Sport macht stark! Herzkranke Kinder und Jugendliche im Sportunterricht - neue Ausgabe - Bundesverband Herzkranke Kinder eV
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Foto: Ben_Kerckx / pixabay.de Sport macht stark! Herzkranke Kinder und Jugendliche im Sportunterricht neue Ausgabe 2018 Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. de w w w. b v h k .
Sport macht stark 3. Sportmotorische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Herzkranke Kinder und Jugendliche im Sportunterricht 3.1 Bedeutung einer ungestörten motorischen Entwicklung von Kindern . . 34 3.1.1 Sensorik und Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Inhaltsverzeichnis 3.1.2 Psychomotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2 Motorische Entwicklung herzkranker Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Vorwort des Bundesverbandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3.2.1 Bewegung ist Leben - besonders für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Vorwort der Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3.2.2 Teufelskreis: Ursachen und Folgen des Bewegungsmangels . . . . . . . . . . . . . 36 Erfahrungsberichte: Simona / Bastian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3.3 Bewegung, Spiel und Sport mit herzkranken Kindern: Kölner Modellprojekt . . . 37 3.3.1 Statische Übungen möglichst vermeiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Kinderkardiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3.3.2 Begleitende Aufzeichnung der Herzfrequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.1 Aufbau und Arbeitsweise des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3.3.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.2 Angeborene Herzfehler in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.3 Einteilung angeborener Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 4. Empfehlungen für Sportlehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.4 Die häufigsten angeborenen Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 4.1 Beschaffung umfangreicher Information im jeweiligen Einzelfall . . . . . . 41 1.5 Schweregrad und körperliche Belastbarkeit präoperativ . . . . . . . . . . . . . 16 4.1.1 Besondere Empathie bei Elterngesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.6 Bedeutung des postoperativen Restbefundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4.1.2 Kontaktaufnahme zum Kinderkardiologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.7 Indikationen und Kontraindikationen für die Teilnahme am Schulsport . 20 4.2 Medikation, problematische Therapien und Notfallmaßnahmen . . . . . . . 42 4.2.1 Herzschrittmacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Psychologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4.2.2 Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1 Psychosoziale Belastungen bei angeborenem Herzfehler . . . . . . . . . . . . 21 4.2.3 Verhalten in Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.1.1 Besondere Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4.3 Einschätzung von Belastung und Belastbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.1.2 Überbehütung und Sonderrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.3.1 Besondere Beobachtung bei Ausdauerleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1.3 Erfahrung des „Andersseins“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.3.2 Keine einheitlichen Richtwerte möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Zusätzliche Erschwernisse bei Betroffenen im Jugendalter . . . . . . . . . . 27 4.3.3 Weitere Tipps für konkrete sportliche Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2.1 Zugeben vs. Verheimlichen der Erkrankung im sozialen Umfeld . . . . . . . . . . . 28 4.3.4 Schwimmunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.2 Unabhängigkeit vs. Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 4.4 Didaktisch-methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.3 Erreichen von Selbstwirksamkeit trotz „Behandelt-Werdens“ . . . . . . . . . . . . . 28 4.4.1 Zwischen den Extremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.4 Ertragen der Ungewissheit bzgl. des Erkrankungsverlaufs . . . . . . . . . . . . . . . 28 4.4.2 So viel Rücksicht wie nötig, so viel Normalität wie möglich . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3 Folgen der Belastungen durch einen angeborenen Herzfehler . . . . . . . . 29 4.4.3 Sekundärer Krankheitsgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3.1 Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.4.4 Eigene Grenzen akzeptieren lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3.2 Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.4.5 Individuelle Benotung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.3.3 Emotionaler Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.5 Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3.4 Psycho-sozialer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.5 Familiäres Klima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.3.6 Unterschätzen der Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 6. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.4 Bedingungen für eine erfolgreiche Bewältigung der Herzerkrankung . . . 32 7. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.5 Die psychologische Bedeutung von Sport für Heranwachsende . . . . . . . 33 8. Wichtige Ansprechpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 9. Weitere Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 i Mitgliedsvereine im BVHK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Hinweis Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Die rot gekennzeichneten Begriffe erklären wir im Glossar auf Seite 38. 2 3
