Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa
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Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Kumulative Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Naturwissenschaften des Fachbereichs Humanwissenschaften der vorgelegt von: Dipl.-Psych. Katrin Hötzel aus Bochum Osnabrück, 2014
Danksagung Herzlich bedanken möchte ich mich bei allen, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit auf unterschiedliche Art und Weise unterstützt haben. Mein Dank gilt insbesondere meiner weltbesten Betreuerin Prof. Dr. Silja Vocks sowie meiner lieben Kollegin und Freundin Ruth von Brachel. Außerdem möchte ich mich herzlich bei den weiteren Co- Autoren meiner publizierten Artikel bedanken. Mein Dank gilt auch meiner Familie (meinen Eltern Gotthold und Brigitte Hötzel sowie meiner Schwester Verena Hötzel) und meinem Freund Quirin Thadeusz für all die Unterstützung, die nicht direkt etwas mit der wissenschaftlichen Arbeit zu tun hatte. Last but not least auch ein großes Dankeschön an all die Frauen, die am „ESS-KIMO“-Programm teilgenommen haben. ii
Hinweise zur Veröffentlichung der Dissertation Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine kumulative Dissertation gemäß §10 Absatz (3) der aktuellen Promotionsordnung des Faches Psychologie (geändert veröffentlicht am 27.10.2009). Die drei Artikel „Explizite Lebensziele von Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa“, „Assessing motivation to change in eating disorders: A systematic review“ und „An internet-based program to enhance motivation to change in females with symptoms of an eating disorder: A randomized-controlled trial“ wurden alle in wissenschaftlichen Zeitschriften mit „peer review“-Verfahren veröffentlicht. Zeitschriftenbeiträge: Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörries, A., von Brachel, R., Braks, K., Huber, T. J. & Vocks, S. (2012). Explizite Lebensziele von Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa. Verhaltenstherapie, 22, 173-180. Hötzel, K., von Brachel, R., Schloßmacher, L. & Vocks, S. (2013). Assessing motivation to change in eating disorders: A systematic review. Journal of Eating Disorders, 1, 1-9. Hötzel, K., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, E., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte, D. & Vocks, S. (2013). An internet-based program to enhance motivation to change in females with symptoms of an eating disorder: A randomized- controlled trial. Psychological Medicine, 16, 1-17. Teilergebnisse dieser Arbeit wurden in folgenden Kongressbeiträgen präsentiert: Hötzel, K., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte, D. & Vocks, S. (2013, September). An internet-based program to enhance motivation to change in females with symptoms of an eating disorder: A randomized-controlled trial (Vortrag). 43rd Annual Congress European Association for Behavioural and Cognitive Therapies (EABCT), Marrakech, Morocco. iii
Vocks, S., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte, D. & Hötzel, K. (2013, Mai). Wirksamkeit eines Internetprogramms zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Essstörungen (ESS-KIMO): Eine randomisiert-kontrollierte Studie (Vortrag). 31. Symposium der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Trier, Deutschland. von Brachel, R., Hötzel, K., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte, D. & Vocks, S. (2012, März). ESS-KIMO – Ein Online-Programm für Frauen mit Essstörungen. Erste Ergebnisse der randomisiert-kontrollierten Studie (Vortrag). 27. DGVT-Kongress für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung, Berlin, Deutschland. Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörris, A., Braks, C., Huber, T., von Brachel, R. & Vocks, S. (2011, September). Explicit goals of patients with anorexia and bulimia nervosa (Poster). 41st Annual Congress of the European Association of Cognitive and Behavioural Therapies (EABCT), Reykjavik, Iceland. Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörris, A., Braks, C., Huber, T., von Brachel, R. & Vocks, S. (2011, Juni). Explizite Lebensziele bei Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa (Poster). 7. Workshop Kongress der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Berlin, Deutschland. von Brachel, R., Hötzel, K., Hechler, T., Schulte, D., Schmidt, U., Rieger, E., Kosfelder, J. & Vocks, S. (2009, Mai). Internetbasierte Interventionen zur Erhöhung der Psychotherapiemotivation bei Essstörungen (Poster). 6. Workshop Kongress für Klinische Psychologie und Psychotherapie und 27. Symposium der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Zürich, Schweiz. iv
