STÄDTE DES RECHTS: GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN - APRIL 2017
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STÄDTE DES RECHTS Die Plattform für Internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migrant*innen (PICUM) wurde 2001 als eine Initiative von an der Basis arbeitenden Organisationen gegründet. Heute repräsentiert PICUM ein Netzwerk von 155 Organisationen, die in 30 Ländern mit Migrant*innen ohne Aufenthaltsstatus arbeiten – vor allem in Europa, aber auch in anderen Regionen der Welt. PICUM hat eine Vielzahl an Fakten über die Kluft zwischen internationalen Menschenrechtsnormen und Politiken und Praktiken auf nationaler Ebene zusammengetragen. Mit 15 Jahren an Wissen und Erfahrung zu undokumentierten Migrant*innen, fördert PICUM die Anerkennung ihrer Grundrechte, indem eine wichtige Verbindung zwischen den Alltagssituationen vor Ort und politischen Debatten hergestellt wird. Bericht verfasst von Alyna C. Smith, Advocacy Officer, und Michele LeVoy, Direktorin. PICUM dankt allen Mitgliedern von PICUM, die zu diesem Bericht beigetragen haben, sowie Marta Llonch Valsells für ihre wertvolle Unterstützung bei der Recherche. Dieser Bericht basiert auf einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2014, die von Lilana Keith, Advocacy Officer von PICUM, mit Unterstützung von Mitgliedern und Partnern von PICUM erstellt wurde. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Dieser Bericht wurde ermöglicht mit der Unterstützung von: Dieser Bericht entstand mit finanzieller Unterstützung des EU-Programms für Beschäftigung und soziale Innovation „EaSI“ (2014–2020). Für nähere Informationen, siehe: http://ec.europa. eu/social/main.jsp?catId=1081&langId=de. Die in dieser Veröffentlichung enthaltene Informa- tion gibt nicht zwangsläufig die offizielle Position der Europäischen Kommission wieder. Mit Unterstützung des Foundation Open Society Institute in Zusammen arbeit mit der Open Society Initiative for Europe der Open Society Foundations. PICUM Plattform für Internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migrant*innen Rue du Congres / Congresstraat 37-41, post box 5 1000 Brüssel Belgien Tel: +32/2/210 17 80 Fax: +32/2/210 17 89 info@picum.org www.picum.org TITELBILD: ©Bente Stachowske, Sprechstunde für Kinder der Migrantenmedizin Westend der Hoffnungsorte Hamburg, die in Kooperation mit Ärzte der Welt undokumentierten Migrant*innen und Menschen ohne Krankenversicherung kostenlose medizinische Hilfe bietet. STADTBILDER: Kiel: © Livingsee | Dreamstime.com • Warschau: © Niserin | Dreamstime.com • Helsinki: © Scanrail | Dreamstime.com Düsseldorf: © Swinnerrr | Dreamstime.com • Madrid: © Sandy_maya | Dreamstime.com • Barcelona: © Fazon1 | Dreamstime.com Design: www.beelzepub.com
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN INHALT VORWORT Anna Lisa Boni, Generalsekretärin, Eurocities....................................................................................... 3 VORWORT Michele LeVoy, Direktorin, PICUM............................................................................................................................. 5 ÜBERBLICK: (Re)aktionen der Städte in Europa....................................................................................................................... 6 EINLEITUNG......................................................................................................................................................................................................................................... 8 BELGIEN.....................................................................................................................................................................................................................................................14 Gemeinde Molenbeek (Brüssel)............................................................................................................................................................... 15 Gent........................................................................................................................................................................................................................................................ 15 FINNLAND .......................................................................................................................................................................................................................................... 16 Helsinki............................................................................................................................................................................................................................................... 17 DEUTSCHLAND......................................................................................................................................................................................................................... 18 Frankfurt.......................................................................................................................................................................................................................................... 19 Kiel.......................................................................................................................................................................................................................................................... 20 Düsseldorf.................................................................................................................................................................................................................................. 20 SCHWERPUNKT.........................................................................................................................................................................................................................21 Schweden: Gesetzesreform führt zu besserem Versicherungsschutz aber mehr Unsicherheit bei der Anwendung .................................................................................................................................... 21 Italien: Ein starker nationaler Rahmen ergänzt um regionale Aktionen................................. 