2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus

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2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon

                   2018
               Thema: Aufwachsen
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
INHALT                                                                                                   Aufwachsen früher und heute

                                                                                                              DER STADTPRÄSIDENT ERINNERT SICH
 1   Der Stadtpräsident erinnert sich
 2   Editorial
 3   Ein historischer Blick auf die letzten 100 Jahre
 8   Grosse Verantwortung von Kindsbeinen an
10   Auf Ross und Brückenwagen                                                                                Wenn ich mich an mein eigenes Aufwachsen in den 1960er Jahren erinnere,   Bauernhof, wenn der Störmetzger mit seinen
     Die Mutter war die Seele der Familie                                                                     kommt mir vieles in den Sinn – Wichtiges und Unwichtiges bunt durchei-    Werkzeugen auftauchte und die Schweine zum
12
                                                                                                              nander. Ich denke an die Familie, unser Haus, mein Zimmer, den Garten     Quietschen brachte.
14   Kirche und eiserne Jungfrau als Spielplatz                                                               und weiter an die Sechsklassenschule, den betagten Lehrer, gefolgt von
16   Rundum Abenteuer                                                                                         der jungen, modernen Lehrerin. Die Schiefertafel mit dem Griffel, den    Solche Bilder tauchen vor meinem inneren Auge
18   Hier beginnen meine Ländereien                                                                           Füllfederhalter mit dem Tintenfass, dann weiter − ganz wichtig! − der    auf, wenn ich an mein Aufwachsen in einem
20   Ganz Bisikon war unser Spielplatz                                                                        Pausen- und Turnplatz mit der Kletterstange und dem Sand, in dem wir     ländlichen Gebiet denke, welches dann kurz
                                                                                                              Fischzähne finden konnten ... An die kleine Schulbibliothek, in der wir  nach meiner Primarschulzeit einen Entwick-
22   Mexikanisches Blut im FC Effretikon
                                                                                                              jeweils am Samstagmorgen spannende Bücher ausleihen durften. An Mäd-     lungsschub erlebte und sich stark modernisierte.
24   Minecraft & Co                                                                                           chen mit Schürzen und Zöpfen, an Knaben in kurzen Manchesterhosen        Meine Jugendwelt war überschaubar. Heute,
26   Ein schlauer Erfinder                                                                                    und Kniesocken, an die ersten richtigen Turnschuhe, an die ersten Ski-   rund fünfzig Jahre später, hat sich für Kinder
28   Jahreschronik 2016/2017                                                                                  schuhe mit Schnallen, die ersten Blue Jeans ...                          und Jugendliche vieles verändert. Die Freiräume
                                                                                                                                                                                       in den Dörfern und Siedlungen sind enger
                                                                                                              Ich erinnere mich an den Schulweg, der mindestens so wichtig war wie die geworden, vieles ist geregelt, Vereine strukturie-
                                                                                                              Schule selbst, den Feldweg durch Äcker und Wiesen, gesäumt von hohen ren die Freizeitaktivitäten. Dafür hat sich der
                                                                                                              Obstbäumen, von blauen und roten Blumen − Wegwarten und Mohn. Das digitale Raum fast grenzenlos geöffnet – mit
                                                                                                              Gebiet zwischen Wohnort und Schulhaus war unser Hoheitsgebiet; selbst einem universellen, vielfältigen, nicht mehr
                                                                                                              gebastelte Pfeilbogen und Steinschleudern kamen hier zum Einsatz. Das überblickbaren Angebot. Mit unzähligen Mög-
                                                                                                              Draussen-Sein bedeutete Freiheit und Inspiration. Auf der Dorfstrasse lichkeiten, Verlockungen, Gefahren ... Auch dies
                                                                                                              wurde Fussball gespielt, auf dem Weiher Eishockey, der Abhang hinter ist eine faszinierende Welt, aber es ist eine ande-
                                                                                                              dem Haus wurde zur Skipiste, die Böschung zur Schanze. In den Wiesen re, neue Welt − eine Welt, die weniger greifbar
                                                                                                              wurden Mäusefallen gestellt, im Wald Bäume erklettert, Hütten gebaut, ist, weniger sinnlich. Eine Welt, die nicht stinkt!
                                                                                                              Fuchshöhlen erkundet.

                                                                                                              Ein einzigartiges Biotop in unserem ‹Revier› war eine grosse, ruhig vor Ueli Müller, Stadtpräsident

                                                                                                                                                                                                                             1
                                                        Umschlag:
                                                        Vorne v.l.: Armin Heinimann mit Mutter und            sich hin mottende Abfallgrube unweit unseres Hauses, eine Grube mit
                                                        Geschwistern um 1950 in den Flumserbergen;            unzähligen Kostbarkeiten im stinkenden Müll sowie Wasserflächen, die
                                                        Lila-Amëlle Abed
                                                        Hinten v.l.: Die Zwillinge Tobi und Rika Schneider;
                                                                                                              mit Hilfe von Fässern und Holzpaletten befahren werden konnten, wo See-
                                                        Stofftiere früher und heute                           schlachten über die Bühne gingen und Piraten sich versteckten. Der
                                                                                                              eigentümliche Geruch, der sich in unseren Kleidern festsetzte, verriet
                                                                                                              dann den Eltern, wo wir uns entgegen ihren Anweisungen wieder getum-
                                                                                                              melt hatten ... Fasziniert waren wir auch von der Metzgete auf dem nahen
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Aufwachsen in Illnau-Effretikon: Editorial                                    Aufwachsen im Zürcher Oberland

LIEBE LESERINNEN 							                                                      EIN       HISTORISCHER BLICK
                                                                                                                                                                                      Zu allen abgebildeten
                                                                                                                                                                                           Personen in
                                                                                                                                                                                         diesem Beitrag
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Das Jahrheft 2018 berichtet über das Aufwach-                                 Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass wir in unserer Kind-                 Arbeitsgemeinschaften wenig geredet; die Kom-
sen in den letzten 100 Jahren. Frauen und                                     heit durch die äusseren Umstände zutiefst geprägt wurden,                   munikation lief über das gemeinsame ‹Machen›.
Männer unterschiedlichen Alters erzählen Ge-                                  ohne dass wir ein klares Bewusstsein davon hatten und ohne                  Die Wertschätzung sah man an der Sitzordnung
schichten über ihre Kindheit und Schulzeit in                                 dass wir darüber bestimmen konnten. Welche Bedingungen                      am Familientisch. Familienrituale wie beispiels-
Illnau-Effretikon. Bei der Auswahl für die Por-                               aber prägten und prägen unsere Kindheit und unser Leben                     weise das gemeinsame Gebet vor und nach dem
traits haben wir auf eine Vielfalt bezüglich der                              so sehr, dass wir bis ins Alter mit unserem Schicksal hadern                Essen schufen Nähe.
Herkunft geachtet. Die Interviewten sind in bäu-                              oder dankbar auf unsere Kindheit zurückschauen?
erlichen, handwerklichen, Arbeiterinnen-, Ange-                                                                                                           Kinder aus Arbeiterfamilien galten vor 100 Jah-
stellten-, Lehrerinnen- oder Fabrikanten-Kreisen                              Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen so rasanten Wan-   ren ebenfalls als Teil der Arbeitsgemeinschaft.
aufgewachsen. Sie haben einheimische und                                      del erlebt, dass man annehmen könnte, auch die Bedingungen für das          Mit der Fabrikarbeit entfernten sich jedoch der
fremdländische Wurzeln.                                                       Aufwachsen von Kindern hätten sich grundsätzlich geändert. Dies ist         Vater oder die Mutter vom frühen Morgen bis
                                                                              jedoch nicht der Fall. Wichtig für Kinder war und ist in erster Linie das   zum späten Abend aus dem Familienleben. 1877
Geschichten aus der Kindheit sind einzigartig                                 familiale Gefüge: Eltern, Geschwister, Position in der Geschwister-         wurde die Kinderarbeit in Fabriken verboten.
und persönlich. Gleichzeitig sind sie von der                                 reihe, Verwandte und die materielle Situation. Es folgen das weitere        Dennoch hatten die Kinder unter Aufsicht von
Geschichte mitgeprägt, von der Zeit und vom                                   Umfeld mit Kindergruppen in der Umgebung, die Schule, gesellschaftli-       Grossmutter, Grossvater oder einer älteren
Ort des Aufwachsens. Genau das möchten wir                                    che Maximen und Autoritätspersonen sowie später eigentliche Jugend-
sichtbar machen: das Persönliche sowie das Zeit-                              freundschaften. Innerhalb dieser bestimmenden Faktoren lassen sich
und Ort-Bedingte.                                                             allerdings markante Entwicklungen feststellen.                              Mit zehn Jahren verlor
                                                                                                                                                          Marie Berweger-Mäder
                                                                                                                                                          ihre Mutter und musste
Die Gespräche für das diesjährige Jahrheft                                    Auf die Arbeit der Kinder angewiesen                                        von da an hart arbeiten.
waren für alle Beteiligten eine Entdeckungsreise.                             Die meisten Kinder lebten bis in die Zwischenkriegszeit in so genannten
Den Portraitierten danken wir für die kostbaren                               traditionellen Arbeitsgemeinschaften. Kinder wurden in Bauern-, Hand-
Geschichten und die persönlichen Bilder.                                      werker- und Gewerbefamilien schon früh in die Arbeitsprozesse einge-
                                                    Auf dem Traktor: Armin    spannt. Darum waren auch zahlreiche Kinder erwünscht. Ganz kleine
Lotti Isenring Schwander, Martin Steinacher und                               Kinder galten als Belastung. Sie wurden – wenn möglich – bald einer älte-

