Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? - Psychotherapeutenjournal
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Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? Umgang mit religiös-spirituellen Ressourcen und Bedürfnissen in der Psychotherapie – Teil I Michael Utsch Zusammenfassung: Religiöse und spirituelle Überzeugungen können sowohl zu Fanatismus und Extremismus führen als auch eine wichtige Ressource bei der Bewältigung psychischer Störungen sein. Sie besitzen neben ihren verführeri- schen Aspekten ein Heilungspotenzial, das nicht zu nutzen unprofessionell wäre. Jeder Mensch durchlebt existenzielle Krisen und muss Sinnfragen beantworten, die sowohl religiös als auch säkular beantwortet werden können. Eine kul- tursensible Psychotherapie erfordert Grundkenntnisse über aktuelle Religionen und Weltanschauungen und macht die Reflexion und Sprachfähigkeit über die eigene Sinnorientierung notwendig. In der Behandlung ist zu unterscheiden, ob Spiritualität Teil des Problems ist oder zur Lösung beitragen kann. Ob spirituelle Interventionen in einer psychothera- peutischen Behandlung zum Einsatz kommen können, ist umstritten und sollte sorgfältig im Einzelfall geprüft werden. Psychologisches Interesse an änderten Selbstwahrnehmung einhergingen (Renz, Schuett, Omlin, Bueche, Cerny & Strasser, 2013). Auch für chronisch Spiritualität Kranke kann sich Spiritualität als eine zentrale Bewältigungs- N achdem religiöse und spirituelle Themen in der Psy- hilfe erweisen, wie empirische Studien belegen (Büssing & chotherapie viele Jahre tabuisiert wurden, markieren Frick, 2015). zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre einen bemerkenswerten Richtungswechsel. In den Gesundheits- Es gibt also gute Gründe, das Thema nicht als esoterisch oder berufen (Klein, Berth & Balck, 2011; Koenig, 2012), der pseudowissenschaftlich abzutun. Alexander von Gontard Psychologie (Bucher, 2013), der Psychotherapie (Utsch, (2013, S. 5) führt drei Argumente ins Feld, warum Spiritualität Bonelli & Pfeifer, 2014; Brentrup & Kupitz, 2015) und der psychotherapeutisch relevant ist: Kinder‑ und Jugendlichenpsychotherapie (von Gontard, Spirituelle Erfahrungen sind subjektiv real, verbal zugäng- 2013) werden die spirituellen Bedürfnisse der Patientinnen lich und können beobachtet werden. und Patienten1 differenziert beschrieben und neuerdings Möglichkeiten einer therapeutischen Nutzung religiös-spiri- Spirituelle Erfahrungen werden häufig gemacht. Knapp tueller Ressourcen diskutiert. 90 Prozent der Erwachsenen können rückblickend bedeut- same spirituelle Situationen erinnern. Die Brücke für einen unvoreingenommenen wissenschaftli- chen Zugang zu Religiosität und Spiritualität baute die Pallia- Spirituelle Erfahrungen können lebensentscheidend sein und die Basis für die Bewältigung späterer Krisen bilden. tivmedizin. Im Zuge einer bestmöglichen Patientenbetreuung Wenn sie nicht anerkannt werden, können sie aber auch mit dem Ziel, Wohlbefinden bis zum letzten Herzschlag zu negative Auswirkungen haben. ermöglichen, erwies sich die Berücksichtigung von religiö- sen und spirituellen Bedürfnissen als wesentlich. So formu- liert die kürzlich verabschiedete S3-Leitlinie Palliativmedizin (Leitlinienprogramm Onkologie 2015, S. 16): „Im Mittelpunkt Sinndeutung in der Psychotherapie: der Palliativversorgung steht der Kranke mit seinen körperli- chen, seelischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen.“ In säkular oder religiös? einer Schweizer Studie wurden 251 Patienten, die an einem Viele Psychologen und Psychotherapeuten reagieren auf re- fortgeschrittenem Karzinom litten, ein Jahr lang psychothe- ligiöse und spirituelle Themen mit Unbehagen, weil damit rapeutisch begleitet und evaluiert. Über die Hälfte, nämlich tief verwurzelte Werthaltungen und Weltbilder verbunden 135 Teilnehmer, berichteten von tiefen spirituellen Erfah- 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nicht beide rungen in dieser Zeit, die mit weniger Schmerzen, weniger Geschlechtsformen durchgehend genannt – selbstverständlich sind jedoch Angst, einer höheren Akzeptanz des Todes sowie einer ver- immer Frauen und Männer gleichermaßen gemeint. 4/2015 Psychotherapeutenjournal 347
Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? sind, die therapeutisch schwer zugänglich sind. Diesbezüg- giös-weltanschauliche Kulturen und Traditionen. Agnostische liche Selbsterfahrungen und Weiterbildungen werden kaum Freidenker, religiöse Fundamentalisten verschiedenster Kon- angeboten. Viele Reibungspunkte zwischen Psychothera- fessionen, esoterische Sinnsucher, kämpferische Atheisten, pie und Spiritualität bestehen dadurch, dass religiöse und distanziert christlich Sozialisierte, Patchwork-Religiöse und wissenschaftliche Lebens‑ und Sinndeutungen miteinander liberale Humanisten leben häufig ohne viele Berührungs- konkurrieren. Sowohl das wissenschaftliche, der Aufklärung punkte nebeneinander. Durch die Flüchtlingskrise steht unse- verpflichtete Weltbild als auch magisch-mythische Vorstel- re Gesellschaft derzeit vor der großen Herausforderung, die lungen der Religionen wollen die Welt erklären. Eine säkula- Integration unterschiedlicher kultureller Prägungen und Welt- re Sinndeutung unterscheidet sich von einer religiösen oder bilder – insbesondere zwischen einer religiösen und säkularen spirituellen Variante durch andere Grundannahmen über den Weltdeutung – zu bewältigen. Menschen, was zu verschiedenen Wirklichkeitskonstruktio- nen führt. Dem alltäglichen Verhalten werden dadurch andere Sinn kann auf säkularen oder auf religiös-spirituellen Wegen Werte zugrunde gelegt und andere Ziele verfolgt. gefunden werden. In Bezug auf psychologische Beratung und Therapie sind die Rollenunterschiede bedeutsam. Ein Priester Wir leben in einem säkularen Zeitalter (Taylor, 2009). Werte oder eine spirituelle Heilerin und ein Psychotherapeut arbei- und Leitbilder werden heute primär rational und ökonomisch ten – trotz mancher Gemeinsamkeiten – in ganz verschiede- begründet. Anhänger einer naturalistischen Sicht auf den nen Kontexten, weil sich ihre Voraussetzungen, Bedingungen Menschen, die alleine messbare Faktoren gelten lassen wol- und Absichten in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Noyon und len, verschaffen sich zunehmend Gehör. Der Atheist Alain de Heidenreich (2012) unterscheiden im Umgang mit Sinnpro- Botton (2013) plädiert überraschenderweise dafür, das reiche blemen von Patienten zwei wesentliche Perspektiven: Als kulturelle, moralische und ästhetische Erbe der Weltreligio- „Sinnkonstruktivismus“ bezeichnen sie die Strategie von nen im positiven Sinne zu „bestehlen“. Religiöse Wirkungen säkularen Menschen, die sich keiner höheren Macht ver- seien viel