Vorwort des Bundesverbandes Vorwort der Sport macht stark! Autorinnen Das gilt auch im übertragenen Sinne: Kinder mit angeborenen Herz- Über die körperliche Belastbar- fehlern sollen erleben, dass auch sie kraftvoll und aktiv sein können keit von Kindern und Jugendli- - im Rahmen ihrer Möglichkeiten und körperlichen Einschränkungen. © Foto: satyrenko / Fotolia chen mit angeborenen Herzfeh- Die allermeisten der Kinder und Jugendlichen müssen beim Schul- lern war lange Zeit nur wenig sport nicht auf der Bank sitzen, sondern können und sollen durch bekannt. Dies ist nicht zuletzt Sport Selbstvertrauen, Mut und Körpergefühl entwickeln. Eine häufige auf die durchaus verständli- Frage der Eltern und Lehrer1 ist die nach der Belastbarkeit der jungen che Tendenz zurückzuführen, Herzpatienten. Die Arbeitsgemeinschaft psychosoziale Belange und die Betroffenen aus Angst vor Rehabilitation für angeborene Herzfehler (PS-AG) in der Deutschen Zwischenfällen in ihrem Bewe- Gesellschaft für pädiatrische Kardiologie (DGPK) hat mit der Arbeits- gungsverhalten einzuschränken. gemeinschaft „Belastungsuntersuchungen“ ein Sportattest entwickelt Um Genaueres über die körperliche Belastbarkeit und den Nutzen von (siehe S. 42). Damit kann der behandelnde Kinderkardiologe mit gerin- Sport herauszufinden, initiierten wir im Jahre 1994 das Kölner Modell- gem Zeitaufwand eine ausführliche Beurteilung der Sporttauglichkeit projekt „Sport mit herzkranken Kindern“. Bis zum Jahr 2000 wurden Ihres Kindes abgeben. sechs Kinderherzsportgruppen von jeweils acht Monaten Dauer ein- Unsere Mitgliedsvereine veranstalten vor Ort Sport-Wochenenden gerichtet. u.v.m. Wir bieten neben ambulanten bundesweiten Kinderherzsport- gruppen Sportprogramme für Kinder und Jugendliche aus ganz In diesem Rahmen analysierten wir kinderkardiologische, psycho- Deutschland wie Reiter- und Segelwochen und Kletterwochenenden logische und sportmotorische Daten von insgesamt 76 Kindern und (www.bvhk.de). Dabei betreuen ein erfahrenes Team und ein Kinder- Jugendlichen im Alter von 4 bis 14 Jahren. Das Projekt resultierte nicht kardiologe / Kinderarzt die Kinder und Jugendlichen. Für die Kinder und nur in zahlreichen Publikationen und Vorträgen auf Kongressen, son- vor allem ihre Eltern ist das ein wichtiger Sicherheitsfaktor. Wir kön- dern auch in 25 Diplomarbeiten sowie einer Dissertation (Leurs, 2004) nen jeden Teilnehmer individuell begleiten und auf medizinische und und einer Habilitationsschrift (Sticker, 2004). soziale Anforderungen der Gruppe eingehen. Damit können sie ihre Leistungsgrenzen besser einschätzen. Und so werden unsere Die Ergebnisse des Kölner Modellprojekts belegen eindeutig den Programme oft zum „Sprungbrett“, um auch an den Angeboten vielfältigen Nutzen von Sport für herzkranke Kinder und Jugendliche. des Breiten- und Schulsports teilnehmen zu können. Zielgruppe dieser Broschüre sind die Fachvertreter für Sport in den Schulen, Sportlehrer, Lehramtsstudierende sowie betroffene Eltern von Schulkindern. Letzteren sollen die Informationen zur eigenen Ori- entierung und zur Weitergabe an den Sportlehrer dienen, wenn Infor- mationsgespräche über die spezielle Situation des Kindes anstehen. Hermine Nock © Foto: Andreas Basler Der Text ist so konzipiert, dass die einzelnen Kapitel unabhängig Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. (BVHK) voneinander verständlich sind. Primär an praktischen Aspekten interessierte Sportlehrer können sich durchaus zunächst (ggf. unter Zuhilfenahme des Glossars, S. 62) mit den Empfehlungen (Kapitel 4/ S. 41) beschäftigen und später nach Bedarf bestimmte grundlegende Ausführungen hinzuziehen. 1) Bei Personenbenennungen wie Lehrer oder Mitarbeiter wird der einfachen Lesbarkeit halber stets die männliche Form verwendet. Selbstverständlich werden damit Frauen wie Männer gleichermaßen angesprochen. 4 5
Die Erfahrungsberichte (von Simona bzw. über Bastian, S. 8) doku- mentieren, welche Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung von den Kinderherzsportgruppen ausgehen können. Seit vielen Jahren bietet der Bundesverband Herzkranke Kinder (BVHK) auch Segel- und Reiterwochen u.v.m. an, die ebenfalls zur vielfältigen Förderung der Entwicklung Betroffener beitragen können. Speziell beim Reiten domi- niert beispielsweise der Wunsch der Teilnehmer, einmal etwas ohne die Eltern zu erleben, und dementsprechend der Stolz, diese Woche allein bewältigt zu haben. Dipl.-Psych. Prof. Dr. Sabine Schickendantz, Dr. Elisabeth Sticker, ehem. Klinik und Poliklinik für Diese Sportangebote werden koordiniert vom 1996 gegründeten Psychologisches Institut der Kinderkardiologie, Herzzentrum, Arbeitskreis Kinderherzsportgruppen im BVHK, den das Kölner Universität zu Köln Universität zu Köln Team ebenfalls federführend betreibt. Inzwischen gibt es regio- nale Kinderherzsportgruppen in Deutschland, Ansprechpartner: www.bvhk.de/service/ansprechpartner-finden/. Auch wenn das noch viel zu wenig ist, gilt Deutschland von Beginn an bis heute als Vorreiter für ganz Europa, wie auf zahlrei- chen Kongressen deutlich wird. In Kombination mit den eben Prof. Dr. Sportwiss. Dipl.-Sportlehrerin erwähnten attraktiven Sportpro- Birna Bjarnason-Wehrens, Sabine Leurs © Foto: satyrenko / Fotolia grammen für herzkranke Kinder Institut für Kreislaufforschung und ehemals Institut für Kreislaufforschung halten wir es für wichtig, dass Sportmedizin der Deutschen und Sportmedizin der Deutschen diese Kinder ihrer körperlichen Sporthochschule (DSHS) Köln Sporthochschule Köln Belastbarkeit und ihren Bedürf- nissen entsprechend in den Schulsport integriert werden. Wir hoffen, mit der Broschüre dazu beizutragen, dass die Sportlehrer diese sicher nicht immer einfache Aufgabe als Herausforderung betrachten, die es durch umsichtige Kooperation mit Kind, Eltern und Ärzten und mit pädagogischem Geschick zum Wohl der Betroffenen zu meistern gilt. Auf diese Weise gilt der Spruch „Sport macht stark“ nicht nur für gesunde, sondern auch für kranke Kinder. Dr. rer. nat. Sigrid Dordel Wir würden uns sehr über Ihre Rückmeldungen freuen. ehemals Institut für Rehabilitation ♥♥ Was finden Sie besonders hilfreich? und Behindertensport der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln ♥♥ Was könnte verbessert werden? © Fotos: privat ♥♥ Mit welchen, vielleicht auch unkonventionellen, Ideen ist es Ih- nen gelungen, schwer herzkranke Kinder in den Sportunterricht zu integrieren? 6 7
Erfahrungsberichte Hindernislauf aufgebaut mit Trampolinen, Matten für Rollen, Bänken zum Balancieren und einem Bock. Das einzige, was ich mich nicht getraut habe war, über den Bock zu springen, und wie immer haben Simona (17) über ihre Kinderherzsport-Gruppe mich alle ausgelacht. […]. Zu Beginn dieser Broschüre soll Simona (geb. 1985) zu Wort kommen, deren Entwicklung in Zusammenhang mit dem Sportprogramm sehr Alle standen hinter mir günstig verlief (Sticker, 2001a). Sie wurde mit einer Fallot’schen Tet- Wir sollten uns für die nächste Herz- ralogie *s. Glossar (ToF3) geboren und litt als Säugling unter häufigen sportstunde irgendwas ausdenken, was hypoxischen Anfällen *s. Glossar (bis zu 20 pro Tag). Mit 1 ½ Jahren wir machen wollten, und mir war klar, erfolgte die Korrekturoperation. Das Mädchen hat im Alter von 10 Jah- was ich unbedingt lernen wollte! Damals © Foto: iStock.com / DenKuvaiev ren erstmalig am Kinderherzsport (1995) teilgenommen und viele Jahre sind auch meine Eltern mitgekommen, lang die Nachfolgekurse besucht. Die Auszüge beginnen mit Simonas um zu sehen, ob ich meine Ängste über- Gefühlen vor dem ersten Treffen der Sportgruppe: winden konnte. Beim Herzsport hatte ich den Vorteil, Endlich akzeptiert dass