                                                                                                                                                                                               3
                                                    Heinimann um 1948
Erika Graf-Rey                                      und Jonas Berweger        ren Schwester oder einer Grossmutter übergeben. Tüchtige und fleissige
                                                    2009: Armin arbeitete
                                                    bei den Bauern, um das
                                                                              Kinder wurden für ihren Einsatz wie kleine Erwachsene geschätzt. Die
                                                    Familienbudget aufzu-     Leistungen in der Schule respektive der Schulbesuch galten oft als
                                                    bessern. Jonas lebt in    zweitrangig. Schläge betrachtete man als notwendig, um Kinder zu tüchti-
                                                    einer Bauernfamilie und   gen Arbeitskräften zu erziehen. Vor allem materielle Verfehlungen wurden
                                                    nahm an der Kinder-
                                                    Gesprächsrunde in der     bestraft, während ungebührliches Benehmen, freche Streiche oder das
                                                    Schule Eselriet teil.     Stiebitzen von Obst häufig als harmlos galten. In der Regel wurde in
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
geliebt wurden Kinder weiterhin, wenn sie zu        waren dann allerdings verpflichtet, ihrerseits die Eltern im Alter oder die
                                                                                                                       Hause mithalfen, keine ‹Schwierigkeiten› mach-      Geschwister in Notlagen zu unterstützen. Heute ist die Position in der
                                                                                                                       ten – und vor allem, wenn sie gut in der Schule     Geschwisterreihe immer noch wichtig, beschränkt sich jedoch in der
                                                                                                                       waren. Die Erziehung zu ‹richtigen› Mädchen         Regel auf die emotionale Ebene: die dominanten älteren Geschwister, das
                                                                                                                       und Knaben wurde in der Generation der 68er         verhätschelte Jüngste, die nicht beachteten mittleren Kinder.
                                                                                                                       vehement bekämpft. Kleine Kinder trugen ein-
                                                                                                                       heitliche Kleider und erhielten dieselben Spiel-  Verbesserte Medizin brachte tiefgreifend Veränderungen
                                                                                                                       sachen. Doch betraf dies nur einen kleinen Teil   Kaum mehr bedeutsam ist das Erleben von Krankheit und Tod, welches
                                                                                                                       der Familien. Erziehungsstil und -inhalte blieben das Familienleben noch vor 100 Jahren tief prägte. Seit den Fortschritten
                                                                                                                       vielerorts traditionell: Geformt werden sollten   der Medizin und der Entdeckung von Impfstoffen ist die Lebenserwartung
                                                                                                                       tüchtige ‹richtige› Frauen und ebenso ‹richtige›  der Erwachsenen wie der kleinen Kinder massiv gestiegen. Betrug die
Weberei Graf in Illnau                                Illnauerinnen gegen            Auch beim Spielen                 Männer.                                           durchschnittliche Lebenserwartung 1920 um die 40 Jahre, so ist sie heute
um 1914 mit Besitzer-                                 Horberinnen am Längg-          bereiteten sie sich auf                                                             auf zirka 80 bis 84 Jahre gestiegen. Die Säuglingssterblichkeit sank in der
familie und einem                                     Turnier, Rika Schneider        ihre Aufgaben vor:
Arbeiter                                              am Ball                        Mädchen aufs Mutter-
                                                                                                                       Die Generation der 68-er kritisierte auch das gleichen Zeit von zirka 100 auf 4 Promille. Das heisst, in den letzten Jahr-
                                                                                     Sein, Buben auf techni-           nun allgemein verbreitete Rollenmodell des zehnten gibt es zunehmend Viergenerationen-Familien, und der Tod ist für
                                                                                     sche Berufe.                      Alleinverdieners und der ‹Nur-Hausfrau›. Lang- die meisten Kinder ein Phänomen, das nur sehr alte Leute betrifft. Auch
Schwester tüchtig anzupacken: auf dem Pflanz-   Mädchen und von Disziplin und Leis-                                    sam nahm das Angebot an familienergänzenden
plätz, in der Küche oder beim Geldverdienen bei tungsbereitschaft für Knaben. Knaben                                   Betreuungen zu. Bis heute wird heftig diskutiert,
benachbarten Bauern. Auch in Arbeiterfamilien  verblieben in der Regel in den ersten                                   welches Modell für die Kinder das beste sei. Shani Baumgartner
                                                                                                                                                                         (links) mit Grossmutter
waren tüchtige und initiative Kinder hoch ge-  Jahren unter weiblicher Obhut, trugen                                   Gesellschaftliche Akzeptanz geniessen beson- und Schwester
schätzt. Es galt als Zeichen eines erfolgreichenauch Mädchenkleider; als zirka Vier-                                   ders Grosseltern, welche ihre Enkel und Enke-
Familienverbands, wenn die Mutter den Verdienst jährige erlebten sie einen eigentlichen                                linnen hüten.
aller geldverdienenden Mitglieder einzog, das  ‹rite de passage›: die Haare wurden
Sackgeld verteilte (auch dem Ehemann), und die  geschnitten, die ersten Hosen angezo-                                  Ab den 60erJahren hat das Fernsehen einen
Familienfinanzen regelte. Erst mit dem Einsetzengen, und von dieser Zeit an waren                                      hohen Stellenwert sowohl für das Familienleben
                                                männliche Autoritäten wie Lehrer
der Hochkonjunktur, als auch viele Arbeiter alleine                                                                    wie für die eigene Freizeitgestaltung. Ab 1990
                                                oder Väter verantwortlich für die
(fast) genug verdienten für das gesamte Familien-                                                                      gehören dann Streiten und Diskutieren – auch
budget, wurden die Finanzen Angelegenheit des   Erziehung zur richtigen Männlichkeit.                                  über Politik – zur Familienkultur. Kinderspiel-
Familienoberhaupts.                             Die Mädchen blieben im Einfluss-                                       zeug und Kinderbücher, schön sortiert für Mäd-
                                                bereich der Mütter, wo sie nach dem                                    chen oder Knaben, sind heute bedeutende             Cevi-Lagerstimmung:
Erziehung zu ‹richtigen› Frauen und             obligatorischen Institutsjahr auf ihre                                 Budgetposten.                                       Andrea Jost
Männern                                         Pflichten als Vorsteherinnen eines                                     Die Position in der Geschwisterreihe spielte frü-
In Familien der gehobenen Schichten war vor gepflegten Haushalts vorbereitet wurden. Auch in diesen Familien wurden    her eine zentrale Rolle. Arbeitsgemeinschaften

