2018 Jahrheft der Stadt Illnau-Effretikon Thema: Aufwachsen - Hotzehuus
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INHALT Aufwachsen früher und heute DER STADTPRÄSIDENT ERINNERT SICH 1 Der Stadtpräsident erinnert sich 2 Editorial 3 Ein historischer Blick auf die letzten 100 Jahre 8 Grosse Verantwortung von Kindsbeinen an 10 Auf Ross und Brückenwagen Wenn ich mich an mein eigenes Aufwachsen in den 1960er Jahren erinnere, Bauernhof, wenn der Störmetzger mit seinen Die Mutter war die Seele der Familie kommt mir vieles in den Sinn – Wichtiges und Unwichtiges bunt durchei- Werkzeugen auftauchte und die Schweine zum 12 nander. Ich denke an die Familie, unser Haus, mein Zimmer, den Garten Quietschen brachte. 14 Kirche und eiserne Jungfrau als Spielplatz und weiter an die Sechsklassenschule, den betagten Lehrer, gefolgt von 16 Rundum Abenteuer der jungen, modernen Lehrerin. Die Schiefertafel mit dem Griffel, den Solche Bilder tauchen vor meinem inneren Auge 18 Hier beginnen meine Ländereien Füllfederhalter mit dem Tintenfass, dann weiter − ganz wichtig! − der auf, wenn ich an mein Aufwachsen in einem 20 Ganz Bisikon war unser Spielplatz Pausen- und Turnplatz mit der Kletterstange und dem Sand, in dem wir ländlichen Gebiet denke, welches dann kurz Fischzähne finden konnten ... An die kleine Schulbibliothek, in der wir nach meiner Primarschulzeit einen Entwick- 22 Mexikanisches Blut im FC Effretikon jeweils am Samstagmorgen spannende Bücher ausleihen durften. An Mäd- lungsschub erlebte und sich stark modernisierte. 24 Minecraft & Co chen mit Schürzen und Zöpfen, an Knaben in kurzen Manchesterhosen Meine Jugendwelt war überschaubar. Heute, 26 Ein schlauer Erfinder und Kniesocken, an die ersten richtigen Turnschuhe, an die ersten Ski- rund fünfzig Jahre später, hat sich für Kinder 28 Jahreschronik 2016/2017 schuhe mit Schnallen, die ersten Blue Jeans ... und Jugendliche vieles verändert. Die Freiräume in den Dörfern und Siedlungen sind enger Ich erinnere mich an den Schulweg, der mindestens so wichtig war wie die geworden, vieles ist geregelt, Vereine strukturie- Schule selbst, den Feldweg durch Äcker und Wiesen, gesäumt von hohen ren die Freizeitaktivitäten. Dafür hat sich der Obstbäumen, von blauen und roten Blumen − Wegwarten und Mohn. Das digitale Raum fast grenzenlos geöffnet – mit Gebiet zwischen Wohnort und Schulhaus war unser Hoheitsgebiet; selbst einem universellen, vielfältigen, nicht mehr gebastelte Pfeilbogen und Steinschleudern kamen hier zum Einsatz. Das überblickbaren Angebot. Mit unzähligen Mög- Draussen-Sein bedeutete Freiheit und Inspiration. Auf der Dorfstrasse lichkeiten, Verlockungen, Gefahren ... Auch dies wurde Fussball gespielt, auf dem Weiher Eishockey, der Abhang hinter ist eine faszinierende Welt, aber es ist eine ande- dem Haus wurde zur Skipiste, die Böschung zur Schanze. In den Wiesen re, neue Welt − eine Welt, die weniger greifbar wurden Mäusefallen gestellt, im Wald Bäume erklettert, Hütten gebaut, ist, weniger sinnlich. Eine Welt, die nicht stinkt! Fuchshöhlen erkundet. Ein einzigartiges Biotop in unserem ‹Revier› war eine grosse, ruhig vor Ueli Müller, Stadtpräsident 1 Umschlag: Vorne v.l.: Armin Heinimann mit Mutter und sich hin mottende Abfallgrube unweit unseres Hauses, eine Grube mit Geschwistern um 1950 in den Flumserbergen; unzähligen Kostbarkeiten im stinkenden Müll sowie Wasserflächen, die Lila-Amëlle Abed Hinten v.l.: Die Zwillinge Tobi und Rika Schneider; mit Hilfe von Fässern und Holzpaletten befahren werden konnten, wo See- Stofftiere früher und heute schlachten über die Bühne gingen und Piraten sich versteckten. Der eigentümliche Geruch, der sich in unseren Kleidern festsetzte, verriet dann den Eltern, wo wir uns entgegen ihren Anweisungen wieder getum- melt hatten ... Fasziniert waren wir auch von der Metzgete auf dem nahen
Aufwachsen in Illnau-Effretikon: Editorial Aufwachsen im Zürcher Oberland LIEBE LESERINNEN EIN HISTORISCHER BLICK Zu allen abgebildeten Personen in diesem Beitrag Von Heidi Witzig finden Sie Geschichten UND LESER AUF DIE LETZTEN 100 JAHRE ab Seite 8. Das Jahrheft 2018 berichtet über das Aufwach- Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass wir in unserer Kind- Arbeitsgemeinschaften wenig geredet; die Kom- sen in den letzten 100 Jahren. Frauen und heit durch die äusseren Umstände zutiefst geprägt wurden, munikation lief über das gemeinsame ‹Machen›. Männer unterschiedlichen Alters erzählen Ge- ohne dass wir ein klares Bewusstsein davon hatten und ohne Die Wertschätzung sah man an der Sitzordnung schichten über ihre Kindheit und Schulzeit in dass wir darüber bestimmen konnten. Welche Bedingungen am Familientisch. Familienrituale wie beispiels- Illnau-Effretikon. Bei der Auswahl für die Por- aber prägten und prägen unsere Kindheit und unser Leben weise das gemeinsame Gebet vor und nach dem traits haben wir auf eine Vielfalt bezüglich der so sehr, dass wir bis ins Alter mit unserem Schicksal hadern Essen schufen Nähe. Herkunft geachtet. Die Interviewten sind in bäu- oder dankbar auf unsere Kindheit zurückschauen? erlichen, handwerklichen, Arbeiterinnen-, Ange- Kinder aus Arbeiterfamilien galten vor 100 Jah- stellten-, Lehrerinnen- oder Fabrikanten-Kreisen Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen so rasanten Wan- ren ebenfalls als Teil der Arbeitsgemeinschaft. aufgewachsen. Sie haben einheimische und del erlebt, dass man annehmen könnte, auch die Bedingungen für das Mit der Fabrikarbeit entfernten sich jedoch der fremdländische Wurzeln. Aufwachsen von Kindern hätten sich grundsätzlich geändert. Dies ist Vater oder die Mutter vom frühen Morgen bis jedoch nicht der Fall. Wichtig für Kinder war und ist in erster Linie das zum späten Abend aus dem Familienleben. 