mich keiner auslachte, ganz im Gegenteil, sie fanden die Idee super. „Ich freute mich so auf dieses Treffen: Auch alle anderen Kinder waren davon endlich auch Kinder, die meine Pro- überzeugt, ich könnte es schaffen. bleme mit mir teilen könnten, die mir Als ich dann dran war, zeigten mir die zuhören, wo ich einfach dazugehöre. Trainer auch, wie ich am besten springen sollte, wie ich mir nicht Ungelogen konnte ich die Nacht vor dem wehtue. Alle standen sie hinter mir: Meine Eltern, die Trainer und © Foto: iStock.com / SolStock Treffen nicht schlafen voller Aufregung. alle Kinder feuerten mich an. […] Ich wurde zum ersten Mal in einer Gruppe akzeptiert, sie wählten mich bei Das gab mir ein tolles Gefühl der Geborgenheit, und ich habe meine Spielen mit Freude in die Gruppe, es hat Ängste überwinden können, ich bin gesprungen! einfach Spaß gemacht. Auch in meiner Schule hatten wir nach ein paar Wochen wieder so Für viele Kinder in meinem Alter war das einen Hindernislauf aufgebaut, und ich bin dann ohne Zögern über normal, aber für mich ging ein langer- den Bock gesprungen. Die Reaktion meiner Klassenkameraden war sehnter Wunsch in Erfüllung: einfach unbeschreiblich. Alle fragten mich, wo ich das gelernt hätte. Ich zu einer Gruppe zu gehören, mit Kindern lachen, Spaß haben!! Ich erzählte einigen von diesem Sport und sie fanden es ganz gut. Es wünschte mir so sehr, dass dieses Klima und das Umfeld auch in war zum ersten Mal ein schönes Gefühl, vor meiner Klasse so da zu meiner Klasse so wäre […]. Seit dem Tag hab ich einfach gern Sport stehen, ohne dass mich jemand auslachte. gemacht. […] Neues Selbstvertrauen Freiheit und Leichtigkeit Wenn ich irgendetwas hatte, was ich mich nicht getraut habe, Seit ich den Herzsport angefangen habe, habe ich mich total ver- brauchte ich nur an diesen Augenblick beim Herzsport zu denken ändert! Ich wurde freier, habe zu Hause, bei Verwandten und beim und konnte Mut fassen. Das war einfach ein tolles Gefühl! Immer Herzsport immer mehr geredet. Ich hatte keine Angst mehr, dass mehr wurden die Trainer zu wichtigen Bezugspersonen nach meinen mich irgendeiner auslacht, konnte meine Meinung ohne Probleme Eltern. Ich erzählte ihnen meine Probleme in der Schule und sie äußern. Und eine der wichtigsten Veränderungen für mich und gaben mir Tipps, wie ich sie am besten lösen konnte. Gaben mir Mut meine Familie war, meine Angst zu überwinden. vor wichtigen, schwierigen Klassenarbeiten oder Tests, gaben mir einfach das Gefühl […] ich könnte das schaffen, was ich mir schon Wir hatten in meiner Schule an einem Tag im Sportunterricht einen mein ganzes Leben zum Ziel gemacht habe: ein ganz normales 8 9
Leben, eine normale Ausbildung machen zu können und im Beruf Das Beste daraus gemacht mal ganz oben zu stehen, was erleben und alles, was so dazuge- Bastian hat die OP gut überstanden und war erstaunlich schnell © Foto: Foreningen For Hjertesyke Barn (FFHB) - Norwegische Kinderherz-Vereinigung hört.“ wieder fit. Gezwungenermaßen konzentrierte er sich jetzt auf Leichtathletik, was mit den „Nebenwirkungen“ des Marcumar besser Bastians Mutter über das Suchen und Finden zu vereinbaren war. Er wechselte in einen „normalen“ Sportverein und entwickelte zunehmend Spaß am Training im Ausdauersport. einer neuen Sportart nach seiner Herz-Operation Inzwischen nimmt er an Wettbewerben teil und hat beim Benefizlauf „Bastian wurde als zweiter von drei Brüdern 1999 mit in der Schule den 3. Platz in seiner Altersklasse erkämpft. einer Aortenstenose* geboren, was wir erst später erfuhren. Er ist ein aufgeweckter, liebenswerter Junge Mit seinen Kumpels kickt er immer noch: er steht und vergöttert unseren Hund Wolfi. Mit fünf Jahren trat inzwischen im Tor und sein Team nimmt Rück- er, wie sein älterer Bruder Kilian, einem Fußballverein sicht auf ihn. Er ist zufrieden und verfolgt mit bei und spielte begeistert bei den „Minis“ mit, fand seinen Brüdern und Wolfi leidenschaftlich die dort Freunde und genoss seine Erfolgserlebnisse Fernsehübertragungen seiner Lieblings-Fuß- dort enorm. Wenn er z.B. ein Tor schoss oder er mit ballmannschaft. Wann immer möglich, gehen seinem Team die gegnerische Mannschaft schlug, Vater und Söhne zu den Heimspielen. Und die strahlte er vor Stolz und Glück. ganze Familie feuert Bastian bei seinen Wettläu- © Foto: designritter / photocase.de fen an. Er wird immer geschmeidiger, die Distan- Nach der Einschulung fiel Bastian beim Schulsport zen werden länger und sein Training macht er mit super Leistungen in der Leichtathletik auf. Diese eisern und gewissenhaft. schienen jedoch für sein Selbstwertgefühl nicht so wichtig zu sein wie ein hart erkämpfter Sieg mit der Wir freuen uns, dass Bastian auch im neuen Fußballmannschaft. Er fand Leichtathletik wenig cool, Verein Anschluss gefunden hat und sehr stolz deshalb verbrachte er einen großen Teil seiner Frei- auf seine sportlichen Erfolge ist. Er hat sich toll zeit lieber auf dem geliebten Fußballplatz oder beim Bolzen mit den mit der neuen Situation arrangiert und das Beste Kumpels auf der Straße. daraus gemacht. Der Sport ist für sein Selbst- bewusstsein und seine Lebensfreude enorm wichtig.“ (Anita K.) Plötzlich ist alles anders Als bei Bastian die Notwendigkeit einer künstlichen Aortenklappe diagnostiziert wurde, war er fassungslos: er würde blutverdünnende Medikamente nehmen müssen, um eine Embolie an der Kunstklappe zu verhindern. Unser leistungsstarker Sportfanatiker Bastian sollte lebenslang auf dieses Marcumar angewiesen sein? Und Fußball wäre ab dann absolut tabu? Denn diese Patienten riskieren bei Kontaktsportarten „äußere“ und innere Blutungen, d.h. sichtbare blaue Flecken, aber auch innerliche unsichtbare unkontrollierbare Ergüsse. Rabiate Rangeleien auf dem Schulhof und ständige Verletzungen wie aufgeschürfte Knie oder Zusammenstöße beim Match stellen ein zu hohes Risiko dar. Wir entschlossen uns natürlich trotzdem, diese OP durchführen zu las- sen, waren aber besorgt wegen der zu erwartenden Veränderungen im sozialen Bereich. 10 11