22 NIEDERLANDE............................................................................................................................................................................................................................24 Eindhoven, Amsterdam, Nijmegen und Utrecht........................................................................................................... 25 POLEN........................................................................................................................................................................................................................................................ 26 Warschau....................................................................................................................................................................................................................................... 27 SPANIEN................................................................................................................................................................................................................................................. 28 Madrid............................................................................................................................................................................................................................................... 29 Barcelona..................................................................................................................................................................................................................................... 30 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN.............................................................................................. 31 1
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN VORWORT Integration bedeutet für uns, dass alle Einwohner*innen Jahre lang vertiefend bearbeiten. Hauptziel dieser Übung einer Stadt ihr volles Potenzial entfalten und in Sicherheit ist es, politische Maßnahmen und Praktiken auszuma- und Würde leben können. Städte diskriminieren nicht auf chen, die europaweit von Städten und Gemeinden mit Grundlage von Aufenthaltsstatus oder Migrationshinter- unterschiedlich großen Gruppen irregulärer Migrant*innen grund, viele entscheiden sich vielmehr, ihre Dienste auch aufgegriffen werden können. undokumentierten Migrant*innen zugängig zu machen. Dieses Pilotprojekt läuft zu einem für europäische Städte Die Gründe hierfür sind sowohl ethischer als auch prag- entscheidenden Zeitpunkt an. Die Herausforderung, Leis- matischer Natur. Für Städte ist eine universelle Dienstleis- tungen für undokumentierte Migrant*innen zu erbringen, tung eine gute Investition in Sachen Integration, sozialer wird immer größer, da viele der in unseren Städten ange- Zusammenhalt und öffentliche Gesundheit. Wir können kommenen Asylbewerber*innen schlussendlich nicht als es uns nicht leisten, die immer größer werdende Anzahl Flüchtlinge anerkannt werden. undokumentierter Migrant*innen in unseren Städten zu ignorieren oder uns mit ihnen gar nur im Zusammenhang Die Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsys- mit Abschiebehaft und Rückführung zu beschäftigen, wie tems gehen in eine besorgniserregende Richtung, da es in EU-Mitgliedstaaten oft der Fall ist. Wenn Menschen Anreize für Sekundärmigration von Asylbewerber*innen ohne Papiere von Leistungen ausgeschlossen werden, abgeschafft und die Rechte derer, die versuchen das geschieht dies auf Kosten des Zusammenhalts der Gesell- System auszunutzen, eingeschränkt werden sollen. Durch schaft, der öffentlichen Gesundheit und des Schutzes diese neuen Vorschläge laufen einige Gefahr, ohne grundlegender Menschenrechte, einschließlich der jegliche Unterstützung auskommen zu müssen, während Rechte von Kindern. sie auf ihre freiwillige oder Zwangsabschiebung in ihren „ersten Asylstaat“ oder ein „sicheres Drittland“ warten. Führende Vertreter von 37 europäischen Großstädten Asylbewerber*innen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmi- haben unsere Integrating Cities Charta unterzeichnet, gung in einem Mitgliedstaat aufhalten, könnten in großen womit sie sich zur Integration von Migrant*innen und zur Städten verarmen, ohne Zugang zu materiellen Leistun- Förderung einer gut gesteuerten Migration verpflichten. gen, Arbeit oder Bildung für ihre Kinder. Auch wenn Asyl- Angesichts unserer von wachsender Vielfalt geprägten bewerber*innen den ihnen zugewiesenen Mitgliedstaat Gesellschaften haben viele unserer Mitglieder ihre eigenen verlassen, stoßen sie so zu den Tausenden undokumen- Maßnahmen und Praktiken entwickelt, um undokumen- tierten Migrant*innen, die ohne Rechte und Perspektive tierten Migrant*innen gleichen Zugang zu städtischen in Europas Großstädten leben und internationalen Schutz Diensten zu sichern. Manchmal werden sie als „zukünftige benötigen. Bürger*innen“ behandelt, die entsprechenden Bedarf an Integration, Bildung, Gesundheitsversorgung und Maß- Egal ob einzelne Stadtbewohner*innen eine Aufenthalts- nahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt haben. Im genehmigung haben oder nicht – angesichts all dieser Rahmen unserer Zusammenarbeit mit PICUM wurden viele Menschen haben die Städte keine Wahl. Sie müssen unserer Mitglieder von Expert*innen beraten. So haben handeln, weil es sonst niemand tut. Durch die Zusam- sie von den Erfahrungen anderer gelernt, wie man die menarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft und notwendigen Kapazitäten aufbauen kann, um Leistungen Expert*innennetzwerken wie PICUM können wir unsere für undokumentierte Migrant*innen zu erbringen. Städte offener und inklusiver gestalten und die grundle- genden Prinzipien der EU wahren – Solidarität, Mensch- Durch die Kooperation von PICUM und unserer Arbeits- lichkeit und Würde. gruppe Migration und Integration konnten wir auf politi- scher Ebene besser verdeutlichen, welch große Bedeu- tung dieses Thema hat. Daraufhin wurde eine Untergruppe aus acht Städten eingerichtet, die sich verstärkt mit dem Thema der irregulären Migration auseinandersetzt. Ab 2017 wird diese Gruppe unter der Führung von Utrecht und mit Unterstützung von PICUM, der Universität Oxford Anna Lisa Boni und der Open Society Foundations dieses Thema zwei Generalsekretärin, EUROCITIES 3
STÄDTE DES RECHTS 4