zu nützlich, wirksam und intelligent, als dass man pflichtet fühlen. Angesichts des Tragischen und Absurden sie allein religiösen Menschen überlassen sollte. Vor allem im Leben seien sie vor die Notwendigkeit gestellt, in existen- könne die Religion zwei elementare menschliche Bedürfnisse ziellen Krisen selber einen persönlichen Sinn zu entwickeln, befriedigen, auf die eine säkulare Gesellschaft keine Antwort d. h. zu konstruieren. Als „Sinnobjektivismus“ bezeichnen wisse. Wie können wir trotz unserer tief verwurzelten ego- sie die Strategie von religiösen Menschen, die sich einer hö- istischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemein- heren Macht verpflichtet fühlen, also „gläubig“ sind. Diese schaften zusammen leben? Und wie können wir unsere End- Menschen würden in der Regel über einen institutionell vor- lichkeit, das ungerechte Leiden und den Schmerz aushalten, gegebenen und damit „objektiven“ Interpretationsrahmen ohne zu verzweifeln? verfügen, der die existenzielle Krisenbewältigung erleichtere. In Westeuropa fühlt sich nur noch eine Minderheit einer hö- Psychotherapeuten, die Menschen in Sinnkrisen helfen heren Macht verpflichtet, die sie durch religiöse oder spirituel- möchten, benötigen nach Noyon und Heidenreich (2012, le Praktiken und Rituale verehrt. Dennoch hat sich Nietzsches S. 73 ff.) besondere Qualitäten: „Reflektierte Neutralität: und Freuds Vermutung, Religion werde bald durch die auf- Der Therapeut muss seine eigenen Werte und weltanschau- geklärte Vernunft abgelöst, nicht bestätigt. Zwar breitet sich lichen Perspektiven so gut kennen, dass diese ihm bei der der Atheismus in Europa weiter aus. Besonders in Deutsch- Begegnung mit einem anderen Klienten nicht (mehr oder land ist ihr Anteil seit 1989 größer geworden, zählen doch weniger subtil) in die Quere kommen (…) Engagement: Der die neuen Bundesländer im Osten zu einem der weltweit am Therapeut sollte dabei aktiv hilfreich sein, den Klienten bei stärksten säkularisierten Gebiete. Dennoch schätzen sich seiner Suche nach einem lebbaren Weltbild im Allgemeinen immerhin 19 Prozent der deutschen Bevölkerung nach dem und tragfähigen Werten im Besonderen zu unterstützen (…) Religionsmonitor (2008) als hoch religiös ein. Für knapp ein Therapeutische Grundhaltung: Viele Menschen sind auf Fünftel der Deutschen sind religiöse oder spirituelle Sinndeu- der Suche nach einem „ultimativen Retter“ (Yalom) – einer tungen auch heute noch in allen Lebensbereichen relevant. Instanz, die „höher“ oder „weiser“ ist als man selbst, um Dieser Anteil ist vermutlich in den letzten Jahren angestiegen Geborgenheit und Schutz zu bieten. Hier ist es wichtig, of- und wird noch weiter wachsen, weil die überwiegende Mehr- fen und fest zur eigenen Begrenztheit zu stehen und keine heit der Migranten und Flüchtlinge religiös geprägt ist. Für Illusionen zu wecken (…) So kann dem Klienten verdeutlicht viele Asylbewerber bedeutet ihre Religion eine wichtige Un- werden, was ihn beim Therapeuten erwartet – nämlich ein terstützung, sich fern der Heimat der ungewohnten Umwelt tabu‑ und doktrinfreier „Untersuchungsraum“ zur Auseinan- anzunähern. Neben der Sprache und der Erinnerung dient der dersetzung mit der Sinnfrage (…) Analyse des Weltbildes eigene Glaube als Identifikationsanker, um in der Fremde neu des Klienten: Ausgehend von dieser Grundhaltung kann die anfangen zu können. eigentliche Arbeit beginnen: Welche Weltanschauung hat der Klient? Ist er gläubig oder nicht? Gibt es Tätigkeiten, Erlebnis- Durch die beachtlichen Migrationsbewegungen in den letzten se oder irgendetwas anderes, das von sich aus als wertvoll Jahrzehnten hat sich das sozial-kulturelle Gefüge in Europa oder sinnvoll erlebt wird?“ Um die Bewältigung von Sinnkri- stark verändert. Hier begegnen sich unterschiedlichste reli- sen, die Patienten auf säkulare oder religiöse Weise vorneh- 348 Psychotherapeutenjournal 4/2015
M. Utsch men, besser unterstützen zu können, müssen diesbezügliche Wie können Missverständnisse und Konflikte zwischen therapeutische Kompetenzen in Selbsterfahrung und Weiter- Menschen mit einer religiösen und wissenschaftlichen bildung eingeübt werden. Welt‑ und Sinndeutung vermieden werden? In der Psy- chotherapie ist bisher die Bedeutung von Werten und Leitbildern wenig berücksichtigt worden (Flassbeck & Die Bedeutung des Menschenbildes Keßler, 2013). Die Reflexion und Transparenz der eigenen Weltbild-Annahmen bietet jedoch einen Schlüssel zum Die Postmoderne ist geprägt von einer Vielfalt an unter- Verständnis fremder Überzeugungen. Angesichts einer schiedlichen Lebensentwürfen und konkurrierenden Sinn- zunehmend multikulturellen Gesellschaft und einer Plura- deutungen, die für Psychothera- peuten neue Herausforderungen birgt. Wie gehe ich mit fremden Glaubensüberzeugungen um? Durch die Flüchtlingskrise steht unsere Gesellschaft vor der Her- Woran erkenn ich, ob sie eher ausforderung, die Integration unterschiedlicher kultureller Prägungen heilsam-stabilisierend oder krank- und Weltbilder – insbesondere zwischen einer religiösen und säkula- machend-destruktiv sind? Der ren Weltdeutung – zu bewältigen. Kulturanthropologe Jean Gebser (1905 – 1973) hat fünf Bewusst- seinsstufen beschrieben, die nach seiner Meinung sowohl für die Menschheit als Ganzes (phy- lität von Weltanschauungen ist das Wissen um die eigene logenetisch) als auch für den einzelnen Menschen in seiner weltanschauliche „Brille“, die eigene Standortbestimmung Entwicklung (ontogenetisch) gelten. Er unterscheidet die ar- wichtig. In der Erarbeitung einer eigenen Weltanschauung chaische, die magische, die mythische, die mentale und die sieht der Psychologe Benesch (1990) das wichtigste Merk- integrale Phase (Gebser, 1996). Die archaische Phase kann mal menschlicher Geistestätigkeit. Dies sei heute nötiger man wie eine Verschmelzung von Natur und Bewusstsein als zu früheren Zeiten, weil „das selbstverständliche Ver- sehen, vergleichbar mit dem Zustand eines Kleinkindes im trauen in die geistige Geborgenheit eines allgemein aner- Uterus. In der magischen Phase tauchen schon Ansätze kannten Weltanschauungssystems verloren“ gegangen sei von Bewusstsein auf, eine erste Differenzierung gegenüber (Benesch, 1990, S. 12). Dabei unterscheidet Benesch fünf der Natur findet durch magische Rituale statt, mit der man Dimensionen einer Weltanschauung: Macht über natürliche Vorgänge gewinnen möchte. Die ma- 1. Weltbild: Wie erklärt man sich die Welt, und was passiert gische wird abgelöst durch die mythische Phase, in der Hel- nach dem Tod? den-Erzählungen eine zentrale Rolle spielen. Nach Gebsers Einschätzung ist die darauf folgende mentale Phase des Be- 2. Menschenbild: Was sind Besonderheiten, was die Gren- wusstseins geprägt durch die Trennung von Subjekt und Ob- zen des Menschen? jekt, durch Selbstreflexivität und rationales Schlussfolgern. 