1877 Geschichten aus der Kindheit sind einzigartig familiale Gefüge: Eltern, Geschwister, Position in der Geschwister- wurde die Kinderarbeit in Fabriken verboten. und persönlich. Gleichzeitig sind sie von der reihe, Verwandte und die materielle Situation. Es folgen das weitere Dennoch hatten die Kinder unter Aufsicht von Geschichte mitgeprägt, von der Zeit und vom Umfeld mit Kindergruppen in der Umgebung, die Schule, gesellschaftli- Grossmutter, Grossvater oder einer älteren Ort des Aufwachsens. Genau das möchten wir che Maximen und Autoritätspersonen sowie später eigentliche Jugend- sichtbar machen: das Persönliche sowie das Zeit- freundschaften. Innerhalb dieser bestimmenden Faktoren lassen sich und Ort-Bedingte. allerdings markante Entwicklungen feststellen. Mit zehn Jahren verlor Marie Berweger-Mäder ihre Mutter und musste Die Gespräche für das diesjährige Jahrheft Auf die Arbeit der Kinder angewiesen von da an hart arbeiten. waren für alle Beteiligten eine Entdeckungsreise. Die meisten Kinder lebten bis in die Zwischenkriegszeit in so genannten Den Portraitierten danken wir für die kostbaren traditionellen Arbeitsgemeinschaften. Kinder wurden in Bauern-, Hand- Geschichten und die persönlichen Bilder. werker- und Gewerbefamilien schon früh in die Arbeitsprozesse einge- Auf dem Traktor: Armin spannt. Darum waren auch zahlreiche Kinder erwünscht. Ganz kleine Lotti Isenring Schwander, Martin Steinacher und Kinder galten als Belastung. Sie wurden – wenn möglich – bald einer älte- 3 Heinimann um 1948 Erika Graf-Rey und Jonas Berweger ren Schwester oder einer Grossmutter übergeben. Tüchtige und fleissige 2009: Armin arbeitete bei den Bauern, um das Kinder wurden für ihren Einsatz wie kleine Erwachsene geschätzt. Die Familienbudget aufzu- Leistungen in der Schule respektive der Schulbesuch galten oft als bessern. Jonas lebt in zweitrangig. Schläge betrachtete man als notwendig, um Kinder zu tüchti- einer Bauernfamilie und gen Arbeitskräften zu erziehen. Vor allem materielle Verfehlungen wurden nahm an der Kinder- Gesprächsrunde in der bestraft, während ungebührliches Benehmen, freche Streiche oder das Schule Eselriet teil. Stiebitzen von Obst häufig als harmlos galten. In der Regel wurde in
geliebt wurden Kinder weiterhin, wenn sie zu waren dann allerdings verpflichtet, ihrerseits die Eltern im Alter oder die Hause mithalfen, keine ‹Schwierigkeiten› mach- Geschwister in Notlagen zu unterstützen. Heute ist die Position in der ten – und vor allem, wenn sie gut in der Schule Geschwisterreihe immer noch wichtig, beschränkt sich jedoch in der waren. Die Erziehung zu ‹richtigen› Mädchen Regel auf die emotionale Ebene: die dominanten älteren Geschwister, das und Knaben wurde in der Generation der 68er verhätschelte Jüngste, die nicht beachteten mittleren Kinder. vehement bekämpft. Kleine Kinder trugen ein- heitliche Kleider und erhielten dieselben Spiel- Verbesserte Medizin brachte tiefgreifend Veränderungen sachen. Doch betraf dies nur einen kleinen Teil Kaum mehr bedeutsam ist das Erleben von Krankheit und Tod, welches der Familien. Erziehungsstil und -inhalte blieben das Familienleben noch vor 100 Jahren tief prägte. Seit den Fortschritten vielerorts traditionell: Geformt werden sollten der Medizin und der Entdeckung von Impfstoffen ist die Lebenserwartung tüchtige ‹richtige› Frauen und ebenso ‹richtige› der Erwachsenen wie der kleinen Kinder massiv gestiegen. Betrug die Weberei Graf in Illnau Illnauerinnen gegen Auch beim Spielen Männer. durchschnittliche Lebenserwartung 1920 um die 40 Jahre, so ist sie heute um 1914 mit Besitzer- Horberinnen am Längg- bereiteten sie sich auf auf zirka 80 bis 84 Jahre gestiegen. Die Säuglingssterblichkeit sank in der familie und einem Turnier, Rika Schneider ihre Aufgaben vor: Arbeiter am Ball Mädchen aufs Mutter- Die Generation der 68-er kritisierte auch das gleichen Zeit von zirka 100 auf 4 Promille. Das heisst, in den letzten Jahr- Sein, Buben auf techni- nun allgemein verbreitete Rollenmodell des zehnten gibt es zunehmend Viergenerationen-Familien, und der Tod ist für sche Berufe. Alleinverdieners und der ‹Nur-Hausfrau›. Lang- die meisten Kinder ein Phänomen, das nur sehr alte Leute betrifft. Auch Schwester tüchtig anzupacken: auf dem Pflanz- Mädchen und von Disziplin und Leis- sam nahm das Angebot an familienergänzenden plätz, in der Küche oder beim Geldverdienen bei tungsbereitschaft für Knaben. Knaben Betreuungen zu. Bis heute wird heftig diskutiert, benachbarten Bauern. Auch in Arbeiterfamilien verblieben in der Regel in den ersten welches Modell für die Kinder das beste sei. Shani Baumgartner (links) mit Grossmutter waren tüchtige und initiative Kinder hoch ge- Jahren unter weiblicher Obhut, trugen Gesellschaftliche Akzeptanz geniessen beson- und Schwester schätzt. Es galt als Zeichen eines erfolgreichenauch Mädchenkleider; als zirka Vier- ders Grosseltern, welche ihre Enkel und Enke- Familienverbands, wenn die Mutter den Verdienst jährige erlebten sie einen eigentlichen linnen hüten. aller geldverdienenden Mitglieder einzog, das ‹rite de passage›: die Haare wurden Sackgeld verteilte (auch dem Ehemann), und die geschnitten, die ersten Hosen angezo- Ab den 60erJahren hat das Fernsehen einen Familienfinanzen regelte. Erst mit dem Einsetzengen, und von dieser Zeit an waren hohen Stellenwert sowohl für das Familienleben männliche Autoritäten wie Lehrer der Hochkonjunktur, als auch viele Arbeiter alleine wie für die eigene Freizeitgestaltung. Ab 1990 oder Väter verantwortlich für die (fast) genug verdienten für das gesamte Familien- gehören dann Streiten und Diskutieren – auch budget, wurden die Finanzen Angelegenheit des Erziehung zur richtigen Männlichkeit. über Politik – zur Familienkultur. Kinderspiel- Familienoberhaupts. Die Mädchen blieben im Einfluss- zeug und Kinderbücher, schön sortiert für Mäd- bereich der Mütter, wo sie nach dem chen oder Knaben, sind heute bedeutende Cevi-Lagerstimmung: Erziehung zu ‹richtigen› Frauen und obligatorischen Institutsjahr auf ihre Budgetposten. Andrea Jost Männern Pflichten als Vorsteherinnen eines Die Position in der Geschwisterreihe spielte frü- In Familien der gehobenen Schichten war vor gepflegten Haushalts vorbereitet wurden. Auch in diesen Familien wurden her eine zentrale Rolle. Arbeitsgemeinschaften 5 100 Jahren die Erziehung zu ‹richtigen› jungen Kinder geschlagen, wenn sie rebellierten oder den Anforderungen nicht waren darauf angewiesen, dass die ältesten Kin- Frauen und Männern ein zentrales Anliegen. In genügten. der sofort nach der Schule selbst verdienten und diesen Familien sollten bürgerliche Tugenden das Geld zu Hause ablieferten. Die Jüngsten – eingeübt werden – nicht Arbeitsleistung wie in Als in der Nachkriegszeit im Laufe der Hochkonjunktur immer mehr besonders die jüngsten Knaben – hatten dann Arbeitsgemeinschaften, sondern Selbstdisziplin Männer genug Geld für die ganze Familie verdienten, änderten sich die häufig mehr Chancen, eine Berufslehre zu absol- und Selbstbeherrschung. Dies beinhaltete die Anforderungen an Kinder aus Bauern-, Gewerbe- und Arbeiterkreisen. vieren oder sogar in weiteren Ausbildungen Leh- Einübung von Gehorsam und Unterordnung für Die Mütter hatten mehr Zeit besonders für die Kleinkinder. Geschätzt und rer oder Beamte zu werden. Diese Aufsteiger