1. Kinderkardiologische Grundlagen Aufbau und Arbeitsweise des Herzens obere Hohlvene 1.1 Aufbau und Arbeitsweise des Herzens Aorta Isthmus, verengt bei CoA (siehe Tab. S. 15) Der Aufbau des gesunden Herzens (Abbildung 1, S. 13) wird ergän- zend auf www.herzklick.de als leicht verständliche Animation dargestellt; ebenfalls die am häufigsten auftretenden angeborenen Ductus arteriosus Herzfehler (AHF). Lungenarterie Foramen ovale Vor der Geburt wird der Lungen- Lungenvenen kreislauf nur schwach durchblu- tet, da die Funktion der Lunge rechter Vorhof linker Vorhof („Atmung“) durch die Plazenta übernommen wird. Lungen- und Körperkreislauf (rechte und linke Pulmonalklappe Aortenklappe Herzseite) sind „parallel geschal- © Foto: otisthewolf / Fotolia tet“, indem das Blut durch zwei Trikuspidalklappe Mitralklappe zusätzliche Verbindungen fließt, und zwar durch das Foramen rechte Kammer linke Kammer ovale (eine Öffnung zwischen den beiden Vorhöfen* und den untere Hohlvene Ductus arteriosus (eine Verbin- dung außerhalb des Herzens Abb. 1: Das normale Herz - Grafik: Andreas Basler zwischen dem Aortenbogen und der Teilungsstelle am Stamm der Pulmonalarterie*. Üblicherweise verschließen sich diese beiden Verbindungen nach der 1.2 Angeborene Herzfehler in Zahlen Geburt von selbst, so dass es zu einer „Reihenschaltung“ zwischen Lungen- und Körperkreislauf kommt. Etwa jedes 100. Kind wird in Deutschland mit einem Herzfehler gebo- Auf diese Weise kann sauerstoffreiches Blut im Körperkreislauf den ren, das sind ca. 8.000 Kinder pro Jahr bzw. etwa 20 Kinder pro Tag. Organen und der Peripherie zugeführt und anschließend als sauer- 4.500 dieser Kinder benötigen einen bzw. mehrere Eingriffe am offe- stoffarmes Blut im Lungenkreislauf wieder mit Sauerstoff angereichert nen Herzen (unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine), das entspricht werden. rund 12 Kindern pro Tag. Heute erreichen etwa 90 Prozent der herzkranken Kinder das Erwach- Im Körperkreislauf herrscht normalerweise aufgrund eines höheren senenalter. Widerstands ein 5-mal höherer Druck als im Lungenkreislauf. Dieser Unterschied wirkt sich je nach Vitium *s. Glossar unterschiedlich auf die Blutströmungsverhältnisse (Hämodynamik), aus. 1.3 Einteilung angeborener Herzfehler Zu unterscheiden ist zwischen azyanotischen und zyanotischen * die Funktion des gesunden Herzens und der häufigsten angeborenen Herz- *s. Glossar Vitien (Abb. 2). Die Mehrzahl der Herzfehler ( ca. 90 %) fehler als Animation inkl. Erklärung von Ductu arteriosus und Foramen ovale: geht nicht mit einer Zyanose * s. Glossar einher, d.h. hier besteht kein s. www.herzklick.de Sauerstoffmangel, der zu einer Blausucht führt (PAN-Studie, Lindinger et al., 2010). Begriffserklärung im Glossar S. 62-65 Azyanotische Herzfehler können mit Links-Rechts-Shunt *s. Glossar (knapp 75 Prozent; Übertritt arteriellen Blutes von der linken in die rechte Herzhälfte) oder ohne Shunt (16 Prozent) bestehen. Bei Herz- 12 13
fehlern ohne Shunt liegt eine Verengung in den Kammern, im Bereich Tabelle 1: Merkmale der sechs häufigsten azyanotischen Herzfehler der Herzklappen, und/ oder im Verlauf von Blutgefäßen vor. Bei zyanotischen Herzfehlern, die mehr als 10 Prozent aller angebore- Herzfehler Beschreibung Behandlung nen Herzfehler ausmachen, gelangt sauerstoffarmes Blut über einen Rechts-Links-Shunt (Übertritt venösen Blutes von der rechten in die Ventrikelseptum- Loch in der Scheidewand Abwarten, ob Spontanver- linke Herzhälfte) in den Körperkreislauf. Dies gibt den Kindern je nach defekt (VSD) zwischen linker und rechter schluss erfolgt, ansonsten bei Herzkammer -> Links-Rechts- hämodynamischer Bedeutsam- Ausprägung ein mehr oder weniger bläuliches Aussehen (Zyanose). Shunt keit operativer Verschluss (Naht Im Schulalter kommt eine Zyanose allerdings nur noch selten vor, da oder Flicken) bis zum die meisten Betroffenen im Kleinkindalter erfolgreich operiert werden 2. Lebensjahr können. Weitere Informationen finden Sie auf: www.herzklick.de Persistierender Ductus Ausbleibender Verschluss der In jedem Fall Verschluss, per arteriosus Botalli (PDA) vorgeburtlichen Verbindung Herzkatheter oder operativ zwischen Aortenbogen und Zyanotische Azyanotische Lungenarterie -> Links-Rechts-Shunt; Mädchen Herzfehler Herzfehler häufiger betroffen Atriumseptumdefekt Loch in der Scheidewand Bei hämodynamischer Bedeut- (ASD II) (Septum Secundum) zwischen samkeit Verschluss (Naht 10,5 % 89,5 % linkem und rechten Vorhof -> oder Flicken) per Herzkatheter Links-Rechts-Shunt oder operativ, spätestens im Vorschulalter Aortenisthmusstenose Verengung am Isthmus (Bogen Entfernung der Verengung, Ver- (CoA) der Aorta im Mündungsbereich bindung der beiden Endungen, des Ductus arteriosus, (siehe ggf. Einsatz körpereigenen Abb.1, Seite 18) oder fremden Materials zum Offenhalten Aortenstenose (AS) Verengung der Aortenklappe Erweiterung der Klappe, unter mit mit ohne Shunt zwischen linker Herzkammer und Umständen per Herzkatheter rechts-links links-rechts Aorta Shunt Shunt 16 % Pulmonal- Verengung der Pulmonalklappe Erweiterung der Klappe, meist stenose (PS) zwischen rechter Herzkammer per Herzkatheter 73,5 % und Lungenarterie Abb. 2: Hauptarten angeborener Herzfehler (PAN-Studie, Lindinger et al., 2010) Tabelle 2: Merkmale der zwei häufigsten zyanotischen Herzfehler Herzfehler Beschreibung Behandlung 1.4 Die häufigsten angeborenen Herzfehler Fallot’sche Vierfach-Vitium mit Rechts- Operative Korrektur der einzel- Die Merkmale der häufigsten azyanotischen und zyanotischen Herz- Tetralogie (ToF) Links-Shunt: großer VSD, PS, nen Vitien, selten Voroperatio- fehler ergeben sich aus Tabelle 1 und 2 (siehe S. 19-20). Relativ selten infolge davon verlagerte Aorta nen erforderlich (dann zunächst (den VSD „überreitend“) und aortopulmonaler Shunt zur kommt es zu komplexen Fehlbildungen des Herzens, die sehr vielfäl- Hypertrophie in rechter Herz- besseren Lungendurch-blutung) tig sind und bis hin zum vollständigen Fehlen von Vorkammern oder kammer; gehäuft hypoxische Hauptkammern reichen können. Diese gehen mit einer Zyanose einher Anfälle und sind operativ nicht zu korrigieren, sondern nur durch Palliativopera- Transposition der großen Vertauschtes Entspringen der Offenhalten bestehender (z.B. tionen, d.h. ohne vollständige Beseitigung der Ursache, zu lindern. Auf Arterien (TGA) Pulmonalarterie aus linker, der PDA) bzw. Schaffen lebens- Aorta aus rechter Herzkammer wichtiger Verbindung zwischen www.herzklick.de finden sich Animationen der häufigsten Herzfehler -> Zyanose Körper- und Lungenkreislauf; vor und nach der Operation und von der Funktion des gesunden Her- Umkehr (=Switch)- Operation zens. der großen Gefäße einschließ- lich Umpflanzung der Herzkranzgefäße 14 15
