STÄDTE DES RECHTS: GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN - APRIL 2017

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STÄDTE DES RECHTS: GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN - APRIL 2017
STÄDTE DES RECHTS:
GESUNDHEITSVERSORGUNG
FÜR UNDOKUMENTIERTE
MIGRANT*INNEN
APRIL 2017
STÄDTE DES RECHTS

     Die Plattform für Internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migrant*innen (PICUM) wurde 2001 als eine
     Initiative von an der Basis arbeitenden Organisationen gegründet. Heute repräsentiert PICUM ein Netzwerk von
     155 Organisationen, die in 30 Ländern mit Migrant*innen ohne Aufenthaltsstatus arbeiten – vor allem in Europa,
     aber auch in anderen Regionen der Welt. PICUM hat eine Vielzahl an Fakten über die Kluft zwischen internationalen
     Menschenrechtsnormen und Politiken und Praktiken auf nationaler Ebene zusammengetragen. Mit 15 Jahren an
     Wissen und Erfahrung zu undokumentierten Migrant*innen, fördert PICUM die Anerkennung ihrer Grundrechte, indem
     eine wichtige Verbindung zwischen den Alltagssituationen vor Ort und politischen Debatten hergestellt wird.

Bericht verfasst von Alyna C. Smith, Advocacy Officer, und Michele LeVoy, Direktorin.

PICUM dankt allen Mitgliedern von PICUM, die zu diesem Bericht beigetragen haben, sowie Marta Llonch Valsells für ihre
wertvolle Unterstützung bei der Recherche.

Dieser Bericht basiert auf einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2014, die von Lilana Keith, Advocacy Officer von PICUM, mit
Unterstützung von Mitgliedern und Partnern von PICUM erstellt wurde. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Dieser Bericht wurde ermöglicht mit der Unterstützung von:

                  Dieser Bericht entstand mit finanzieller Unterstützung des EU-Programms für Beschäftigung
                  und soziale Innovation „EaSI“ (2014–2020). Für nähere Informationen, siehe: http://ec.europa.
                  eu/social/main.jsp?catId=1081&langId=de. Die in dieser Veröffentlichung enthaltene Informa-
                  tion gibt nicht zwangsläufig die offizielle Position der Europäischen Kommission wieder.

                                    Mit Unterstützung des Foundation Open Society Institute in Zusammen­
                                    arbeit mit der Open Society Initiative for Europe der Open Society
                                    Foundations.

PICUM
Plattform für Internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migrant*innen
Rue du Congres / Congresstraat 37-41, post box 5
1000 Brüssel
Belgien
Tel: +32/2/210 17 80
Fax: +32/2/210 17 89
info@picum.org
www.picum.org

TITELBILD: ©Bente Stachowske, Sprechstunde für Kinder der Migrantenmedizin Westend der Hoffnungsorte Hamburg, die in Kooperation mit Ärzte
der Welt undokumentierten Migrant*innen und Menschen ohne Krankenversicherung kostenlose medizinische Hilfe bietet.

STADTBILDER: Kiel: © Livingsee | Dreamstime.com • Warschau: © Niserin | Dreamstime.com • Helsinki: © Scanrail | Dreamstime.com
Düsseldorf: © Swinnerrr | Dreamstime.com • Madrid: © Sandy_maya | Dreamstime.com • Barcelona: © Fazon1 | Dreamstime.com

Design: www.beelzepub.com
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

INHALT
VORWORT Anna Lisa Boni, Generalsekretärin, Eurocities....................................................................................... 3

VORWORT Michele LeVoy, Direktorin, PICUM............................................................................................................................. 5

ÜBERBLICK: (Re)aktionen der Städte in Europa....................................................................................................................... 6

EINLEITUNG......................................................................................................................................................................................................................................... 8

BELGIEN.....................................................................................................................................................................................................................................................14
           Gemeinde Molenbeek (Brüssel)............................................................................................................................................................... 15
           Gent........................................................................................................................................................................................................................................................ 15

FINNLAND .......................................................................................................................................................................................................................................... 16
           Helsinki............................................................................................................................................................................................................................................... 17

DEUTSCHLAND......................................................................................................................................................................................................................... 18
           Frankfurt.......................................................................................................................................................................................................................................... 19
           Kiel.......................................................................................................................................................................................................................................................... 20
           Düsseldorf.................................................................................................................................................................................................................................. 20

SCHWERPUNKT.........................................................................................................................................................................................................................21
           Schweden: Gesetzesreform führt zu besserem Versicherungsschutz aber
           mehr Unsicherheit bei der Anwendung .................................................................................................................................... 21
           Italien: Ein starker nationaler Rahmen ergänzt um regionale Aktionen................................. 22

NIEDERLANDE............................................................................................................................................................................................................................24
           Eindhoven, Amsterdam, Nijmegen und Utrecht........................................................................................................... 25

POLEN........................................................................................................................................................................................................................................................ 26
           Warschau....................................................................................................................................................................................................................................... 27

SPANIEN................................................................................................................................................................................................................................................. 28
           Madrid............................................................................................................................................................................................................................................... 29
           Barcelona..................................................................................................................................................................................................................................... 30

SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN.............................................................................................. 31