umso intensiver wurde die Freizeit mit Gleichaltrigen verbracht. Seien es die traditionellen Knabenbanden mit ihren rituellen Kämpfen oder ein- fach die Wege, Strassen und Verstecke zum Spielen. Ab den 60er Jahren gesellten sich auch die betreuten Jugendtreffs hinzu als eigentliche Kris- tallisationspunkte für jahrelange Freundschaften. Auffallend ist der Stel- lenwert von Jugendorganisationen; Sportclubs oder Cevi sind für einige der jüngeren Interviewten eine zweite Heimat. Zwei Generationen früher wäre für Kinder lediglich die Sonntagsschule als vereinsmässiger Ort in Frage gekommen – erst nach der Konfirmation hätten dann die Sing- und Theatergruppen für die Jugendlichen regelmässige Zusammenkünfte ermöglicht. Jetzt lesen wir, dass Freundschaften aus dem Cevi oder dem Werner Weiss Fussballclub auch in der Erwachsenenzeit weitergeführt werden. Die drei Bisiker Drittklässler am Sporttag: Die neunjährige Mircla freut sich nach ihren (zweiter von rechts) Rolf Klossner in der Mitte Ferien in ihrem Heimatland Mazedonien auf ihre am Zürcher OL 1969 Freundinnen und auf ihre Lehrerin. Illnau und vor allem Effretikon gehörten in den 1960er und 70er Jahren zu den rekordschnell wachsenden Ortschaften. Von 1965 bis 1985 stieg die früher üblichen Rituale der Verabschiedung die Bevölkerungszahl von gut 8000 auf fast 15'000 Personen. Darunter Die Schule war und bleibt wichtig ist ein wichtiges Merkmal der Volksschulen im Kanton Zürich, dass auch oder des Gedenkens, die in den meisten Famili- waren auch viele ausländische Familien. Jetzt beträgt der Ausländeranteil Die Schule war und ist ein zentraler Faktor für Kinder reicher Fabrikantenfamilien die normalen Schulen besuchten und en periodisch gefeiert wurden, fehlen heute gut 25%. Das Zusammenleben mit ausländischen Kindern hat eine ande- Kinder wie für Eltern. Die Schulpflicht begrenzt die Väter in den Schulpflegen und Gemeinderäten ihre Anliegen durch- weitgehend. Dafür kennen viele Kinder Grossel- re Qualität als zu den Zeiten, als in Kempttal oder in den Spinnereien den Entscheidungsspielraum der Eltern zutiefst. setzten. Früher hatten sich Lehrer im Dorf vielfach zu engagieren – zum tern, die noch gesund und aktiv im Leben stehen einzelne ausländische Familien wohnten oder italienische Frauen in Es kam gerade in früh industrialisierten Gebie- Beispiel als Chordirigenten oder als Vereinsaktuare – und das jahrzehnte- und mit denen sie dank regelmässigem Enkel- Schweizer Familien einheirateten. Als neuartiger Faktor der Integration ten mit Webereien und Spinnereien zu Konflik- lang. Gute Lehrer gehörten wie die eingesessenen Bauern und Hand- hüten langjährige vertrauensvolle Beziehungen entpuppt sich heute ausgerechnet Minecraft – ein elektronisches Open ten; denn die Eltern waren auf den Verdienst werker, wie die Fabrikanten, Pfarrer und Advokaten zu den Autoritäten, verbinden. World Spiel, das der Fantasie der einzelnen Kinder wie auch der Zusam- ihrer Kinder angewiesen. Deshalb wurde bei- die im Dorf das Sagen hatten. Beklagte sich ein Kind zu Hause über Die Lebenserwartung hat sich extrem verlängert – menarbeit von Gruppen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, eigene Welten spielsweise das Fabrikgesetz von 1877, das die seinen Lehrer, war die häufigste Reaktion: der Lehrer wird schon wissen, und parallel dazu hat die Anzahl von Scheidungen zu gestalten – unabhängig von der Nationalität. Arbeit von Kindern unter 14 Jahren in den Fabri- warum er dich straft. Dem Lehrer als Respektsperson, als dörflicher Auto- zugenommen, von weniger als 5% vor 100 Jah- ken verbot, von Fabrikarbeitern wie auch Fabri- rität, begegnet man heute nicht mehr. ren auf heute über 50%. Kinder leben heute in kanten im Zürcher Oberland mehrheitlich abge- vielfältigen Familienformen und in Spannungs- lehnt. Bis in die 1870er Jahre war der Lehrer-Beruf im Kanton Zürich den Män- feldern, die früher kaum existierten. Für Alltag Die Schulen im Kanton Zürich galten schon um nern vorbehalten. Heute erleben Kinder in der Primarschule fast ausschliess- und Lebenswirklichkeit dieser Kinder gibt es Leon Naser, aus einer 1900 als vorbildlich. Im Lehrerseminar Küs- lich Lehrerinnen. Die Auswirkungen davon, besonders auf die Knaben, wer- keine traditionellen Muster – die Aushandlungs- kurdischen Familie, nacht wurden Lehrer ausgebildet, die überzeugt den diskutiert. Gleichzeitig nimmt das Verhältnis zwischen Lehrpersonen, geboren in der Schweiz prozesse zwischen Müttern und Vätern und waren vom Wert der Disziplin. Sie wussten, dass Eltern und Kindern neue Formen an. Die Eltern reden zunehmend mit: indi- allenfalls Behörden sind heute individualisiert eine gute Schulbildung wichtig war für das viduell oder organisiert im Elternrat. Auch die Kinder sind mit von der Par- 7 und situationsbezogen. berufliche Fortkommen besonders der Knaben. tie; in den Kinderparlamenten können sie bei der Gestaltung ihres Schul- Schläge galten als notwendige Disziplinierung alltags mitbestimmen. Generell spielt die Schule als Garantin für eine gute Zusammenleben in Nachbarschaft, und parteiische Lehrer waren üblich. Doch Berufsbildung heute eine immer wichtigere Rolle. Schlechte Noten gelten Vereinen und Schulen zunehmend schalteten sich Eltern ein, vor allem bei vielen Eltern schon in den ersten Primarklassen als Schicksalsschlag Schon in der frühen Jugend spielte und spielt die Väter einflussreicher Kreise; sie verlangten fürs ganze Leben. Was bedeutet dieser Druck für die Mädchen, für die Kna- die Nachbarschaft eine wichtige Rolle. Je weni- qualifizierte Lehrer, die den Anschluss an die ben? Und wie bewältigen sie daneben ihr immenses Pensum an organisier- ger die Kinder zu Hause eingespannt waren, Sekundar- und Mittelschulen gewährleisteten. Es ten Freizeit-Aktivitäten zum Beispiel im Sport oder im musischen Bereich?