1.5 Schweregrad und körperliche Belast- 1.6 Bedeutung des postoperativen Restbefundes barkeit (vor OP) Bei einem angeborenen Herzfehler spielt der postoperative Restbefund Der Schweregrad des Herzfehlers hängt bei Leckagen von der Stärke eine entscheidende Rolle. So kann des Shunts beispielsweise ein ‚einfacher’ VSD (bei VSD, PDA, ASD, TGA) und bei Stenosen von dem Druckgradien- © Foto: iStock.com / Nata_Snow bei ungünstigem Verlauf einen schwe- ten (bei CoA, AS, PS, ToF) ab (siehe Tab. 1 und 2; dort sind auch die reren Restbefund aufweisen als eine Abkürzungen erklärt). ToF bei günstigem Verlauf. Bei Stenosen muss der Herzmuskel gegen einen erhöhten Wider- Eine gut handhabbare Klassifikation stand arbeiten, was zu einer vermehrten Bildung von Muskelmasse postoperativer Restbefunde wurde (Hypertrophie) auf der jeweils betroffenen Seite führt (rechts bei PS, von der Deutschen Gesellschaft für besonders deutlich bei ToF; links bei CoA und AS; Lewin, 1998) und die kardiologische Prävention und Reha- Situation zusätzlich erschwert. bilitation von Herz-Kreislauferkran- kungen erarbeitet (DGPR, 2001, S. Die körperliche Belastbarkeit vor der operativen Korrektur variiert je 170-172). Sie betrifft zunächst die Indikation für Kinderherzsportgrup- nach Diagnose und Schweregrad des jeweiligen Herzfehlers und lässt pen, kann aber auch als Orientierung für den Schulsport dienen. sich im Allgemeinen folgendermaßen einteilen: ♥♥ Normal: bei kleinem VSD, PDA, VSD, bei milder AS, CoA, PS; Auf S. 18 in Tabelle 3 sind die Sportempfehlungen im Ampelsystem (rot ♥♥ Mäßig eingeschränkt: bei größerem VSD, PDA, ASD, bei hoch- - gelb - grün) aufgeführt. Dabei ist der postoperative Restbefund maß- gradiger AS, CoA, PS; geblich, der auch innerhalb der folgenden Kategorien variieren kann. ♥♥ Stärker eingeschränkt: bei ToF und TGA ♥♥ Bei operationsbedürftigen Herzfehlern besteht bis zur Opera I: Patienten mit nicht (mehr) operationsbedürftigen Herz- tion ein Sportverbot (siehe Zeile 0a in Tabelle 3). fehlern (1) Shuntvitien mit unbedeutendem Links-Rechts-Shunt (2) Unbedeutende Klappenfehler/-anomalien Diesen Kindern ist eine uneingeschränkte Teilnahme am Schulsport möglich. Die Teilnahme an einer Kinderherzsport-Gruppe ist vor allem aus psycho-sozialen Gründen indiziert, wenn nämlich die subjektive Bedrohlichkeit durch den Herzfehler im Vergleich zum objektiven © Foto: iStock.com / FatCamera Befund als höher erlebt wird und daraus überbehütendes Verhalten seitens der Bezugspersonen entsteht. II: Patienten nach herzchirurgischen Eingriffen Die breite Ausprägung dieser Kategorie, der die Mehrzahl der Teilneh- mer von Kinderherzgruppen angehört, ergibt sich aus Tabelle 3: 16 17
Tabelle 3: Schweregrade des postoperativen Restbefundes (d.h. nach Die meisten herzoperierten Kinder haben keine oder leichte Restbe- OP verbleibend), körperliche Einschränkungen und Sportempfehlungen funde. Sie können uneingeschränkt am Sport teilnehmen (Zeile A und (Schickendantz et al., 2017). B in Tab. 3). Bei bedeutungsvollen Restbefunden (C) erscheint in jedem Fall eine individuelle Abklärung erforderlich. Hier sind auch Beispiele aus den folgenden Sondergruppen III bis V enthalten. Ein besonderes Augenmerk muss auf die Kinder mit komplexen Herz- fehlern nach Palliativoperation (D) gerichtet werden, insbesondere wenn Kate- Körperliche Beispiele eine Kreislauftrennung nicht möglich war und noch eine Zyanose vorliegt Schweregrad Sport möglich? gorie Einschränkungen (nach Häufigkeit geordnet) 0a Operations- Abhängig vom Hf vor Korrektur Nein bedürftig Herzfehler (z.B. bedeutungsvolle III: Inoperable Herzfehler Aortenstenose) Bei diesen schwerst betroffenen Patienten wird sich die Teilnahme 0b Postoperativ Abhängig von 3 bis 6 Monate nach Operation Nein Schwere der OP an einer Kinderherzgruppe „nur im Einzelfall bei vertretbarer Belastbarkeit ergeben“ (DGPR, 2001, S. 171). Beim Schulsport © Foto: iStock.com / andrewsafonov A Kein Herzfehler Keine Einschränkun- ./. Uneingeschränkt (mehr) gen werden diese Kinder in noch selteneren Fällen und nur mit Ein- schränkungen mitmachen dürfen. B Leichte Rest Keine Einschränkun- Kleiner Rest-VSD, unbe- Uneingeschränkt befunde gen deutende Klappenfehler, Aortenisthmus-Op ohne anschließende arterielle IV: Patienten mit chronischen Myokarderkrankungen Hypertonie, unbedeutende Rhythmusstörungen, (in)kom- Beispiele für diese Gruppe sind Kinder mit chronischer Myo- pletter Rechtsschenkelblock karditis *s. Glossar oder Kardiomyopathie *s. Glossar. Nur sehr C Bedeutungsvolle Maximalbelastbarkeit Bedeutungsvolle Herz- Nicht leistungs wenige Kinder leiden unter den Folgen solcher erworbenen Restbefunde eingeschränkt, klappen-(Rest-)Stenose*, orientiert (d.h. nicht begrenzte Anpassung Klappenersatz, Antikoagula- wettkampfmäßig), Herzfehler. Diese Erkrankungen resultieren in einer Herzmus- der Herzarbeit bei tion*, Aortenisthmus-Op mit nur geringe stati- kelschwäche. Zusätzlich sind die Patienten vor allem unter körperlicher Belastung anschließender arterieller sche Belastung Belastung von schweren Herzrhythmusstörungen bedroht, die zum Hypertonie, Herzrasen, herzschrittmacherpflichtige plötzlichen Herztod führen können (beispielsweise auch bei Hochleis- Rhythmusstörungen, tungssportlern). Daher besteht für diese Gruppe meist ein Sportverbot. bedeutungsvolle Herzmuskel- schwäche D Schwere Belastbarkeit bereits Inoperable Herzfehler, Eingeschränkt, d.h. V: Patienten mit problematischer Dauertherapie Restbefunde im Alltag einge- komplexe Herzfehler ganz besonders schränkt nach Palliation*, z.B. mit auf individuelle 1. Mit Herzschrittmacher Fontan-Kreislauf; Zyanose, Belastbarkeit schwere chronische Myo- abgestimmt 2. Mit Antikoagulanzien-Therapie zur Verhinderung von Gerinnselbildung, karderkrankungen, schwere z.B. an künstlichen Herzklappen: Herzmuskelschwäche Diese Gruppe macht zahlenmäßig nur einen kleinen Teil aus, bedarf E Vital gefährdende Lebensbedrohliche Long QT-Syndrom*, Lungen- Nein aber besonderer Beobachtung. Hier kann die Teilnahme am Schulsport Befunde Gefährdung unter kör- hochdruck, Muskelverdikkung nur in eingeschränkter Form erlaubt werden, um die Risiken von Verlet- perlicher Belas-tung in der linken Kammer (HOCM), schwere Herzrhythmusstö- zungen oder Beschädigungen des Schrittmachers zu minimieren. rungen unter Belastung, Herztransplantation in Rehabilitationsphase** VI: Patienten nach Herztransplantation Auch diese Gruppe ist im Kindes- und Jugendalter recht klein. Trans- * Erklärungen finden Sie im Glossar auf S. 62 plantierte nehmen vereinzelt an einer Kinderherzsport-Gruppe teil. ** Nach der Rehabilitationsphase kann die Sporttauglichkeit abhängig vom aktuellen Zustand vari- Während der Rehabilitationsphase ist - nicht zuletzt aufgrund der hohen ieren von „uneingeschränkt“ bis „Sportverbot“. Infektgefahr durch die Immunsuppression *s. Glossar - eine Befreiung vom Schulsport unumgänglich. Danach kann die Sporttauglichkeit - abhängig vom aktuellen Zustand - variieren von „uneingeschränkt“ bis „Sportverbot“. 18 19