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN VORWORT In Gesprächen über Migration verliert man sich allzu oft Bemühungen im Gesundheitsbereich bilden zwar den in Fragen, die einen scheinbar nicht betreffen. Man denkt Schwerpunkt dieses Berichts, darüber hinaus werden an Menschen und Probleme, die uns weit weg erscheinen jedoch auch andere städtische Initiativen vorgestellt, die und mit unserer Lebensrealität zunächst einmal nicht viel allen Personen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus offen- zu tun haben. stehen. Zum Beispiel Notunterkünfte, Sicherheit beim Erstatten polizeilicher Anzeigen und Zugang zu Bildung. Migration hat aber ganz konkrete Auswirkungen, auch in unserer unmittelbaren Umgebung. Jeder von uns kann bei In einem politischen Umfeld, dass all zu oft geprägt ist diesem Thema mitreden, da entweder wir selber oder Ver- von spaltender Rhetorik und Gesetzen, die den Zugang wandte, Freund*innen, Nachbar*innen oder Kolleg*innen zu grundlegenden Leistungen als Instrument der Ein- von uns ursprünglich aus einem anderen Land kommen. wanderungskontrolle missbrauchen, zeugen diese Gerade in Städten kommen Menschen unterschiedlichster Ansätze davon, dass die Städte Menschenrechte und Herkunft und Nationalitäten zusammen und interagieren Menschenwürde als hohes Gut ansehen. So zeigen diese tagtäglich miteinander. leuchtenden Beispiele in einer ansonsten eher düsteren Umgebung, was man mit entsprechender Weitsicht und Insofern erstaunt es nicht, dass Städte oftmals die ersten politischem Willen erreichen kann. sind, die mit entsprechenden Regeln und Maßnahmen auf die Bedürfnisse ihrer Einwohner*innen eingehen, denn Nichtsdestoweniger ist nach wie vor eine Reform natio- sie haben den Mehrwert der Vielfalt erkannt und gehen naler Gesetze und ausgrenzender Systeme das Wichtig- die Belange der unterschiedlichen Gemeinschaften ganz ste, um die Situation undokumentierter Einwohner*innen pragmatisch an. Im Gegensatz zu oftmals restriktiven natio- zu verbessern und wir dürfen in unseren Anstrengungen nalen Gesetzen, denen eher politische Überlegungen und nicht nachlassen, bis das nicht erreicht ist. Wir müssen weniger die gesellschaftliche Realität zugrunde liegen, auch weiterhin Staaten ihre völkerrechtlichen Verpflichtun- haben Städte ihre eigenen Mittel und Wege gefunden, um gen deutlich vor Augen halten. In der Zwischenzeit freuen die Grundrechte ihrer Einwohner*innen ungeachtet deren wir uns über jede Stadt, die sich dafür einsetzt, dass alle Aufenthaltsstatus zu achten und zu schützen. Einwohner*innen ihre Rechte ausüben können, und unter- stützen die Forderung, dass Städte bei der Gestaltung Gerade vom nationalen Gesundheitssystem werden nationaler Migrationspolitik eine größere Rolle spielen Menschen ohne Papiere oft ausgeschlossen, weshalb sie sollten. auf Freiwillige und humanitäre Organisationen angewiesen sind. Dieser Bericht baut auf Arbeiten PICUMs aus dem Jahr 2014 auf. Damals hatten wir bereits untersucht, wie Städte sich für eine bessere Gesundheitsversorgung ihrer undokumentierten Einwohner*innen einsetzen. In diesem aktualisierten Bericht möchten wir mit einigen Beispielen zeigen, wie Städte – oftmals in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft – die Auswirkungen restriktiver natio- naler Gesundheitspolitik, die den Zugang zu Leistungen Michele LeVoy an einen Aufenthaltsstatus knüpft, mindern. Direktorin, PICUM 5
STÄDTE DES RECHTS ÜBERBLICK: (Re)aktionen der Städte in Europa Europaweit haben Menschen ohne Aufenthaltsstatus große Probleme, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu bekommen. Dies liegt teilweise an zu hohen Kosten oder daran, dass die Leistungen schlecht an die Bedürfnisse der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angepasst sind. Teilweise wurden aber auch politische Maßnahmen ergriffen, mit denen der Zugang zu öffentlichen Diensten für Migrant*innen eingeschränkt wird. Trotz eines sehr restriktiven Rechtsrahmens auf nationaler Ebene setzt sich eine immer größere Anzahl Städte aus Prinzip und aus Pragmatismus dafür ein, die Kluft zwischen dem Ziel einer universellen Gesundheitsversorgung und einer Realität, in der Millionen Menschen aufgrund ihres Migrationsstatus von ebendieser ausgeschlossen werden, zu überbrücken. Sie nutzen sämtliche Gesetzgebungs- und anderweitigen Kompetenzen für die Gestaltung, Durchführung und Finan- zierung von Gesundheitsleistungen. Damit unterstützen sie Initiativen, mit denen Menschen ohne Papiere einen besseren Zugang zur medizinischen Grundversorgung erhalten. Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek setzt bei den administrativen Hindernissen beim Zugang zur Versorgung an, indem sie die medizinische Erstkonsultation organisiert und bezahlt. Denn ohne ärztliche Bescheinigung, dass eine Behandlung dringend erforderlich ist, können dort keine Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems in Anspruch genommen werden. Die Stadt Gent geht über das in Belgien geforderte gesetzliche Minimum hinaus, indem sie undokumentierten Pati- ent*innen eine vom Antragszeitpunkt ab drei Monate gültige Gesundheitskarte ausstellt und sich hinsichtlich der Dokumente, die als Wohnsitznachweise anerkannt werden, flexibel zeigt. Helsinki verfolgt offiziell eine Politik für einen verbesserten Schutz der Grundrechte undokumentierter Einwoh- ner*innen der Stadt und bietet ihnen in öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäusern Zugang zur Gesund- heitsversorgung. Die Stadt Frankfurt arbeitet direkt mit einer Nichtregierungsorganisation zusammen, um Einwohner*innen ohne Krankenversicherung ungeachtet ihres Migrationsstatus unentgeltlich und vertraulich Zugang zur Gesundheitsver- sorgung zu ermöglichen. Kiel kooperiert mit einem Netzwerk ehrenamtlich tätiger Ärzt*innen, um undokumentierten Kindern Zugang zu Schutzimpfungen und Schwangeren allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Düsseldorf finanziert medizinische Leistungen für undokumentierte Migrant*innen, damit diese sich für die Über- nahme der Kosten nicht mehr an die Verwaltung des Bundes wenden müssen. Dadurch würden sie nämlich Gefahr laufen, dass sie, wie im Gesetz vorgesehen, den Ausländerbehörden gemeldet werden. Amsterdam, Utrecht, Eindhoven und Nijmegen leisten finanzielle Unterstützung an lokale Organisationen, die sich für undokumentierte Migrant*innen einsetzen. Dabei werden auch Kosten für Leistungen und Arzneimittel übernom- men, die laut niederländischen Gesetz nicht erstattet werden. Warschau finanziert eine Organisation ehrenamtlich tätiger Ärzt*innen, die Einwohner*innen ohne Krankenversiche- rung ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus behandeln. In Madrid läuft eine Kampagne, mit der einerseits undokumentierte Migrant*innen über ihr Recht zur Inanspruch- nahme öffentlicher Gesundheitsleistungen aufgeklärt und andererseits Gesundheitsfachkräfte darüber informiert werden, dass sie keinen Patient*innen aufgrund deren Aufenthaltsstatus die Behandlung verweigern dürfen. Im Oktober 2016 hat der Stadtrat für die Einführung eines Ausweises für undokumentierte Einwohner*innen gestimmt, mit dem ihnen der Zugang zu städtischen Leistungen wie u.a. Gesundheitsversorgung gesichert wird. Barcelona hat eine aktive Maßnahme zur Anmeldung eingeführt, die alle Migrant*innen ohne Aufenthaltsstatus ermutigt, sich bei der Stadt anzumelden und ihnen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen bietet. 6