                                                                                                                                                                                                                                                                        1
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

VORWORT

Integration bedeutet für uns, dass alle Einwohner*innen        Jahre lang vertiefend bearbeiten. Hauptziel dieser Übung
einer Stadt ihr volles Potenzial entfalten und in Sicherheit   ist es, politische Maßnahmen und Praktiken auszuma-
und Würde leben können. Städte diskriminieren nicht auf        chen, die europaweit von Städten und Gemeinden mit
Grundlage von Aufenthaltsstatus oder Migrationshinter-         unterschiedlich großen Gruppen irregulärer Migrant*innen
grund, viele entscheiden sich vielmehr, ihre Dienste auch      aufgegriffen werden können.
undokumentierten Migrant*innen zugängig zu machen.
                                                               Dieses Pilotprojekt läuft zu einem für europäische Städte
Die Gründe hierfür sind sowohl ethischer als auch prag-        entscheidenden Zeitpunkt an. Die Herausforderung, Leis-
matischer Natur. Für Städte ist eine universelle Dienstleis-   tungen für undokumentierte Migrant*innen zu erbringen,
tung eine gute Investition in Sachen Integration, sozialer     wird immer größer, da viele der in unseren Städten ange-
Zusammenhalt und öffentliche Gesundheit. Wir können            kommenen Asylbewerber*innen schlussendlich nicht als
es uns nicht leisten, die immer größer werdende Anzahl         Flüchtlinge anerkannt werden.
undokumentierter Migrant*innen in unseren Städten zu
ignorieren oder uns mit ihnen gar nur im Zusammenhang          Die Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsys-
mit Abschiebehaft und Rückführung zu beschäftigen, wie         tems gehen in eine besorgniserregende Richtung, da
es in EU-Mitgliedstaaten oft der Fall ist. Wenn Menschen       Anreize für Sekundärmigration von Asylbewerber*innen
ohne Papiere von Leistungen ausgeschlossen werden,             abgeschafft und die Rechte derer, die versuchen das
geschieht dies auf Kosten des Zusammenhalts der Gesell-        System auszunutzen, eingeschränkt werden sollen. Durch
schaft, der öffentlichen Gesundheit und des Schutzes           diese neuen Vorschläge laufen einige Gefahr, ohne
grundlegender Menschenrechte, einschließlich der               jegliche Unterstützung auskommen zu müssen, während
Rechte von Kindern.                                            sie auf ihre freiwillige oder Zwangsabschiebung in ihren
                                                               „ersten Asylstaat“ oder ein „sicheres Drittland“ warten.
Führende Vertreter von 37 europäischen Großstädten             Asylbewerber*innen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmi-
haben unsere Integrating Cities Charta unterzeichnet,          gung in einem Mitgliedstaat aufhalten, könnten in großen
womit sie sich zur Integration von Migrant*innen und zur       Städten verarmen, ohne Zugang zu materiellen Leistun-
Förderung einer gut gesteuerten Migration verpflichten.        gen, Arbeit oder Bildung für ihre Kinder. Auch wenn Asyl-
Angesichts unserer von wachsender Vielfalt geprägten           bewerber*innen den ihnen zugewiesenen Mitgliedstaat
Gesellschaften haben viele unserer Mitglieder ihre eigenen     verlassen, stoßen sie so zu den Tausenden undokumen-
Maßnahmen und Praktiken entwickelt, um undokumen-              tierten Migrant*innen, die ohne Rechte und Perspektive
tierten Migrant*innen gleichen Zugang zu städtischen           in Europas Großstädten leben und internationalen Schutz
Diensten zu sichern. Manchmal werden sie als „zukünftige       benötigen.
Bürger*innen“ behandelt, die entsprechenden Bedarf an
Integration, Bildung, Gesundheitsversorgung und Maß-           Egal ob einzelne Stadtbewohner*innen eine Aufenthalts-
nahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt haben. Im         genehmigung haben oder nicht – angesichts all dieser
Rahmen unserer Zusammenarbeit mit PICUM wurden viele           Menschen haben die Städte keine Wahl. Sie müssen
unserer Mitglieder von Expert*innen beraten. So haben          handeln, weil es sonst niemand tut. Durch die Zusam-
sie von den Erfahrungen anderer gelernt, wie man die           menarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft und
notwendigen Kapazitäten aufbauen kann, um Leistungen           Expert*innennetzwerken wie PICUM können wir unsere
für undokumentierte Migrant*innen zu erbringen.                Städte offener und inklusiver gestalten und die grundle-
                                                               genden Prinzipien der EU wahren – Solidarität, Mensch-
Durch die Kooperation von PICUM und unserer Arbeits-           lichkeit und Würde.
gruppe Migration und Integration konnten wir auf politi-
scher Ebene besser verdeutlichen, welch große Bedeu-
tung dieses Thema hat. Daraufhin wurde eine Untergruppe
aus acht Städten eingerichtet, die sich verstärkt mit dem
Thema der irregulären Migration auseinandersetzt. Ab
2017 wird diese Gruppe unter der Führung von Utrecht
und mit Unterstützung von PICUM, der Universität Oxford        Anna Lisa Boni
und der Open Society Foundations dieses Thema zwei             Generalsekretärin, EUROCITIES

                                                                                                                    3
STÄDTE DES RECHTS

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GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

VORWORT

In Gesprächen über Migration verliert man sich allzu oft       Bemühungen im Gesundheitsbereich bilden zwar den
in Fragen, die einen scheinbar nicht betreffen. Man denkt      Schwerpunkt dieses Berichts, darüber hinaus werden
an Menschen und Probleme, die uns weit weg erscheinen          jedoch auch andere städtische Initiativen vorgestellt, die
und mit unserer Lebensrealität zunächst einmal nicht viel      allen Personen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus offen-
zu tun haben.                                                  stehen. Zum Beispiel Notunterkünfte, Sicherheit beim
                                                               Erstatten polizeilicher Anzeigen und Zugang zu Bildung.
Migration hat aber ganz konkrete Auswirkungen, auch in
unserer unmittelbaren Umgebung. Jeder von uns kann bei         In einem politischen Umfeld, dass all zu oft geprägt ist
diesem Thema mitreden, da entweder wir selber oder Ver-        von spaltender Rhetorik und Gesetzen, die den Zugang
wandte, Freund*innen, Nachbar*innen oder Kolleg*innen          zu grundlegenden Leistungen als Instrument der Ein-
von uns ursprünglich aus einem anderen Land kommen.            wanderungskontrolle missbrauchen, zeugen diese
Gerade in Städten kommen Menschen unterschiedlichster          Ansätze davon, dass die Städte Menschenrechte und
Herkunft und Nationalitäten zusammen und interagieren          Menschenwürde als hohes Gut ansehen. So zeigen diese
tagtäglich miteinander.                                        leuchtenden Beispiele in einer ansonsten eher düsteren
                                                               Umgebung, was man mit entsprechender Weitsicht und
Insofern erstaunt es nicht, dass Städte oftmals die ersten     politischem Willen erreichen kann.
sind, die mit entsprechenden Regeln und Maßnahmen auf
die Bedürfnisse ihrer Einwohner*innen eingehen, denn           Nichtsdestoweniger ist nach wie vor eine Reform natio-
sie haben den Mehrwert der Vielfalt erkannt und gehen          naler Gesetze und ausgrenzender Systeme das Wichtig-
die Belange der unterschiedlichen Gemeinschaften ganz          ste, um die Situation undokumentierter Einwohner*innen
pragmatisch an. Im Gegensatz zu oftmals restriktiven natio-    zu verbessern und wir dürfen in unseren Anstrengungen
nalen Gesetzen, denen eher politische Überlegungen und         nicht nachlassen, bis das nicht erreicht ist. Wir müssen
weniger die gesellschaftliche Realität zugrunde liegen,        auch weiterhin Staaten ihre völkerrechtlichen Verpflichtun-
haben Städte ihre eigenen Mittel und Wege gefunden, um         gen deutlich vor Augen halten. In der Zwischenzeit freuen
die Grundrechte ihrer Einwohner*innen ungeachtet deren         wir uns über jede Stadt, die sich dafür einsetzt, dass alle
Aufenthaltsstatus zu achten und zu schützen.                   Einwohner*innen ihre Rechte ausüben können, und unter-
                                                               stützen die Forderung, dass Städte bei der Gestaltung
Gerade vom nationalen Gesundheitssystem werden                 nationaler Migrationspolitik eine größere Rolle spielen
Menschen ohne Papiere oft ausgeschlossen, weshalb sie          sollten.
auf Freiwillige und humanitäre Organisationen angewiesen
sind. Dieser Bericht baut auf Arbeiten PICUMs aus dem
Jahr 2014 auf. Damals hatten wir bereits untersucht, wie
Städte sich für eine bessere Gesundheitsversorgung ihrer
undokumentierten Einwohner*innen einsetzen. In diesem
aktualisierten Bericht möchten wir mit einigen Beispielen
zeigen, wie Städte – oftmals in enger Zusammenarbeit mit
der Zivilgesellschaft – die Auswirkungen restriktiver natio-
naler Gesundheitspolitik, die den Zugang zu Leistungen         Michele LeVoy
an einen Aufenthaltsstatus knüpft, mindern.                    Direktorin, PICUM