1.7 Indikationen und Kontraindikationen für die 2. Psychologische Grundlagen Teilnahme am Schulsport ♥♥ Jedes Kind sollte am Schulsport teilnehmen können, soweit es 2.1 Psychosoziale Belastungen bei angebore- nach seiner Leistungsfähigkeit dazu in der Lage ist und keine nem Herzfehler Kontraindikation besteht. Dies wird in zahlreichen Empfehlun- gen, u.a. in Takken et al. (2012) unterstrichen. Nichtbetroffene haben meist keine Vorstellung von den zusätzlichen ♥♥ Ein Sportverbot wird nur dann ausgesprochen, wenn unter kör- Belastungen und deren Folgeerscheinungen, die Familien mit chro- perlicher Belastung eine lebensbedrohliche Verschlechterung nisch kranken Kindern zu bewältigen haben. In den verschiedenen des Herzkreislaufsystems zu befürchten ist. Dies gilt in folgen- Lebensbereichen kommen Betroffene immer wieder an ihre Grenzen; den Fällen: zusätzlich zu den in Abbildung 3 dargestellten Bereichen müssen sich ▪▪ bei bestimmten Formen von Herzrhythmusstörungen der die Eltern oft permanent durch einen Wust von Antragsformularen Herzkammern (QT-Syndrom), die bekanntermaßen durch kämpfen und mit unterschiedlichen Behörden oder der Krankenkasse körperliche (auch psychische) Belastungen ausgelöst werden, auseinandersetzen. Existenzielle Probleme belasten oft die familiäre Situation. ▪▪ bei erhöhtem Blutdruck in der Lungenstrombahn mit der Ge- fahr eines weiteren Blutdruckanstiegs und totalen Kreislauf- versagens unter körperlicher Belastung, ▪▪ bei bedeutsamen Stenosen der Pulmonal- und vor allem der Betroffene(r) Aortenklappe, bei denen es zu einer akuten Unterbrechung Erleben von „Anderssein“ der Durchblutung der Herzkranzgefäße mit entsprechenden erschwerte Loslösung vom Elternhaus fatalen Folgen kommen kann. ! - E in es gk - e früh chti in and er eit sa e ke de - Wi Fazit m r v nn s ke er e H g un it m n erz hr Das medizinische Bild eines jeden Herzfehlers stellt sich trotz aller Klassifizierungs- nä Er is de e bemühungen sehr unterschiedlich dar. Deshalb bedarf jeder Herzfehler einer indivi- Klinikaufenthalte se r ns te er n finanzielle Belastung w duell zugeschnittenen Behandlung. ch s erschwerte Erziehungssituation er ungewisse Prognose Eltern Geschwister - Trauerprozess - Vernachlässigung - akzeptieren des Schuldgefühle - Überforderung Operationszeitpunktes - Symbolik des Herzens Abb. 3: Belastungen durch einen angeborenen Herzfehler bei Betroffenen, Etern und Geschwistern © Foto: .shock / Fotolia 20 21
2.1.1 Besondere Herausforderungen Welt-geworfen-Sein“ auf eine harte Probe gestellt. Das Kind verliert den Anschluss an den Alltag und erlebt den Klinikaufenthalt wie eine Kinder mit angeborenem Herzfehler müssen sich neben der Bewälti- isolierende Kunstwelt. Obwohl die Eltern inzwischen auf den meisten gung altersgemäßer Entwicklungsaufgaben (wie z.B. Anpassung an Stationen Tag und Nacht bei ihrem Kind bleiben können, lassen sich Schulalltag, Gewinnung von Freunden, Erreichen einer altersgerechten örtliche Trennungen, z.B. in Zusammenhang mit einer Herzoperation, Selbständigkeit), erkrankungsbedingt mit folgenden Besonderheiten nicht immer ganz vermeiden. Auch Schmerzen und Nebenwirkungen auseinandersetzen, die die Entwicklung zusätzlich belasten können: von Medikamenten sowie Einschränkungen der Bewegungserfahrung, z.B. durch Ruhigstellung nach einer Operation, gehören zum Alltags- © Grafik: Abb. Seelsorgeamt Bistum Essen (Hrsg.) (1997) / Kalender “Wir sagen Euch an: Advent“/ erleben in der Klinik. Das Herz - DAS zentrale Organ Da es sich bei dem Herzen um ein besonders wichtiges und zudem auch sehr symbolträchtiges Organ handelt, werden diese Erkrankun- Spätere (Re-) Operationen gen meist als besonders bedrohlich erlebt. Es verkörpert nicht nur das Falls nicht ein lebenserhaltender Leben schlechthin (Aldén, 2000), sondern gilt in unserer Kultur auch als Soforteingriff im Säuglingsalter „Sitz oder Wohnstatt der Seele und Ort der Entstehung von Gefühlen“ nötig ist, wird die Korrekturope- (Seithümmer, 1991, S. 10). Der ganze Mensch findet sich quasi kompri- © Foto: iStock.com / monkeybusineesimages ration zu einem späteren Zeit- miert im Herzen wieder. Unzählige bildhafte Ausdrücke belegen diese punkt festgesetzt, an dem die symbolische Funktion. gesundheitliche Situation des Kindes stabil ist. So hat das Kind Außerdem kennen gesunde und bei der Operation noch bessere vor allem herzkranke Kinder Überlebenschancen. Nicht nur die Funktion des Herzens als für das Kind selbst, sondern auch „lebenswichtigem Motor“ schon für die Eltern ist es unter diesen im Vorschulalter und damit Umständen sehr schwierig, die deutlich vor der Funktion ande- Notwendigkeit einer Operation rer Organe, wie z.B. Magen, einzusehen (Petermann, Noeker Nieren, Leber (Busch, 2002). & Bode, 1987). Sie geben ein Dadurch können schon bei jün- relativ gesundes Kind an der Tür zum Operationssaal ab und finden es geren herzkranken Kindern und auf der Intensivstation wieder, meist mit einer großen Operationswunde, deren Geschwister Ängste ent- künstlich beatmet und an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen. stehen oder verstärkt werden. Wenn sie darauf nicht vorbereitet sind, kann dies ein schwerer Schock sein. Fehlende Entwicklungsanregungen durch häufige Kranken- Viele Betroffene müssen mehrfach operiert werden, teils sind auch hausaufenthalte Re-Operationen notwendig, z.B. wenn neue Verengungen entstehen Junge Patienten mit einem angeborenen Herzfehler stehen ständig „mit oder wenn Herzklappen ersetzt werden müssen. einem Bein im Krankenhaus“. Die 76 Teilnehmer der ersten sechs Köl- ner Kinderherzsport-Gruppen mussten beispielsweise durchschnittlich etwa fünf Mal (einzelne Kinder sogar bis zu 30 Mal) stationär behandelt werden und verbrachten somit fast ein Vierteljahr (bis zu 1 ¼ Jahre) ihres jungen Lebens im Krankenhaus (Sticker, 2002). Durch einen langen Krankenhausaufenthalt fehlen dem Kind wichtige Entwicklungs anregungen, wie zum Beispiel genügend Bewegungs- spielraum und Gleichaltrigenkontakte. Das seelische Gleichgewicht wird durch eine relativ eintönige Umgebung und dieses „Aus-der- 22 23