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN ©Zurijeta | Dreamstime.com 7
STÄDTE DES RECHTS EINLEITUNG Wer ist undokumentiert? SPRACHGEBRAUCH Eine Person wird als undokumentiert bezeichnet, wenn sie für das Land, in dem sie lebt, keine gültige Aufenthaltsge- Warum „undokumentiert“ und nehmigung hat. Oftmals werden Personen auch erst nach nicht „illegal“? gewisser Zeit undokumentiert, weil sie eine oder mehrere Voraussetzungen für ihr Visum nicht mehr erfüllen. Dies In vorliegenden Text werden Menschen ohne gültige kann unter anderem zurückzuführen sein auf einen Verlust Aufenthaltsgenehmigung stets als „undokumentiert“ des Arbeitsplatzes, administrative Verzögerungen bei (alternativ: „irregulär“, „ohne Aufenthaltsstatus“ oder der Bearbeitung eines Einreiseantrags, abgelaufene „ohne Papiere“) bezeichnet und nicht als „illegal“. Dokumente, Ehescheidung, Ablehnung des Asylantrags Der Begriff „illegal“ ist diskriminierend und impliziert oder eine strafrechtliche Verurteilung. Auch Kinder, die in Kriminalität. Ein Mensch kann nicht „illegal“ sein. eine undokumentierte Familie geboren werden, haben oft Migration ist kein Verbrechen. Das Konzept „illegal“ keine Aufenthaltsgenehmigung. In den meisten Ländern zu sein, wird nur für Migrant*innen angewendet und der Europäischen Union ist es keine Straftat, sich ohne genutzt, um ihnen ihre Rechte zu verwehren. Es hat Papiere im Land aufzuhalten oder ein- und auszureisen.1 dabei auch ganz reale Auswirkungen auf politische Und in allen Ländern, die den Großteil der wichtigsten Maßnahmen und die öffentliche Wahrnehmung, internationalen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet denn diese ungenaue Wortwahl führt dazu, dass haben (wozu auch alle 28 EU-Mitgliedstaaten gehören), Teile der Gesellschaft die Verfolgung und Bestra- haben auch undokumentierte Personen die Möglichkeit, fung dieser Personengruppe akzeptieren. Staaten für die Achtung und den Schutz ihrer grundlegen- den Menschenrechte zur Verantwortung zu ziehen. Diese PICUMs Faltblatt zum Sprachgebrauch finden Sie umfassen auch die Rechte auf Gesundheit, Schutz der unter: www.picum.org Privatsphäre und Leben. 2 Es gibt keine genauen Angaben zur Anzahl der Personen, die ohne Aufenthaltsstatus in Europa leben. Es deutet Nahen Osten und Nordafrika und erneut 2015 aufgrund manches darauf hin, dass die meisten von ihnen in den der andauernden Konflikte in Syrien und anderen Ländern letzten Jahrzehnten regulär in die EU eingereist sind – sowie aufgrund der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in mit einem gültigen Studenten- oder Arbeitsvisum, im der Welt.4 Viele dieser Neuankömmlinge beantragen zwar Rahmen einer Familienzusammenführung oder mit Asyl Asyl, aber bei weitem nicht alle. Auch gibt es viele Asyl- – und diesen Status zu einem späteren Zeitpunkt verloren bewerber*innen, die trotz einer Ablehnung ihres Antrags haben. 3 In den letzten Jahren ist jedoch die Zahl der im Land bleiben und fortan zur wachsenden Gruppe irregulären Grenzübertritte in Europa stark angestiegen, derer zählen, die ohne Aufenthaltsstatus in Europa leben, wie beispielsweise 2011 infolge der instabilen Lage im arbeiten und ihre Kinder großziehen. 1 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014), Criminalisation of Migrants in an Irregular Situation and of Persons Engaging with Them. 2 Mehrere internationale Menschenrechtsabkommen umfassen das Recht auf Gesundheit und verpflichten Staaten, dieses Recht ohne jegliche Diskriminierung, also auch nicht auf Grundlage des Migrationsstatus, zu achten und zu schützen. Hierzu zählen unter anderem der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD), die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK). Für weitere Informationen, vgl. Fußnote 5 sowie PICUM (2016), Sexual & Reproductive Health Rights of Undocumented Migrants: Narrowing the Gap Between their Rights and the Reality in the EU, S. 9-11. 3 Es gibt keine verlässlichen Zahlen zur Anzahl der undokumentierten Migrant*innen in der EU, da es in der EU keine Mechanismen zur systematischen Datenerhebung für irreguläre Migration gibt. Schätzungen auf Grundlage bestehender Daten gehen davon aus, dass 2008 zwischen 1,9 und 3,8 Mio. undokumentierte Migrant*innen in der EU-27 lebten und damit zwischen 0,39 und 0,77 % der damaligen Bevölkerung ausmachten. Vgl. A. Triandafyllidou, CLANDESTINO Project Final Report, November 2009, S. 11-12. 4 B. Milanovic, „Global Inequality: From Class to Location, from Proletarians to Migrants”, Global Policy, Vol. 3 Ausgabe 2 (Mai 2012). 8
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN IM FOKUS: Aktionen von Städten aus aller Welt Im Rahmen der vom Ausbildungs- und Forschungsinstitut der Vereinten Nationen (UNITAR) und anderen Partnern geförderten Initiative Globales Städteforum zu Mobilität, Migration und Entwicklung kommen Vertreter*innen von Städten aus aller Welt zusammen, um angesichts zunehmender Diversität Fragen des Stadtmanagements zu diskutieren. Das Forum geht von dem Grundsatz aus, dass Migration als überwiegend positives Phänomen zu sehen ist und der Entwicklung zugutekommt. Beim ersten Forum im Juni 2014 nahmen die Bürgermeister*innen die Erklärung von Barcelona an, in der Behörden dazu aufgefordert werden, „allen auf ihrem Gebiet lebenden Personen die gleichen Rechte, Pflichten und Chancen zukommen zu lassen“ und den Ausschluss von irregulären Migrant*innen so weit wie möglich zu reduzieren. Es wird auch hervorgehoben, dass bei der Gestaltung der Migrationspolitik die „Stimme und Rolle“ der Städte stärker berücksichtigt werden muss. Im Rahmen des zweiten Forums im November 2015 in Quito wurde die Lokale Agenda für Migration und Entwicklung angenommen. Darin wird hervor- gehoben, dass Städte bei Integration und der Erbringung von Dienstleistungen für eine immer