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung .............................................................................................. 1 1.1. Abstract ..................................................................................................... 2 2. Einleitung ............................................................................................................ 5 3. Anorexia und Bulimia nervosa .......................................................................... 7 3.1. Erscheinungsbild, Klassifikation und Epidemiologie ............................... 7 3.2. Behandungserfolg und Prognose ............................................................. 10 4. Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa ...................... 12 4.1. Das transtheoretische Modell der Veränderung ...................................... 12 4.2. Übertragung des transtheoretischen Modells auf Anorexia und Bulimia nervosa ....................................................................................... 14 4.3. Das transtheoretische Modell als theoretischer Rahmen zur Messung der Änderungsmotivation ........................................................................ 15 5. Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa ................................................................................................ 17 5.1. Motivational Interviewing ....................................................................... 17 5.2. Die Berücksichtigung von Lebenszielen ................................................. 19 6. Das Internet als Versorgungsansatz ............................................................... 22 6.1. Internetbasierte Behandlungsansätze bei Essstörungen .......................... 23 7. Fragestellung ..................................................................................................... 25 8. Publikationen .................................................................................................... 26 8.1. Artikel 1 ................................................................................................... 26 8.2. Artikel 2 ................................................................................................... 28 8.3. Artikel 3 ................................................................................................... 29 9. Zusammenfassung, Diskussion, Ausblick und Schlusswort ......................... 30 9.1. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ................................... 30 9.2. Diskussion der Ergebnisse und Ausblick ................................................ 33 9.3. Schlusswort ............................................................................................. 42 10. Literaturverzeichnis ......................................................................................... 43 11. Anhang............................................................................................................... 64 11.1. Persönliche Daten .................................................................................... 64 11.2. Vita .......................................................................................................... 64 11.3. Liste der Veröffentlichungen................................................................... 66 11.4. Erklärung über die Eigenständigkeit der erbrachten wissenschaftlichen Leistung .................................................................... 70 v
Zusammenfassung 1. Zusammenfassung Eine hohe Änderungsmotivation nach dem transtheoretischen Modell der Verhaltensänderung hat sich bei Essstörungen in vielen Studien als mit einem wünschenswerten Therapieausgang im Zusammenhang stehend gezeigt. Gleichzeitig weisen insbesondere Betroffene mit einer Anorexia oder Bulimia nervosa eine geringe Änderungsmotivation auf. Für den Essstörungsbereich entwickelte Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation sind überwiegend im Motivational Interviewing verankert, worin u. a. der Arbeit mit Lebenszielen von Patienten eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Die Rolle solcher expliziter Ziele ist jedoch bisher für Anorexia und Bulimia nervosa nicht untersucht worden. Dennoch sind die Forschungsergebnisse zum Motivational Interviewing bei Essstörungen überwiegend vielversprechend und in den Studien, in denen lediglich vergleichbare Verbesserungen in Kontroll- sowie Interventionsgruppe zu verzeichnen waren, könnten potentielle Unterschiede