3. Sinnorientierung: Was macht den Alltag bedeutungsvoll? Nach seiner Überzeugung sei dies die dominante Kulturepo- che der Gegenwart, die allerdings bald durch ein sogenanntes 4. Wertekanon: Welche Ideale werden verfolgt? „integrales Bewusstsein“ abgelöst werde. Auf dieser Stufe 5. Moral und Ethik: Welche Regeln und Normen sind ver- stünden alle früheren Wirklichkeitszugänge gleichberechtigt pflichtend? nebeneinander und würden sich gegenseitig ergänzen. Das Modell von Gebser kann helfen, die beim Klienten vorherr- schende Deutungsperspektive einzuordnen und zu verste- Wie Menschen sind, darüber haben früher zahlreiche Phi- hen. losophen spekuliert. Heute liegen einige psychologische Anthropologien vor, die aufgrund empirischer Befunde er- Manche „ganzheitlichen“ oder „integralen“ Therapeuten und arbeitet wurden (Fahrenberg, 2004; Walach, 2005; Bischof, Ärzte plädieren dafür, das biopsychosoziale Modell um die 2008; Goller, 2009; Frick, 2009; Rudolf, 2015). Sie versuchen religiös-spirituelle Dimension zu erweitern. Für die Diagnostik differenziert, Kernmerkmale des Menschen zu bestimmen, ist das weiterführend, in der Behandlungspraxis ergeben sich ohne die individuelle Vielfalt zu reduzieren. Was der Mensch daraus aber erhebliche Probleme. Besteht bei dem Integra- ist oder werden kann, hängt unter anderem von den subjek- tionsversuch psycho-spiritueller Verfahren nicht die Gefahr, tiven Voraus-Setzungen ab, die das eigene „Lebensthema“ dass ein psychotherapeutisches Heilverfahren zu einem um- (Thomae, 1996) bestimmen. Sieht sich eine Person mit einer fassenden Heilsversprechen aufgebläht wird? Bislang fehlen religiösen Prämisse als Ebenbild und Partner Gottes an, des- überzeugende religionspsychologische Modelle einer „aufge- sen Aufgabe etwa darin besteht, die Erde zu bebauen und zu klärten Spiritualität“, die psychotherapeutisches Wissen mit bewahren? Oder werden aus psychologischer Sicht die Um- religiös-spiritueller Weisheit schlüssig verbinden (Walach, welteinflüsse betont, Sozialisation und Gene analysiert und 2014). Hier liegen große Nachholbedarfe und Entwicklungs- Menschsein unter der säkularen Prämisse der Selbstverwirk- potenziale. lichung verstanden? Diese überzeichnete Gegenüberstellung 4/2015 Psychotherapeutenjournal 349
Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? soll verdeutlichen, wie unterschiedliche Menschenbilder die und Scham, Religion und Spiritualität sollten in den Trainings Entwürfe und die Motivation der menschlichen Person prä- enthalten sein. gen. Kultur‑ und religionssensible Psychotherapeuten sind darin Ohne die Festschreibung von Entwicklungszielen und ‑gren- geschult, unabhängig von ihrer eigenen Weltanschauung an- zen können auch psychologische Veränderungsmethoden gemessen mit hoch religiösen Patienten umzugehen. Das bri- nicht gezielt eingesetzt werden. Ebenso können die heiklen tische „Royal College of Psychiatrists“ bietet in seiner Fach- Fragen nach ethischen Grenzen und Pflichten in der therapeu- gruppe „Psychiatrie und Spiritualität“ regelmäßig Fortbildun- tischen Beziehung ohne den Rückgriff auf anthropologische gen zu diesbezüglichen Fragen an und zählt mittlerweile über Vorentscheidungen nicht beantwortet werden. Weil dem 3.000 Fachmitglieder. Im Jahr 2011 wurde ein verbindliches Menschenbild in jedem psychologischen Entwurf eine zentra- Konsenspapier zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität le Bedeutung zukommt, sollte es reflektiert und transparent vorgelegt (Cook, 2011). Darin haben sich die Fachmitglieder gemacht werden. darauf verpflichtet, den religiösen oder spirituellen Bindun- gen ihrer Patienten mit einfühlsamer Achtung und Respekt Unbestritten sind Psychotherapeuten zu wohlwollender welt- zu begegnen. Klinisch Tätige sollen keine religiösen oder spi- anschaulicher Neutralität verpflichtet. Das Abstinenzgebot rituellen Rituale als Ersatz für professionelle Behandlungsme- erstreckt sich auch auf die religiösen Überzeugungen. Die- thoden anbieten. Andererseits wird auf die Bewältigungskraft se plausibel klingenden Regeln erweisen sich bei genauerer positiver Spiritualität hingewiesen, durch die Hoffnung und Betrachtung jedoch als unscharf. Es besteht weitgehend Sinn vermittelt werden könne. Konsens darüber, dass die drei existenziellen Grundfragen Sinn (Wozu?), Schuld (Warum?), Tod (Wohin?) psychologisch Der höchst subjektive Prozess der Sinngebung erfordert al- nicht hinreichend beantwortet werden können (Utsch, 2005; lerdings vom Psychotherapeuten ein hohes Maß an Einfüh- Vogel, 2014). Deshalb interessieren sich immer mehr Profes- lungsvermögen und die Fähigkeit, sich ggf. auf ein fremdes sionelle, die Menschen in Grenzsituationen begleiten, für die Weltbild einzulassen. Diese Fähigkeit ist besonders in einer Psychologie der Spiritualität. Wie soll auf die religiösen und globalisierten und multikulturellen Gesellschaft zu schulen. spirituellen Fragen der Patienten eingegangen werden, die Psychotherapeuten werden sich zunehmend ihrer eigenen gerade in akuten Notlagen intensiv um eine Sinngebung rin- kulturellen und religiösen „Brille“ bewusst (Kizilhan, 2013). gen? Wie kann mit existenziellen Lebensfragen, Sinnkrisen Erst das reflektierte Bewusstsein der eigenen Kulturabhän- und mit „Schicksalsschlägen“ professionell umgegangen gigkeit ermöglicht ein kultursensibles Vorgehen. Es ist etwa werden (Frick, 2015)? Welche Glaubensüberzeugungen sind zu berücksichtigen, dass sowohl Krankheits‑ als auch Hei- Ressourcen, welche Belastungen? Wie verhalten sich Psy- lungsmodelle kulturabhängig sind und sich zum Beispiel eine chotherapeuten gegenüber fremden Sinn‑ und Lebensdeu- säkulare von einer religiösen Weltdeutung grundlegend unter- tungen, die Patienten aus anderen Kulturen, Prägungen und scheiden. Nur nach einer Exploration kann in gemeinsamer Milieus mitbringen? Arbeit mit dem Patienten ein individuell passender Behand- lungsauftrag formuliert werden, weil auch die Behandlungs- ziele kultur‑ und werteabhängig sind. Die Einbeziehung kultu- Notwendigkeit kultursensibler reller, also auch religiöser Ressourcen in eine Behandlung ist insbesondere bei muslimischen Migranten von hoher Rele- Psychotherapie vanz (Kizilhan, 2015). Für eine angemessene psychotherapeutische Versorgung von Migranten brauchen Psychotherapeuten spezifisches Wis- Für den Zusammenhalt einer zunehmend multikulturellen sen über den Umgang mit Patienten aus anderen Kulturen. Gesellschaft ist ein besseres Kennenlernen und Verständ- Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität und des nis der unterschiedlichen Wertesysteme und Weltsichten Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf haben deshalb in unverzichtbar. Das Titelthema im aktuellen Magazin „Pro- Kooperation mit der Bundespsychotherapeutenkammer Leit- jekt Psychotherapie“ (3/2015) des Bundesverbandes der linien für Trainings entwickelt, mit denen die interkulturelle Vertragspsychotherapeuten beschäftigt sich mit dem Ein- Kompetenz von Psychotherapeuten geschult werden kann fluss politischer und religiöser Ideologien auf die Psycho- (von Lersner, 2014). Die Leitlinien beschreiben die Inhalte, die therapie. Als Heilmethode greift die Psychotherapie massiv Lernziele und die Struktur für Schulungen in kultursensibler in den persönlich-subjektiven Raum eines Menschen ein. Psychotherapie. Zu den Inhalten gehören zum Beispiel Hin- Um die innerpsychischen Muster und Konflikte besser zu tergründe zu Kultur, Migration und Akkulturation sowie The- verstehen, müssen auch seine soziokulturellen Prägungen men wie Diskriminierung im Ankunftsland, Sprachbarrieren und individuellen Glaubenshaltungen einbezogen werden. und der Einsatz von Dolmetschern. Auch kultursensible Fra- Beispielsweise verfügen Menschen aus traditionell-islami- getechniken zur Diagnostik, Informationen zu kultursensiblen schen Ländern über Werte und Normen aus ihrer Religion und muttersprachlichen Versorgungseinrichtungen sowie die und Spiritualität, die von den gängigen westlich-säkularen Reflexion und Selbstreflexion von eigenen Familienstruktu- Vorstellungen erheblich abweichen. Sowohl die Spiritualität ren, Werten und Tabus sowie von Begriffen wie Ehre, Schuld als auch die religiösen Vorstellungen mit ihrer besonderen 350 Psychotherapeutenjournal 4/2015
M. Utsch Form von Krankheitsverständnis und Krankheitsverarbei- Kizilhan, J. I. (2015). Religion, Kultur und Psychotherapie bei muslimischen Migranten. Psychotherapeut, 60, 426-432. tung in islamisch-traditionellen Gesellschaften sind bisher Klein, C., Berth, H. & Balck, F. (Hrsg.) (2011). Gesundheit – Religion – Spiritua- in der psychosozialen Gesundheitsversorgung nicht ausrei- lität. Konzepte, Befunde, Erklärungsansätze. Weinheim: Juventa. chend berücksichtigt worden. Koenig, H. A. (2012). Spiritualität in den Gesundheitsberufen. Stuttgart: Kohl- hammer. Bei bestimmten Patienten kann sich die psychotherapeuti- Kühn, Y. & Reinfelder, E. (2015). Krank im Herzen. Was Psychotherapie vom sche Einbeziehung von religiösen Ressourcen als nützlich Islam lernen kann. Projekt Psychotherapie (Magazin des bvvp), 3, 30-32. erweisen. Auf der Suche nach tragenden Werten und Be- Leitlinienprogramm Onkologie (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie Palliativmedizin. Stuttgart: Kohlhammer. wältigungshilfen hat das kulturelle Erbe der Weltreligionen Noyon, A. & Heidenreich, T. (2012). Existenzielle Perspektiven in Psychothera- das Interesse der Gesundheitsforscher geweckt (Büssing pie und Beratung. Weinheim: Beltz. & Kohls, 2011). Religionsvergleichende Untersuchungen Renz, M., Schuett, M. M., Omlin, A., Bueche, D., Cerny, T. & Strasser, F. haben dabei ergeben, dass die großen Weltreligionen fol- (2013). Spiritual Experiences of Transcendence in Patients with Ad- gende sechs Kerntugenden beinhalten: Weisheit/ Wissen, vanced Cancer. American Journal of Hospice and Palliative Care, DOI: 10.1177/1049909113512201. Mut, Liebe/Humanität, Gerechtigkeit, Mäßigung sowie Spi- Rudolf, G. (2015). Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychothera- ritualität/ Transzendenz. Weil das therapeutische Potenzial peutischer Sicht. Stuttgart: Schattauer. dieser Haltungen offensichtlich ist, suchen auch Psycho- Taylor, C. (2009). Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt: Suhrkamp. therapeuten vermehrt nach Wegen, diese Einstellungen Thomae, H. (1996). Das Individuum und seine Welt. Göttingen: Hogrefe. zu vermitteln und therapeutisch zu nutzen. Transkulturelle Utsch, M. (2005). Religiöse Fragen in der Psychotherapie. Psychologische Zu- Therapeuten plädieren für mehr ethnologische Ansätze in gänge zu Religiosität und Spiritualität. Stuttgart: Kohlhammer. den Behandlungsmanualen und zeigen auf, was Psycho- Utsch, M., Bonelli, R. & Pfeifer, S. (2014). Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzerfahrungen professionell um- therapie etwa vom Islam lernen kann (Kühn & Reinfelder, gehen. Berlin: Springer. 2015). Vogel, R. T. (2014). „Schicksalsklüfte“. Psychologische Erkundungen eines therapeutisch hochbedeutsamen Begriffs. Psychotherapeut, 59, 89-94. Die Fortsetzung des Artikels, in dem u. a. Aspekte von patho- von Lersner, U. (Hrsg.) (2014). Kultursensibel – aber wie? Leitlinien für Trai- logischer Religiosität, Vor‑ und Nachteile des Einbezugs spi- nings inter-/transkultureller Kompetenzen. Verfügbar unter: /www.psycholo- gie.hu-berlin.de/de/prof/the/Leitlinien/view [28.10.2015]. ritueller Interventionen sowie neue Studien zur Wirksamkeit von Gontard, A. (2013). Spiritualität von Kindern und Jugendlichen. Allgemei- spiritueller Therapien vorgestellt werden, lesen Sie in Ausga- ne und psychotherapeutische Aspekte. Stuttgart: Kohlhammer. be 1/2016 (Erscheinungsdatum am 16. März 2016). Walach, H. (2014). Secular Spirituality. The Next Step Towards Enlighten- ment. Studies in Neuroscience, Consciousness and Spirituality (Vol. 4). Dor- Literatur drecht: Springer. Dt. (2011) Spiritualität: Warum wir die Aufklärung weiter führen müssen. Klein-Jasedow: Drachen-Verlag. Benesch, H. (1990). Wozu Weltanschauung. Eine psychologische Bestands- aufnahme. Frankfurt: Fischer. Walach, H. (2005). Psychologie. Wissenschaftstheoretische, philosophische Grundlagen und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer. Bischof, H. (2008). Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer. Brentrup, M. & Kupitz, G. (2015). Rituale und Spiritualität in der Psychothera- pie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bucher, A. (2013). Psychologie der Spiritualität. Handbuch. Weinheim: Beltz. Büssing, A. & Frick, E. (2015). Psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse chro- nisch Kranker. In A. Büssing et al. (Hrsg.), Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen – interdisziplinär betrachtet (S. 3-12). Berlin: Springer. Büssing, A. & Kohls, N. (Hrsg.) (2011). Spiritualität transdisziplinär. Berlin: Dr. Michael Utsch Springer. Evangelische Zentralstelle für Cook, C. H. (2011). Recommandations for psychiatrists on spirituality and reli- gion. Position Statement PS03. London: Royal College of Psychiatrists. Weltanschauungsfragen (EZW) de Botton, A. (2013). Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Auguststraße 80 Leben. Frankfurt: Suhrkamp. 