buntere Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen, und gefordert, dass durch entsprechende Maßnahmen allen, ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus, Zugang zur Gesundheitsversorgung garantiert wird. Die UN-Konferenz zu Wohnen und nachhaltiger Stadtentwicklung (Habitat) hat im Oktober 2016 die sogenannte New Urban Agenda der Vereinten Nationen angenommen, in der dargelegt wird, welch zahl- reichen Formen von Diskriminierung Migrant*innen ausgesetzt sind. Sie umfasst ferner die Verpflichtung, allen Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und Migrant*innen ungeachtet ihres Status eine umfassende Achtung der Menschenrechte und menschenwürdige Behandlung zuzusichern sowie ohne Diskriminie- rung allen einen fairen und bezahlbaren Zugang zur Gesundheitsversorgung und Familienplanung zu ermöglichen. Das Gesunde Städte-Netzwerk der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst rund 100 Städte in 30 Ländern, die sich mit den Themen Gesundheit und nachhaltige Entwicklung befassen. Das Netzwerk legt alle fünf Jahre ein neues Schwerpunktthema fest, zu dem dann eine politi- sche Erklärung und damit einhergehende strategische Ziele ausgearbeitet werden. Die übergeordneten Ziele für die Phase VI (2014-2018) sind eine bessere Gesundheit für alle sowie ein Abbau der Ungleichhei- ten im System. Schwerpunkt des nationalen Treffens des italienischen Gesunde Städte-Netzwerks im Mai 2016 in Palermo (Sizilien) war das Thema Migration. Im November 2016 hat die UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) zusammen mit der Marianna V. Vardinoyannis Stiftung und der Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus (ECCAR) in der griechischen Hauptstadt Athen eine Konferenz mit dem Titel „Aufnahme von Flüchtlingen: Inklusion fördern und Rechte schützen“ ausgerichtet. Die Bürgermeister*innen und ihre Stellvertreter*innen von Athen, Amaroussion, Lesbos, Piräus und Thessaloniki haben sich zusammen mit politischen Vertreter*innen aus Albanien und Zypern sowie mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft über bewährte Praktiken ausgetauscht, mit denen man eine bessere Integration sowie einen besseren Schutz der Rechte erreichen kann. Im Rahmen dieser Konferenz wurde auch eine Publikation über die Förderung wirksamer Städtepolitik im Zeitalter der Migration veröffentlicht. Darin heißt es, dass die „Regierung auf allen Ebenen sicherstellen muss, dass die Menschenrechte aller Migrant*innen und Flüchtlinge ungeach- tet ihres Status geschützt und geachtet werden.“ In einer Checkliste für eine „städtische Agenda für die Empfangspolitik“ in dieser Publikation ist unter anderem auch ein Punkt zum universellen Zugang zum Sozialwesen für alle, ohne jegliche Form von Diskriminierung, aufgeführt. Quellen: >> UNITAR, https://www.unitar.org/dcp/human-mobility-programme/facilitating-policy-dialogue. >> Lokale Agenda von Quito für Migration und Entwicklung (2015), https://www.unitar.org/dcp/sites/ unitar.org.dcp/files/uploads/quito_outcome_document_en_0.pdf. >> Erklärung von Barcelona (2014), http://www.bcn.cat/novaciutadania/pdf/ca/home/DeclaracioBcn.en.pdf. >> New Urban Agenda, https://www2.habitat3.org/ bitcache/97ced11dcecef85d41f74043195e5472836f6291?vid=588897&disposition=inline&op=view. >> Gesunde Städte-Netzwerk der Europäischen Region der WHO, http://www.euro.who.int/en/health- topics/environment-and-health/urban-health/activities/healthy-cities/who-european-healthy-cities- network. >> UNESCO (2016), Cities Welcoming Refugees and Migrants: Enhancing Effective Urban Governance in an Age of Migration. 9
STÄDTE DES RECHTS Ist das Recht auf Gesundheit für alle Was für Auswirkungen hat in Europa geschützt? dieser Ausschluss vom Das Recht auf Gesundheit ist ein universelles Recht, das Gesundheitssystem? von keinerlei Status abhängig ist. Es wurde in zahlreichen Der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem wirkt internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen sich nicht nur auf die betroffenen Menschen ohne Papiere und in vielen einzelstaatlichen Verfassungen als univer- negativ aus, sondern schadet auch der Gesellschaft im All- selles Recht für alle verankert.5 Die Ratifizierung dieser gemeinen. Es liegt auf der Hand, dass ein eingeschränkter Instrumente durch alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet Zugang zur Gesundheitsversorgung der psychischen und diese (auf allen Regierungsebenen), allen Personen ohne körperlichen Gesundheit der Betroffenen schadet, da Diskriminierung und ungeachtet deren Aufenthaltsstatus bestehende Erkrankungen nicht angemessen behandelt Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. werden können. Vom Gesundheitssystem ausgeschlos- Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Gesetze, sen zu werden, bedeutet darüber hinaus aber auch, weder Politik und Praxis weichen in allen EU- Mitgliedstaaten in Zugang zu Informationen über Risikofaktoren, Vorbeu- unterschiedlichem Maße von diesen Verpflichtungen ab.6 gung und gesundheitsfördernde Maßnahmen noch zu Expert*innengremien, die überprüfen, inwieweit einzelne routinemäßigen Untersuchungen in der Schwangerschaft Staaten das in internationalen Menschenrechtsabkom- oder zum Aufspüren übertragbarer Krankheiten oder chro- men verankerte Recht auf Gesundheit einhalten, haben nischer Erkrankungen zu bekommen. Keinerlei Diagnose wiederholt ernsthafte Bedenken geäußert. Sie beklagen oder Behandlung psychischer Erkrankungen, bis es zu rechtliche wie auch praktische Hindernisse beim Zugang kritischen Vorfällen kommt, sowie keine angemessene zur Gesundheitsversorgung, sowohl zu Arzneimitteln und Vorbeugung und Behandlung von physischen oder kog- Medizinprodukten wie auch zu Gesundheitsleistungen, nitiven Behinderungen. In manchen Fällen bedeutet dies die Menschen ohne Aufenthaltsstatus teilweise oder auch keine Schwangerschaftsbetreuung und -nachsorge, vollständig daran hindern, ihr Recht auf Gesundheit aus- keine Kinderimpfungen und keine Routineuntersuchungen zuüben. Tatsächlich haben Menschen ohne Papiere in den durch Kinderärzt*innen.9 meisten EU-Mitgliedstaaten lediglich Zugang zur Notfall- Wenn einem ganzen Bevölkerungsteil jedoch der Zugang versorgung und in manchen Staaten müssen sie sogar zum öffentlichen Gesundheitssystem verwehrt wird, kann diese Behandlung im Anschluss bezahlen.7 In anderen dies auch negative Auswirkungen auf Programme zur För- Staaten wird zwar per Gesetz der Zugang zu weitergehen- derung der öffentlichen Gesundheit haben