                                                                                                                      5
STÄDTE DES RECHTS

  ÜBERBLICK:
  (Re)aktionen der Städte in Europa
  Europaweit haben Menschen ohne Aufenthaltsstatus große Probleme, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu
  bekommen. Dies liegt teilweise an zu hohen Kosten oder daran, dass die Leistungen schlecht an die Bedürfnisse
  der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angepasst sind. Teilweise wurden aber auch politische Maßnahmen
  ergriffen, mit denen der Zugang zu öffentlichen Diensten für Migrant*innen eingeschränkt wird. Trotz eines sehr
  restriktiven Rechtsrahmens auf nationaler Ebene setzt sich eine immer größere Anzahl Städte aus Prinzip und aus
  Pragmatismus dafür ein, die Kluft zwischen dem Ziel einer universellen Gesundheitsversorgung und einer Realität, in
  der Millionen Menschen aufgrund ihres Migrationsstatus von ebendieser ausgeschlossen werden, zu überbrücken.
  Sie nutzen sämtliche Gesetzgebungs- und anderweitigen Kompetenzen für die Gestaltung, Durchführung und Finan-
  zierung von Gesundheitsleistungen. Damit unterstützen sie Initiativen, mit denen Menschen ohne Papiere einen
  besseren Zugang zur medizinischen Grundversorgung erhalten.

  Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek setzt bei den administrativen Hindernissen beim Zugang zur Versorgung
  an, indem sie die medizinische Erstkonsultation organisiert und bezahlt. Denn ohne ärztliche Bescheinigung, dass
  eine Behandlung dringend erforderlich ist, können dort keine Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems in
  Anspruch genommen werden.

  Die Stadt Gent geht über das in Belgien geforderte gesetzliche Minimum hinaus, indem sie undokumentierten Pati-
  ent*innen eine vom Antragszeitpunkt ab drei Monate gültige Gesundheitskarte ausstellt und sich hinsichtlich der
  Dokumente, die als Wohnsitznachweise anerkannt werden, flexibel zeigt.

  Helsinki verfolgt offiziell eine Politik für einen verbesserten Schutz der Grundrechte undokumentierter Einwoh-
  ner*innen der Stadt und bietet ihnen in öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäusern Zugang zur Gesund-
  heitsversorgung.

  Die Stadt Frankfurt arbeitet direkt mit einer Nichtregierungsorganisation zusammen, um Einwohner*innen ohne
  Krankenversicherung ungeachtet ihres Migrationsstatus unentgeltlich und vertraulich Zugang zur Gesundheitsver-
  sorgung zu ermöglichen.

  Kiel kooperiert mit einem Netzwerk ehrenamtlich tätiger Ärzt*innen, um undokumentierten Kindern Zugang zu
  Schutzimpfungen und Schwangeren allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

  Düsseldorf finanziert medizinische Leistungen für undokumentierte Migrant*innen, damit diese sich für die Über-
  nahme der Kosten nicht mehr an die Verwaltung des Bundes wenden müssen. Dadurch würden sie nämlich Gefahr
  laufen, dass sie, wie im Gesetz vorgesehen, den Ausländerbehörden gemeldet werden.

  Amsterdam, Utrecht, Eindhoven und Nijmegen leisten finanzielle Unterstützung an lokale Organisationen, die sich
  für undokumentierte Migrant*innen einsetzen. Dabei werden auch Kosten für Leistungen und Arzneimittel übernom-
  men, die laut niederländischen Gesetz nicht erstattet werden.

  Warschau finanziert eine Organisation ehrenamtlich tätiger Ärzt*innen, die Einwohner*innen ohne Krankenversiche-
  rung ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus behandeln.

  In Madrid läuft eine Kampagne, mit der einerseits undokumentierte Migrant*innen über ihr Recht zur Inanspruch-
  nahme öffentlicher Gesundheitsleistungen aufgeklärt und andererseits Gesundheitsfachkräfte darüber informiert
  werden, dass sie keinen Patient*innen aufgrund deren Aufenthaltsstatus die Behandlung verweigern dürfen. Im
  Oktober 2016 hat der Stadtrat für die Einführung eines Ausweises für undokumentierte Einwohner*innen gestimmt,
  mit dem ihnen der Zugang zu städtischen Leistungen wie u.a. Gesundheitsversorgung gesichert wird.

  Barcelona hat eine aktive Maßnahme zur Anmeldung eingeführt, die alle Migrant*innen ohne Aufenthaltsstatus
  ermutigt, sich bei der Stadt anzumelden und ihnen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen bietet.

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GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN
©Zurijeta | Dreamstime.com

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STÄDTE DES RECHTS

EINLEITUNG

Wer ist undokumentiert?
                                                                                 SPRACHGEBRAUCH
Eine Person wird als undokumentiert bezeichnet, wenn sie
für das Land, in dem sie lebt, keine gültige Aufenthaltsge-                      Warum „undokumentiert“ und
nehmigung hat. Oftmals werden Personen auch erst nach                            nicht „illegal“?
gewisser Zeit undokumentiert, weil sie eine oder mehrere
Voraussetzungen für ihr Visum nicht mehr erfüllen. Dies                          In vorliegenden Text werden Menschen ohne gültige
kann unter anderem zurückzuführen sein auf einen Verlust                         Aufenthaltsgenehmigung stets als „undokumentiert“
des Arbeitsplatzes, administrative Verzögerungen bei                             (alternativ: „irregulär“, „ohne Aufenthaltsstatus“ oder
der Bearbeitung eines Einreiseantrags, abgelaufene                               „ohne Papiere“) bezeichnet und nicht als „illegal“.
Dokumente, Ehescheidung, Ablehnung des Asylantrags                               Der Begriff „illegal“ ist diskriminierend und impliziert
oder eine strafrechtliche Verurteilung. Auch Kinder, die in                      Kriminalität. Ein Mensch kann nicht „illegal“ sein.
eine undokumentierte Familie geboren werden, haben oft                           Migration ist kein Verbrechen. Das Konzept „illegal“
keine Aufenthaltsgenehmigung. In den meisten Ländern                             zu sein, wird nur für Migrant*innen angewendet und
der Europäischen Union ist es keine Straftat, sich ohne                          genutzt, um ihnen ihre Rechte zu verwehren. Es hat
Papiere im Land aufzuhalten oder ein- und auszureisen.1                          dabei auch ganz reale Auswirkungen auf politische
Und in allen Ländern, die den Großteil der wichtigsten                           Maßnahmen und die öffentliche Wahrnehmung,
internationalen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet                             denn diese ungenaue Wortwahl führt dazu, dass
haben (wozu auch alle 28 EU-Mitgliedstaaten gehören),                            Teile der Gesellschaft die Verfolgung und Bestra-
haben auch undokumentierte Personen die Möglichkeit,                             fung dieser Personengruppe akzeptieren.
Staaten für die Achtung und den Schutz ihrer grundlegen-
den Menschenrechte zur Verantwortung zu ziehen. Diese                            PICUMs Faltblatt zum Sprachgebrauch finden Sie
umfassen auch die Rechte auf Gesundheit, Schutz der                              unter: www.picum.org
Privatsphäre und Leben. 2