möglicherweise aufgrund des Einsatzes inadäquater Messinstrumente unentdeckt geblieben sein. Zur gezielten Auswahl eines geeigneten Messinstruments wäre deshalb ein systematischer Überblick über Verfahren zur Erfassung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa hilfreich, den die Literatur bisher jedoch nicht bietet. Studien bezüglich Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Essstörungen wurden außerdem bisher ausschließlich im „face-to-face“-Setting durchgeführt und evaluiert, obwohl das Internet aufgrund seiner Niederschwelligkeit besonders geeignet für einen ersten Zugang zu Hilfsangeboten für von Anorexia und Bulimia nervosa Betroffene zu sein scheint. Nachdem zunächst die Rolle expliziter Ziele bei Anorexia und Bulimia nervosa untersucht sowie ein systematischer Überblick über Messinstrumente zur Erfassung der Änderungsmotivation bei Essstörungen erstellt wurde, lag das primäre Ziel dieser Arbeit in der Evaluation eines Online-Programms zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Frauen mit Symptomen einer Anorexia und Bulimia nervosa. Dieses am transtheoretischen Modell orientierte und sich der Prinzipien des Motivational Interviewing bedienende Programm wurde in einem randomisiert- kontrollierten Versuchsdesign mit Warte-Kontrollgruppe im Prä-Post-Vergleich evaluiert. 1
Zusammenfassung Es stellte sich heraus, dass Frauen mit Anorexia und Bulimia nervosa im Wesentlichen die gleichen Ziele verfolgen wie gesunde Kontrollprobandinnen, wobei sie ihre Ziele untereinander förderlicher wahrnehmen als gesunde Frauen, ihnen die Realisierung der Ziele aber schlechter gelingt. Die im Motivational Interviewing vorgeschlagene Arbeit mit Zielen scheint somit im Bereich der Essstörungen sinnvoll und wurde auch in dem hier evaluierten Online-Programm berücksichtigt, wobei den Ergebnissen entsprechend dabei nicht auf essstörungsspezifische Zielinhalte eingegangen wurde. Für die systematische Überblicksarbeit ließen sich ausschließlich auf dem transtheoretischen Modell basierende Verfahren zusammentragen. Da sich eine symptomspezifische Erfassung der Änderungsmotivation einer globalen Messung gegenüber als überlegen herausstellte, wurde ein symptomspezifisches Maß in Form eines Fragebogens zur Erfassung der primären Outcome-Variablen für die Evaluation des Online-Programms gewählt. Im Prä-Post-Vergleich der web-basierten Intervention ließen sich ein signifikanter Anstieg der Änderungsmotivation in mehreren Symptombereichen sowie Verbesserungen in einigen weiteren klinischen Maßen in der Experimentalgruppe nachweisen, jedoch nicht in der Kontrollgruppe. Es wurde eine Dropout-Rate von 41% verzeichnet. Das Internet ist ein geeignetes Medium für den Einsatz von Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Frauen mit Symptomen einer Anorexia oder Bulimia nervosa. Bei Online-Programmen für Essstörungen stellt die Reduktion hoher Dropout-Raten eine Herausforderung für zukünftige Forschungsarbeiten dar. Bezüglich der Erfassung der Änderungsmotivation wären vom transtheoretischen Modell unabhängige Verfahren wünschenswert, die einen möglicherweise von der kategorialen Konzeption abweichenden Ansatz bieten. Bei der weiteren Erforschung von Lebenszielen bei Frauen mit Anorexia und Bulimia nervosa sollte zusätzlich der Einfluss impliziter Motive berücksichtigt werden. 1.1. Abstract A high motivation to change, as defined in the transtheoretical model of change, has been shown to be associated with a more desirable treatment outcome in several studies. However, especially individuals affected by anorexia and bulimia nervosa show a low motivation to change. Interventions that aim to enhance motivation to change in eating 2
Zusammenfassung disorders are mostly based on the motivational interviewing approach, in which the work on explicit life-goals is thought to have a major impact. However, so far no studies on life-goals concerning anorexia and bulimia nervosa have been conducted. Nevertheless, to sum up, research on motivational interviewing with regard to eating disorders is promising. In studies showing improvements in both intervention and control groups, potential differences might have remained undetected due to inappropriate assessment tools. In order to choose appropriate assessment measures, it would be beneficial to systematically review the measures assessing motivation to change in anorexia and bulimia nervosa, which have not been documented in scientific literature yet. So far, interventions to enhance motivation to change have only been evaluated in face-to-face settings. However, the