ner, Beginn in der Pubertät.                                B Migränepatientin, tägliche Kopfschmerzen.
B Mehrere Episoden pro Tag, stets gleichseitig lokalisierter   C Rückenpatientin, tägliche Medikamenteneinnahme.
   Kopfschmerz, Episodendauer kürzer als 60 Minuten.           D Cluster-Patient, mehr als 3 Attacken pro Tag.
C Rezidivierende Kopfschmerz-Episoden, Episodendauer           E Spannungstyp-KS-Patientin, Raucherin und Pillen-
   Stunden bis Tage, meist halbseitiger Kopfschmerz, sys-         (OH-)Einnahme.
   temische vegetative Belgleitsymptome.
D Sehr heftiger Kopfschmerz, systemische vegetative Be-
   gleitsymptome, Frauen.
E Streng halbseitiger Kopfschmerz, pulsierende Schmerz-
   qualität, oft positive Familienanamnese.

                                                                                  Schweiz Med Forum 2012;12(5):99–103               103
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