Es gibt keine genauen Angaben zur Anzahl der Personen,
die ohne Aufenthaltsstatus in Europa leben. Es deutet                        Nahen Osten und Nordafrika und erneut 2015 aufgrund
manches darauf hin, dass die meisten von ihnen in den                        der andauernden Konflikte in Syrien und anderen Ländern
letzten Jahrzehnten regulär in die EU eingereist sind –                      sowie aufgrund der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in
mit einem gültigen Studenten- oder Arbeitsvisum, im                          der Welt.4 Viele dieser Neuankömmlinge beantragen zwar
Rahmen einer Familienzusammenführung oder mit Asyl                           Asyl, aber bei weitem nicht alle. Auch gibt es viele Asyl-
– und diesen Status zu einem späteren Zeitpunkt verloren                     bewerber*innen, die trotz einer Ablehnung ihres Antrags
haben. 3 In den letzten Jahren ist jedoch die Zahl der                       im Land bleiben und fortan zur wachsenden Gruppe
irregulären Grenzübertritte in Europa stark angestiegen,                     derer zählen, die ohne Aufenthaltsstatus in Europa leben,
wie beispielsweise 2011 infolge der instabilen Lage im                       arbeiten und ihre Kinder großziehen.

1       Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014), Criminalisation of Migrants in an Irregular Situation and of Persons Engaging
        with Them.
2       Mehrere internationale Menschenrechtsabkommen umfassen das Recht auf Gesundheit und verpflichten Staaten, dieses Recht
        ohne jegliche Diskriminierung, also auch nicht auf Grundlage des Migrationsstatus, zu achten und zu schützen. Hierzu zählen unter
        anderem der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), das Internationale Übereinkommen zur
        Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD), die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
        Frau (CEDAW) und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK). Für weitere Informationen, vgl. Fußnote 5 sowie PICUM
        (2016), Sexual & Reproductive Health Rights of Undocumented Migrants: Narrowing the Gap Between their Rights and the Reality in
        the EU, S. 9-11.
3       Es gibt keine verlässlichen Zahlen zur Anzahl der undokumentierten Migrant*innen in der EU, da es in der EU keine Mechanismen
        zur systematischen Datenerhebung für irreguläre Migration gibt. Schätzungen auf Grundlage bestehender Daten gehen davon aus,
        dass 2008 zwischen 1,9 und 3,8 Mio. undokumentierte Migrant*innen in der EU-27 lebten und damit zwischen 0,39 und 0,77 % der
        damaligen Bevölkerung ausmachten. Vgl. A. Triandafyllidou, CLANDESTINO Project Final Report, November 2009, S. 11-12.
4       B. Milanovic, „Global Inequality: From Class to Location, from Proletarians to Migrants”, Global Policy, Vol. 3 Ausgabe 2 (Mai 2012).

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GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

IM FOKUS:
Aktionen von Städten aus aller Welt
Im Rahmen der vom Ausbildungs- und Forschungsinstitut der Vereinten Nationen (UNITAR) und anderen
Partnern geförderten Initiative Globales Städteforum zu Mobilität, Migration und Entwicklung kommen
Vertreter*innen von Städten aus aller Welt zusammen, um angesichts zunehmender Diversität Fragen
des Stadtmanagements zu diskutieren. Das Forum geht von dem Grundsatz aus, dass Migration als
überwiegend positives Phänomen zu sehen ist und der Entwicklung zugutekommt. Beim ersten Forum
im Juni 2014 nahmen die Bürgermeister*innen die Erklärung von Barcelona an, in der Behörden dazu
aufgefordert werden, „allen auf ihrem Gebiet lebenden Personen die gleichen Rechte, Pflichten und
Chancen zukommen zu lassen“ und den Ausschluss von irregulären Migrant*innen so weit wie möglich
zu reduzieren. Es wird auch hervorgehoben, dass bei der Gestaltung der Migrationspolitik die „Stimme
und Rolle“ der Städte stärker berücksichtigt werden muss. Im Rahmen des zweiten Forums im November
2015 in Quito wurde die Lokale Agenda für Migration und Entwicklung angenommen. Darin wird hervor-
gehoben, dass Städte bei Integration und der Erbringung von Dienstleistungen für eine immer buntere
Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen, und gefordert, dass durch entsprechende Maßnahmen
allen, ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus, Zugang zur Gesundheitsversorgung garantiert wird.

Die UN-Konferenz zu Wohnen und nachhaltiger Stadtentwicklung (Habitat) hat im Oktober 2016 die
sogenannte New Urban Agenda der Vereinten Nationen angenommen, in der dargelegt wird, welch zahl-
reichen Formen von Diskriminierung Migrant*innen ausgesetzt sind. Sie umfasst ferner die Verpflichtung,
allen Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und Migrant*innen ungeachtet ihres Status eine umfassende
Achtung der Menschenrechte und menschenwürdige Behandlung zuzusichern sowie ohne Diskriminie-
rung allen einen fairen und bezahlbaren Zugang zur Gesundheitsversorgung und Familienplanung zu
ermöglichen.

Das Gesunde Städte-Netzwerk der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
umfasst rund 100 Städte in 30 Ländern, die sich mit den Themen Gesundheit und nachhaltige Entwicklung
befassen. Das Netzwerk legt alle fünf Jahre ein neues Schwerpunktthema fest, zu dem dann eine politi-
sche Erklärung und damit einhergehende strategische Ziele ausgearbeitet werden. Die übergeordneten
Ziele für die Phase VI (2014-2018) sind eine bessere Gesundheit für alle sowie ein Abbau der Ungleichhei-
ten im System. Schwerpunkt des nationalen Treffens des italienischen Gesunde Städte-Netzwerks im Mai
2016 in Palermo (Sizilien) war das Thema Migration.