                                                                                                                                                                                                                                          5
100 Jahren die Erziehung zu ‹richtigen› jungen Kinder geschlagen, wenn sie rebellierten oder den Anforderungen nicht   waren darauf angewiesen, dass die ältesten Kin-
Frauen und Männern ein zentrales Anliegen. In genügten.                                                                der sofort nach der Schule selbst verdienten und
diesen Familien sollten bürgerliche Tugenden                                                                           das Geld zu Hause ablieferten. Die Jüngsten –
eingeübt werden – nicht Arbeitsleistung wie in Als in der Nachkriegszeit im Laufe der Hochkonjunktur immer mehr        besonders die jüngsten Knaben – hatten dann
Arbeitsgemeinschaften, sondern Selbstdisziplin Männer genug Geld für die ganze Familie verdienten, änderten sich die   häufig mehr Chancen, eine Berufslehre zu absol-
und Selbstbeherrschung. Dies beinhaltete die Anforderungen an Kinder aus Bauern-, Gewerbe- und Arbeiterkreisen.        vieren oder sogar in weiteren Ausbildungen Leh-
Einübung von Gehorsam und Unterordnung für Die Mütter hatten mehr Zeit besonders für die Kleinkinder. Geschätzt und    rer oder Beamte zu werden. Diese Aufsteiger
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umso intensiver wurde die Freizeit mit Gleichaltrigen verbracht. Seien es
                                                   die traditionellen Knabenbanden mit ihren rituellen Kämpfen oder ein-
                                                   fach die Wege, Strassen und Verstecke zum Spielen. Ab den 60er Jahren
                                                   gesellten sich auch die betreuten Jugendtreffs hinzu als eigentliche Kris-
                                                   tallisationspunkte für jahrelange Freundschaften. Auffallend ist der Stel-
                                                   lenwert von Jugendorganisationen; Sportclubs oder Cevi sind für einige
                                                   der jüngeren Interviewten eine zweite Heimat. Zwei Generationen früher
                                                   wäre für Kinder lediglich die Sonntagsschule als vereinsmässiger Ort in
                                                   Frage gekommen – erst nach der Konfirmation hätten dann die Sing- und
                                                   Theatergruppen für die Jugendlichen regelmässige Zusammenkünfte
                                                   ermöglicht. Jetzt lesen wir, dass Freundschaften aus dem Cevi oder dem
Werner Weiss                                       Fussballclub auch in der Erwachsenenzeit weitergeführt werden.               Die drei Bisiker Drittklässler am Sporttag:        Die neunjährige Mircla freut sich nach ihren
(zweiter von rechts)                                                                                                            Rolf Klossner in der Mitte                         Ferien in ihrem Heimatland Mazedonien auf ihre
am Zürcher OL 1969                                                                                                                                                                 Freundinnen und auf ihre Lehrerin.
                                                   Illnau und vor allem Effretikon gehörten in den 1960er und 70er Jahren
                                                   zu den rekordschnell wachsenden Ortschaften. Von 1965 bis 1985 stieg
die früher üblichen Rituale der Verabschiedung     die Bevölkerungszahl von gut 8000 auf fast 15'000 Personen. Darunter         Die Schule war und bleibt wichtig                  ist ein wichtiges Merkmal der Volksschulen im Kanton Zürich, dass auch
oder des Gedenkens, die in den meisten Famili-     waren auch viele ausländische Familien. Jetzt beträgt der Ausländeranteil    Die Schule war und ist ein zentraler Faktor für    Kinder reicher Fabrikantenfamilien die normalen Schulen besuchten und
en periodisch gefeiert wurden, fehlen heute        gut 25%. Das Zusammenleben mit ausländischen Kindern hat eine ande-          Kinder wie für Eltern. Die Schulpflicht begrenzt   die Väter in den Schulpflegen und Gemeinderäten ihre Anliegen durch-
weitgehend. Dafür kennen viele Kinder Grossel-     re Qualität als zu den Zeiten, als in Kempttal oder in den Spinnereien       den Entscheidungsspielraum der Eltern zutiefst.    setzten. Früher hatten sich Lehrer im Dorf vielfach zu engagieren – zum
tern, die noch gesund und aktiv im Leben stehen    einzelne ausländische Familien wohnten oder italienische Frauen in           Es kam gerade in früh industrialisierten Gebie-    Beispiel als Chordirigenten oder als Vereinsaktuare – und das jahrzehnte-
und mit denen sie dank regelmässigem Enkel-        Schweizer Familien einheirateten. Als neuartiger Faktor der Integration      ten mit Webereien und Spinnereien zu Konflik-      lang. Gute Lehrer gehörten wie die eingesessenen Bauern und Hand-
hüten langjährige vertrauensvolle Beziehungen      entpuppt sich heute ausgerechnet Minecraft – ein elektronisches Open         ten; denn die Eltern waren auf den Verdienst       werker, wie die Fabrikanten, Pfarrer und Advokaten zu den Autoritäten,
verbinden.                                         World Spiel, das der Fantasie der einzelnen Kinder wie auch der Zusam-       ihrer Kinder angewiesen. Deshalb wurde bei-        die im Dorf das Sagen hatten. Beklagte sich ein Kind zu Hause über
Die Lebenserwartung hat sich extrem verlängert –   menarbeit von Gruppen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, eigene Welten      spielsweise das Fabrikgesetz von 1877, das die     seinen Lehrer, war die häufigste Reaktion: der Lehrer wird schon wissen,
und parallel dazu hat die Anzahl von Scheidungen   zu gestalten – unabhängig von der Nationalität.                              Arbeit von Kindern unter 14 Jahren in den Fabri-   warum er dich straft. Dem Lehrer als Respektsperson, als dörflicher Auto-
zugenommen, von weniger als 5% vor 100 Jah-                                                                                     ken verbot, von Fabrikarbeitern wie auch Fabri-    rität, begegnet man heute nicht mehr.
ren auf heute über 50%. Kinder leben heute in                                                                                   kanten im Zürcher Oberland mehrheitlich abge-
vielfältigen Familienformen und in Spannungs-                                                                                   lehnt.                                             Bis in die 1870er Jahre war der Lehrer-Beruf im Kanton Zürich den Män-
feldern, die früher kaum existierten. Für Alltag                                                                                Die Schulen im Kanton Zürich galten schon um       nern vorbehalten. Heute erleben Kinder in der Primarschule fast ausschliess-
und Lebenswirklichkeit dieser Kinder gibt es                                          Leon Naser, aus einer                     1900 als vorbildlich. Im Lehrerseminar Küs-        lich Lehrerinnen. Die Auswirkungen davon, besonders auf die Knaben, wer-
keine traditionellen Muster – die Aushandlungs-                                       kurdischen Familie,                       nacht wurden Lehrer ausgebildet, die überzeugt     den diskutiert. Gleichzeitig nimmt das Verhältnis zwischen Lehrpersonen,
                                                                                      geboren in der Schweiz
prozesse zwischen Müttern und Vätern und                                                                                        waren vom Wert der Disziplin. Sie wussten, dass    Eltern und Kindern neue Formen an. Die Eltern reden zunehmend mit: indi-
allenfalls Behörden sind heute individualisiert                                                                                 eine gute Schulbildung wichtig war für das         viduell oder organisiert im Elternrat. Auch die Kinder sind mit von der Par-

                                                                                                                                                                                                                                                 7
und situationsbezogen.                                                                                                          berufliche Fortkommen besonders der Knaben.        tie; in den Kinderparlamenten können sie bei der Gestaltung ihres Schul-
                                                                                                                                Schläge galten als notwendige Disziplinierung      alltags mitbestimmen. Generell spielt die Schule als Garantin für eine gute
Zusammenleben in Nachbarschaft,                                                                                                 und parteiische Lehrer waren üblich. Doch          Berufsbildung heute eine immer wichtigere Rolle. Schlechte Noten gelten
Vereinen und Schulen                                                                                                            zunehmend schalteten sich Eltern ein, vor allem    bei vielen Eltern schon in den ersten Primarklassen als Schicksalsschlag
Schon in der frühen Jugend spielte und spielt                                                                                   die Väter einflussreicher Kreise; sie verlangten   fürs ganze Leben. Was bedeutet dieser Druck für die Mädchen, für die Kna-
die Nachbarschaft eine wichtige Rolle. Je weni-                                                                                 qualifizierte Lehrer, die den Anschluss an die     ben? Und wie bewältigen sie daneben ihr immenses Pensum an organisier-
ger die Kinder zu Hause eingespannt waren,                                                                                      Sekundar- und Mittelschulen gewährleisteten. Es    ten Freizeit-Aktivitäten zum Beispiel im Sport oder im musischen Bereich?
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
100 Jahre auf demselben Bauernhof: Marie Berweger-Mäder                                                                                                                               ob ich die Aufgaben gemacht hatte. Ich hätte eine bessere Schülerin sein

GROSSE                  VERANTWORTUNG
Von Lotti Isenring Schwander
                                                                                                                                                                                      können, verlor aber die Freude an der Schule. Meine Kolleginnen halfen
                                                                                                                                                                                      mir. Es fehlte ein bisschen an der Erziehung. Und es gab Leute, die freu-
                                                                                                                                                                                      ten sich, wenn mal etwas schief lief.»

VON KINDSBEINEN AN                                                                                                                                                                    Auch an Unbeschwertes erinnert sich Frau Berweger: «Einmal, an Weih-
                                                                                                                                                                                      nachten, läutete die Hausglocke. Wir hörten den Vater sagen: ‹Gueten
                                                                                                                                                                                      Obig Chrischtchindli, ja danke›. Und dann trug er ein kleines rotes Gram-
                                                                                                                                                                                      mophon in die gute Stube. Später spielten wir damit Tanzmusik und lern-
                                                                              brauchten wir etwas länger für den Schulweg.                                                            ten zuhause tanzen.»
                                                                              Weniger schön waren die groben Buben und ‹die                                                           Bauern brauchten damals viele Hände. «Unser Vater hatte etwa 15 kleine
                                                                              choge Schneeballe›! Im Winter kamen wir durch-                                                          verstreute ‹Blätz› Land. Für die Kartoffeln zog mein Vater mit einem klei-
                                                                              froren im Schulhaus an; damals hatten wir keine      Seit Frühling 2017 wohnt Marie Berweger-           nen Pflug die Furchen. Angespannt war ein Rind oder eine Kuh. Elsi und
                                                                              Mäntel, sondern nur Strümpfe, einen Jupe und         Mäder im Alterszentrum.                            ich legten die Kartoffeln im Abstand eines Schuhs hinein. Anschliessend
                                                                              höchstens noch eine Jacke. Als ich mir meinen                                                           deckte der Vater die Furche mit einer Hacke zu.»
                                                                              kalten Hintern an der heissen Ofentüre wärmte,                                                          Johann Mäder war ‹Muni-Händler› und blieb manchmal drei Tage im
                                                                              verbrannte ich mir meinen Jupe. Den musste ich      Als Marie die fünfte Klasse besuchte, erkrankten    Kanton Bern, um Stiere zu kaufen. «Wenn dann die Munis mit der Bahn in
                                                                              aber noch einige Zeit tragen, denn es gab nicht     beide Eltern an einer schweren Grippe. «Sie         Effretikon eintrafen, musste ich helfen, die Tiere nach Bietenholz zu füh-
                                                                              sofort einen neuen.»                                lagen krank nebeneinander in der Stube. Unsere      ren. Einmal gab er mir einen Muni und sagte, der sei brav, den könne ich
                                                                              Damals gab’s in Bisikon eine Gesamtschule.          Schlafzimmer im oberen Stock waren nicht ge-        gut führen. Doch als ich unterwegs plötzlich keinen Menschen mehr sah,
                                                                              Acht Klassen mit mindestens 30 Kindern wur-         heizt. Meine Schwester und ich waren oben. Da       überkam mich die Angst, in den Strassengraben zu fallen. Diese Gräben
                                                                              den in einem Schulzimmer unterrichtet. «Wir         hörte ich, wie meine Mutter unten zum Vater sag-    waren damals tief. Da band ich den Strick des Tieres um eine Telefonstan-
                                                                              hatten einen super Lehrer, den Herrn Kyburz.        te: ‹Bis dänn guet mit de Chinde›. Das waren die    ge. Mein Vater, meine Schwester und ich, wir waren auf einander angewie-
                                                                              Wir merkten, dass er uns gern hatte. Ich kann       letzten Worte, die ich von ihr hörte. Mein Vater    sen. Ich han müesse chrampfe am Herd und ufem Fäld.»
                                                                              mich nicht erinnern, dass ich je eine Ohrfeige      musste krank in der Stube liegend zuschauen,
Die Bietenholzer Kinder: Marie Mäder ist die zweite von rechts, ganz rechts   bekommen hätte. Als ich in der vierten Klasse       wie seine Frau hinausgetragen wurde. Als meine                                         Marie Mäder,
ihre Schwester Elsi                                                           war, musste ich jeweils den Erstklässlern diktie-   Mutter in Illnau beerdigt wurde, haben sie für                                         Kohlezeichnung ihres
                                                                              ren. Ich sass in der Mitte und je ein Kind auf      meinen Vater die Stubenfenster geöffnet, damit er                                      Vaters