Eltern in der Zwickmühle Bruder oder die Schwester und entwickeln oft irrationale Vorstellungen, was mit ihm oder ihr geschieht. Häufig wird die Erkrankung als Strafe Nicht nur für das Kind sondern auch für die Eltern ist ein Krankenhaus- für eigenes Fehlverhalten (z.B. „Wegwünschen“ des Bruders oder der aufenthalt eine große Herausforderung. Trotz allen Bemühens können Schwester) betrachtet, so dass sich Schuldgefühle entwickeln können. sie ihr Kind nicht immer angemessen unterstützen, da sie oft unter eigenen Ängsten leiden, die auf das Kind auch unausgesprochen über- tragen werden können. Kinder haben feine Antennen für „Zwischen- 2.1.2 Überbehütung und Sonderrolle töne“ und spüren sehr genau, ob Eltern authentisch sind. Deshalb ist es für Eltern wichtig, kräfteschonend mit der Situation umzugehen, um ihrem Kind eine Hilfe sein zu können. Bedeutung eines angemessenen Erziehungsstils Eltern und andere Bezugsper- Auch Partnerschaftsprobleme bei Paaren mit chronisch kranken Kin- sonen sorgen sich verständli- dern sind nicht selten, können aber mit qualifizierter Hilfe aufgearbeitet cherweise ganz besonders um werden. Gesunder Pragmatismus und Psychohygiene im turbulenten das herzkranke Kind. Daher Familienalltag können entlasten. entwickeln sie häufig Überbe- hütungstendenzen. Aus Angst © Foto: AdinaVoicu / pixabay.com Unsere Elterncoaching-Wochenenden sind dabei sehr hilfreich. Wei- vor Infekten werden z.B. oft nur tere Infos dazu auch in unserem „Leitfaden für Familien mit herzkran- „ausgesuchte“ soziale Kontakte ken Kindern“ (auch in Englisch, Türkisch und Russisch erschienen) zugelassen, so dass die Gefahr unter www.bvhk.de. zunehmender Isolierung besteht. Auch Erzieherinnen und Lehrer neigen nicht selten zur Überbe- Geschwister als „Schattenkinder“ hütung (siehe auch Abb. 5, Seite Wenn noch Geschwister vorhan- 36). Es kann für die Betroffenen den sind, muss deren Betreuung selbst sehr belastend sein, wenn organisiert werden. In dem stän- sie sich dauernd angstvoll beobachtet und in ihren körperlichen Aktivi- digen Hin und Her bekommen täten eingeschränkt fühlen. die Eltern oft das Gefühl, weder Die ständige Sorge um das Kind kann auch dazu führen, dass die dem kranken Kind noch den Eltern versuchen, es für die mit der Erkrankung zusammenhängenden gesunden Kindern gerecht zu Nachteile zu entschädigen, indem sie ihm eine Sonderrolle zuweisen: werden. Sie lesen ihm jeden Wunsch von den Augen ab und erfüllen ihn mög- © Foto: st-fotograf / Fotolia Die gesunden Geschwister lichst umgehend; sie räumen ihm Schwierigkeiten aus dem Weg, und werden häufig „Schattenkinder“ entbinden es von häuslichen Pflichten. genannt. Dieser bildliche Ver- gleich verdeutlicht zwei beson- Es leuchtet ein, dass ein derartiger verwöhnender Erziehungsstil für dere Aspekte. Zum einen fällt auf die Entwicklung des Kindes kontraproduktiv ist, denn dies erschwert sie der Schatten der Krankheit in sowohl die Akzeptanz unter Gleichaltrigen als auch die Gewöhnung Form einer gedrückten Familien- an den Schulalltag, in dem eine Einordnung in die Gruppe sinnvoll atmosphäre, in der kaum Platz für Unbeschwertheit und Ausgelassen- und nötig ist. Spätestens als Erwachsene wären diese Kinder mit der heit ist. Zum anderen stehen sie im wahrsten Sinne des Wortes im Bewältigung des Alltags überfordert, weil sie weder ausreichende Frus- Schatten des kranken Kindes, um das herum das ganze Familienleben trationstoleranz noch realistische Selbsteinschätzung und gesundes organisiert wird. Selbstbewusstsein entwickeln konnten. Manchmal ist „gut gemeint“ das Gegenteil von gut. Insofern leiden auch die Geschwister stark unter dieser Situation, indem sie sich teilweise vernachlässigt, überfordert und unverstanden fühlen (Winkelheide 2007). Außerdem vermissen sie ihren kranken 24 25
Thema Essen als neuralgischer Punkt 2.1.3 Erfahrung des „Andersseins“ Eine wichtige Ursache für die Den meisten herzkranken Kindern sieht man ihre Erkrankung nicht an. große elterliche Besorgtheit ist Sie haben den starken Wunsch, so wie gesunde Kinder zu sein und die schlechte körperliche Ent- auch im Schulalltag einfach dazuzugehören (vgl. Simonas Erfahrungs- wicklung der meisten herzkran- bericht, Seite 8). Immer wieder werden sie aber daran erinnert, dass sie ken Kinder infolge der extrem anders sind, sei es durch die Operationsnarbe, erhöhte Krankheitsan- erschwerten Ernährungssitua- fälligkeit, kardiologische Kontrolluntersuchungen oder eingeschränkte © Foto: Techniker Krankenkasse tion. Häufig können die Säuglinge körperliche Leistungsfähigkeit. aus eigener Kraft nicht genügend Nahrung zu sich nehmen, so Besonders schmerzlich wird das Anderssein bei Ausgrenzungserfah- dass eine aufwändige Sonde- rungen erlebt. Dazu kann es durch Gedankenlosigkeit sowie fehlendes nernährung notwendig wird. Da pädagogisches Geschick im sozialen Umfeld, auch seitens der Lehr- für manche Herzoperationen ein kräfte, und durch Informationsmangel bei Beteiligten kommen. Dies bestimmtes Gewicht erreicht sein sollte gerade auf dem Hintergrund der zunehmenden Bemühungen um sollte, stehen die Eltern ständig Inklusion nicht hingenommen, sondern besprochen werden. unter Druck, dem Kind möglichst viel Nahrung zuführen zu müssen. Durch den Fokus auf das Thema Praktische Lebenshilfe besteht darin, sich interdisziplinär auszutau- Essen wird dieses dann z.B. negativ besetzt und emotional aufgeladen. schen, um Unterstützungsangebote zu entwickeln und dem Kind beim Dadurch kann sich ein Entwicklungsproblem (Gedeihstörung) verselb- aktiven Umgang mit der Erkrankung zu helfen und ihm volle Teilhabe ständigen und zu einer massiven Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Be- zu ermöglichen. ziehung, und evtl. zu einer Essstörung, ausweiten. Bei bestimmten Herzfehlern, vor allem bei den univentrikulären oder Einkammer-Herzen entwickeln einige wenige Patienten das sogenannte Eiweißverlustsyn- 2.2 Zusätzliche Erschwernisse bei Betroffenen drom. Dabei verlieren sie Eiweiß über die Lunge (BP-Bronchitis Plastica) im Jugendalter oder über den Darm (PLE-Protein Lost Enteropathie). Beim PLE emp- fiehlt sich eine extrem eiweißreiche Ernährung. Bei anderen Patienten Im Jugendalter sind wieder neue kann durch eine Ansammlung von Lymphflüssigkeit, dem sogenannten Entwicklungsaufgaben zu bewäl- Chylothorax, eine fettarme Diät notwendig werden. tigen, z.B. Akzeptieren der kör- perlichen Veränderungen, Auf- bau von reiferen Freundschaften Abschied von alten Träumen - Entdecken neuer Wege und Beziehungen zum anderen © Foto: streetwear / pixabay.com Die große elterliche Besorgtheit lässt sich auch als eine Form von Geschlecht, Ablösung von den Trauerbewältigung verstehen. Durch die Geburt eines kranken Kindes Eltern, Entwerfen einer tragfä- wird der Traum von einem „perfekten“ Kind zerstört. Der elterliche Trau- higen Zukunftsperspektive. Ein erprozess vollzieht sich in verschiedenen Phasen, ganz ähnlich wie er angeborener Herzfehler verkom- für Sterbende beschrieben wurde (Kübler-Ross, 1973). pliziert die ohnehin schwierige Entwicklung, indem die Jugendli- Auf die anfängliche Verwirrung durch den Diagnoseschock folgen chen sich mit folgenden zusätzli- zunächst Gefühle von Zorn und Schuldigsein sowie später Verzweif- chen Widersprüchlichkeiten aus lung und Furcht, das Kind zu verlieren. Dem wird versucht, mit überbe- einandersetzen müssen (nach hütendem Verhalten und Zuweisung einer Sonderrolle zu begegnen. Tong et al., 1998): Schließlich kommt es im günstigen Fall zu einer Neuorientierung (z.B. durch Konzentration auf noch realisierbare Ziele) mit zunehmender Anpassung an die Situation, was eine „Normalisierung“ des Erzie- hungsverhaltens ermöglicht. 26 27