Im November 2016 hat die UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft
und Kultur) zusammen mit der Marianna V. Vardinoyannis Stiftung und der Europäischen Städtekoalition
gegen Rassismus (ECCAR) in der griechischen Hauptstadt Athen eine Konferenz mit dem Titel „Aufnahme
von Flüchtlingen: Inklusion fördern und Rechte schützen“ ausgerichtet. Die Bürgermeister*innen und ihre
Stellvertreter*innen von Athen, Amaroussion, Lesbos, Piräus und Thessaloniki haben sich zusammen mit
politischen Vertreter*innen aus Albanien und Zypern sowie mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft über
bewährte Praktiken ausgetauscht, mit denen man eine bessere Integration sowie einen besseren Schutz
der Rechte erreichen kann. Im Rahmen dieser Konferenz wurde auch eine Publikation über die Förderung
wirksamer Städtepolitik im Zeitalter der Migration veröffentlicht. Darin heißt es, dass die „Regierung auf
allen Ebenen sicherstellen muss, dass die Menschenrechte aller Migrant*innen und Flüchtlinge ungeach-
tet ihres Status geschützt und geachtet werden.“ In einer Checkliste für eine „städtische Agenda für die
Empfangspolitik“ in dieser Publikation ist unter anderem auch ein Punkt zum universellen Zugang zum
Sozialwesen für alle, ohne jegliche Form von Diskriminierung, aufgeführt.

Quellen:

>> UNITAR, https://www.unitar.org/dcp/human-mobility-programme/facilitating-policy-dialogue.
>> Lokale Agenda von Quito für Migration und Entwicklung (2015), https://www.unitar.org/dcp/sites/
   unitar.org.dcp/files/uploads/quito_outcome_document_en_0.pdf.
>> Erklärung von Barcelona (2014), http://www.bcn.cat/novaciutadania/pdf/ca/home/DeclaracioBcn.en.pdf.
>> New Urban Agenda, https://www2.habitat3.org/
   bitcache/97ced11dcecef85d41f74043195e5472836f6291?vid=588897&disposition=inline&op=view.
>> Gesunde Städte-Netzwerk der Europäischen Region der WHO, http://www.euro.who.int/en/health-
   topics/environment-and-health/urban-health/activities/healthy-cities/who-european-healthy-cities-
   network.
>> UNESCO (2016), Cities Welcoming Refugees and Migrants: Enhancing Effective Urban Governance in
   an Age of Migration.

                                                                                                             9
STÄDTE DES RECHTS

Ist das Recht auf Gesundheit für alle                                   Was für Auswirkungen hat
in Europa geschützt?                                                    dieser Ausschluss vom
Das Recht auf Gesundheit ist ein universelles Recht, das                Gesundheitssystem?
von keinerlei Status abhängig ist. Es wurde in zahlreichen
                                                                        Der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem wirkt
internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen
                                                                        sich nicht nur auf die betroffenen Menschen ohne Papiere
und in vielen einzelstaatlichen Verfassungen als univer-
                                                                        negativ aus, sondern schadet auch der Gesellschaft im All-
selles Recht für alle verankert.5 Die Ratifizierung dieser
                                                                        gemeinen. Es liegt auf der Hand, dass ein eingeschränkter
Instrumente durch alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet
                                                                        Zugang zur Gesundheitsversorgung der psychischen und
diese (auf allen Regierungsebenen), allen Personen ohne
                                                                        körperlichen Gesundheit der Betroffenen schadet, da
Diskriminierung und ungeachtet deren Aufenthaltsstatus
                                                                        bestehende Erkrankungen nicht angemessen behandelt
Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
                                                                        werden können. Vom Gesundheitssystem ausgeschlos-
Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Gesetze,                     sen zu werden, bedeutet darüber hinaus aber auch, weder
Politik und Praxis weichen in allen EU- Mitgliedstaaten in              Zugang zu Informationen über Risikofaktoren, Vorbeu-
unterschiedlichem Maße von diesen Verpflichtungen ab.6                  gung und gesundheitsfördernde Maßnahmen noch zu
Expert*innengremien, die überprüfen, inwieweit einzelne                 routinemäßigen Untersuchungen in der Schwangerschaft
Staaten das in internationalen Menschenrechtsabkom-                     oder zum Aufspüren übertragbarer Krankheiten oder chro-
men verankerte Recht auf Gesundheit einhalten, haben                    nischer Erkrankungen zu bekommen. Keinerlei Diagnose
wiederholt ernsthafte Bedenken geäußert. Sie beklagen                   oder Behandlung psychischer Erkrankungen, bis es zu
rechtliche wie auch praktische Hindernisse beim Zugang                  kritischen Vorfällen kommt, sowie keine angemessene
zur Gesundheitsversorgung, sowohl zu Arzneimitteln und                  Vorbeugung und Behandlung von physischen oder kog-
Medizinprodukten wie auch zu Gesundheitsleistungen,                     nitiven Behinderungen. In manchen Fällen bedeutet dies
die Menschen ohne Aufenthaltsstatus teilweise oder                      auch keine Schwangerschaftsbetreuung und -nachsorge,
vollständig daran hindern, ihr Recht auf Gesundheit aus-                keine Kinderimpfungen und keine Routineuntersuchungen
zuüben. Tatsächlich haben Menschen ohne Papiere in den                  durch Kinderärzt*innen.9
meisten EU-Mitgliedstaaten lediglich Zugang zur Notfall-
                                                                        Wenn einem ganzen Bevölkerungsteil jedoch der Zugang
versorgung und in manchen Staaten müssen sie sogar
                                                                        zum öffentlichen Gesundheitssystem verwehrt wird, kann
diese Behandlung im Anschluss bezahlen.7 In anderen
                                                                        dies auch negative Auswirkungen auf Programme zur För-
Staaten wird zwar per Gesetz der Zugang zu weitergehen-
                                                                        derung der öffentlichen Gesundheit haben und die Bemü-
den Gesundheitsdienstleistungen prinzipiell ermöglicht,
                                                                        hungen zur Verringerung der Kinder- und Müttersterb-
undokumentierte Migrant*innen haben dann aber de facto
                                                                        lichkeit, zur Behandlung chronischer Erkrankungen und
doch keinen Zugang, da öffentliche Bedienstete aufgrund
                                                                        zur Prävention und Kontrolle übertragbarer Krankheiten
sich widersprechender gesetzlicher Vorschriften verpflich-
                                                                        untergraben. Das Europäische Zentrum für die Präven-
tet sind, Personen ohne Aufenthaltsstatus den Einwande-
                                                                        tion und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) hat darauf
rungsbehörden zu melden. Darüber hinaus bestehen teil-
                                                                        hingewiesen, vor welch großen Hindernissen Menschen
weise auch weitere finanzielle, administrative oder andere
                                                                        ohne Papiere stehen, wenn sie Zugang zu HIV-Leistungen
praktische Hürden.8
                                                                        benötigen, und alle Staaten dringend dazu aufgefordert,
                                                                        diese anzugehen.10