und die Bemü- den Gesundheitsdienstleistungen prinzipiell ermöglicht, hungen zur Verringerung der Kinder- und Müttersterb- undokumentierte Migrant*innen haben dann aber de facto lichkeit, zur Behandlung chronischer Erkrankungen und doch keinen Zugang, da öffentliche Bedienstete aufgrund zur Prävention und Kontrolle übertragbarer Krankheiten sich widersprechender gesetzlicher Vorschriften verpflich- untergraben. Das Europäische Zentrum für die Präven- tet sind, Personen ohne Aufenthaltsstatus den Einwande- tion und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) hat darauf rungsbehörden zu melden. Darüber hinaus bestehen teil- hingewiesen, vor welch großen Hindernissen Menschen weise auch weitere finanzielle, administrative oder andere ohne Papiere stehen, wenn sie Zugang zu HIV-Leistungen praktische Hürden.8 benötigen, und alle Staaten dringend dazu aufgefordert, diese anzugehen.10 5 Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 25); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) (Artikel 12); Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (Artikel 5), UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) (Artikel 12); Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) (Artikel 24); Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 35); Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 3, in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Pretty v. UK, in der der Gerichtshof befand, dass „das Leiden infolge einer natürlich auftretenden – körperlichen oder mentalen – Erkrankung [...] durch Artikel 3 abgedeckt sein [kann], wenn es durch eine Behandlung verschlimmert wird oder werden könnte […], für die die Behörden verantwortlich gemacht werden können.“) und die Europäische Sozialcharta (Artikel 13). Nach jüngster Rechtsprechung kann die dynamische Auslegung der Charta undokumentierte Migrant*innen nicht ausschließen, wenn ihre Menschenwürde als direkt betroffen gilt. Vgl. z. B. International Federation of Human Rights League (FIDH) v. Frankreich (Beschwerde Nr. 14/2003); Defence for Children International (DCI) v. die Niederlande (Beschwerde Nr. 47/2008); Defence for Children International (DCI) v. Belgien (Beschwerde Nr. 69/2011); Médecins du Monde – International v. Frankreich (Beschwerde Nr. 67/2011). 6 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2015), Healthcare entitlements of migrants in an irregular situation in the EU-28. 7 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2011), Fundamental Rights of Migrants in an Irregular Situation in the European Union; Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2012), Migrants in an Irregular Situation: Access to healthcare in 10 European Union Member States; vgl. auch Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Healthcare entitlements of migrants in an irregular situation in the EU-28. 8 Vgl. S. Spencer, V. Hughes (2015), Outside and In: Legal Entitlements to Health Care and Education for Migrants with Irregular Status in Europe. 9 Ärzte der Welt (2016), Legal Report on Access to Healthcare in 17 Countries. 10 ECDC (2013), Evidence Brief – Migration: Monitoring Implementation of the Dublin Declaration on Partnership to Fight HIV/AIDS in Europe and Central Asia: 2012 Progress Report. 10
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN WAS IST „UNIVERSELLE“ GESUNDHEITSVERSORGUNG? Die nationalen Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten weisen zwar große Unterschiede auf, basieren jedoch alle auf denselben Grundwerten: Universalität, Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung, Gleichheit und Solidarität. Im November 2016 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einem gemeinsam mit der Europäischen Union verfassten Bericht zu Gesundheitssystemen in der EU vermerkt, dass „die meisten EU-Staaten für zentrale Grundleistungen eine (beinahe) universelle Deckung der Gesundheitskos- ten erreicht haben“. Diese Aussage, die auf der Analyse von Daten der Mitgliedstaaten fußt, steht in krassem Kontrast zu der Tatsache, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten Menschen mit irregulärem Aufenthaltsstatus systematisch von ihrem Gesundheitssystem ausschließen. Die Datenlage zur Alltagsrealität von Menschen ohne Papieren ist eher schlecht, aber es gibt genaue Informationen zu den – stark eingeschränkten – Leistungen, auf die sie laut nationalem Gesetz Anspruch haben. Wenn trotz dieser Tatsache behauptet wird, dass die Staaten eine „universelle Deckung“ erreicht hätten, muss man in diesem Zusammenhang wohl die Bedeutung von „universell“ in Frage stellen. Wer unter die Bezeichnung „universell“ fällt, ist dabei nicht nur eine semantische Spitzfindigkeit oder ein Politikum. Die Reduzierung der Ungleichheit zwischen den am besten und den am schlechtesten gestellten wird als wichti- ger Indikatoren der Leistung eines Gesundheitssystems anerkannt. Wenn Staaten also effizientere, belastbarere und zugänglichere Gesundheitssysteme möchten, können sie es sich nicht erlauben, diese nur gewissen Bevöl- kerungsgruppen zugänglich zu machen. Ebenso wenig können sie weiterhin darüber hinwegsehen, was für eine finanzielle Belastung dieser Ausschluss an sich sowie auch seine Umsetzung mit sich bringt. Im Jahr 2016 sprach eine Gruppe von Gesundheitsexpert*innen im Rahmen einer Veranstaltung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) die Empfehlung aus, dass das „Prinzip der universellen und gleichen Gesundheitsversorgung für alle de facto in einem Land lebenden Menschen gelten sollte, unabhängig von deren Aufenthaltsstatus.