100 Jahre auf demselben Bauernhof: Marie Berweger-Mäder ob ich die Aufgaben gemacht hatte. Ich hätte eine bessere Schülerin sein GROSSE VERANTWORTUNG Von Lotti Isenring Schwander können, verlor aber die Freude an der Schule. Meine Kolleginnen halfen mir. Es fehlte ein bisschen an der Erziehung. Und es gab Leute, die freu- ten sich, wenn mal etwas schief lief.» VON KINDSBEINEN AN Auch an Unbeschwertes erinnert sich Frau Berweger: «Einmal, an Weih- nachten, läutete die Hausglocke. Wir hörten den Vater sagen: ‹Gueten Obig Chrischtchindli, ja danke›. Und dann trug er ein kleines rotes Gram- mophon in die gute Stube. Später spielten wir damit Tanzmusik und lern- brauchten wir etwas länger für den Schulweg. ten zuhause tanzen.» Weniger schön waren die groben Buben und ‹die Bauern brauchten damals viele Hände. «Unser Vater hatte etwa 15 kleine choge Schneeballe›! Im Winter kamen wir durch- verstreute ‹Blätz› Land. Für die Kartoffeln zog mein Vater mit einem klei- froren im Schulhaus an; damals hatten wir keine Seit Frühling 2017 wohnt Marie Berweger- nen Pflug die Furchen. Angespannt war ein Rind oder eine Kuh. Elsi und Mäntel, sondern nur Strümpfe, einen Jupe und Mäder im Alterszentrum. ich legten die Kartoffeln im Abstand eines Schuhs hinein. Anschliessend höchstens noch eine Jacke. Als ich mir meinen deckte der Vater die Furche mit einer Hacke zu.» kalten Hintern an der heissen Ofentüre wärmte, Johann Mäder war ‹Muni-Händler› und blieb manchmal drei Tage im verbrannte ich mir meinen Jupe. Den musste ich Als Marie die fünfte Klasse besuchte, erkrankten Kanton Bern, um Stiere zu kaufen. «Wenn dann die Munis mit der Bahn in aber noch einige Zeit tragen, denn es gab nicht beide Eltern an einer schweren Grippe. «Sie Effretikon eintrafen, musste ich helfen, die Tiere nach Bietenholz zu füh- sofort einen neuen.» lagen krank nebeneinander in der Stube. Unsere ren. Einmal gab er mir einen Muni und sagte, der sei brav, den könne ich Damals gab’s in Bisikon eine Gesamtschule. Schlafzimmer im oberen Stock waren nicht ge- gut führen. Doch als ich unterwegs plötzlich keinen Menschen mehr sah, Acht Klassen mit mindestens 30 Kindern wur- heizt. Meine Schwester und ich waren oben. Da überkam mich die Angst, in den Strassengraben zu fallen. Diese Gräben den in einem Schulzimmer unterrichtet. «Wir hörte ich, wie meine Mutter unten zum Vater sag- waren damals tief. Da band ich den Strick des Tieres um eine Telefonstan- hatten einen super Lehrer, den Herrn Kyburz. te: ‹Bis dänn guet mit de Chinde›. Das waren die ge. Mein Vater, meine Schwester und ich, wir waren auf einander angewie- Wir merkten, dass er uns gern hatte. Ich kann letzten Worte, die ich von ihr hörte. Mein Vater sen. Ich han müesse chrampfe am Herd und ufem Fäld.» mich nicht erinnern, dass ich je eine Ohrfeige musste krank in der Stube liegend zuschauen, Die Bietenholzer Kinder: Marie Mäder ist die zweite von rechts, ganz rechts bekommen hätte. Als ich in der vierten Klasse wie seine Frau hinausgetragen wurde. Als meine Marie Mäder, ihre Schwester Elsi war, musste ich jeweils den Erstklässlern diktie- Mutter in Illnau beerdigt wurde, haben sie für Kohlezeichnung ihres ren. Ich sass in der Mitte und je ein Kind auf meinen Vater die Stubenfenster geöffnet, damit er Vaters Die Augen der 100-jährigen Marie Berweger leuchten, wenn beiden Seiten. Wenn es dem Lehrer zu viel wur- die Glocken läuten hörte. Auch wir Kinder konn- sie von der lustigen Bietenholzer Kinderschar erzählt, die de, schickte er einige von uns hinauf zu seiner ten nicht zur Beerdigung unserer Mutter gehen. zusammen nach Bisikon zur Schule ging. ‹Chriesi-Stibitze› Frau. Die lernte dann mit uns. Beim Turnen Damals brach für uns eine Welt zusammen.» oder Schlittschuh-Laufen, das waren besondere Vergnügen. machten wir manchmal ‹Sack-Gumpis› oder wir Als sie mit zehn Jahren ihre Mutter verlor, brach für sie eine gingen Schlittschuh fahren auf dem Eisfeld – Chrampfe – am Herd und im Stall Welt zusammen. Sie und ihre Schwester wurden unentbehrli- dort, wo heute die Schrebergärten sind.» «Zuerst hatten wir eine Haushälterin. Das ging 9 che Arbeitskräfte. aber nicht gut. Wir beiden Töchter mussten den Schöne und schmerzhafte Erinnerungen Haushalt schmeissen und ‹bim Puure hälfe›. Ich 1917 wurde Marie geboren. Zusammen mit ihrer fünf Jahre älteren Schwes- «Meine Eltern hatten es gut zusammen. Unser erinnere mich, wie meine 15-jährige Schwester ter Elsi wuchs sie im neu erbauten Bauernhaus der Familie Mäder in Bie- Vater verwöhnte uns und hatte uns gern. Ich zu mir sagte: ‹Marieli, du muesch choche›. tenholz auf und blieb 100 Jahre lang dort. Gerne erinnert sie sich an ihre erinnere mich nicht, dass er uns je ausge- Wenn ich um elf Uhr von der Sekundarschule Schulzeit: «Wir waren eine sechsköpfige Bande, die nach Bisikon zur Schu- schimpft hätte. Später waren wir aufeinander an- Rikon nach Hause kam, kochte ich und sie arbei- le ging und wir hatten es lustig zusammen. Wenn die Kirschen reif waren, gewiesen.» tete auf dem Feld. Abends kontrollierte niemand,
Landwirtschafts-Betrieb, die Camionage und für Heuen, Reiten und Fuhrwerken die Buchhaltung der Weberei verantwortlich. Er Zu den Pferden und zwölf Kühen des Landwirtschaftsbetriebs schaute ein war ein Bauernsohn aus Fehraltorf und hatte kei- Stallknecht. Auch Rudolf Weiss hatte seine festen Aufgaben. «Ich half ne Beziehung zur Textilindustrie.» beim Heuen oder ich brachte täglich die Milch in die Milch-Hütte (dort, wo heute die KiTa untergebracht ist). Einmal kippte der Velo-Anhänger auf Schöne Kindheitserinnerungen dem Trottoir-Rand und Milch floss aus den ‹Tausen›. Zuhause gab es eine Rudolf Weiss ist in einem Einfamilienhaus an der Bemerkung wie ‹das kann passieren›; geschlagen wurde ich aber nicht.» Kempttalstrasse aufgewachsen. «Meine Mutter Der Vater von Rudolf Weiss war ein sogenannter ‹Armee-Lieferant›, das hat liebevoll zu uns geschaut. Manchmal machte Der Siebenjährige, heisst, er stellte der Armee Zug-Pferde zur Verfügung. «Wir hatten immer Bleistift-Zeichnung von sie mit uns einen Ausflug nach Braunwald oder Oskar Nussio 20 bis 30 Rosse. Die brachten wir für eine RS oder einen WK an verschie- Wildhaus. Für meinen Vater gab es nur ‹Schaffe›. dene Orte. Wenn sie nicht im Militär im Einsatz waren, gab mein Vater die Mit meiner älteren Schwester hatte ich viele Ge- Tiere an Bauern weiter für den Heuet oder fürs Schnee-Pflügen. Etwa mit meinsamkeiten. Zum Beispiel hörten wir zusam- elf Jahren hat man mich auf ein Ross gesetzt und so habe ich reiten gelernt. Rudolf Weiss bleibt mit den Pferden verbunden. Bis zur Schliessung der men Schlager am Radio. Der Abstand zur sieben ‹De Bueb›, (das war ich) wurde angestellt, um die Rosse zu den Bauern zu Weberei 1989 leitete er das Familienunternehmen als Textil-Kaufmann. Jahre jüngeren Schwester war hingegen gross.» bringen. So ritt ich oft stundenlang ins Züri Ober- und Unterland oder an Auf der winterlichen Rudolf Weiss ging im Hagen zur Schule. «Ich war Kempttalstrasse den See. Wenn ein Ross recht lief, machte ich das gerne. Wenn die Tiere keiner, der etwas angestellt hätte. Deshalb bekam jedoch nicht recht wollten, war es mühsam. Ausserdem gab es während und Aufgewachsen in der Weberei Graf Illnau: Rudolf Weiss, 83 ich keine ‹Tääpe› wie andere Kinder.» (Anmer- nach dem Krieg keine Wegweiser.» AUF ROSS UND Von Lotti Isenring Schwander kung: Schläge auf die Hände waren übliche Schulstrafen.) «Im Sommer 1944 hörten wir in unserem Schulhaus Flieger-Alarm und sahen einen Flieger brennend herunterfallen. Viele Buben sputeten zum Prestberg hinauf. Obwohl alles abgesperrt war, fand ich ein kleines BRÜCKENWAGEN Damals war die Kempttalstrasse eine Art Spiel- Strasse. «Zusammen mit einem Freund machte Plexiglas-Stück, das ich lange aufbewahrte.» (Im Jahrheft 2014 ist der Absturz des amerikanischen Flugzeugs beschrieben.) ich Kunst-Stücke und Rennen mit dem Velo «Auch an die Lebensmittel-Märkli erinnere ich mich. Dennoch mussten wir Der Grossvater von Rudolf Weiss war Fabrikant, während meines Vaters. Wenn wir Rollschuh fuhren und nicht hungern, denn wir konnten ab und zu eine Sau metzgen und hatten sein Vater für den zugehörigen Landwirtschaftsbetrieb ver- ein Auto kam, hatten wir genügend Zeit, die eigene Milch.» antwortlich war. Schon früh half Rudolf Weiss beim Heuen Strasse zu verlassen. Oft ging ich in den nahen Im letzten Schuljahr übernahm Rudolf Weiss von seinem Vater die Camio- oder er ritt Armee-Pferde zu deren Bestimmungsort; später Fabrik-Weihern fischen. Im Sommer badeten nage. «In der zweiten Sekundarschule hatte ich genug von der Schule. übernahm er das Fuhrwerken. Eindrücklich sind seine Erin- oder paddelten wir dort; im Winter fuhren wir Mein Vater sagte: ‹So, dann bleibst du ein Jahr zuhause.› Stolz lenkte ich nerungen an das Riet mit seinen Lilien und an die Schwärme mit den Schrauben-Schlittschuhen, den ‹Ab- die zwei Pferde, die vor den neuen Brückenwagen eingespannt waren. Ich kleiner Fischlein. satzfressern›. Ein starkes Bild ist für mich das holte die Pakete auf der Bahnstation und brachte sie den Leuten im Dorf. riesige Riet zwischen unserer Fabrik und Fehr- Täglich holte ich Garnlieferungen beim Bahnhof ab und brachte rohes oder Die Weberei Graf war ein traditionsreiches Unternehmen. «Mein Grossvater altorf mit den Lilien, den ‹Ille›. Die Kempt gefärbtes Gewebe von der Weberei Graf zur Eisenbahn. Einmal brannten 11 führte den Betrieb. Über meine Grosseltern bin ich mit der Textil-Industrie schlängelte sich bis zu ihrer Korrektur 1939 mir die Rosse durch. Zum Glück kehrten sie ohne Zwischenfall in den Stall verbunden. Sie wohnten nicht in einer Fabrikanten-Villa, sondern im Fab- mitten hindurch. Elritzen schwammen zu Tau- zurück.» rikgebäude. Jeweils freitags besuchte mein Grossvater die Textilbörse in senden in den Riet-Bächlein. Mit Taschentü- Zürich, um mit Kollegen Erfahrungen auszutauschen, zu essen und zu jas- chern schöpften wir grosse Mengen dieser klei- sen. Meine Grossmutter wachte aufmerksam darüber, dass ihr Mann gut nen Fischlein aus dem Wasser.» (Anmerkung: angezogen war. Lange war für mich die einzige Verbindung zum Fabrikbe- Name und Wappen von Illnau gehen auf diese trieb, dass ich am Bahnhof Kohle schaufeln musste. Mein Vater war für den Lilien zurück.)