Die Augen der 100-jährigen Marie Berweger leuchten, wenn                      beiden Seiten. Wenn es dem Lehrer zu viel wur-      die Glocken läuten hörte. Auch wir Kinder konn-
sie von der lustigen Bietenholzer Kinderschar erzählt, die                    de, schickte er einige von uns hinauf zu seiner     ten nicht zur Beerdigung unserer Mutter gehen.
zusammen nach Bisikon zur Schule ging. ‹Chriesi-Stibitze›                     Frau. Die lernte dann mit uns. Beim Turnen          Damals brach für uns eine Welt zusammen.»
oder Schlittschuh-Laufen, das waren besondere Vergnügen.                      machten wir manchmal ‹Sack-Gumpis› oder wir
Als sie mit zehn Jahren ihre Mutter verlor, brach für sie eine                gingen Schlittschuh fahren auf dem Eisfeld –        Chrampfe – am Herd und im Stall
Welt zusammen. Sie und ihre Schwester wurden unentbehrli-                     dort, wo heute die Schrebergärten sind.»            «Zuerst hatten wir eine Haushälterin. Das ging

                                                                                                                                                                                                                                                    9
che Arbeitskräfte.                                                                                                                aber nicht gut. Wir beiden Töchter mussten den
                                                                              Schöne und schmerzhafte Erinnerungen                Haushalt schmeissen und ‹bim Puure hälfe›. Ich
1917 wurde Marie geboren. Zusammen mit ihrer fünf Jahre älteren Schwes-       «Meine Eltern hatten es gut zusammen. Unser         erinnere mich, wie meine 15-jährige Schwester
ter Elsi wuchs sie im neu erbauten Bauernhaus der Familie Mäder in Bie-       Vater verwöhnte uns und hatte uns gern. Ich         zu mir sagte: ‹Marieli, du muesch choche›.
tenholz auf und blieb 100 Jahre lang dort. Gerne erinnert sie sich an ihre    erinnere mich nicht, dass er uns je ausge-          Wenn ich um elf Uhr von der Sekundarschule
Schulzeit: «Wir waren eine sechsköpfige Bande, die nach Bisikon zur Schu-     schimpft hätte. Später waren wir aufeinander an-    Rikon nach Hause kam, kochte ich und sie arbei-
le ging und wir hatten es lustig zusammen. Wenn die Kirschen reif waren,      gewiesen.»                                          tete auf dem Feld. Abends kontrollierte niemand,
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Landwirtschafts-Betrieb, die Camionage und für                                 Heuen, Reiten und Fuhrwerken
                                                                              die Buchhaltung der Weberei verantwortlich. Er                                 Zu den Pferden und zwölf Kühen des Landwirtschaftsbetriebs schaute ein
                                                                              war ein Bauernsohn aus Fehraltorf und hatte kei-                               Stallknecht. Auch Rudolf Weiss hatte seine festen Aufgaben. «Ich half
                                                                              ne Beziehung zur Textilindustrie.»                                             beim Heuen oder ich brachte täglich die Milch in die Milch-Hütte (dort, wo
                                                                                                                                                             heute die KiTa untergebracht ist). Einmal kippte der Velo-Anhänger auf
                                                                              Schöne Kindheitserinnerungen                                                   dem Trottoir-Rand und Milch floss aus den ‹Tausen›. Zuhause gab es eine
                                                                              Rudolf Weiss ist in einem Einfamilienhaus an der                               Bemerkung wie ‹das kann passieren›; geschlagen wurde ich aber nicht.»
                                                                              Kempttalstrasse aufgewachsen. «Meine Mutter                                    Der Vater von Rudolf Weiss war ein sogenannter ‹Armee-Lieferant›, das
                                                                              hat liebevoll zu uns geschaut. Manchmal machte      Der Siebenjährige,         heisst, er stellte der Armee Zug-Pferde zur Verfügung. «Wir hatten immer
                                                                                                                                  Bleistift-Zeichnung von
                                                                              sie mit uns einen Ausflug nach Braunwald oder       Oskar Nussio               20 bis 30 Rosse. Die brachten wir für eine RS oder einen WK an verschie-
                                                                              Wildhaus. Für meinen Vater gab es nur ‹Schaffe›.                               dene Orte. Wenn sie nicht im Militär im Einsatz waren, gab mein Vater die
                                                                              Mit meiner älteren Schwester hatte ich viele Ge-                               Tiere an Bauern weiter für den Heuet oder fürs Schnee-Pflügen. Etwa mit
                                                                              meinsamkeiten. Zum Beispiel hörten wir zusam-                                  elf Jahren hat man mich auf ein Ross gesetzt und so habe ich reiten gelernt.
 Rudolf Weiss bleibt mit den Pferden verbunden. Bis zur Schliessung der       men Schlager am Radio. Der Abstand zur sieben                                 ‹De Bueb›, (das war ich) wurde angestellt, um die Rosse zu den Bauern zu
 Weberei 1989 leitete er das Familienunternehmen als Textil-Kaufmann.         Jahre jüngeren Schwester war hingegen gross.»                                  bringen. So ritt ich oft stundenlang ins Züri Ober- und Unterland oder an
                                                                                                                                  Auf der winterlichen
                                                                              Rudolf Weiss ging im Hagen zur Schule. «Ich war     Kempttalstrasse            den See. Wenn ein Ross recht lief, machte ich das gerne. Wenn die Tiere
                                                                              keiner, der etwas angestellt hätte. Deshalb bekam                              jedoch nicht recht wollten, war es mühsam. Ausserdem gab es während und
Aufgewachsen in der Weberei Graf Illnau: Rudolf Weiss, 83                     ich keine ‹Tääpe› wie andere Kinder.» (Anmer-                                  nach dem Krieg keine Wegweiser.»

AUF           ROSS UND
Von Lotti Isenring Schwander
                                                                              kung: Schläge auf die Hände waren übliche
                                                                              Schulstrafen.)
                                                                                                                                                            «Im Sommer 1944 hörten wir in unserem Schulhaus Flieger-Alarm und
                                                                                                                                                             sahen einen Flieger brennend herunterfallen. Viele Buben sputeten zum
                                                                                                                                                             Prestberg hinauf. Obwohl alles abgesperrt war, fand ich ein kleines
BRÜCKENWAGEN                                                                  Damals war die Kempttalstrasse eine Art Spiel-
                                                                              Strasse. «Zusammen mit einem Freund machte
                                                                                                                                                             Plexiglas-Stück, das ich lange aufbewahrte.» (Im Jahrheft 2014 ist der
                                                                                                                                                            Absturz des amerikanischen Flugzeugs beschrieben.)
                                                                              ich Kunst-Stücke und Rennen mit dem Velo                                      «Auch an die Lebensmittel-Märkli erinnere ich mich. Dennoch mussten wir
Der Grossvater von Rudolf Weiss war Fabrikant, während                        meines Vaters. Wenn wir Rollschuh fuhren und                                   nicht hungern, denn wir konnten ab und zu eine Sau metzgen und hatten
sein Vater für den zugehörigen Landwirtschaftsbetrieb ver-                    ein Auto kam, hatten wir genügend Zeit, die                                    eigene Milch.»
antwortlich war. Schon früh half Rudolf Weiss beim Heuen                      Strasse zu verlassen. Oft ging ich in den nahen                                Im letzten Schuljahr übernahm Rudolf Weiss von seinem Vater die Camio-
oder er ritt Armee-Pferde zu deren Bestimmungsort; später                     Fabrik-Weihern fischen. Im Sommer badeten                                      nage. «In der zweiten Sekundarschule hatte ich genug von der Schule.
übernahm er das Fuhrwerken. Eindrücklich sind seine Erin-                     oder paddelten wir dort; im Winter fuhren wir                                  Mein Vater sagte: ‹So, dann bleibst du ein Jahr zuhause.› Stolz lenkte ich
nerungen an das Riet mit seinen Lilien und an die Schwärme                    mit den Schrauben-Schlittschuhen, den ‹Ab-                                     die zwei Pferde, die vor den neuen Brückenwagen eingespannt waren. Ich
kleiner Fischlein.                                                            satzfressern›. Ein starkes Bild ist für mich das                               holte die Pakete auf der Bahnstation und brachte sie den Leuten im Dorf.
                                                                              riesige Riet zwischen unserer Fabrik und Fehr-                                 Täglich holte ich Garnlieferungen beim Bahnhof ab und brachte rohes oder
Die Weberei Graf war ein traditionsreiches Unternehmen. «Mein Grossvater      altorf mit den Lilien, den ‹Ille›. Die Kempt                                   gefärbtes Gewebe von der Weberei Graf zur Eisenbahn. Einmal brannten