5    Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 25); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
     Rechte (ICESCR) (Artikel 12); Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (Artikel 5),
     UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) (Artikel 12); Übereinkommen über die Rechte
     des Kindes (KRK) (Artikel 24); Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 35); Europäische Konvention zum Schutz
     der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 3, in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
     der Rechtssache Pretty v. UK, in der der Gerichtshof befand, dass „das Leiden infolge einer natürlich auftretenden – körperlichen
     oder mentalen – Erkrankung [...] durch Artikel 3 abgedeckt sein [kann], wenn es durch eine Behandlung verschlimmert wird oder
     werden könnte […], für die die Behörden verantwortlich gemacht werden können.“) und die Europäische Sozialcharta (Artikel 13).
     Nach jüngster Rechtsprechung kann die dynamische Auslegung der Charta undokumentierte Migrant*innen nicht ausschließen,
     wenn ihre Menschenwürde als direkt betroffen gilt. Vgl. z. B. International Federation of Human Rights League (FIDH) v. Frankreich
     (Beschwerde Nr. 14/2003); Defence for Children International (DCI) v. die Niederlande (Beschwerde Nr. 47/2008); Defence for
     Children International (DCI) v. Belgien (Beschwerde Nr. 69/2011); Médecins du Monde – International v. Frankreich (Beschwerde Nr.
     67/2011).
6    Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2015), Healthcare entitlements of migrants in an irregular situation in the EU-28.
7    Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2011), Fundamental Rights of Migrants in an Irregular Situation in the European
     Union; Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2012), Migrants in an Irregular Situation: Access to healthcare in 10
     European Union Member States; vgl. auch Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Healthcare entitlements of migrants in
     an irregular situation in the EU-28.
8    Vgl. S. Spencer, V. Hughes (2015), Outside and In: Legal Entitlements to Health Care and Education for Migrants with Irregular Status
     in Europe.
9    Ärzte der Welt (2016), Legal Report on Access to Healthcare in 17 Countries.
10 ECDC (2013), Evidence Brief – Migration: Monitoring Implementation of the Dublin Declaration on Partnership to Fight HIV/AIDS in
   Europe and Central Asia: 2012 Progress Report.

    10
GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

     WAS IST „UNIVERSELLE“ GESUNDHEITSVERSORGUNG?
     Die nationalen Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten weisen zwar große Unterschiede auf, basieren
     jedoch alle auf denselben Grundwerten: Universalität, Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung, Gleichheit
     und Solidarität.

     Im November 2016 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einem
     gemeinsam mit der Europäischen Union verfassten Bericht zu Gesundheitssystemen in der EU vermerkt, dass
     „die meisten EU-Staaten für zentrale Grundleistungen eine (beinahe) universelle Deckung der Gesundheitskos-
     ten erreicht haben“. Diese Aussage, die auf der Analyse von Daten der Mitgliedstaaten fußt, steht in krassem
     Kontrast zu der Tatsache, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten Menschen mit irregulärem Aufenthaltsstatus
     systematisch von ihrem Gesundheitssystem ausschließen. Die Datenlage zur Alltagsrealität von Menschen ohne
     Papieren ist eher schlecht, aber es gibt genaue Informationen zu den – stark eingeschränkten – Leistungen, auf
     die sie laut nationalem Gesetz Anspruch haben. Wenn trotz dieser Tatsache behauptet wird, dass die Staaten eine
     „universelle Deckung“ erreicht hätten, muss man in diesem Zusammenhang wohl die Bedeutung von „universell“
     in Frage stellen.

     Wer unter die Bezeichnung „universell“ fällt, ist dabei nicht nur eine semantische Spitzfindigkeit oder ein Politikum.
     Die Reduzierung der Ungleichheit zwischen den am besten und den am schlechtesten gestellten wird als wichti-
     ger Indikatoren der Leistung eines Gesundheitssystems anerkannt. Wenn Staaten also effizientere, belastbarere
     und zugänglichere Gesundheitssysteme möchten, können sie es sich nicht erlauben, diese nur gewissen Bevöl-
     kerungsgruppen zugänglich zu machen. Ebenso wenig können sie weiterhin darüber hinwegsehen, was für eine
     finanzielle Belastung dieser Ausschluss an sich sowie auch seine Umsetzung mit sich bringt. Im Jahr 2016 sprach
     eine Gruppe von Gesundheitsexpert*innen im Rahmen einer Veranstaltung der Internationalen Organisation für
     Migration (IOM) die Empfehlung aus, dass das „Prinzip der universellen und gleichen Gesundheitsversorgung für
     alle de facto in einem Land lebenden Menschen gelten sollte, unabhängig von deren Aufenthaltsstatus.“

     Quellen:

     >> Mitteilung der Europäischen Kommission (2014), http://ec.europa.eu/health//sites/health/files/systems_
        performance_assessment/docs/com2014_215_final_de.pdf.
     >> OECD (2016), http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-at-a-glance-europe-
        2016_9789264265592-en.
     >> WHO (2013), http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0009/244836/Health-System-Performance-
        Comparison.pdf.
     >> IOM (2016), Recommendation on Access to Health Services for Migrants in an Irregular Situation: An Expert
        Consensus.

Auch ist die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleis-              ihre Kinder einem inakzeptablen Risiko ausgesetzt und
tungen durch Notaufnahmen in Krankenhäusern, die für                andererseits die Gesundheitssysteme mit beträchtlichen
Menschen ohne Aufenthaltsstatus häufig die einzige                  und eben vermeidbaren Kosten belastet.12 Eine aktuelle,
Anlaufstelle sind, für die Gesundheitssysteme äußerst               von der Europäischen Kommission finanzierte Studie zeigt,
kostenintensiv.11 So können beispielsweise, wenn bei                dass wenn Patient*innen, die ansonsten nur Anspruch auf
Schwangeren ohne Aufenthaltsstatus aufgrund ausblei-                Notfallbehandlung haben, rechtzeitig in einer primären
bender Vorsorgeuntersuchungen Erkrankungen nicht fest-              Gesundheitseinrichtung behandelt werden, 49 bis 100 %
gestellt oder nicht behandelt wurden, zu einem späteren             der direkten medizinischen Kosten (direkt von Patient*in-
Zeitpunkt komplexe Interventionen nötig werden. Wenn                nen und Gesundheitssystem zu tragen) sowie nicht-medi-
per Gesetz ihr Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen                  zinischen Kosten (von Patient*innen oder der Gesellschaft
eingeschränkt wird oder sie durch hohe Kosten davon                 infolge einer Behinderung oder anderweitiger Gesund-
abgehalten werden, werden einerseits die Frauen und                 heitsprobleme zu tragen) eingespart werden können.13

11   Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2015), Cost of Exclusion from Healthcare: The Case of Migrants in an Irregular
     Situation; Kayvan Bozorgmehr, Oliver Razum, „Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum
     Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994-2013”, 22. Juli 2015.
12 R. Feldman, „Maternity Care for Undocumented Women: The Impact of Charging for Care“, British Journal of Midwifery, Januar 2016,
   24:1.
13 Zentrum für Gesundheit und Migration, Zusammenfassung der Ergebnisse (2016), Infografik zu den Kosten eines Ausschlusses aus
   der Gesundheitsversorgung.