“ Quellen: >> Mitteilung der Europäischen Kommission (2014), http://ec.europa.eu/health//sites/health/files/systems_ performance_assessment/docs/com2014_215_final_de.pdf. >> OECD (2016), http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-at-a-glance-europe- 2016_9789264265592-en. >> WHO (2013), http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0009/244836/Health-System-Performance- Comparison.pdf. >> IOM (2016), Recommendation on Access to Health Services for Migrants in an Irregular Situation: An Expert Consensus. Auch ist die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleis- ihre Kinder einem inakzeptablen Risiko ausgesetzt und tungen durch Notaufnahmen in Krankenhäusern, die für andererseits die Gesundheitssysteme mit beträchtlichen Menschen ohne Aufenthaltsstatus häufig die einzige und eben vermeidbaren Kosten belastet.12 Eine aktuelle, Anlaufstelle sind, für die Gesundheitssysteme äußerst von der Europäischen Kommission finanzierte Studie zeigt, kostenintensiv.11 So können beispielsweise, wenn bei dass wenn Patient*innen, die ansonsten nur Anspruch auf Schwangeren ohne Aufenthaltsstatus aufgrund ausblei- Notfallbehandlung haben, rechtzeitig in einer primären bender Vorsorgeuntersuchungen Erkrankungen nicht fest- Gesundheitseinrichtung behandelt werden, 49 bis 100 % gestellt oder nicht behandelt wurden, zu einem späteren der direkten medizinischen Kosten (direkt von Patient*in- Zeitpunkt komplexe Interventionen nötig werden. Wenn nen und Gesundheitssystem zu tragen) sowie nicht-medi- per Gesetz ihr Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen zinischen Kosten (von Patient*innen oder der Gesellschaft eingeschränkt wird oder sie durch hohe Kosten davon infolge einer Behinderung oder anderweitiger Gesund- abgehalten werden, werden einerseits die Frauen und heitsprobleme zu tragen) eingespart werden können.13 11 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2015), Cost of Exclusion from Healthcare: The Case of Migrants in an Irregular Situation; Kayvan Bozorgmehr, Oliver Razum, „Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994-2013”, 22. Juli 2015. 12 R. Feldman, „Maternity Care for Undocumented Women: The Impact of Charging for Care“, British Journal of Midwifery, Januar 2016, 24:1. 13 Zentrum für Gesundheit und Migration, Zusammenfassung der Ergebnisse (2016), Infografik zu den Kosten eines Ausschlusses aus der Gesundheitsversorgung. 11
STÄDTE DES RECHTS Ferner hat die mangelnde Gesundheitsversorgung Ein- restriktiver Gesundheitspolitik, da die Vorgabe, von ihren zelner auch weitere menschliche und gesellschaftliche Patient*innen auf Grundlage komplexer Einwanderungsre- Kosten, die von den Familien und der Gemeinschaft zu geln die auszusortieren, die keinen Anspruch auf Behand- tragen sind.14 Und ein schlechter Gesundheitszustand lung haben, in krassem Widerspruch mit ihrem Verständnis beeinträchtigt zwangsläufig die Arbeitsfähigkeit des/der der medizinischen Ethik steht.16 In manchen Fällen haben Betroffenen.15 Auch Gesundheitsfachkräfte leiden unter Gesundheitsfachkräfte und andere Dienstleister aus IM FOKUS: Regionale und kommunale Initiativen in Nordamerika zur Verbes- serung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere In den Vereinigten Staaten verwaltet das Gesundheitsamt (Department of Public Health) der Stadt San Francisco das Programm Gesundes San Francisco (Healthy San Francisco), mit dem die medizinische Versorgung für nicht versicherte Einwohner*innen der Stadt subventioniert wird. Ziel des Programms ist es, die Gesundheitsversorgung für alle nicht versicherten Einwohner*innen der Stadt, unabhängig von ihrem Einwanderungsstatus, zugänglich und bezahlbar zu machen. In New York sind undokumentierte Einwohner*innen ohne Versicherung ebenso wie andere New Yor- ker*innen ohne Krankenversicherung auf ein Auffangnetz von lokalen Gesundheitsdienstleistern ange- wiesen. Der Verbund Gesundheit und Krankenhäuser (Health and Hospitals Corporation (HHC)) der Stadt New York ist das landesweit größte System öffentlicher Krankenhäuser und erhält Finanzmittel von der Stadt. 2014 kündigte der Bürgermeister von New York, Bill de Blasio, eine Initiative zur Schaffung eines städtischen Ausweises an, den Einwohner*innen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus beantragen können. Kaum ein Jahr später gab er den Startschuss zum größten Programm kommunaler Ausweise in den USA. Alle Einwohner*innen der Stadt New York können ab Vollendung ihres 14. Lebensjahrs unge- achtet ihres Einwanderungsstatus einen solchen städtischen Ausweis (IDNYC) bekommen, mit dem sie Zugang zu allen städtischen Diensten haben. Im April 2016 begann eine Kooperation mit dem Verbund Gesundheit und Krankenhäuser der Stadt New York, in deren Rahmen die städtischen Ausweise als Registrierungskarten verwendet werden können. So werden die Patient*innenerfahrungen verbessert, indem Anmeldeprozesse vereinfacht, Wartezeiten verkürzt und die Registrierung bei medizinischen Ver- sorgungsstellen des Gesundheitssystems erleichtert werden. Das Gesundheitsgesetz Kanadas schließt undokumentierte Migrant*innen von der öffentlichen Gesund- heitsversorgung aus. Nichtsdestoweniger finanziert die Provinz Ontario Gemeinschaftliche Gesund- heitszentren (Community Health Centres (CHC)). Dies sind gemeinnützige Organisationen, die Einzelnen, Familien und Bevölkerungsgruppen ungeachtet ihres Einwanderungsstatus Zugang zu medizinischer Grundversorgung sowie zu Gesundheitsförderungsprogrammen bieten. 2013 hat der Stadtrat von Toronto für undokumentierte Einwohner*innen der Stadt das Programm Access T.O. ins Leben gerufen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Einwohner*innen der Stadt unabhängig von ihrem Aufenthalts- status Zugang zu städtischen Diensten bekommen, ohne fürchten zu müssen, nach einem Aufenthaltstitel gefragt zu werden. Die Stadt Toronto erhebt in diesem Rahmen personenbezogene Daten nur dann, wenn ein rechtlicher oder operationeller Grund hierfür besteht. Quellen: >> Offizielle Website der Stadt New York, http://www1.nyc.gov/office-of-the-mayor/news/379-16/city- additional-benefits-idnyc-cardholders-new-integrations-nyc-health-. >> Gesundes San Francisco, http://healthysanfrancisco.org/. >> Stadt Toronto, „Access T.O.“, http://www1.toronto.ca/wps/portal/ contentonly?vgnextoid=9dfc33501bac7410VgnVCM10000071d60f89RCRD. 14 National Latina Institut für reproduktive Gesundheit (2013), Nuestra voz, nuestra salud, nuestro Texas: The Fight for Women’s Reproductive Health in the Rio Grande Valley. 15 OECD (2016), Health at a Glance: Europe 2016. 16 Vgl. Weltärztebund (WMA) (April 2016), WMA Council Resolution on Refugees and Migrants; American Nurses Association (2010), „Nursing Beyond Borders: Access to Health Care for Documented and Undocumented Immigrants Living in the US”, ANA Issue Brief; European Board and College of Obstetrics and Gynaecology (2014), „Standards of Care for Women’s Health in Europe: Gynaecology Services”. 12