                                                                                                                                                                                                                 11
führte den Betrieb. Über meine Grosseltern bin ich mit der Textil-Industrie   schlängelte sich bis zu ihrer Korrektur 1939                                   mir die Rosse durch. Zum Glück kehrten sie ohne Zwischenfall in den Stall
verbunden. Sie wohnten nicht in einer Fabrikanten-Villa, sondern im Fab-      mitten hindurch. Elritzen schwammen zu Tau-                                    zurück.»
rikgebäude. Jeweils freitags besuchte mein Grossvater die Textilbörse in      senden in den Riet-Bächlein. Mit Taschentü-
Zürich, um mit Kollegen Erfahrungen auszutauschen, zu essen und zu jas-       chern schöpften wir grosse Mengen dieser klei-
sen. Meine Grossmutter wachte aufmerksam darüber, dass ihr Mann gut           nen Fischlein aus dem Wasser.» (Anmerkung:
angezogen war. Lange war für mich die einzige Verbindung zum Fabrikbe-        Name und Wappen von Illnau gehen auf diese
trieb, dass ich am Bahnhof Kohle schaufeln musste. Mein Vater war für den     Lilien zurück.)
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Mutter Fabrikarbeiterin, Vater Küfer: Armin Heinimann, 77

DIE       MUTTER WAR DIE SEELE DER FAMILIE
Von Martin Steinacher
                                                                                                                                                                                       Bäumen schüttelten und in der Milchhütte ablieferten, gab es ebenfalls
                                                                                                                                                                                       ein paar Franken. Ferien waren für uns ein Fremdwort. Ich erinnere mich
                                                                                                                                                                                       bloss an zwei Ferienaufenthalte: am Walensee und in St. Antönien.»

                                                                                                                                                                                       Im naturnahen Illnau aufgewachsen zu sein, empfindet er als grosses Pri-
                                                                                                                                                                                       vileg. «Wir konnten auf der Strasse Fussball spielen, der Wald diente als
                                                                                                                                                                                       Spielplatz und mit der Hand fischten wir in der Kempt. Damals gab es
                                                                                                                                                                                       noch intensive Bandenkämpfe zwischen Unter- und Oberillnau, eine Art
                                                                                                                                    Armin Heinimann lebt mit seiner Frau an der        Indianerlis, bei dem Gefangene gemacht wurden. Als ich noch zu klein für
                                                                                                                                    Mythenstrasse in Illnau. Bis 1995 war der          den Einsatz als Krieger war, musste ich die gefangenen Squaws im Zelt
                                                                                                                                    promovierte Wirtschafts- und Rechtswissen-
Positive Gefühle verbinden Armin Heini-             und Schänkeli jeweils versteckte, damit sie nicht augenblicklich gegessen       schaftler Rektor der Gewerblichen Berufs-
                                                                                                                                                                                       bewachen, was ich anfänglich eher als Schande, bald aber als angenehme
mann mit seiner Kindheit in Unter-Illnau.           wurden – war Armins zweite Bezugsperson.                                        und Berufsmittelschule Wetzikon. Er war poli-      Aufgabe empfand.»
Seine liebevolle Mutter, Annette Heini-                                                                                             tisch und militärisch aktiv und tritt als begab-
                                                                                                                                    ter Geiger heute noch in Musikgruppen auf.
mann-Vitelio, legte den Boden für seine              Die grosse Persönlichkeit aber, die eigentliche Seele der Familie, war die                                                        Die Vereine hatten in Illnau zu jener Zeit einen hohen Stellenwert, sei es
Karriere in Schule, Militär und Politik.             Mutter, eine geborene Italienerin, Tochter eines Webers, die als Achtjähri-                                                       der Turnverein, die Chöre, die Schützen oder der Eishockeyclub Illnau.
Sie konnte auch geschickt mit den knap-              ge in die Schweiz gekommen war. Armin Heinimann gerät ins Schwärmen                                                               Die Dorfchilbi war noch ein eigentliches Dorffest, bei dem es familiär zu-
pen Mitteln umgehen und war eine be-                 über seine wichtigste Stütze: «Sie hat uns Kinder zur Selbstständigkeit       wendige Einfühlungsvermögen für uns und             und herging und bei welcher der Gemeinschaftssinn im Zentrum stand.
eindruckende Persönlichkeit.                         erzogen und an langer Leine gehalten, indem sie an unsere Vernunft            unsere Nöte, war nicht nur liebenswürdig und        Die Primarschule absolvierte Armin Heinimann im Schulhaus Hagen in
                                                     appellierte. Stets war sie da für uns Kinder, selbst wenn sie lange Zeit      gastfreundlich, sondern auch belesen und            einer Mehrklassenschule, wo er es empfand, dass die ‹Mehrbesseren›
 Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte Armin 100 % als Fabrikarbeiterin in der Weberei Graf tätig war. Sie hatte das not-         äusserst musikalisch. Oft sang sie in der Kirche    anfangs bevorzugt wurden. Im alten Gemeindehaus besuchte er die
 Heinimann im ‹Chlöschterli›, einem alten Flarz                                                                                    einen Soloteil. Sie wäre eine ausgezeichnete        Sekundarschule, wo er erst so richtig Freude an der Schule bekam und
 im Oberdorf, bevor die Familie nach dem Tod Von links: Armin, Schwester Centine,                                                  Lehrerin geworden, hat sie uns Kindern doch         aufblühte.
 des Grossvaters in dessen Wohnhaus im Lätten Mutter Annette, Bruder Turi                                                          den Lesevirus vererbt sowie eine gesunde Neu-
 zog, ins Haus, welches heute noch die Weisslin-                                                                                   gierde.»                                                                               In der dritten Sekundarschule
 gerstrasse einengt. Mit der fünf Jahre älteren
 Schwester, dem um drei Jahre jüngeren Bruder                                                                                      Familienbudget aufgebessert
 und den Eltern lebte auch die Grossmutter im                                                                                      Etwas nachdenklich wird Armin Heinimann,
 gleichen Haushalt. Armins Vater war ein                                                                                           wenn er ans Finanzielle zurückdenkt: «Geld war
‹Urillauer›, Küfer von Beruf. Nebst dem 100 %-                                                                                     oft ein Thema. Unsere Mutter amtete nebst vie-
Job in der Brauerei Haldengut, wo dieser 42                                                                                        len anderen Aufgaben auch umsichtig als
Jahre lang tätig war, küferte der Vater in der Frei-                                                                               Finanzchefin der Familie. Wir trugen das Unsere
 zeit für die Illnauer Bauern. Täglich musste er                                                                                   dazu bei, um das Sackgeld etwas aufzubessern.

                                                                                                                                                                                                                                         13
 um 4.30 Uhr aufstehen, deshalb ging er regel-                                                                                     Als Postbub für den Tuchhändler Walder trug ich
 mässig früh zu Bett. Da er nach der Arbeit öfter                                                                                  mit dem Velo Kleider im Tausendseelendorf Ill-
 zu einem ‹Schoppen› in die nahe gelegene ‹Blu-                                                                                    nau aus und bei der Weinhandlung Brüngger
 me› ging, hatten die Kinder wochentags nicht                                                                                      reinigte ich Flaschen. Den Bauern – damals gab
viel von ihm, profitierten jedoch im handwerkli-                                                                                   es noch 40 bis 45 Höfe in Illnau – half ich beim
 chen Bereich. Die Grossmutter – eine ausge-                                                                                       Härdöpfle und Heuen. Für das Sammeln von
 zeichnete Bäckerin, die ihre Fasnachtschüechli                                                                                    Kartoffelkäfern und Maikäfern, die wir von den
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Aus einer bäuerlich-handwerklichen Familie: Werner Weiss, 63