Mutter Fabrikarbeiterin, Vater Küfer: Armin Heinimann, 77 DIE MUTTER WAR DIE SEELE DER FAMILIE Von Martin Steinacher Bäumen schüttelten und in der Milchhütte ablieferten, gab es ebenfalls ein paar Franken. Ferien waren für uns ein Fremdwort. Ich erinnere mich bloss an zwei Ferienaufenthalte: am Walensee und in St. Antönien.» Im naturnahen Illnau aufgewachsen zu sein, empfindet er als grosses Pri- vileg. «Wir konnten auf der Strasse Fussball spielen, der Wald diente als Spielplatz und mit der Hand fischten wir in der Kempt. Damals gab es noch intensive Bandenkämpfe zwischen Unter- und Oberillnau, eine Art Armin Heinimann lebt mit seiner Frau an der Indianerlis, bei dem Gefangene gemacht wurden. Als ich noch zu klein für Mythenstrasse in Illnau. Bis 1995 war der den Einsatz als Krieger war, musste ich die gefangenen Squaws im Zelt promovierte Wirtschafts- und Rechtswissen- Positive Gefühle verbinden Armin Heini- und Schänkeli jeweils versteckte, damit sie nicht augenblicklich gegessen schaftler Rektor der Gewerblichen Berufs- bewachen, was ich anfänglich eher als Schande, bald aber als angenehme mann mit seiner Kindheit in Unter-Illnau. wurden – war Armins zweite Bezugsperson. und Berufsmittelschule Wetzikon. Er war poli- Aufgabe empfand.» Seine liebevolle Mutter, Annette Heini- tisch und militärisch aktiv und tritt als begab- ter Geiger heute noch in Musikgruppen auf. mann-Vitelio, legte den Boden für seine Die grosse Persönlichkeit aber, die eigentliche Seele der Familie, war die Die Vereine hatten in Illnau zu jener Zeit einen hohen Stellenwert, sei es Karriere in Schule, Militär und Politik. Mutter, eine geborene Italienerin, Tochter eines Webers, die als Achtjähri- der Turnverein, die Chöre, die Schützen oder der Eishockeyclub Illnau. Sie konnte auch geschickt mit den knap- ge in die Schweiz gekommen war. Armin Heinimann gerät ins Schwärmen Die Dorfchilbi war noch ein eigentliches Dorffest, bei dem es familiär zu- pen Mitteln umgehen und war eine be- über seine wichtigste Stütze: «Sie hat uns Kinder zur Selbstständigkeit wendige Einfühlungsvermögen für uns und und herging und bei welcher der Gemeinschaftssinn im Zentrum stand. eindruckende Persönlichkeit. erzogen und an langer Leine gehalten, indem sie an unsere Vernunft unsere Nöte, war nicht nur liebenswürdig und Die Primarschule absolvierte Armin Heinimann im Schulhaus Hagen in appellierte. Stets war sie da für uns Kinder, selbst wenn sie lange Zeit gastfreundlich, sondern auch belesen und einer Mehrklassenschule, wo er es empfand, dass die ‹Mehrbesseren› Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte Armin 100 % als Fabrikarbeiterin in der Weberei Graf tätig war. Sie hatte das not- äusserst musikalisch. Oft sang sie in der Kirche anfangs bevorzugt wurden. Im alten Gemeindehaus besuchte er die Heinimann im ‹Chlöschterli›, einem alten Flarz einen Soloteil. Sie wäre eine ausgezeichnete Sekundarschule, wo er erst so richtig Freude an der Schule bekam und im Oberdorf, bevor die Familie nach dem Tod Von links: Armin, Schwester Centine, Lehrerin geworden, hat sie uns Kindern doch aufblühte. des Grossvaters in dessen Wohnhaus im Lätten Mutter Annette, Bruder Turi den Lesevirus vererbt sowie eine gesunde Neu- zog, ins Haus, welches heute noch die Weisslin- gierde.» In der dritten Sekundarschule gerstrasse einengt. Mit der fünf Jahre älteren Schwester, dem um drei Jahre jüngeren Bruder Familienbudget aufgebessert und den Eltern lebte auch die Grossmutter im Etwas nachdenklich wird Armin Heinimann, gleichen Haushalt. Armins Vater war ein wenn er ans Finanzielle zurückdenkt: «Geld war ‹Urillauer›, Küfer von Beruf. Nebst dem 100 %- oft ein Thema. Unsere Mutter amtete nebst vie- Job in der Brauerei Haldengut, wo dieser 42 len anderen Aufgaben auch umsichtig als Jahre lang tätig war, küferte der Vater in der Frei- Finanzchefin der Familie. Wir trugen das Unsere zeit für die Illnauer Bauern. Täglich musste er dazu bei, um das Sackgeld etwas aufzubessern. 13 um 4.30 Uhr aufstehen, deshalb ging er regel- Als Postbub für den Tuchhändler Walder trug ich mässig früh zu Bett. Da er nach der Arbeit öfter mit dem Velo Kleider im Tausendseelendorf Ill- zu einem ‹Schoppen› in die nahe gelegene ‹Blu- nau aus und bei der Weinhandlung Brüngger me› ging, hatten die Kinder wochentags nicht reinigte ich Flaschen. Den Bauern – damals gab viel von ihm, profitierten jedoch im handwerkli- es noch 40 bis 45 Höfe in Illnau – half ich beim chen Bereich. Die Grossmutter – eine ausge- Härdöpfle und Heuen. Für das Sammeln von zeichnete Bäckerin, die ihre Fasnachtschüechli Kartoffelkäfern und Maikäfern, die wir von den
Aus einer bäuerlich-handwerklichen Familie: Werner Weiss, 63 KIRCHE Von Martin Steinacher UND EISERNE JUNGFRAU ALS SPIELPLATZ Werner Weiss (ganz rechts) grosse Einschränkungen, da immer jemand auf den Knaben aufpassen und seine Geschwister 1958 Werner Weiss arbeitete als Fernmelde- musste. Ferien machte die Familie nie. «Dies vermisste ich dank tollem spezialist und ist seit dem 1. Dezember 2015 Umfeld aber nicht», blickt der Ur-Kyburger zurück. Die Freizeit ver- pensioniert. Mit Ausnahme von 1977-1991, als er Effretikon beehrte, lebte er immer brachte er oft beim Hüttenbauen im Wald. Daneben suchten die Dorf- in Kyburg. Zusammen mit seiner Frau bewohnt jungen in der Kyburg tagelang nach dem unterirdischen Gang, den doch er ein schmuckes Haus im ehemaligen Obst- jede Burg haben musste. In Gruppen versuchten sie jeweils den Burg- garten seiner Eltern, dem ‹Bumert›. wächter auszutricksen, um gratis in die geheimnisvolle Burg hineinzuge- langen. «Die eiserne Jungfrau war für uns Kinder natürlich ein faszinie- rendes Spielzeug. Da deren Spiesse hoch oben angesetzt waren, konnten Die Familie Weiss war drei Generationen lang zeitskirche. Werner Weiss erinnert sich an bis wir Knirpse uns problemlos darunter hineinstellen. Wenn dann Besu- in Kyburg als Wagner und Schmied tätig. zu fünf Trauungen pro Samstag. Ihm oblagen cher ehrfürchtig davorstanden, sprangen wir mit einem Schrei heraus Davon zeugt heute noch die Werkstatt neben oft das Wischen des Kirchenplatzes und das und amüsierten uns köstlich.» dem ehemaligen Gemeindehaus. Parallel zu Betzeit-Läuten. «Für uns waren die grosse Kir- diesem Handwerk sorgte man als Kleinbauer chenlinde sowie der Kirchturm eigentliche Ohrfeigen bleiben unvergessen für das Überleben der Familie. Vier Kühe im Spielplätze, wo wir uns manchmal gar während In Kyburg spielen die Vereine seit je her eine zentrale Rolle. Werner Stall, dazu einige Schweine, Hühner, Obstbäu- des Gottesdienstes austobten. Als Bub erschau- Weiss war im Turnverein aktiv, wo er als Jugileiter und Leichtathlet im me und ein grosser Gemüse- und Blumengar- derte ich zwar wegen der vielen dunklen Vögel Einsatz stand. Dank seinem Vater kam er auch früh zum Schiessen. Die Kyburger Kinder konnten an berühmten Orten spielen, ten – das war’s. Werner Weiss erinnert sich gut ohne Köpfe, die im Kirchturm herumflogen», Gemeinsam erstellten sie den Schopf neben dem Scheibenstand. Werner zum Beispiel vor der beliebten Hochzeitskirche oder manch- daran, wie er mit dem Grossvater entlang der lacht er – doch bald gewöhnte er sich an die wurde ein begeisterter Jungschütze. mal in der altehrwürdigen Burg, wenn sie denn Zeit dafür äusseren Schanze, dem Befestigungswall rund Fledermäuse. Beten vor dem Einschlafen war Ein für Werner Weiss negativ behaftetes Thema ist die Schule. Für alle hatten. Werner Weiss wuchs in einer Mehrgenerationen- ums Dorf, zum Grasen ins Loo fuhr. Mit zwei ein Familienritual, Fluchen dagegen tabu. sechs Primarklassen war ein einziger Lehrer zuständig, der im Schul- Familie auf und wurde auf dem kleinen Bauernhof gebraucht. vor dem Wagen eingespannten Kühen war das «Alles in allem wurden wir grosszügig erzogen, haus oben wohnte. «Wir mussten unter unserem Lehrer vieles erdulden Prägend war für ihn das Zusammenleben mit seinem älteren eine gemächliche Fahrt. Sein Vater war der erste die Grosseltern waren noch eine Spur strenger und häufig traf es mich, wenn es um Strafen ging. Ich erinnere mich gut, Bruder, der eine Behinderung hatte. Familienvertreter, der nebenbei keinen Bauern- als unsere Eltern. Schläge erhielten wir zuhau- als mir unser Lehrer eines Morgens unterstellte, ich hätte am Vorabend betrieb mehr führte, sondern sich ausschliess- se nie. Die ‹Höchststrafe› war, ohne Essen ins in der Bäckerei seine Frau nicht gegrüsst. Obwohl dies keineswegs 15 Werner Weiss wuchs in einer Grossfamilie in Kyburg auf. Grosseltern, lich dem Holz widmete. Bett gehen zu müssen.» stimmte, knallte er mir augenblicklich eine saftige Ohrfeige. Die Ober- Eltern, die beiden Schwestern sowie sein Bruder speisten täglich Geprägt wurde das Familienleben durch Wern- stufe besuchte ich per Velo in Weisslingen. Wenn Schnee lag, stampften gemeinsam am Familientisch. Dies führte zu lebendigen Diskussionen, Nachtgebet ein Ritual, Fluchen tabu ers älteren Bruder, der seit einer Hirnhautent- wir zu Fuss und überbrückten den Mittag im Aufenthaltsraum.» Für den sofern nicht Nachrichten aus dem uralten Röhrenradio die Aufmerksam- 22 Jahre lang hatten seine Eltern das Siegris- zündung im Alter von drei Jahren geistig und Kleiderkauf in Winterthur marschierte man oft in den Sennhof, von wo keit erforderten. Einen Fernseher gab es im Hause Weiss anfangs nicht. ten-Amt inne, was für die ganze Familie, nebst körperlich stark behindert ist. Er durfte nie zur der Zug in die Grossstadt fuhr. Wer den Kyburg-Lauf bereits einmal Da alle während der Woche genügend Bewegung hatten, spielte man Zusatzverdienst auch Zusatzarbeit bedeutete. Schule gehen und ist heute auf den Rollstuhl absolviert hat, weiss, welchen Höhenunterschied es dabei zu bewältigen sonntags gemütlich ‹Elferraus› oder ‹Eile mit Weile›. Die Kyburger Kirche war begehrt als Hoch- angewiesen. Dies bedeutete auch für Werner galt; speziell der Heimweg hatte es in sich ...