2.2.1 Zugeben vs. Verheimlichen der Erkrankung im sozia- 2.3 Folgen der Belastungen durch einen angebo- len Umfeld renen Herzfehler Jugendliche müssen entscheiden, mit wem sie über ihre Erkrankung Herzkranke Kinder gehen sehr unterschiedlich mit Belastungen um, sprechen wollen: so dass auch die Folgen für die Entwicklung stark variieren. Manchen → Zugeben bzw. Verheimlichen kann schmerzliche Konsequenzen gelingt es, die Herausforderungen zu meistern (Warschburger, 2000). haben. Bei anderen Betroffenen kommt es vorübergehend oder dauerhaft zu Problemen in der Entwicklung (Utens & Erdmann, 1992). Die große 2.2.2 Unabhängigkeit vs. Abhängigkeit Spannweite von Entwicklung spiegelt sich auch in einer Analyse von 78 Untersuchungen von 1980 bis 2002 wider (Sticker, 2002). Aus diesen Das Bedürfnis nach Ab Studien konnten knapp 200 statistisch bedeutsame Befunde danach nabelung von der Familie wird klassifiziert werden, ob die untersuchten Entwicklungsmerkmale herz- bei herzkranken Jugendlichen kranker Kinder und Jugendlicher verglichen mit Gesunden als ungüns- in schwierigen Phasen (z. B. tiger oder ähnlich bzw. sogar günstiger einzustufen sind. Krankenhausaufenthalte) durch Bezogen auf den kognitiven, sozialen und familiären Bereich spricht © Foto: natureaddict / pixabay.com Bedürfnis nach familiärer Unter- jeweils etwa die Hälfte der statistisch bedeutsamen Befunde eher für stützung zurückgedrängt: bzw. eher gegen das Bestehen von Nachteilen beim Aufwachsen mit → Ablösung vom Elternhaus einem angeborenen Herzfehler (Abb. 4). Abweichend davon dominie- kann erschwert werden. ren im körperlichen Bereich ungünstige, im emotionalen Bereich hinge- gen günstige Ergebnisse. Im Folgenden werden einige relativ häufig vorkommende und in diesem Sinne typische Entwicklungsfolgen beschrieben. 2.2.3 Erreichen von Selbstwirksamkeit trotz 40 „Behandelt-Werdens“ Nachteile Keine Nachteile Herzkranke Jugendliche fühlen sich häufig dem angeborenen Herz- 30 fehler, der damit verbundenen Behandlung und den Folgen passiv ausgeliefert: → Gefühl von Kontrolle über wichtige Bereiche des eigenen Lebens zu 20 gewinnen ist schwierig. 10 2.2.4 Ertragen der Ungewissheit bzgl. des Erkrankungsverlaufs 0 17 10 35 36 13 28 18 15 13 10 Körperlich Kognitiv Emotional Sozial Familiär Bei schweren Restbefunden, aber auch bei operativ erfolgreich kor- rigierten Herzfehlern können Komplikationen auftreten. Dadurch schwanken die Gefühle der betroffenen Jugendlichen zwischen Hoffen Abb. 4: und Bangen: Für oder gegen das Bestehen von Nachteilen bei herzkranken Heranwachsen- → erschwerte Zukunftsorientierung in beruflicher und privater Hinsicht. den sprechende Befunde zu verschiedenen Bereichen der Lebensqualität (Ba- sis: 197 Befunde aus 59 Studien mit knapp 4.400 Betroffenen, veröffentlicht zwischen 1980 und 2002, Sticker, 2002). 28 29
2.3.1 Motorik vor allem körperlich eingeschränkte Kinder und Jungen mit totalem Sportverbot. Weiterhin finden sich starke Ängstlichkeit, geringe Frus- Im körperlichen Bereich finden trationstoleranz und vermehrtes Stresserleben (Sticker, 2001b). Man- sich motorische Entwicklungs- che Jugendliche zeigen besonders starke Stimmungswechsel, Rück- rückstände und teils erhebliche fälle auf frühere Entwicklungsstadien, Depressionen und antisoziales Auffälligkeiten insbesondere in Verhalten (Bowen, 1985). Insbesondere in dieser Entwicklungsphase der Bewegungskoordination. können Einschränkungen der sportlichen Aktivitäten negative Auswir- Betroffen sind hier vorrangig Kin- kungen haben. der mit schwerwiegenden zyano- © Foto: iStock.com / FatCamera tischen Herzfehlern, während Kinder mit leichteren Herzfehlern 2.3.4 Psycho-sozialer Bereich sich durchaus motorisch unauf- Die soziale Situation ist nicht selten gekennzeichnet durch eine Ten- fällig entwickeln können (Leurs denz zu Rückzugsverhalten, wobei Kontaktängste den Aufbau und et al., 2001b; Stieh et al., 1999; die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen erschweren Unverdorben et al., 1997; Dordel oder ganz verhindern. Dies gilt vor allem, wenn der Herzfehler – wie et al. 1999; Bjarnason-Wehrens in den meisten Fällen – nicht sichtbar ist. Viele herzkranke Kinder und et al. 2007 ). Jugendliche fühlen sich aber in ihrer Familie ausgesprochen wohl, was sicher auch mit dem großen Verständnis zusammenhängt, das ihnen in 2.3.2 Kognition diesem geschützten Raum entgegengebracht wird. Der kognitive Bereich erscheint insbesondere bei Kindern mit zyano- tischen Herzfehlern durch Entwicklungsverzögerungen und eine teil- 2.3.5 Familiäres Klima weise niedrigere Intelligenz gekennzeichnet (vgl. Singer, 2001). Aber Teilweise gelingt den Eltern die auch Kindern, die wegen fälschlich diagnostizierter Herzfehler unnötig Bewältigung dieser schwierigen in ihrer Bewegungsaktivität eingeschränkt wurden, drohen Einbußen Situation in bewundernswerter ihrer Intelligenz (Caylor, Lynn & Stein, 1973); dies unterstreicht die Weise (Hilgenberg, 1996), nicht Wichtigkeit altersgerechter Bewegungsaktivität für die kognitive Ent- selten geraten sie jedoch an den wicklung (vgl. Kapitel 3, ab Seite 38). Rand ihrer Kräfte. Das familiäre © Foto: Dasha Petrenko / Fotolia Klima ist häufig durch finanziel- Nach einer neueren auf 23 Studien basierenden Analyse von Karsdorp len, sozialen und persönlichen et al. (2007) betreffen Nachteile vor allem ältere Kinder und Jugend- Stress oder chaotische Struktu- liche, wobei der Schweregrad des Herzfehler nur für das Intelligenz- ren und problematische Bezie- niveau, nicht aber für andere Entwicklungsbereiche von Bedeutung hungen belastet. Dies kann zu war. Miatton et al. (2006) betonen in ihrem ebenfalls auf 23 Studien körperlichen Erkrankungen, psy- basierenden Sammelreferat, dass allgemeine Aussagen aufgrund der chosomatischen Störungen und Vielfalt angeborener Herzfehler nur schwer zu treffen sind. Durch den depressiven Reaktionen führen. medizinischen Fortschritt ist allerdings davon auszugehen, dass die Die Scheidungsrate ist bei Eltern Behandlungsresultate und somit auch die Lebensqualität sich weiterhin chronisch kranker Kinder und Jugendlicher nicht erhöht. Allerdings verbessern. muss berücksichtigt werden, dass viele betroffene Paare eine Schei- dung aufgrund der großen Folgeprobleme für die Versorgung eines 2.3.3 Emotionaler Bereich kranken Kindes als ein „Tabu“ betrachten (Petermann et al., 1987). Trotzdem können die Auswirkungen einer „inneren“, unausgesproche- Im emotionalen Bereich dominieren, teils in Verbindung mit einem nen Scheidung natürlich zusätzlich belastend für die Kinder sein. negativen Körperbild, Störungen des Selbstwertgefühls. Dieses kann entweder extrem übersteigert oder vermindert sein. Letzteres betrifft 30 31
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