KIRCHE
Von Martin Steinacher
                      UND EISERNE JUNGFRAU
ALS SPIELPLATZ
                                                                         Werner Weiss (ganz rechts)                                                                             grosse Einschränkungen, da immer jemand auf den Knaben aufpassen
                                                                         und seine Geschwister 1958                          Werner Weiss arbeitete als Fernmelde-              musste. Ferien machte die Familie nie. «Dies vermisste ich dank tollem
                                                                                                                             spezialist und ist seit dem 1. Dezember 2015       Umfeld aber nicht», blickt der Ur-Kyburger zurück. Die Freizeit ver-
                                                                                                                             pensioniert. Mit Ausnahme von 1977-1991,
                                                                                                                             als er Effretikon beehrte, lebte er immer
                                                                                                                                                                                brachte er oft beim Hüttenbauen im Wald. Daneben suchten die Dorf-
                                                                                                                             in Kyburg. Zusammen mit seiner Frau bewohnt        jungen in der Kyburg tagelang nach dem unterirdischen Gang, den doch
                                                                                                                             er ein schmuckes Haus im ehemaligen Obst-          jede Burg haben musste. In Gruppen versuchten sie jeweils den Burg-
                                                                                                                             garten seiner Eltern, dem ‹Bumert›.
                                                                                                                                                                                wächter auszutricksen, um gratis in die geheimnisvolle Burg hineinzuge-
                                                                                                                                                                                langen. «Die eiserne Jungfrau war für uns Kinder natürlich ein faszinie-
                                                                                                                                                                                rendes Spielzeug. Da deren Spiesse hoch oben angesetzt waren, konnten
                                                                         Die Familie Weiss war drei Generationen lang       zeitskirche. Werner Weiss erinnert sich an bis      wir Knirpse uns problemlos darunter hineinstellen. Wenn dann Besu-
                                                                         in Kyburg als Wagner und Schmied tätig.            zu fünf Trauungen pro Samstag. Ihm oblagen          cher ehrfürchtig davorstanden, sprangen wir mit einem Schrei heraus
                                                                         Davon zeugt heute noch die Werkstatt neben         oft das Wischen des Kirchenplatzes und das          und amüsierten uns köstlich.»
                                                                         dem ehemaligen Gemeindehaus. Parallel zu           Betzeit-Läuten. «Für uns waren die grosse Kir-
                                                                         diesem Handwerk sorgte man als Kleinbauer          chenlinde sowie der Kirchturm eigentliche           Ohrfeigen bleiben unvergessen
                                                                         für das Überleben der Familie. Vier Kühe im        Spielplätze, wo wir uns manchmal gar während        In Kyburg spielen die Vereine seit je her eine zentrale Rolle. Werner
                                                                         Stall, dazu einige Schweine, Hühner, Obstbäu-      des Gottesdienstes austobten. Als Bub erschau-      Weiss war im Turnverein aktiv, wo er als Jugileiter und Leichtathlet im
                                                                         me und ein grosser Gemüse- und Blumengar-          derte ich zwar wegen der vielen dunklen Vögel       Einsatz stand. Dank seinem Vater kam er auch früh zum Schiessen.
Die Kyburger Kinder konnten an berühmten Orten spielen,                  ten – das war’s. Werner Weiss erinnert sich gut    ohne Köpfe, die im Kirchturm herumflogen»,          Gemeinsam erstellten sie den Schopf neben dem Scheibenstand. Werner
zum Beispiel vor der beliebten Hochzeitskirche oder manch-               daran, wie er mit dem Grossvater entlang der       lacht er – doch bald gewöhnte er sich an die        wurde ein begeisterter Jungschütze.
mal in der altehrwürdigen Burg, wenn sie denn Zeit dafür                 äusseren Schanze, dem Befestigungswall rund        Fledermäuse. Beten vor dem Einschlafen war          Ein für Werner Weiss negativ behaftetes Thema ist die Schule. Für alle
hatten. Werner Weiss wuchs in einer Mehrgenerationen-                    ums Dorf, zum Grasen ins Loo fuhr. Mit zwei        ein Familienritual, Fluchen dagegen tabu.           sechs Primarklassen war ein einziger Lehrer zuständig, der im Schul-
Familie auf und wurde auf dem kleinen Bauernhof gebraucht.               vor dem Wagen eingespannten Kühen war das          «Alles in allem wurden wir grosszügig erzogen,      haus oben wohnte. «Wir mussten unter unserem Lehrer vieles erdulden
Prägend war für ihn das Zusammenleben mit seinem älteren                 eine gemächliche Fahrt. Sein Vater war der erste   die Grosseltern waren noch eine Spur strenger       und häufig traf es mich, wenn es um Strafen ging. Ich erinnere mich gut,
Bruder, der eine Behinderung hatte.                                      Familienvertreter, der nebenbei keinen Bauern-     als unsere Eltern. Schläge erhielten wir zuhau-     als mir unser Lehrer eines Morgens unterstellte, ich hätte am Vorabend
                                                                         betrieb mehr führte, sondern sich ausschliess-     se nie. Die ‹Höchststrafe› war, ohne Essen ins      in der Bäckerei seine Frau nicht gegrüsst. Obwohl dies keineswegs

                                                                                                                                                                                                                                 15
Werner Weiss wuchs in einer Grossfamilie in Kyburg auf. Grosseltern,     lich dem Holz widmete.                             Bett gehen zu müssen.»                              stimmte, knallte er mir augenblicklich eine saftige Ohrfeige. Die Ober-
Eltern, die beiden Schwestern sowie sein Bruder speisten täglich                                                            Geprägt wurde das Familienleben durch Wern-         stufe besuchte ich per Velo in Weisslingen. Wenn Schnee lag, stampften
gemeinsam am Familientisch. Dies führte zu lebendigen Diskussionen,      Nachtgebet ein Ritual, Fluchen tabu                ers älteren Bruder, der seit einer Hirnhautent-     wir zu Fuss und überbrückten den Mittag im Aufenthaltsraum.» Für den
sofern nicht Nachrichten aus dem uralten Röhrenradio die Aufmerksam-     22 Jahre lang hatten seine Eltern das Siegris-     zündung im Alter von drei Jahren geistig und        Kleiderkauf in Winterthur marschierte man oft in den Sennhof, von wo
keit erforderten. Einen Fernseher gab es im Hause Weiss anfangs nicht.   ten-Amt inne, was für die ganze Familie, nebst     körperlich stark behindert ist. Er durfte nie zur   der Zug in die Grossstadt fuhr. Wer den Kyburg-Lauf bereits einmal
Da alle während der Woche genügend Bewegung hatten, spielte man          Zusatzverdienst auch Zusatzarbeit bedeutete.       Schule gehen und ist heute auf den Rollstuhl        absolviert hat, weiss, welchen Höhenunterschied es dabei zu bewältigen
sonntags gemütlich ‹Elferraus› oder ‹Eile mit Weile›.                    Die Kyburger Kirche war begehrt als Hoch-          angewiesen. Dies bedeutete auch für Werner          galt; speziell der Heimweg hatte es in sich ...
2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
Mit Swissair-Connection: Andrea Jost, 52                                                                                        «Für Geburtstag und Weihnachten haben wir Rituale, die eine schöne