Mit Swissair-Connection: Andrea Jost, 52 «Für Geburtstag und Weihnachten haben wir Rituale, die eine schöne RUNDUM ABENTEUER Von Lotti Isenring Schwander Struktur geben und nicht einengen. Zum Beispiel war ich schon als klei- ner Knopf beim Weihnachtsmorgen-Singen dabei. Wir zogen ab 5.30 Uhr singend mit Fackeln durch Effretikon. Heute leite ich dieses Singen. Zuhause sangen wir oft. Später spielte ich Blockflöte, dann kamen Klavier und Gitarre dazu.» Unsere Familie liebte die Jahreszeiten im Garten oder die Ferien im Toggen- burger Alphüttli der Grosseltern. «Meine Eltern vermittelten uns den Wert Unbeschwert ist Andrea Jost im Chalet ihrer Urgrosseltern in der Natur und dass wir Verantwortung tragen für die Schöpfung. Sie sind Andrea Jost arbeitet als freie Theater- Effretikon aufgewachsen. Bei Abenteuern in Haus und Wald, im christlichen Glauben verankert. Wir Kinder gingen in die Sonntags- Schaffende und als Nachrichtensprecherin beim Theater-Spielen und Musizieren war sie in ihrem Element. schule, in den Cevi und mit den Eltern in den Gottesdienst. Es entspricht bei Radio SRF. Inzwischen wohnt sie wieder an der Glärnischstrasse in Effretikon. Im Elternhaus wurde viel gearbeitet, gelacht und gesungen. mir, dass wir unseren Glauben auch in Taten umsetzen. Mein Vater war in Der Glaube gab einen Boden – auch für praktisches politisches der EVP und in der reformierten Kirchenpflege und meine Mutter u.a. bei Handeln. den Friedensfrauen. Später, im Konf-Unterricht bei Peter Schüle, hörte ich vom südafrikanischen Apartheits-Regime, von den Gefahren der Atom- Die ersten acht Jahre lebte die Familie von Andrea Jost in Glattbrugg. kraft und vom Umweltschutz und Recycling. Diese Themen in Bezug zur Dann zog sie nach Effretikon ins Chalet der Urgrosseltern. «Im grossen Bibel gesetzt, das hat mich politisiert. Immer noch bin ich mit dem Glau- Garten gab es in jeder Jahreszeit etwas zu tun. Jäten, Beeren lesen, Trübli ben und mit der Kirche verbunden.» ‹abträppele›, Nüsse aushülsen, das fanden meine jüngere Schwester und ich nicht lässig. Aber dass wir an unseren Geburtstagsfesten jeweils alle Bühne frei Mädchen unserer Klasse einladen durften, das gefiel uns. Bei Wettbewer- Andrea Jost ging gerne zur Schule. Kontakte und Freundschaften flogen ihr Der Anfang der ben wurden dabei Zufallspunkte vergeben. Die Letzten auf der Rangliste zu. «Im Unterricht kamen mir häufig lustige Gedanken oder Witze in den Theaterkarriere – in der Küchenschürze durften zuerst ein Preisgeschenkli aussuchen. Das organisierten unsere Sinn, die ich loswerden ‹musste›. Nach ersten Ermahnungen gab mir der Mutter Eltern. Sie hatten ein Auge und ein Herz fürs Teilen. Mit den Grosseltern dann die Primarlehrerin dafür gleich zu Beginn der ersten Unterrichts- zusammen zu leben war ideal. Leider starben sie viel zu früh.» Im Cevi: die Israeliten stunde eine Plattform. Besonders liebte ich Vorträge. Als ich in der Ober- in Jericho, eine Ge- schichte aus der Bibel stufe über Indien referierte, erschien ich in einem Sari und zog alle Thea- Traditionelles und unkonventionelles Elternhaus ter-Register.» Der Vater arbeitete als Flugzeugmechaniker bei der Swissair und deshalb Andrea Jost wurde mit neun Jahren ein Cevi-Mädchen der ersten Stunde. konnte die Familie günstig fliegen. «Ferien mit dem Camper in Amerika «Ich machte die ganze Cevi-Karriere bis zur Leiterin. Bei den Erlebnis- oder bei meinem Götti in England waren ein Riesenprivileg. Dass wir nur «Unsere Eltern waren sparsam und grosszügig programmen draussen in der Natur wurde ich wetterfest.» mitfliegen konnten, wenn es Platz hatte, war für mich ein Abenteuer. Nach zugleich. In unserem Haus wohnten oft in- und Im Cevi war Platz für die Liebe zum Theater. «Wir verkleideten uns und einer Nachtschicht meines Vaters kam es vor, dass morgens beim Aufste- ausländische Gäste, auch solche, die in Not spielten Geschichten. Eines der tollsten Programme war ‹Moses in der hen Frösche in der Badewanne krabbelten, weil mein Vater diese Tiere aus waren. Wir erlebten hautnah, dass es nicht Wüste‘. Wir zogen mitten im Winter durch den Schnee, dabei schwitzten 17 einer kaputten Transportkiste gerettet hatte. Wenn meine Mutter ihren selbstverständlich ist, in einem schönen Haus wir und hatten Durst, weil wir die 40 Wüsten-Jahre richtiggehend fühl- Bruder in England besuchte, machte unser Vater ein Extra-Programm. und in der sicheren Schweiz zu leben. Meine ten.» Auch musikalisch konnte sich Andrea Jost einbringen. «Mit der Zum Beispiel weckte er uns um vier Uhr morgens und wir pirschten den Eltern wünschten sich, dass wir eigenständige Gitarre begleitete ich unsere Lieder und leitete später Adhoc-Chöre für Ufern von Örmis, Wildert oder Pfäffikersee entlang. Intensiv erlebten wir Persönlichkeiten würden. Sie erwarteten, dass Cevi-Hochzeiten oder Weihnachten. Daraus ist dann auch der Gospelchor den Tagesanfang mit dem Sonnenaufgang und mit den Vogelstimmen.» wir das Beste gaben, aber sie definierten uns Illnau-Effretikon entstanden. Viele meiner langjährigen Freundinnen und Die Mutter war Kindergärtnerin und übernahm manchmal Vikariats-Ein- nicht über Leistung. Das gab mir Selbstwertge- Freunde sind aus dem Cevi. Da ist eine grosse Nähe und Vertrautheit sätze. Später war sie in der Schulpflege und engagierte sich in der Kirche. fühl und ein Urvertrauen.» geblieben.»