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN Protest gegen solche diskriminierenden Regeln demons- Im Gegensatz zur nationalen Ebene sind Städte und triert 17 und sich entschieden, ausgegrenzten Bevölke- Gemeinden tagtäglich mit den Problemen und Erwartun- rungsgruppen grundlegende medizinische Versorgung gen ihrer Einwohner*innen konfrontiert. „Lokale Regierun- zu bieten, wobei sie jedoch oftmals unter schwierigen gen sind angesichts ihrer Nähe zur Bevölkerung am direk- Voraussetzungen arbeiten müssen. testen gefordert, um die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren und in den Bereichen Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wasser und Sanitäranlagen die Wie reagieren die Städte? notwendigen öffentlichen Dienstleistungen zu erbringen [...]“.19 Gesetze zum Gesundheitssystem, einschließlich Rege- lungen zu den Fragen, wer unter welchen Bedingungen Viele Beispiele aus ganz Europa sowie auch aus anderen Zugang zur Gesundheitsversorgung hat, werden oft zen- Teilen der Welt zeigen, wie Städte im Rahmen ihrer Auto- tralisiert von der nationalen Regierung erlassen. In vielen nomie Maßnahmen ergriffen haben, um Einwohner*innen Ländern sind jedoch auch Regierungsstellen auf lokalerer ohne Aufenthaltsstatus Zugang zur Gesundheitsversor- Ebene in gewissem Maße für gesundheitspolitische gung zu ermöglichen. In den folgenden Kapiteln werden Entscheidungen zuständig.18 In manchen europäischen einige Ansätze aus unterschiedlichen Teilen Europas und Ländern haben Regionalregierungen und Stadträte die mit sehr unterschiedlichen nationalen Hintergründen vor- Kompetenz, Gesetze zum Sozialwesen, einschließlich gestellt. Diese Initiativen aus Belgien, Finnland, Deutsch- Gesundheitswesen, zu erlassen oder deren Umsetzung land, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und zu organisieren. Dabei wird einerseits ihr Handlungs- Schweden zeigen, was einige Schlüsselpartner erreichen spielraum teilweise durch Vorgaben für die öffentlichen können, wenn sie sich im Bottom-up-Ansatz für inklusivere Finanzen eingeschränkt, während sie andererseits aber Gesundheitssysteme einsetzen. auch an weltweite, europäische und nationale Menschen- rechtsstandards gebunden sind. 17 Vgl. im Vereinigten Königreich, Docs not Cops, http://www.docsnotcops.co.uk/; in Italien, 8. Januar 2009, Corriere della Sera, „’Niente Cure Mediche ai Clandestini in Friuli’ – E I Medici Insorgono“; in Kanada, OHIP for All – Healthier Together, http://ohipforall. ca/. 18 Für detaillierte Informationen zur Aufteilung der Kompetenzen zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden vgl. Ausschuss der Regionen, zu finden unter: http://cor.europa.eu/en/documentation/studies/Documents/division_of_powers/division_of_powers. pdf. 19 UNESCO (2016), Cities Welcoming Refugees and Migrants: Enhancing Effective Urban Governance in an Age of Migration. 13
STÄDTE DES RECHTS BELGIEN nen sowie auch in der Rechtsprechung wird ,Dringende Welche Kompetenzen haben Städte medizinische Hilfe’ jedoch wesentlich weiter gefasst als im Bereich Gesundheitsversorgung? reine Notfallbehandlungen. ,Dringende medizinische Hilfe’ bietet für bis zu drei Monate Versicherungsschutz. Belgien ist ein Föderalstaat mit drei (in Provinzen und Gemeinden unterteilten) Regionen und drei (Sprach-) ,Dringende medizinische Hilfe’ wird von den lokalen Gemeinschaften. Die öffentliche Gesundheit fällt sowohl in Sozialhilfezentren (Centre Public d’Action Sociale (CPAS) / den Zuständigkeitsbereich der Föderalregierung als auch Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn (OCMW)) der Gemeinschaften. Dabei sind die Gemeinschaften für verwaltet. 21 Um ,Dringende medizinische Hilfe’ zu erhalten, die ,personenbezogenen Angelegenheiten‘ zuständig, müssen sich Menschen ohne Papiere beim lokalen Sozi- worunter auch präventive Gesundheitspolitik und Sozial- alhilfezentrum anmelden, von dem sie, wenn bestimmte fürsorge zu zählen sind. Die Föderalregierung wie auch Bedingungen erfüllt sind, ein Dokument oder eine Gesund- die Gemeinschaften verfügen über Gesetzgebungskom- heitskarte ausgehändigt bekommen, die den Zugang zur petenz im Gesundheitsbereich. erforderlichen Gesundheitsversorgung ermöglicht. So Die Gemeinden ihrerseits sind für die Verwaltung der muss zunächst geprüft werden, ob der/die Patient*in ohne Sozialfürsorge zuständig. Darunter fällt auch die Prüfung, Papiere in der jeweiligen Gemeinde lebt und ,mittellos‘ ist ob undokumentierte Migrant*innen gemäß den nationa- (eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschreitet), len Vorschriften über Sozialhilfezentren ein Anrecht auf und es muss eine ärztliche Bescheinigung vorliegen, dass Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. eine Behandlung dringend erforderlich ist. 22 Dieses administrative Verfahren schafft für Menschen Auf nationaler Ebene ohne Papiere zahlreiche praktische Hürden. So können sie häufig schwer ihren gewöhnlichen Wohnort nachwei- Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung – sowohl sen, wenn sie obdachlos sind oder keine feste Unterkunft Erwachsenen als auch Kindern – ist der Zugang zum bel- haben. Um zu bestimmen, ob jemand mittellos ist, wird gischen Krankenversicherungssystem untersagt. Ihnen standardmäßig von Sozialarbeiter*innen ein Hausbe- steht jedoch ein separates System offen, die sogenannte such abgestattet. Wenn der/die Betreffende jedoch bei ,Dringende medizinische Hilfe’ (Aide médicale urgente Freunden oder Verwandten wohnt, verwehren diese (AMU) / Dringende Medische Hulpverlening (DMH)). 20 Trotz häufig den Besuch aus Angst, dass die Unterbringung dieser Bezeichnung sieht der Rechtsrahmen für ,Drin- einer Person ohne Papiere negative Konsequenzen für sie gende medizinische Hilfe’ explizit sowohl den Zugang zur haben könnte. Diese soziale Überprüfung kann laut Gesetz Gesundheitsvorsorge als auch zur Heilbehandlung vor. Es bis zu einen Monat in Anspruch nehmen und es liegt im fallen alle medizinischen Behandlungen darunter, die auch Ermessen jedes Sozialhilfezentrums, was sie als Nachweis durch die gesetzliche Krankengrundversicherung gedeckt für den Wohnsitz akzeptieren. Auch die notwendige ärztli- sind. Der Verweis auf ,dringend‘ kann jedoch viele Ärzt*in- che Bescheinigung der Dringlichkeit der Behandlung wirkt nen verunsichern, deren Ansicht nach nur Behandlungen sich verzögernd auf ebendiese Behandlung aus und bringt gedeckt sind, die ziemlich dringend sind, auch wenn der darüber hinaus die für manche unerschwinglichen Kosten Zustand nicht lebensbedrohlich sein muss. Im Allgemei- eines ersten Arztbesuches mit sich. 20 Königlicher Erlass über ,Dringende medizinische Hilfe’, 12. Dezember 1996. 21 Vgl. Grundlagengesetz über die öffentlichen Sozialhilfezentren vom 8. Juli 1976. 22 Das CPAS/OCMW muss innerhalb von 30 Tagen entscheiden, ob es der Zahlung einer medizinischen Leistung zustimmt. 14
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