                                             RUNDUM                    ABENTEUER
                                             Von Lotti Isenring Schwander
                                                                                                                                                                             Struktur geben und nicht einengen. Zum Beispiel war ich schon als klei-
                                                                                                                                                                             ner Knopf beim Weihnachtsmorgen-Singen dabei. Wir zogen ab 5.30 Uhr
                                                                                                                                                                             singend mit Fackeln durch Effretikon. Heute leite ich dieses Singen.
                                                                                                                                                                             Zuhause sangen wir oft. Später spielte ich Blockflöte, dann kamen Klavier
                                                                                                                                                                             und Gitarre dazu.»
                                                                                                                                                                             Unsere Familie liebte die Jahreszeiten im Garten oder die Ferien im Toggen-
                                                                                                                                                                             burger Alphüttli der Grosseltern. «Meine Eltern vermittelten uns den Wert
                                             Unbeschwert ist Andrea Jost im Chalet ihrer Urgrosseltern in                                                                    der Natur und dass wir Verantwortung tragen für die Schöpfung. Sie sind
Andrea Jost arbeitet als freie Theater-      Effretikon aufgewachsen. Bei Abenteuern in Haus und Wald,                                                                       im christlichen Glauben verankert. Wir Kinder gingen in die Sonntags-
Schaffende und als Nachrichtensprecherin     beim Theater-Spielen und Musizieren war sie in ihrem Element.                                                                   schule, in den Cevi und mit den Eltern in den Gottesdienst. Es entspricht
bei Radio SRF. Inzwischen wohnt sie wieder
an der Glärnischstrasse in Effretikon.
                                             Im Elternhaus wurde viel gearbeitet, gelacht und gesungen.                                                                      mir, dass wir unseren Glauben auch in Taten umsetzen. Mein Vater war in
                                             Der Glaube gab einen Boden – auch für praktisches politisches                                                                   der EVP und in der reformierten Kirchenpflege und meine Mutter u.a. bei
                                             Handeln.                                                                                                                        den Friedensfrauen. Später, im Konf-Unterricht bei Peter Schüle, hörte ich
                                                                                                                                                                             vom südafrikanischen Apartheits-Regime, von den Gefahren der Atom-
                                              Die ersten acht Jahre lebte die Familie von Andrea Jost in Glattbrugg.                                                         kraft und vom Umweltschutz und Recycling. Diese Themen in Bezug zur
                                              Dann zog sie nach Effretikon ins Chalet der Urgrosseltern. «Im grossen                                                         Bibel gesetzt, das hat mich politisiert. Immer noch bin ich mit dem Glau-
                                              Garten gab es in jeder Jahreszeit etwas zu tun. Jäten, Beeren lesen, Trübli                                                    ben und mit der Kirche verbunden.»
                                             ‹abträppele›, Nüsse aushülsen, das fanden meine jüngere Schwester und
                                              ich nicht lässig. Aber dass wir an unseren Geburtstagsfesten jeweils alle                                                      Bühne frei
                                              Mädchen unserer Klasse einladen durften, das gefiel uns. Bei Wettbewer-                                                        Andrea Jost ging gerne zur Schule. Kontakte und Freundschaften flogen ihr
              Der Anfang der                  ben wurden dabei Zufallspunkte vergeben. Die Letzten auf der Rangliste                                                         zu. «Im Unterricht kamen mir häufig lustige Gedanken oder Witze in den
              Theaterkarriere –
              in der Küchenschürze            durften zuerst ein Preisgeschenkli aussuchen. Das organisierten unsere                                                         Sinn, die ich loswerden ‹musste›. Nach ersten Ermahnungen gab mir
              der Mutter                      Eltern. Sie hatten ein Auge und ein Herz fürs Teilen. Mit den Grosseltern                                                      dann die Primarlehrerin dafür gleich zu Beginn der ersten Unterrichts-
                                              zusammen zu leben war ideal. Leider starben sie viel zu früh.»                Im Cevi: die Israeliten                          stunde eine Plattform. Besonders liebte ich Vorträge. Als ich in der Ober-
                                                                                                                            in Jericho, eine Ge-
                                                                                                                            schichte aus der Bibel
                                                                                                                                                                             stufe über Indien referierte, erschien ich in einem Sari und zog alle Thea-
                                             Traditionelles und unkonventionelles Elternhaus                                                                                 ter-Register.»
                                             Der Vater arbeitete als Flugzeugmechaniker bei der Swissair und deshalb                                                         Andrea Jost wurde mit neun Jahren ein Cevi-Mädchen der ersten Stunde.
                                             konnte die Familie günstig fliegen. «Ferien mit dem Camper in Amerika                                                           «Ich machte die ganze Cevi-Karriere bis zur Leiterin. Bei den Erlebnis-
                                             oder bei meinem Götti in England waren ein Riesenprivileg. Dass wir nur        «Unsere Eltern waren sparsam und grosszügig      programmen draussen in der Natur wurde ich wetterfest.»
                                             mitfliegen konnten, wenn es Platz hatte, war für mich ein Abenteuer. Nach      zugleich. In unserem Haus wohnten oft in- und    Im Cevi war Platz für die Liebe zum Theater. «Wir verkleideten uns und
                                             einer Nachtschicht meines Vaters kam es vor, dass morgens beim Aufste-         ausländische Gäste, auch solche, die in Not      spielten Geschichten. Eines der tollsten Programme war ‹Moses in der
                                             hen Frösche in der Badewanne krabbelten, weil mein Vater diese Tiere aus       waren. Wir erlebten hautnah, dass es nicht       Wüste‘. Wir zogen mitten im Winter durch den Schnee, dabei schwitzten

                                                                                                                                                                                                                               17
                                             einer kaputten Transportkiste gerettet hatte. Wenn meine Mutter ihren          selbstverständlich ist, in einem schönen Haus    wir und hatten Durst, weil wir die 40 Wüsten-Jahre richtiggehend fühl-
                                             Bruder in England besuchte, machte unser Vater ein Extra-Programm.             und in der sicheren Schweiz zu leben. Meine      ten.» Auch musikalisch konnte sich Andrea Jost einbringen. «Mit der
                                             Zum Beispiel weckte er uns um vier Uhr morgens und wir pirschten den           Eltern wünschten sich, dass wir eigenständige    Gitarre begleitete ich unsere Lieder und leitete später Adhoc-Chöre für
                                             Ufern von Örmis, Wildert oder Pfäffikersee entlang. Intensiv erlebten wir      Persönlichkeiten würden. Sie erwarteten, dass    Cevi-Hochzeiten oder Weihnachten. Daraus ist dann auch der Gospelchor
                                             den Tagesanfang mit dem Sonnenaufgang und mit den Vogelstimmen.»               wir das Beste gaben, aber sie definierten uns    Illnau-Effretikon entstanden. Viele meiner langjährigen Freundinnen und
                                             Die Mutter war Kindergärtnerin und übernahm manchmal Vikariats-Ein-            nicht über Leistung. Das gab mir Selbstwertge-   Freunde sind aus dem Cevi. Da ist eine grosse Nähe und Vertrautheit
                                             sätze. Später war sie in der Schulpflege und engagierte sich in der Kirche.    fühl und ein Urvertrauen.»                       geblieben.»
die Pferde nachts um zwei Uhr ausbrachen,             Ideen, die mir sinnvoller erschienen. Was Recht und was Unrecht war, das
                                                                               mussten wir sie zurückholen und am nächsten           interessierte mich.»
                                                                               Morgen dennoch zur Schule gehen. Wir machten          Rika Schneider verdankt ihren Eltern viele gute Erfahrungen und Werte,
                                                                               alles selbst, vom Heuen bis zum Stroh-Abladen.        die sie auch heute hoch hält. «Unsere Eltern hatten uns gerne und respek-
                                                                               Das Leben und Arbeiten mit den Pferden präg-          tierten uns in unserer Unterschiedlichkeit. Wir erlebten, dass es nicht
                                                                               ten meine Jugend und mein Leben.»                     darauf ankommt, gute Noten zu haben, sondern dass jeder nach bestem
                                                                                                                                     Vermögen seinen Weg geht. Das finde ich hochkarätig von Lehrer-Eltern!
                                                                               Menschen und Musik                                    Wir lernten, Verantwortung zu übernehmen für uns selbst und für ein gutes
                                                                               Rika Schneider ist in einer Lehrer-Familie auf-       Miteinander. Meine Eltern lebten in grossem Respekt gegenüber der Natur.»
                                                                               gewachsen. «Mein Vater arbeitete in Volketswil,
                                                                               meine Mutter war ganz für uns da. Wir vier Kin-       Spielen und Schulen
                                                                               der waren sehr verschieden; mein älterer Bruder,      «Mit Kindern aus der Nachbarschaft bemalten wir die Strasse, fuhren
                                                                               mein Zwillingsbruder, meine jüngere Schwester         Rollbrett, jonglierten auf alten Rollfässern, übten Kunststücke, spielten
 Rika Schneider arbeitet als Geschäftsführerin bei der Äss-Bar (Frisch         und ich. Wir spielten und stritten, wie es sich für   Hockey und Fussball, und erfanden immer wieder neue Spiele. Fernsehen
 von gestern) und zwischendurch auf Bauernhöfen – wie hier auf dem Bild.       eine Viererbande gehört. Meine Eltern unter-          durften wir nur sehr selten.»
 Jede freie Minute verbringt sie unter freiem Himmel.
                                                                               nahmen viel mit uns, oft draussen in der Natur.       Die Primarschule gefiel Rika Schneider vor allem wegen ihrer Kollegin-
                                                                               Vater und Mutter spielten mehrere Instrumente.        nen und Kollegen. «Und natürli s’Tschutte mitem Brüeder und de Buebe. Das Haus war voller Tiere. Wichtig
                                                                               Musik gehörte in unseren Alltag. Noch heute           Aber ich hatte auch einen super Lehrer. Ich ging gerne zum Unterricht. waren Rika die Bubenhosen und der
                                                                                                                                                                                                                Ledergurt mit dem Fussball-Anhänger.
Aus einer Lehrer-Familie: Rika Schneider, 41                                   sehe ich dieses Bild vor mir: mein Vater spielt       Der Schulweg war mega wichtig, mit dem Bauernhof Brüngger, mit

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Von Lotti Isenring Schwander
                                                                               Klavier und ich stehe daneben und singe.
                                                                               Zuhause musste jeder sein Ämtli erledigen. Mei-
                                                                               ne Eltern waren streng. Jedoch konnten wir vie-
                                                                                                                                     Schneeball-Schlachten und gestohlenen Himbeeren.»
                                                                                                                                     Kolleginnen und Kollegen, Sport und Freifächer standen auch im Gymna- ren, Chor-Singen, vieles interessierte mich. Vor
                                                                                                                                     sium im Mittelpunkt. «Fussball, Handball, Basketball, Volleyball, Jonglie- allem faszinierte mich, was da abging zwischen