die Pferde nachts um zwei Uhr ausbrachen, Ideen, die mir sinnvoller erschienen. Was Recht und was Unrecht war, das mussten wir sie zurückholen und am nächsten interessierte mich.» Morgen dennoch zur Schule gehen. Wir machten Rika Schneider verdankt ihren Eltern viele gute Erfahrungen und Werte, alles selbst, vom Heuen bis zum Stroh-Abladen. die sie auch heute hoch hält. «Unsere Eltern hatten uns gerne und respek- Das Leben und Arbeiten mit den Pferden präg- tierten uns in unserer Unterschiedlichkeit. Wir erlebten, dass es nicht ten meine Jugend und mein Leben.» darauf ankommt, gute Noten zu haben, sondern dass jeder nach bestem Vermögen seinen Weg geht. Das finde ich hochkarätig von Lehrer-Eltern! Menschen und Musik Wir lernten, Verantwortung zu übernehmen für uns selbst und für ein gutes Rika Schneider ist in einer Lehrer-Familie auf- Miteinander. Meine Eltern lebten in grossem Respekt gegenüber der Natur.» gewachsen. «Mein Vater arbeitete in Volketswil, meine Mutter war ganz für uns da. Wir vier Kin- Spielen und Schulen der waren sehr verschieden; mein älterer Bruder, «Mit Kindern aus der Nachbarschaft bemalten wir die Strasse, fuhren mein Zwillingsbruder, meine jüngere Schwester Rollbrett, jonglierten auf alten Rollfässern, übten Kunststücke, spielten Rika Schneider arbeitet als Geschäftsführerin bei der Äss-Bar (Frisch und ich. Wir spielten und stritten, wie es sich für Hockey und Fussball, und erfanden immer wieder neue Spiele. Fernsehen von gestern) und zwischendurch auf Bauernhöfen – wie hier auf dem Bild. eine Viererbande gehört. Meine Eltern unter- durften wir nur sehr selten.» Jede freie Minute verbringt sie unter freiem Himmel. nahmen viel mit uns, oft draussen in der Natur. Die Primarschule gefiel Rika Schneider vor allem wegen ihrer Kollegin- Vater und Mutter spielten mehrere Instrumente. nen und Kollegen. «Und natürli s’Tschutte mitem Brüeder und de Buebe. Das Haus war voller Tiere. Wichtig Musik gehörte in unseren Alltag. Noch heute Aber ich hatte auch einen super Lehrer. Ich ging gerne zum Unterricht. waren Rika die Bubenhosen und der Ledergurt mit dem Fussball-Anhänger. Aus einer Lehrer-Familie: Rika Schneider, 41 sehe ich dieses Bild vor mir: mein Vater spielt Der Schulweg war mega wichtig, mit dem Bauernhof Brüngger, mit HIER BEGINNEN Von Lotti Isenring Schwander Klavier und ich stehe daneben und singe. Zuhause musste jeder sein Ämtli erledigen. Mei- ne Eltern waren streng. Jedoch konnten wir vie- Schneeball-Schlachten und gestohlenen Himbeeren.» Kolleginnen und Kollegen, Sport und Freifächer standen auch im Gymna- ren, Chor-Singen, vieles interessierte mich. Vor sium im Mittelpunkt. «Fussball, Handball, Basketball, Volleyball, Jonglie- allem faszinierte mich, was da abging zwischen MEINE LÄNDEREIEN les ausprobieren und unsere eigenen Erfahrun- gen machen.» Mit Pési im Stall den Schulkameraden, den Lehrern – zwischen Menschen. Ich beobachtete, dachte nach – auch Gastfreundschaft war selbstverständlich zuhause. über mich – und schrieb. Nach einem halben Keinen Quadratmeter Land besitzt Rika Schneider. Von klein «Ich staune, wie offen meine Eltern waren. An Jahr hatte ich miserable Noten und fiel fast aus auf lebte sie draussen in der Natur und ist deshalb mit der unserem Mittagstisch sassen immer ‹Gschpänli›. dem Gymnasium. Ein Lehrer packte mich und Illnauer Landschaft verbunden. Ihre Familie war offen für Es kam vor, dass jemand in der Stube sass, wenn andere gefährdete Schüler und sagte: ‹Ihr geht kleine und grosse Gäste. Respekt vor anderen Menschen und ich nach Hause kam, und mich fragte: ‹Wer bist jetzt nicht. Ihr lernt, wie ihr besser lernen könnt!› vor der Natur prägen noch heute ihr Leben. du?› – ‹Ich wohne hier. Und wer bist du?› fragte Ich habe gemerkt: Wenn man die Fähigkeit hat, ich zurück.» zu lernen, kann man viel erreichen.» Erreicht der Zug die weite Landschaft von Illnau, so sagt Rika Schneider Als Rika Schneider zwölf Jahre alt war, liessen Schon mit 15 Jahren reiste Rika Schneider als gern: «Hier beginnen meine Ländereien. Hier bin ich als Indianer herum- sich ihre Eltern scheiden. «Meine Mutter hatte Austausch-Schülerin nach Neuseeland. «Dieses 19 geschlichen, habe im Tipi geschlafen, habe auf unseren Ausritten verges- eine Riesenarbeit mit uns Kindern. «Meine bei- Jahr prägte mich. Seit damals bin ich ein Vaga- sene Pfade im Wald entdeckt, war mit dem Hund unterwegs, habe still den Brüder waren ‹gäch› in der Pubertät. Rasch bund und lebe in unterschiedlichen Gegenden, irgendwo gesessen und beobachtet. Ich bin mit Islandpferden aufgewach- habe ich Verantwortung übernommen zuhause Ländern und Arbeitskulturen. Ich habe lange sen, für welche meine Mutter, eine Freundin und ich verantwortlich waren. und im Stall. Mit mir ‹gab es wenig Lämpen›. keine Heimat mehr zugelassen. Doch wenn ich Meine jüngere Schwester half mit. Im Stall im Illnauer Oberdorf arbeiteten Angepasst war ich nicht. Ich war misstrauisch Orte nennen müsste, so sind es ‹meine Lände- wir, froren wir, schwitzten wir, waren fröhlich, traurig und glücklich. Wenn gegenüber dem, was ‹in› war. Standardverhalten reien› und das Haus an der Säntisstrasse hier in andere nach der Schule in die Badi gingen, arbeiteten wir im Stall. Wenn und Floskeln ersetzte ich lieber durch eigene Illnau».