10117 Berlin Fahrenberg, J. (2014). Annahmen über den Menschen. Menschenbilder aus utsch@ezw-berlin.de psychologischer, biologischer, religiöser und interkultureller Sicht. Heidelberg: Asanger. Flassbeck, C. & Keßler, B. H. (2013). Werte als Kompass der Psychotherapie. In W. Senf, M. Broda & B. Wilms (Hrsg.), Techniken der Psychotherapie. Ein methodenübergreifendes Kompendium (24-28). Stuttgart: Thieme. Prof. Dr. Michael Utsch, Dipl.-Psych., approb. Psychothera- Frick, E. (2015). Wen(n) das Schicksal schlägt. Anthropologische und thera- peut, ist nach klinischen Tätigkeiten als wissenschaftlicher peutische Zugänge. Psychotherapeut, 60, 135-141. Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschau- Frick, E. (2009). Psychosomatische Anthropologie. Stuttgart: Kohlhammer. ungsfragen in Berlin tätig. Er ist Honorarprofessor für Religi- Gebser, J. (1996). Ursprung und Gegenwart. München: dtv. onspsychologie an der Evangelischen Hochschule „Tabor“ in Goller, H. (2009). Erleben, Erinnern, Handeln. Eine Einführung in die Psycholo- gie und ihre philosophischen Grenzfragen. Stuttgart: Kohlhammer. Marburg und leitet bei der Deutschen Gesellschaft für Psych- Kizilhan, J. I. (2013). Kultursensible Psychotherapie. Hintergründe, Haltungen iatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und Nervenheilkunde und Methodenansätze. Berlin: VWB. (DGPPN) das Referat „Religiosität und Spiritualität“. 4/2015 Psychotherapeutenjournal 351
Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? Umgang mit religiös-spirituellen Ressourcen und Bedürfnissen in der Psychotherapie – Teil II Michael Utsch Zusammenfassung: Religiöse und spirituelle Überzeugungen können sowohl zu Fanatismus und Extremismus führen als auch eine wichtige Ressource bei der Bewältigung psychischer Störungen sein. Sie besitzen neben ihren verführeri- schen Aspekten ein Heilungspotenzial, das nicht zu nutzen unprofessionell wäre. Jeder Mensch durchlebt existenzielle Krisen und muss Sinnfragen beantworten, die sowohl religiös als auch säkular beantwortet werden können. Eine kul- tursensible Psychotherapie erfordert Grundkenntnisse über aktuelle Religionen und Weltanschauungen und macht die Reflexion und Sprachfähigkeit über die eigene Sinnorientierung notwendig. In der Behandlung ist zu unterscheiden, ob Spiritualität Teil des Problems ist oder zur Lösung beitragen kann. Ob spirituelle Interventionen in einer psychothera- peutischen Behandlung zum Einsatz kommen können, ist umstritten und sollte sorgfältig im Einzelfall geprüft werden. Teil I dieses Artikels ist erschienen im Psychotherapeutenjournal 4/2015, S. 347ff.1 Erforschung religiös-spiritueller sind empirisch evaluierte Psychotherapieverfahren entstan- den. Die zahlreichen achtsamkeitsbasierten Verfahren (DBT, Ressourcen ACT, MBCT u. a.) werden bereits als eine „3. Welle“ der Ver- G egenwärtig werden die Ressourcen positiver Religi- haltenstherapie nach der Phase der Lerntheorie und der ko- osität und Spiritualität psychologisch erforscht. Psy- gnitiven Wende bezeichnet. Achtsamkeitsbasierte Konzepte chologinnen und Psychologen2 erkunden mit staatli- als störungsübergreifende Komponenten zielen einerseits auf chen Forschungsgeldern die befreiende Wirkung des Ver- die Verbesserung der Akzeptanz unangenehmer Lebensum- zeihens, die stabilisierenden Funktionen der Dankbarkeit, stände und Emotionen, andererseits auf die Verbesserung ei- die Widerstandskraft von Hoffnung und Vertrauen, beson- ner emotionsfreien Beobachtung intrapsychischer Prozesse. ders im Kontext der Positiven Psychologie (Auhagen, 2008; Derzeit liegen fünf ausgearbeitete achtsamkeitsbasierte Kon- Frank, 2011; Esch, 2012). Die populären Ansätze der Posi- zepte vor, jedoch mit unterschiedlichem Wirksamkeitsnach- tiven Psychologie weisen Überschneidungen zur Religions- weis (Bohus, 2012). psychologie auf, weil sich beide um Persönlichkeitswachs- tum und Sinnfindung bemühen. An dieser Schnittstelle liegt noch ein großes Potenzial zur Weiterarbeit (Plante, 2012; Fi- Pathologische Religiosität scher, Asal & Krueger, 2013; Van Cappellen, Toth-Gauthier, Saroglou & Fredrickson, 2015). Bei aller Euphorie über die Gesundheitseffekte positiver Spi- ritualität darf aber das Missbrauchspotenzial der Religionen nicht vergessen werden. Es gibt zahlreiche Patienten, die durch Bei aller Euphorie über die Gesundheitseffekte positiver Spiritu- eine unterdrückende religiöse Er- ziehung psychisch krank wurden alität darf das Missbrauchspotenzial der Religionen nicht vergessen (Moser, 2010, 2011). Auch die Mit- werden. gliedschaft in religiösen Sekten geht häufig mit pathologischen Auffälligkeiten einher (Kapfham- Weiterbildungen zur Einübung von „Achtsamkeit“ erfreuen sich seit einigen Jahren bei Psychotherapeuten höchster Be- 1 Sie finden den gesamten Artikel (Teil I und II) auch als PDF auf unserer liebtheit (Anderssen-Reuster, Meck & Meibert, 2013; Hölzel Homepage unter www.psychotherapeutenjournal.de, Ausgabe 1/2016. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nicht beide Ge- & Brähler, 2015). Durch die Verbindung von meditativ-bud- schlechtsformen durchgehend genannt – selbstverständlich sind jedoch immer dhistischen Techniken mit kognitiv-behavioralen Modellen Frauen und Männer gleichermaßen gemeint. 6 Psychotherapeutenjournal 1/2016
M. Utsch mer, 2008; Utsch, 2012). Übersichtsstudien belegen, dass Die Überkompensation im Fanatismus dient psychodyna- fanatische und fundamentalistische Glaubensüberzeugun- misch der Angstbewältigung und der Selbstbestätigung. Ne- gen therapeutisch schwer behandelbar sind (Aten, Mangis & ben dem Gesundheitspotenzial positiver Spiritualität müssen Campell, 2010; Leuzinger-Bohleber & Klumbies, 2010). also die Gefährdungen abhängiger Beziehungsmuster, utopi- scher Heilsversprechen und repressiver Gruppenstrukturen Unter bestimmten Voraussetzungen können Sinnkrisen mit bei diesem Thema beachtet werden. religiösen oder spirituellen Mitteln bewältigt werden, bei manchen führt das aber zu Fanatismus und religiösem Ex Die mangelnde professionelle Bearbeitung der existenziellen tremismus. Eine Studie des Hamburger Universitätsklinikums Fragen hat in der Psychotherapie zu einem ausufernden psy- überprüfte, ob bestimmte Gottesbilder (liebender versus cho-spirituellen Lebenshilfemarkt mit zum Teil fragwürdigen, strafender Gott) einen Risiko- versus Schutzfaktor für die er- teilweise gefährlichen Angeboten beigetragen. Es boomen folgreiche Behandlung einer psychischen Störung darstellen asiatische Bewusstseinsübungen, magische Rituale sowie (Agorastos et al., 2012). Extreme religiöse Überzeugungen esoterische Praktiken. Journalisten haben im Selbstversuch – etwa das Weltbild des Ku-Klux-Klan oder fundamentalisti- an Seminaren teilgenommen und berichten irritiert über die scher Sekten wie die Davidiander oder Boko Haram – erwie- große Faszination am Übersinnlichen (Fischler, 2013; Kurfer, sen sich ebenso