MEINE LÄNDEREIEN                                                               les ausprobieren und unsere eigenen Erfahrun-
                                                                               gen machen.»                                          Mit Pési im Stall
                                                                                                                                                                                                                den Schulkameraden, den Lehrern – zwischen
                                                                                                                                                                                                                Menschen. Ich beobachtete, dachte nach – auch
                                                                               Gastfreundschaft war selbstverständlich zuhause.                                                                                 über mich – und schrieb. Nach einem halben
Keinen Quadratmeter Land besitzt Rika Schneider. Von klein                     «Ich staune, wie offen meine Eltern waren. An                                                                                    Jahr hatte ich miserable Noten und fiel fast aus
auf lebte sie draussen in der Natur und ist deshalb mit der                    unserem Mittagstisch sassen immer ‹Gschpänli›.                                                                                   dem Gymnasium. Ein Lehrer packte mich und
Illnauer Landschaft verbunden. Ihre Familie war offen für                      Es kam vor, dass jemand in der Stube sass, wenn                                                                                  andere gefährdete Schüler und sagte: ‹Ihr geht
kleine und grosse Gäste. Respekt vor anderen Menschen und                      ich nach Hause kam, und mich fragte: ‹Wer bist                                                                                   jetzt nicht. Ihr lernt, wie ihr besser lernen könnt!›
vor der Natur prägen noch heute ihr Leben.                                     du?› – ‹Ich wohne hier. Und wer bist du?› fragte                                                                                 Ich habe gemerkt: Wenn man die Fähigkeit hat,
                                                                               ich zurück.»                                                                                                                     zu lernen, kann man viel erreichen.»
Erreicht der Zug die weite Landschaft von Illnau, so sagt Rika Schneider       Als Rika Schneider zwölf Jahre alt war, liessen                                                                                  Schon mit 15 Jahren reiste Rika Schneider als
gern: «Hier beginnen meine Ländereien. Hier bin ich als Indianer herum-        sich ihre Eltern scheiden. «Meine Mutter hatte                                                                                   Austausch-Schülerin nach Neuseeland. «Dieses

                                                                                                                                                                                                                                             19
geschlichen, habe im Tipi geschlafen, habe auf unseren Ausritten verges-       eine Riesenarbeit mit uns Kindern. «Meine bei-                                                                                   Jahr prägte mich. Seit damals bin ich ein Vaga-
sene Pfade im Wald entdeckt, war mit dem Hund unterwegs, habe still            den Brüder waren ‹gäch› in der Pubertät. Rasch                                                                                   bund und lebe in unterschiedlichen Gegenden,
irgendwo gesessen und beobachtet. Ich bin mit Islandpferden aufgewach-         habe ich Verantwortung übernommen zuhause                                                                                        Ländern und Arbeitskulturen. Ich habe lange
sen, für welche meine Mutter, eine Freundin und ich verantwortlich waren.      und im Stall. Mit mir ‹gab es wenig Lämpen›.                                                                                     keine Heimat mehr zugelassen. Doch wenn ich
Meine jüngere Schwester half mit. Im Stall im Illnauer Oberdorf arbeiteten     Angepasst war ich nicht. Ich war misstrauisch                                                                                    Orte nennen müsste, so sind es ‹meine Lände-
wir, froren wir, schwitzten wir, waren fröhlich, traurig und glücklich. Wenn   gegenüber dem, was ‹in› war. Standardverhalten                                                                                   reien› und das Haus an der Säntisstrasse hier in
andere nach der Schule in die Badi gingen, arbeiteten wir im Stall. Wenn       und Floskeln ersetzte ich lieber durch eigene                                                                                    Illnau».
Aufgewachsen in einer Reihenhaus-Siedlung: Rolf Klossner, 29                                                                                                                      Ein super Schulstart

GANZ            BISIKON WAR UNSER SPIELPLATZ
Von Erika Graf-Rey
                                                                                                                                                                                  «Stellen Sie sich eine Klasse mit DREI Kindern vor! Das war meine Reali-
                                                                                                                                                                                  tät in Bisikon!» An die Unterstufenzeit in der Dreiklassenschule in Bisikon
                                                                                                                                                                                  hat Rolf Klossner nur die besten Erinnerungen. «Von unseren Lehrerin-
                                                                                                                                                                                  nen wurden wir stark gefördert und wurden rasch selbstständig!» Mit
                                                                                                                                                                                  diesen Voraussetzungen war auch die Mittelstufe im grossen Eselriet in
                                                                                                                                                                                  Effretikon kein Problem. Sein Interesse galt schon damals vor allem der
                                                                                                                                                                                  Mathematik. Auch bei Regen und Schnee radelten die Bisiker Kinder
Unbeschwert ist er aufgewachsen. In Bisikon fand er viele                  prägten Rolf Klossner: Auch er hat sich schon                                                          ohne Murren ins Eselriet und zurück. Ein ‹Elterntaxi› gab es nicht!
offene Türen und Spiel-Felder. Die vielseitig engagierten Eltern           früh für andere eingesetzt und hat gerne in den                                                        Selbst während der Oberstufenzeit im Schulhaus Watt blieb aber das
liessen ihre Kinder am interessanten Alltag teilhaben. Denkt               Kinder- und Jugendgruppen Verantwortung                                                                kleinräumige Bisikon der Lebensmittelpunkt. «Die ersten Kinderfreund-
Rolf Klossner an seine Kindheit in Bisikon zurück, tauchen                 übernommen.                                         Unserer Gemeinde bleibt Rolf Klossner treu.        schaften sind bis heute tragfähig», freut sich Rolf Klossner. «Jetzt leben
ausschliesslich positive Erinnerungen auf.                                 Dass Vater und Mutter (damals Vollzeit und Teil-    Seit kurzem ist er Mitglied der Geschäftsleitung   wir als gute Freunde einfach in Winterthur.»
                                                                                                                               des Architekturbüros ‹lardi gmür klossner
                                                                           zeit) berufstätig waren, fand er immer interes-     architekten ag› in Effretikon. Der junge
Mit den andern Kindern der ‹Beelersiedlung› in Bisikon im Freien herum-    sant. «Wir wussten immer, an welcher Haustür        Architekt wird dieses spätestens Ende 2019
tollen oder stundenlang ‹Schiitli-Verbannis› und ‹Räuber und Poli› spie-   wir bei Bedarf anklopfen konnten.» Und stolz        übernehmen – eine grosse Herausforderung!
len – das bestimmte weitgehend Rolfs Freizeit. «Unser Spielfeld reichte    erzählt er: «Wer kann schon als Sohn am Zu-
jeweils vom Örmis bis zum Getränke Bösch in Bietenholz!» Knaben und        kunftstag der Primarschule mit der Seepolizei
Mädchen erforschten stunden-, ja tagelang ihre Umgebung. Später wurde      unterwegs sein?!» Die Arbeitswelten der Eltern     Sie seien behütet aufgewachsen und konsequent,
dann Unihockey zum Lieblingsspiel der Knaben. Viele Partien der Sied-      faszinierten den Jungen. Das elterliche Vorbild    aber fair erzogen worden. «Vieles ist angespro-
lungskinder gegen die Kinder der Nassacherstrasse wurden ausgetragen.      beeindruckte ihn: Für etwas einstehen, etwas       chen und ausdiskutiert worden – und wenn ein-
Für stundenlanges Fernsehen und Gamen fehlten sowohl Zeit als auch         Begonnenes zu Ende führen, Eigenverantwor-         mal eine Türe zugeknallt wurde, hat man sich
Interesse.                                                                 tung übernehmen, sich mit Recht und Unrecht        schnell wieder gefunden!» «Mein zweites trag-
Und was wären die Bisiker-Knaben ohne Fussball gewesen?! Tore wurden       auseinandersetzen – das alles hatte in dieser      fähiges Netz war und ist meine – erweiterte –
im Eigenbau erstellt, Autobesitzer gebeten, ihre Autos umzuparken. So      Familie einen hohen Stellenwert und hat es noch    Familie!»
wurde der Garagenvorplatz zum Spielfeld umfunktioniert. Beide Leiden-      heute!                                             Mittagessen bei den Grosseltern väterlicherseits
schaften zogen sich ins Erwachsenenalter hinein. Rolf und sein älterer                                                        in Effretikon oder bei den Nachbarn in der Sied-
Bruder Mario gaben ihr Wissen im FC Effretikon und im Unihockeyklub                                                           lung waren eine Selbstverständlichkeit ebenso
Illnau als Juniorentrainer weiter. Siedlungsolympiaden, Plausch in der     Rolf und sein Bruder Mario                         wie ein privat organisierter Mittagstisch im
Bisiker Dorfbadi – Rolf Klossner kommt ins Schwärmen ... Den über die                                                         Freundeskreis. Gemeinsam an einem Tisch zu
Jahre gewachsenen Zusammenhalt der Siedlungskinder beschreibt der                                                             sitzen war in seinem Haushalt wichtig. Früh
Dreissigjährige als so tragfähig, dass noch heute Mario und ehemalige                                                         konnten sich Rolf und Mario auch schon selber
Nachbarsjungen seinen engsten Freundeskreis bilden.                                                                           ein Nachtessen zubereiten und lernten bald,

                                                                                                                                                                                                                                    21
                                                                                                                                                                                  Olympiade in der Beeler Siedlung
                                                                                                                              frische Zutaten zu verwenden. Die Mutter war
Ein grosses Beziehungsgeflecht                                                                                                und ist ja nebst ihrer politischen Tätigkeit auch
«Unsere Eltern ermöglichten uns ein unbeschwertes Heranwachsen.»                                                              Gastronomie-Fachfrau.
Trotz vieler Freiheiten waren die Grenzen immer klar. Die Jungen wussten                                                      «Aktivferien mit Verwandten und befreundeten
zum Beispiel genau, wann sie abends zu Hause sein mussten. Das grosse                                                         Familien erweiterten unseren Horizont!» Sport –
berufliche und ausserberufliche Engagement der Eltern für die All-                                                            vor allem Rad fahren – war für die Familie im In-
gemeinheit sowie eine intensive, offene Gesprächskultur in der Familie                                                        und Ausland eine bevorzugte Freizeitaktivität.
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