                                                                                                                               11
STÄDTE DES RECHTS

Ferner hat die mangelnde Gesundheitsversorgung Ein-               restriktiver Gesundheitspolitik, da die Vorgabe, von ihren
zelner auch weitere menschliche und gesellschaftliche             Patient*innen auf Grundlage komplexer Einwanderungsre-
Kosten, die von den Familien und der Gemeinschaft zu              geln die auszusortieren, die keinen Anspruch auf Behand-
tragen sind.14 Und ein schlechter Gesundheitszustand              lung haben, in krassem Widerspruch mit ihrem Verständnis
beeinträchtigt zwangsläufig die Arbeitsfähigkeit des/der          der medizinischen Ethik steht.16 In manchen Fällen haben
Betroffenen.15 Auch Gesundheitsfachkräfte leiden unter            Gesundheitsfachkräfte und andere Dienstleister aus

               IM FOKUS:
               Regionale und kommunale Initiativen in Nordamerika zur Verbes-
               serung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung für Menschen
               ohne Papiere
               In den Vereinigten Staaten verwaltet das Gesundheitsamt (Department of Public Health) der Stadt San
               Francisco das Programm Gesundes San Francisco (Healthy San Francisco), mit dem die medizinische
               Versorgung für nicht versicherte Einwohner*innen der Stadt subventioniert wird. Ziel des Programms ist
               es, die Gesundheitsversorgung für alle nicht versicherten Einwohner*innen der Stadt, unabhängig von
               ihrem Einwanderungsstatus, zugänglich und bezahlbar zu machen.

               In New York sind undokumentierte Einwohner*innen ohne Versicherung ebenso wie andere New Yor-
               ker*innen ohne Krankenversicherung auf ein Auffangnetz von lokalen Gesundheitsdienstleistern ange-
               wiesen. Der Verbund Gesundheit und Krankenhäuser (Health and Hospitals Corporation (HHC)) der Stadt
               New York ist das landesweit größte System öffentlicher Krankenhäuser und erhält Finanzmittel von der
               Stadt. 2014 kündigte der Bürgermeister von New York, Bill de Blasio, eine Initiative zur Schaffung eines
               städtischen Ausweises an, den Einwohner*innen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus beantragen
               können. Kaum ein Jahr später gab er den Startschuss zum größten Programm kommunaler Ausweise in
               den USA. Alle Einwohner*innen der Stadt New York können ab Vollendung ihres 14. Lebensjahrs unge-
               achtet ihres Einwanderungsstatus einen solchen städtischen Ausweis (IDNYC) bekommen, mit dem sie
               Zugang zu allen städtischen Diensten haben. Im April 2016 begann eine Kooperation mit dem Verbund
               Gesundheit und Krankenhäuser der Stadt New York, in deren Rahmen die städtischen Ausweise als
               Registrierungskarten verwendet werden können. So werden die Patient*innenerfahrungen verbessert,
               indem Anmeldeprozesse vereinfacht, Wartezeiten verkürzt und die Registrierung bei medizinischen Ver-
               sorgungsstellen des Gesundheitssystems erleichtert werden.

               Das Gesundheitsgesetz Kanadas schließt undokumentierte Migrant*innen von der öffentlichen Gesund-
               heitsversorgung aus. Nichtsdestoweniger finanziert die Provinz Ontario Gemeinschaftliche Gesund-
               heitszentren (Community Health Centres (CHC)). Dies sind gemeinnützige Organisationen, die Einzelnen,
               Familien und Bevölkerungsgruppen ungeachtet ihres Einwanderungsstatus Zugang zu medizinischer
               Grundversorgung sowie zu Gesundheitsförderungsprogrammen bieten. 2013 hat der Stadtrat von
               Toronto für undokumentierte Einwohner*innen der Stadt das Programm Access T.O. ins Leben gerufen.
               Damit soll sichergestellt werden, dass alle Einwohner*innen der Stadt unabhängig von ihrem Aufenthalts-
               status Zugang zu städtischen Diensten bekommen, ohne fürchten zu müssen, nach einem Aufenthaltstitel
               gefragt zu werden. Die Stadt Toronto erhebt in diesem Rahmen personenbezogene Daten nur dann, wenn
               ein rechtlicher oder operationeller Grund hierfür besteht.

               Quellen:

               >> Offizielle Website der Stadt New York, http://www1.nyc.gov/office-of-the-mayor/news/379-16/city-
                  additional-benefits-idnyc-cardholders-new-integrations-nyc-health-.
               >> Gesundes San Francisco, http://healthysanfrancisco.org/.
               >> Stadt Toronto, „Access T.O.“, http://www1.toronto.ca/wps/portal/
                  contentonly?vgnextoid=9dfc33501bac7410VgnVCM10000071d60f89RCRD.

14 National Latina Institut für reproduktive Gesundheit (2013), Nuestra voz, nuestra salud, nuestro Texas: The Fight for Women’s
   Reproductive Health in the Rio Grande Valley.
15 OECD (2016), Health at a Glance: Europe 2016.
16 Vgl. Weltärztebund (WMA) (April 2016), WMA Council Resolution on Refugees and Migrants; American Nurses Association (2010),
   „Nursing Beyond Borders: Access to Health Care for Documented and Undocumented Immigrants Living in the US”, ANA Issue Brief;
   European Board and College of Obstetrics and Gynaecology (2014), „Standards of Care for Women’s Health in Europe: Gynaecology
   Services”.

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GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR UNDOKUMENTIERTE MIGRANT*INNEN

Protest gegen solche diskriminierenden Regeln demons-                     Im Gegensatz zur nationalen Ebene sind Städte und
triert 17 und sich entschieden, ausgegrenzten Bevölke-                    Gemeinden tagtäglich mit den Problemen und Erwartun-
rungsgruppen grundlegende medizinische Versorgung                         gen ihrer Einwohner*innen konfrontiert. „Lokale Regierun-
zu bieten, wobei sie jedoch oftmals unter schwierigen                     gen sind angesichts ihrer Nähe zur Bevölkerung am direk-
Voraussetzungen arbeiten müssen.                                          testen gefordert, um die Einhaltung der Menschenrechte
                                                                          zu garantieren und in den Bereichen Wohnen, Ernährung,
                                                                          Gesundheit, Bildung, Wasser und Sanitäranlagen die
Wie reagieren die Städte?                                                 notwendigen öffentlichen Dienstleistungen zu erbringen
                                                                          [...]“.19
Gesetze zum Gesundheitssystem, einschließlich Rege-
lungen zu den Fragen, wer unter welchen Bedingungen                       Viele Beispiele aus ganz Europa sowie auch aus anderen
Zugang zur Gesundheitsversorgung hat, werden oft zen-                     Teilen der Welt zeigen, wie Städte im Rahmen ihrer Auto-
tralisiert von der nationalen Regierung erlassen. In vielen               nomie Maßnahmen ergriffen haben, um Einwohner*innen
Ländern sind jedoch auch Regierungsstellen auf lokalerer                  ohne Aufenthaltsstatus Zugang zur Gesundheitsversor-
Ebene in gewissem Maße für gesundheitspolitische                          gung zu ermöglichen. In den folgenden Kapiteln werden
Entscheidungen zuständig.18 In manchen europäischen                       einige Ansätze aus unterschiedlichen Teilen Europas und
Ländern haben Regionalregierungen und Stadträte die                       mit sehr unterschiedlichen nationalen Hintergründen vor-
Kompetenz, Gesetze zum Sozialwesen, einschließlich                        gestellt. Diese Initiativen aus Belgien, Finnland, Deutsch-
Gesundheitswesen, zu erlassen oder deren Umsetzung                        land, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und
zu organisieren. Dabei wird einerseits ihr Handlungs-                     Schweden zeigen, was einige Schlüsselpartner erreichen
spielraum teilweise durch Vorgaben für die öffentlichen                   können, wenn sie sich im Bottom-up-Ansatz für inklusivere
Finanzen eingeschränkt, während sie andererseits aber                     Gesundheitssysteme einsetzen.
auch an weltweite, europäische und nationale Menschen-
rechtsstandards gebunden sind.