wie extreme politische Ansichten potenziell 2014). Mittels schamanischer Trancetechniken sollen bei- als „wahnfähig“. In weiteren Studien will die Hamburger For- spielsweise in therapeutischen Sitzungen Informationen aus schergruppe herausfinden, wann und durch welche Faktoren der unsichtbaren Welt der Ahnen und Geister zugänglich sein Frömmigkeit in Fanatismus umschlagen kann. und die Heilung erleichtern. Claudia Barth (2013) hat in ihrer Studie Besucherinnen von Esoterik-Messen interviewt und Religion, Wahn und Fundamenta- lismus werden in der Öffentlich- keit oft durcheinandergebracht. Die Religionspsychologie ist gefordert, Unterscheidungskriterien Der Atheismus erklärt die Religi- on im Allgemeinen zur Wahnvor- zwischen krankmachenden und gesundheitsförderlichen Glaubensfor- stellung. Intensive religiöse, mys- men zu beschreiben. tische Erfahrungen werden von Seelsorgern oft als eine religiöse Praxis verstanden. Hier ist die Religionspsychologie gefordert, die dortigen Angebote als subjektives Hilfsmittel zur Lebens- Unterscheidungskriterien zwischen krankmachenden und ge- bewältigung beschrieben. Dabei konnte sie zwar kurzfristi- sundheitsförderlichen Glaubensformen zu beschreiben. Die ge positive Wirkungen feststellen, konstatierte aber in der oben referierte Unterscheidung zwischen Sinnobjektivismus Mehrzahl der Fälle schädigende Effekte bis hin zur Selbst- und Sinnkonstruktivismus ist ein nützliches Hilfsmittel für die aufgabe. Zum Glück enden nur wenige Behandlungsfälle so therapeutische Praxis. dramatisch wie die „Psycholytische Therapie“ eines Berliner Arztes, der 2009 in einer Gruppentherapie bewusstseinser- Das überraschende Phänomen der Radikalisierung von euro- weiternde Medikamente einsetzte. Aufgrund seiner Fehldo- päischen Jugendlichen, von denen sich schon mehrere Tau- sierung starben zwei Klienten nach dem Selbsterfahrungsse- send in islamistischen Terrorcamps in Syrien haben ausbilden minar. Die dort verwendete „Psycholytische Psychotherapie“ lassen, irritiert und macht sprachlos, und ihre psychologischen führte auch zum ärztlichen Abbruch einer Weiterbildung im Ursachen sind unklar (Kilb, 2015). Sie können als Bewältigungs- September 2015 in der Lüneburger Heide, weil sich zwei strategie adoleszenter Widersprüche und gesellschaftlicher Teilnehmer durch Drogeneinnahme in Lebensgefahr gebracht Versagungen verstanden werden. Der Psychiater Günter Hole hatten (Utsch, 2015). (2004) hat in seiner Übersicht zum politischen und religiösen Fanatismus drei psychologische Merkmale zusammengefasst: 1) Fanatismus ist eine durch die Persönlichkeitsstruktur mit- Verbot spiritueller Interventionen in bedingte, auf eingeengte Werte und Inhalte bezogene Österreich starke Überzeugung von hohem Identifizierungsgrad. Damit unsachgemäß angewandte spirituelle Methoden kei- 2) Die Durchsetzung dieser Überzeugung wird mit großer In- nen Schaden anrichten, ist in Österreich eine verbindliche tensität, Nachhaltigkeit und Konsequenz verfolgt. Sie wird Richtlinie für Psychotherapeuten erlassen worden. Aufgrund mit hohem Energieaufwand, mit „fanatischer Energie“ be- zahlreicher Patientenberichte, die sich wegen übergriffigen trieben, wobei keinerlei Dialog- und Kompromissfähigkeit Verhaltens ihrer behandelnden Therapeuten beim Berufsver- besteht. band beschwert hatten, hat das österreichische Bundesmi- nisterium für Gesundheit im Sommer 2014 eine „Richtlinie für 3) Die Bekämpfung von Außenfeinden wird mit rigorosen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Frage der aggressiven und vernichtenden Mitteln betrieben, und das Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituel- mit innerer Zustimmung und einem „guten Gewissen“. len und religiösen Methoden“ erlassen (www.bmg.gv.at). Es 1/2016 Psychotherapeutenjournal 7
Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? wird abgelehnt, dass „religiös, spirituell oder esoterisch be- spiritueller Rituale in eine Psychotherapie unterbinden will. gründete Handlungen zu einer umfassenden und stringenten Sie verweist auf den psychotherapeutischen Berufskodex, psychotherapeutischen Methode, die eine geplante Kranken- der unmissverständlich deutlich macht, dass die persönliche behandlung ermöglicht, gehören können.“ (S. 6). Mit diesem Weltanschauung des Behandelnden nicht aktiv und steuernd Verbot soll die psychotherapeutische Beziehung unter Wah- in den Behandlungsprozess einfließen darf. Wenn jedoch rung der Berufsethik und der Stärkung der Psychotherapie spirituelle oder religiöse Fragen von Patienten thematisiert als eine wissenschaftlich fundierte Krankenbehandlung unter werden, sei es Aufgabe der Psychotherapie, die Bedeutung besonderen Schutz gestellt werden. dieser Fragen gemeinsam mit dem Patienten zu verstehen. Das generelle Verbot in Österreich berücksichtigt allerdings In zusätzlichen Informationen des Ministeriums zur Fort- und nicht den aktuellen Forschungsstand (Utsch, Bonelli & Pfei- Weiterbildungsrichtlinie für Psychotherapeuten wurde im Ok- fer, 2014). Vorsichtiger und fundierter äußert sich Kenneth tober 2014 ergänzt: „Psychotherapeutische Angebote, die Pargament: Religion und Spiritualität können Teil des Prob- lems oder Teil der Lösung sein (Pargament, 2014). Die mangelnde professionelle Bearbeitung der existenziellen Fra- Die Klärung und Transparenz gen hat in der Psychotherapie zu einem ausufernden psycho-spirituel- der therapeutischen Rolle und len Lebenshilfemarkt mit zum Teil fragwürdigen, teilweise gefährlichen Haltung sind ohne Zweifel ein Angeboten beigetragen. Dreh- und Angelpunkt bei der Bewertung spiritueller Therapien. Die sorgfältig ausgearbeitete Be- rufsethik des Psychotherapeuten sich beispielsweise mit parapsychologischen Phänomenen, will insbesondere die spezifische therapeutische Beziehung Reinkarnationserfahrungen, spirituellen Phänomenen wie schützen – ein Psychotherapeut kann kein Guru sein! Es Kundaliniprozessen, Chakrenöffnungen oder Egotoderfahrun- liegen zahlreiche empirische Studien vor, die den therapeu- gen, dämonischen Kräften, höheren Mächten oder göttlichen tischen Nutzwert religiös-spiritueller Interventionen unter Grundwirklichkeiten beschäftigen oder ,Meister‘, ,Schamanen‘ bestimmten Voraussetzungen belegen (Goncalves, Luc- bzw. ,Gurus‘ bemühen, können nicht als mit der Fort- und Wei- chetti, Menezes & Vallada, 2015). Seit zwei Jahren gibt der terbildungsrichtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychothe- amerikanische Psychologenverband (American Psychological rapeuten des Bundesministeriums für Gesundheit in Einklang Association, APA) die Fachzeitschrift „Spirituality in clinical stehend angesehen werden. Es handelt sich vielmehr um practice“ heraus, die spirituell geprägte klinische Interventi- Inhalte, die