Aufgewachsen in einer Reihenhaus-Siedlung: Rolf Klossner, 29 Ein super Schulstart GANZ BISIKON WAR UNSER SPIELPLATZ Von Erika Graf-Rey «Stellen Sie sich eine Klasse mit DREI Kindern vor! Das war meine Reali- tät in Bisikon!» An die Unterstufenzeit in der Dreiklassenschule in Bisikon hat Rolf Klossner nur die besten Erinnerungen. «Von unseren Lehrerin- nen wurden wir stark gefördert und wurden rasch selbstständig!» Mit diesen Voraussetzungen war auch die Mittelstufe im grossen Eselriet in Effretikon kein Problem. Sein Interesse galt schon damals vor allem der Mathematik. Auch bei Regen und Schnee radelten die Bisiker Kinder Unbeschwert ist er aufgewachsen. In Bisikon fand er viele prägten Rolf Klossner: Auch er hat sich schon ohne Murren ins Eselriet und zurück. Ein ‹Elterntaxi› gab es nicht! offene Türen und Spiel-Felder. Die vielseitig engagierten Eltern früh für andere eingesetzt und hat gerne in den Selbst während der Oberstufenzeit im Schulhaus Watt blieb aber das liessen ihre Kinder am interessanten Alltag teilhaben. Denkt Kinder- und Jugendgruppen Verantwortung kleinräumige Bisikon der Lebensmittelpunkt. «Die ersten Kinderfreund- Rolf Klossner an seine Kindheit in Bisikon zurück, tauchen übernommen. Unserer Gemeinde bleibt Rolf Klossner treu. schaften sind bis heute tragfähig», freut sich Rolf Klossner. «Jetzt leben ausschliesslich positive Erinnerungen auf. Dass Vater und Mutter (damals Vollzeit und Teil- Seit kurzem ist er Mitglied der Geschäftsleitung wir als gute Freunde einfach in Winterthur.» des Architekturbüros ‹lardi gmür klossner zeit) berufstätig waren, fand er immer interes- architekten ag› in Effretikon. Der junge Mit den andern Kindern der ‹Beelersiedlung› in Bisikon im Freien herum- sant. «Wir wussten immer, an welcher Haustür Architekt wird dieses spätestens Ende 2019 tollen oder stundenlang ‹Schiitli-Verbannis› und ‹Räuber und Poli› spie- wir bei Bedarf anklopfen konnten.» Und stolz übernehmen – eine grosse Herausforderung! len – das bestimmte weitgehend Rolfs Freizeit. «Unser Spielfeld reichte erzählt er: «Wer kann schon als Sohn am Zu- jeweils vom Örmis bis zum Getränke Bösch in Bietenholz!» Knaben und kunftstag der Primarschule mit der Seepolizei Mädchen erforschten stunden-, ja tagelang ihre Umgebung. Später wurde unterwegs sein?!» Die Arbeitswelten der Eltern Sie seien behütet aufgewachsen und konsequent, dann Unihockey zum Lieblingsspiel der Knaben. Viele Partien der Sied- faszinierten den Jungen. Das elterliche Vorbild aber fair erzogen worden. «Vieles ist angespro- lungskinder gegen die Kinder der Nassacherstrasse wurden ausgetragen. beeindruckte ihn: Für etwas einstehen, etwas chen und ausdiskutiert worden – und wenn ein- Für stundenlanges Fernsehen und Gamen fehlten sowohl Zeit als auch Begonnenes zu Ende führen, Eigenverantwor- mal eine Türe zugeknallt wurde, hat man sich Interesse. tung übernehmen, sich mit Recht und Unrecht schnell wieder gefunden!» «Mein zweites trag- Und was wären die Bisiker-Knaben ohne Fussball gewesen?! Tore wurden auseinandersetzen – das alles hatte in dieser fähiges Netz war und ist meine – erweiterte – im Eigenbau erstellt, Autobesitzer gebeten, ihre Autos umzuparken. So Familie einen hohen Stellenwert und hat es noch Familie!» wurde der Garagenvorplatz zum Spielfeld umfunktioniert. Beide Leiden- heute! Mittagessen bei den Grosseltern väterlicherseits schaften zogen sich ins Erwachsenenalter hinein. Rolf und sein älterer in Effretikon oder bei den Nachbarn in der Sied- Bruder Mario gaben ihr Wissen im FC Effretikon und im Unihockeyklub lung waren eine Selbstverständlichkeit ebenso Illnau als Juniorentrainer weiter. Siedlungsolympiaden, Plausch in der Rolf und sein Bruder Mario wie ein privat organisierter Mittagstisch im Bisiker Dorfbadi – Rolf Klossner kommt ins Schwärmen ... Den über die Freundeskreis. Gemeinsam an einem Tisch zu Jahre gewachsenen Zusammenhalt der Siedlungskinder beschreibt der sitzen war in seinem Haushalt wichtig. Früh Dreissigjährige als so tragfähig, dass noch heute Mario und ehemalige konnten sich Rolf und Mario auch schon selber Nachbarsjungen seinen engsten Freundeskreis bilden. ein Nachtessen zubereiten und lernten bald, 21 Olympiade in der Beeler Siedlung frische Zutaten zu verwenden. Die Mutter war Ein grosses Beziehungsgeflecht und ist ja nebst ihrer politischen Tätigkeit auch «Unsere Eltern ermöglichten uns ein unbeschwertes Heranwachsen.» Gastronomie-Fachfrau. Trotz vieler Freiheiten waren die Grenzen immer klar. Die Jungen wussten «Aktivferien mit Verwandten und befreundeten zum Beispiel genau, wann sie abends zu Hause sein mussten. Das grosse Familien erweiterten unseren Horizont!» Sport – berufliche und ausserberufliche Engagement der Eltern für die All- vor allem Rad fahren – war für die Familie im In- gemeinheit sowie eine intensive, offene Gesprächskultur in der Familie und Ausland eine bevorzugte Freizeitaktivität.
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