17   Vgl. im Vereinigten Königreich, Docs not Cops, http://www.docsnotcops.co.uk/; in Italien, 8. Januar 2009, Corriere della Sera,
     „’Niente Cure Mediche ai Clandestini in Friuli’ – E I Medici Insorgono“; in Kanada, OHIP for All – Healthier Together, http://ohipforall.
     ca/.
18 Für detaillierte Informationen zur Aufteilung der Kompetenzen zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden vgl. Ausschuss
   der Regionen, zu finden unter: http://cor.europa.eu/en/documentation/studies/Documents/division_of_powers/division_of_powers.
   pdf.
19 UNESCO (2016), Cities Welcoming Refugees and Migrants: Enhancing Effective Urban Governance in an Age of Migration.

                                                                                                                                         13
STÄDTE DES RECHTS

BELGIEN

                                                                     nen sowie auch in der Rechtsprechung wird ,Dringende
Welche Kompetenzen haben Städte
                                                                     medizinische Hilfe’ jedoch wesentlich weiter gefasst als
im Bereich Gesundheitsversorgung?                                    reine Notfallbehandlungen. ,Dringende medizinische
                                                                     Hilfe’ bietet für bis zu drei Monate Versicherungsschutz.
Belgien ist ein Föderalstaat mit drei (in Provinzen und
Gemeinden unterteilten) Regionen und drei (Sprach-)
                                                                     ,Dringende medizinische Hilfe’ wird von den lokalen
Gemeinschaften. Die öffentliche Gesundheit fällt sowohl in
                                                                     Sozialhilfezentren (Centre Public d’Action Sociale (CPAS) /
den Zuständigkeitsbereich der Föderalregierung als auch
                                                                     Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn (OCMW))
der Gemeinschaften. Dabei sind die Gemeinschaften für
                                                                     verwaltet. 21 Um ,Dringende medizinische Hilfe’ zu erhalten,
die ,personenbezogenen Angelegenheiten‘ zuständig,
                                                                     müssen sich Menschen ohne Papiere beim lokalen Sozi-
worunter auch präventive Gesundheitspolitik und Sozial-
                                                                     alhilfezentrum anmelden, von dem sie, wenn bestimmte
fürsorge zu zählen sind. Die Föderalregierung wie auch
                                                                     Bedingungen erfüllt sind, ein Dokument oder eine Gesund-
die Gemeinschaften verfügen über Gesetzgebungskom-
                                                                     heitskarte ausgehändigt bekommen, die den Zugang zur
petenz im Gesundheitsbereich.
                                                                     erforderlichen Gesundheitsversorgung ermöglicht. So
Die Gemeinden ihrerseits sind für die Verwaltung der                 muss zunächst geprüft werden, ob der/die Patient*in ohne
Sozialfürsorge zuständig. Darunter fällt auch die Prüfung,           Papiere in der jeweiligen Gemeinde lebt und ,mittellos‘ ist
ob undokumentierte Migrant*innen gemäß den nationa-                  (eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschreitet),
len Vorschriften über Sozialhilfezentren ein Anrecht auf             und es muss eine ärztliche Bescheinigung vorliegen, dass
Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.                              eine Behandlung dringend erforderlich ist. 22

                                                                     Dieses administrative Verfahren schafft für Menschen
Auf nationaler Ebene                                                 ohne Papiere zahlreiche praktische Hürden. So können
                                                                     sie häufig schwer ihren gewöhnlichen Wohnort nachwei-
Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung – sowohl                        sen, wenn sie obdachlos sind oder keine feste Unterkunft
Erwachsenen als auch Kindern – ist der Zugang zum bel-               haben. Um zu bestimmen, ob jemand mittellos ist, wird
gischen Krankenversicherungssystem untersagt. Ihnen                  standardmäßig von Sozialarbeiter*innen ein Hausbe-
steht jedoch ein separates System offen, die sogenannte              such abgestattet. Wenn der/die Betreffende jedoch bei
,Dringende medizinische Hilfe’ (Aide médicale urgente                Freunden oder Verwandten wohnt, verwehren diese
(AMU) / Dringende Medische Hulpverlening (DMH)). 20 Trotz            häufig den Besuch aus Angst, dass die Unterbringung
dieser Bezeichnung sieht der Rechtsrahmen für ,Drin-                 einer Person ohne Papiere negative Konsequenzen für sie
gende medizinische Hilfe’ explizit sowohl den Zugang zur             haben könnte. Diese soziale Überprüfung kann laut Gesetz
Gesundheitsvorsorge als auch zur Heilbehandlung vor. Es              bis zu einen Monat in Anspruch nehmen und es liegt im
fallen alle medizinischen Behandlungen darunter, die auch            Ermessen jedes Sozialhilfezentrums, was sie als Nachweis
durch die gesetzliche Krankengrundversicherung gedeckt               für den Wohnsitz akzeptieren. Auch die notwendige ärztli-
sind. Der Verweis auf ,dringend‘ kann jedoch viele Ärzt*in-          che Bescheinigung der Dringlichkeit der Behandlung wirkt
nen verunsichern, deren Ansicht nach nur Behandlungen                sich verzögernd auf ebendiese Behandlung aus und bringt
gedeckt sind, die ziemlich dringend sind, auch wenn der              darüber hinaus die für manche unerschwinglichen Kosten
Zustand nicht lebensbedrohlich sein muss. Im Allgemei-               eines ersten Arztbesuches mit sich.

20 Königlicher Erlass über ,Dringende medizinische Hilfe’, 12. Dezember 1996.
21 Vgl. Grundlagengesetz über die öffentlichen Sozialhilfezentren vom 8. Juli 1976.
22 Das CPAS/OCMW muss innerhalb von 30 Tagen entscheiden, ob es der Zahlung einer medizinischen Leistung zustimmt.

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