in den ,esoterischen‘, spirituellen bzw. religiösen onen wissenschaftlich untersucht und überprüft. (www.apa. Bereich fallen“. Aufgaben und Grenzen der Psychotherapie als org/pubs/journals/scp). Diese aktuellen Befunde werden in ein eigenständiges, wissenschaftlich überprüfbares Heilver- der Richtlinie aus Österreich nicht berücksichtigt. Eine kultur- fahren wird in Österreich seit 1991 durch ein Gesetz geregelt. und religionssensible Psychotherapie erfordert aber die Wei- Durch gesetzliche Regelungen wurde der ausufernde esoteri- terentwicklung der Berufsethik, wenn neue Fakten vorliegen sche Psychomarkt zunächst eingedämmt, allerdings zu einem (Utsch & Frick, 2015). großen Teil in die Heilpraktikerszene verschoben. Wie jetzt das Gesetz in Österreich belegt, kommen solche Methoden nach wie vor in kassenfinanzierten Verfahren zur Anwendung. Vor- und Nachteile einer Einbeziehung Die Beschwerdestelle des Wiener Landesverbandes für Psy- spiritueller Interventionen chotherapie hat in den letzten Jahren häufiger darauf hinge- Das Konzept „spirituelle Intervention“ kann dazu verführen, wiesen, dass sich wissenschaftlich fundierte Psychotherapie eine symbolische Handlung oder ein Ritual wie ein Medika- methoden zunehmend mit esoterischen, religiösen und spiri- ment einzusetzen – etwa zehn Rosenkranz-Gebete gegen tuellen Methoden mischen würden. Patientenbeschwerden leichte Angstzustände. Um nicht eine naive Heilungsrhetorik hätten deutlich zugenommen, die einen subtilen Druck durch zu praktizieren, die außer Placeboeffekten keine Wirksamkeit Psychotherapeuten beklagten. Sie sollten im Rahmen einer besitzt, sind bessere Theorien und Messmethoden nötig. Ein Psychotherapie bestimmten Glaubensinhalten folgen und an neuerer Übersichtsartikel betont, dass zukünftig eine diffe- entsprechenden Ritualen teilnehmen, auch wenn sie diese renziertere Methodologie unter Einbeziehung religionswis- innerlich nicht gutheißen würden. Das berufsethische Gremi- senschaftlicher und theologischer Überlegungen entwickelt um verwies darauf, dass eine solche Vermischung ein klarer werden müsse und kulturelle Einflussfaktoren stärker zu be- ethischer Verstoß gegen den Berufskodex des Psychothera- rücksichtigen seien (Dein, Cook & Koenig, 2012). peuten darstelle. Die brisante Diskussion um Ausschluss oder Einbeziehung Die neue österreichische Richtlinie ist hilfreich, weil sie Heils- spiritueller Interventionen hat auch Europa erreicht. Jeschke versprechungen und das aktive Einbringen esoterischer und (2012, 130ff.) hat im Psychotherapeutenjournal wesentliche 8 Psychotherapeutenjournal 1/2016
M. Utsch Argumente der amerikanischen Diskussion zusammenge- ten, wenn diese es wünschen oder der Arzt es für richtig hält. fasst. Hauptsächlich sieht sie bei einer Integration von Spiri- Eine kürzlich veröffentlichte Übersichtsstudie aus Australien tualität und Religion in Psychotherapie eine ethische Heraus- belegt, dass manche spirituelle Interventionen bei bestimm- forderung. Denn es sei kaum anzunehmen, dass die Haltung ten Störungen eine hohe Wirksamkeit zeigen, allerdings wei- des Therapeuten zu Religion und Spiritualität deckungsgleich sen viele Studien auch methodische Mängel auf (Kennedy, mit der des Patienten sei. Macnab & Ross, 2015). In Großbritannien ist der Diskussionsstand schon weiter ge- In den USA beziehen je nach Untersuchung zwischen 30% diehen – vermutlich, weil dort der amerikanische Wissens- und 90% der befragten Therapeuten spirituelle Interventio- stand stärker berücksichtigt wird. Außerdem gibt es eine akti- nen mit ein (Richards & Worthington, 2010). Obwohl seit zwei ve, etwa 3.000 Mitglieder starke Arbeitsgruppe „Spiritualität Jahrzehnten zahlreiche Studien dazu durchgeführt wurden, und Psychiatrie“ in dem „Royal College of Psychiatrists“, die fand gezielte Wirkungsforschung selten statt. So bemängeln Fachtagungen und Fortbildungen durchführt. Naturgemäß auch die Autoren des Cochrane-Reviews über spirituelle In- treffen gerade bei der Einschät- zung von Religion unterschiedli- che Weltbilder aufeinander. Ex- emplarisch zeigt sich das an der „Religion und Spiritualität können Teil des Problems oder Teil der kontroversen Diskussion um die Lösung sein.“ (Kenneth Pargament, 2014) Einbeziehung eines Gebets in die psychiatrische Praxis (Poole & Cook, 2011). Der eine Protago- nist, ein bekennender Atheist, möchte derartige Praktiken terventionen bei Patienten in der Terminalphase, dass selbst von jeglicher fachärztlichen Behandlung fernhalten, um eine in den qualitativ hochwertigsten Studien nicht immer doku- mögliche Rollenkonfusion von Psychotherapeut und Seelsor- mentiert wurde, ob und in welcher Form die Klinikseelsorge ger zu vermeiden. Sein Kontrahent ist anglikanischer Priester in die Behandlung einbezogen wurde (Candy et al., 2012). Erst und argumentiert, dass auf Nachfrage des Patienten unter bei differenzierteren und genaueren Studien könnten präzise- bestimmten Bedingungen evidenzbasierte spirituelle Inter- re Angaben zur Wirksamkeit gemacht werden. ventionen sinnvoll sein können. Bemerkenswert an diesem Fachartikel: Nach der Zusammenfassung im Kopf des Aufsat- Spirituelle Interventionen können aber bei bestimmten zes ist die Rubrik „Declaration of Interest“ eingefügt, in der Störungen durchaus nachweisbare Effekte erzielen. In ei- die weltanschaulichen Grundannahmen – Atheist und Priester ner aktuellen Übersicht wurden 4.751 Studien aus wissen- – offengelegt werden. Auf dem häufig noch schambesetz- schaftlichen Datenbanken erfasst und strengen Prüfkriterien ten Gebiet des persönlichen Glaubens ist die Transparenz unterzogen (Goncalves et al., 2015). Bei den verbleibenden des Menschenbildes (siehe Abschnitt „Die Bedeutung des 23 Studien erwiesen sich religiös-spirituelle Interventionen Menschenbildes, Teil I, Psychotherapeutenjournal 4/2015, S. im Vergleich mit Kontrollgruppen besonders wirksam durch 349ff.) eine wichtige Voraussetzung dafür, dass spirituelle In- die Reduzierung von generellen Angstsymptomen. Eine terventionen zu einer Option werden. weitere, ebenfalls methodisch strenge Auswertung von elf Studien kommt zu dem Schluss, dass Psychotherapie mit in- tegrierter Religiosität bei der Behandlung von Depressionen Neue Studien zur Wirksamkeit und Angststörungen mindestens so wirksam wie säkulare Formen der gleichen Psychotherapie ist. Allerdings stehe spiritueller Therapien der Nachweis, sie sei langfristig effektiver als diese, noch In den vergangenen zehn Jahren sind einige amerikanische aus. Darüber hinaus müssten die Wirkungsbedingungen Lehrbücher zur professionellen Einbeziehung spiritueller Inter- noch genauer und auf Grundlage von größeren Stichproben ventionen in die Psychotherapie vorgelegt worden (Richards erforscht werden (Paukert, Phillips, Cully, Romero & Stanley, & Bergin, 2005; Pargament, 2007; Plante, 2009; Aten, Mc- 2011). Eine Metaanalyse untersuchte 46 durchgeführte Stu- Minn & Worthington, 2011; Sperry, 2012; Pargament, 2013). dien in ihren Wirkungen religiös adaptierter Behandlungen In diesen Lehrbüchern, die meistens die APA herausgegeben und spiritueller Therapien (Worthington et al., 2011). Als kli- hat, werden spirituelle Interventionen pragmatisch von den nische Fallbeispiele wurden dafür eine christliche kognitive empirischen Befunden der Wirksamkeitsforschung her be- Therapie bei einer depressiven Störung, eine buddhistische fürwortet. Die Mehrheit amerikanischer Psychiater schätzt Selbst-Schema-Therapie bei einer Suchterkrankung, eine religiöse und spirituelle Überzeugungen und Praktiken als be- christliche Vergebungstherapie und eine muslimische kog- deutungsvoll ein. 93% von mehr als 1.100 repräsentativ aus- nitive Therapie bei einer Angststörung dargestellt. Die Au- gewählten Fachärzten für Psychiatrie setzen sich demnach toren kamen zu dem Schluss, dass religiös-spirituelle Psy- in ihren Behandlungen mit spirituellen Fragen auseinander chotherapie nachweislich sowohl psychologische als auch (Curlin et al., 2007). Zwei Drittel der Befragten sind sogar der spirituelle Wirkungen zeigen. Allerdings wiesen sie darauf Auffassung, dass es angebracht ist, mit den Patienten zu be- hin, dass ein einfaches Hinzufügen religiöser und spirituel- 1/2016 Psychotherapeutenjournal 9
Spiritualität: Bewältigungshilfe oder ideologischer Fanatismus? ler Elemente zu einer etablierten säkularen Psychotherapie sieben religiöse Interventionen (mit dem Patienten beten, still keine reliablen Verbesserungen zeigen würden. Die höchste beten, religiöse Konzepte verwenden, spirituelle Literatur und Wirksamkeit religiöser und spiritueller Interventionen ließ Praktiken empfehlen) erhoben. Im Gruppenvergleich ergaben sich bei hoch religiösen und spirituellen Patienten nachwei- sich keine bedeutsamen Verbesserungen durch die Einbe- sen. Die folgende Übersicht fasst den diesbezüglichen Wis- ziehung religiöser Maßnahmen. Allerdings stellte die weltan- sensstand zusammen: schauliche Passung einen wichtigen Wirksamkeitsfaktor dar. Gemeinsame Glaubensüberzeugungen egal welcher Couleur Evidenzbasierte religiöse und spirituelle Interventionen erweitern demnach das therapeutische Beziehungsgesche- (Hook et al. 2010) hen und machen es möglich, die spirituelle Dimension des Patienten ernst zu nehmen. Effiziente Behandlungen: Christlich adaptierte kognitive Therapie bei Depression Zwölf-Schritte-Programm bei Alkoholismus Spirituelle Interventionen – pro et contra Effiziente Behandlungen in Kombination mit Meditation: Muslimisch adaptierte Psychotherapie bei Depression Mit einem integrativen Ansatz aus humanistischem Men- schenbild, systemischen und tiefenpsychologischen Konzep- Effiziente stationäre Behandlungen: ten wollen Brentrup und Kupitz psychologische und spirituelle Spirituelle Gruppentherapie bei Essstörungen Methoden verbinden. Die Autoren stellen zahlreiche schama- Buddhistisch adaptierte kognitive Therapie bei Aggressivität nische, buddhistische, Quantenheilungs- und hawaiianische Möglicherweise effiziente Behandlungen: Heilrituale zur Einbeziehung in die Psychotherapie vor (Bren- Christliche Kontemplation bei Angststörungen trup & Kupitz, 2015). Taoistisch adaptierte kognitive Therapie bei Angststörungen Christlich adaptierte Gruppenbehandlung bei einer Verbitterungs- Wie spirituell darf ein Psychotherapeut sein? Unter welchen störung Voraussetzungen und Bedingungen können spirituelle Me- Spirituelle Gruppenbehandlung bei Verbitterungsstörung thoden in eine psychotherapeutische Behandlung einbezo- Christlich angepasste kognitiv-behaviorale Paartherapie gen werden? Ein differenzierendes Vorgehen ist unerlässlich, Christliche Beratung bei allgemeinen psychischen Problemen denn es gibt gute Argumente sowohl für als auch wider die Einbeziehung spiritueller Methoden, wie die folgende Über- Keine evidenzbasierten Wirkungsnachweise: sicht zeigt: Spirituelle kognitiv-behaviorale Gruppentherapie bei Angststörungen Muslimisch adaptierte kognitiv-behaviorale Therapie bei Schizophrenie Spirituelle Methoden in der Psychotherapie – Argumente Christlich adaptierte kognitiv-behaviorale Therapie bei Essstörungen pro et contra Im Unterschied zu den USA, wo die allermeisten Studien Argumente contra spirituelle Methoden: 1) Im öffentlichen Gesundheitswesen muss Psychotherapie weltan- durchgeführt wurden, existieren in Deutschland nur in ers- schaulich neutral sein, um einem Menschen unabhängig von seinem ten Ansätzen religiöse oder spirituelle Psychotherapien, die Glauben nutzen zu können. wissenschaftlichen Qualitätskriterien genügen (Grom, 2012). Hier ist ein großer Nachholbedarf zu decken, weil die religi- 2) Die Abstinenzverpflichtung des Psychotherapeuten besteht in dem ösen Traditionen ohne Zweifel ein hohes therapeutisches Ziel, unabhängig von der persönlichen Einstellung des Behandeln- Potenzial in sich bergen, das behandlungstechnisch nutzbar den dem Patienten objektiv wirksame Bewältigungshilfen zu bieten. gemacht werden kann. Deshalb kann man den Aufsatztitel von Richards und Worthington (2010) aus deutscher Perspek- 3) Die therapeutische Einbeziehung von religiös-spirituellen Symbolen tive nur unterstreichen: Es gibt einen hohen „Bedarf an evi- und Ritualen verändert die Rolle des Behandelnden – ein Psycho- denzbasierten, spirituell orientierten Psychotherapien“. Für therapeut darf kein Guru werden! die deutschsprachige Psychotherapie konstatieren Richard 4) Spirituelle Wirkfaktoren entziehen sich einer empirischen Überprü- und Freund (2012), dass bestehende religiös-spirituelle An- fung. sätze, seien sie buddhistisch, transpersonal oder christlich ausgerichtet, eher ein Schattendasein führen und in ihrer 5) Es ist kaum anzunehmen, dass die Haltung des Therapeuten zu Wirksamkeit noch nicht im Vergleich zu einer Kontrollgruppe Religion und Spiritualität mit der des Patienten übereinstimmt. untersucht worden seien. Aufgrund der fehlenden Passung können Missverständnisse und ethische Probleme entstehen. Spirituell erweiterte Therapien schneiden dabei keinesfalls 6) Patienten können zur Abwehr realer Konfliktbewältigung auf eine pauschal besser als herkömmliche Verfahren ab (Wade, religiöse oder spirituelle Deutungs- und Interpretationsebene flüch- Worthington & Vogel, 2007). In einer Metastudie wurden ten. 220 Therapieverläufe von 51 Therapeuten verglichen, die zum Teil in ausgewiesen christlichen, andere in staatlichen Bera- tungsstellen arbeiteten. Es wurden sechs traditionelle und 10 Psychotherapeutenjournal 1/2016
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