Internet could be a more suitable medium for delivering such interventions, as its low threshold might ease access for individuals affected by anorexia and bulimia nervosa. Following a study on the role of explicit goals in anorexia and bulimia nervosa and a systematic review on instruments assessing motivation to change in eating disorders, the primary aim of the current work was the evaluation of an online program to increase motivation to change in females with symptoms of anorexia and bulimia nervosa. The program, which was designed on the basis of the transtheoretical model and used the principals of the motivational interviewing approach, was evaluated in a randomised-controlled design with a wait-control condition by pre-post-comparison. Results showed that women with anorexia and bulimia nervosa pursued explicit goals essentially identical to those of healthy participants, even though they attributed a higher instrumentality to their goals than healthy females while displaying distinct deficits concerning the realization of explicit goals. Thus, the motivational interviewing approach and the associated work with life-goals seem to be helpful and were therefore applied in the online program, while – with respect to the results – no attention was paid to specific content of goals. Considering the systematic review, only assessment tools based on the transtheoretical model were found and a symptom-specific assessment of motivation to change has been shown to be superior to a global one. Accordingly, a symptom-specific measure in the form of a questionnaire was chosen to assess the primary outcome variable in the online program. A significant improvement in motivation to change several symptom domains as well as in some further clinical 3
Zusammenfassung variables could be shown in the pre-post-comparison for the intervention, but not for the control group. The dropout rate was 41%. The Internet is a suitable medium for interventions that aim at enhancing the motivation to change in women with symptoms of anorexia and bulimia nervosa. High dropout rates are a major problem concerning online approaches for eating disorders. Future research might help to reduce this problem. Concerning the assessment of motivation to change, such tools which are independent from the transtheoretical model and offer a non-categorial approach are in demand. For future research on life-goals in women with anorexia and bulimia nervosa, implicit motives should also be considered. 4
Einleitung 2. Einleitung Der Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und der Motivation, sich bzw. ein Problemverhalten zu verändern, hat in den vergangenen Jahren ein deutlich wachsendes Interesse erlangt. Veränderungsmotivation lässt sich als „the probability that a person will enter into, continue and adhere a specific change strategy“ (Miller & Rollnick, 1991, p. 19) definieren, also die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person Strategien zur Veränderung einsetzen wird. Verschiedene Studien haben die Veränderungsmotivation bei Personen mit unterschiedlichen psychischen Störungsbildern oder problematischen Verhaltensweisen untersucht und belegen ihre Bedeutung für Verhaltensweisen wie Rauchen (Prochaska, DiClemente & Norcross, 1992), problematischen Alkoholkonsum (Figlie, Dunn & Laranjeira, 2005; Shields & Hufford, 2005), Kokainabhängigkeit (Levin et al., 2006; Rohsenow et al., 2004), Zwangsstörungen (Dalle Grave et al., 2005; Doyle, Siegel & Supe, 2006) oder Angststörungen (Nickel et al., 2005; Westra, 2004). Auch im Bereich der Essstörungen ist ein gesteigertes Interesse an der mit der Aufgabe der Störung zusammenhängenden Änderungsmotivation zu verzeichnen (Vansteenkiste, Soenens & Vandereycken, 2005; Waller, 2012). Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, unterschiedliche Teilaspekte im Zusammenhang mit der Änderungsmotivation bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu beleuchten bzw. zu evaluieren. Nach einer Untersuchung zur Rolle persönlicher Lebensziele bei Essstörungen sowie einem Überblick über Messmethoden zur Erfassung der Änderungsmotivation für diesen Störungsbereich soll untersucht werden, inwieweit eine Steigerung der Änderungsmotivation durch ein internetbasiertes Programm erreicht werden kann. Derartige Studien können Aufschluss darüber geben, ob bestimmte Lebensziele in der Behandlung von AN und BN spezieller Aufmerksamkeit bedürfen, welche Messinstrumente für welche Untersuchungen geeignet sind und ob der Einsatz eines Online-Programms zur Steigerung der Veränderungsmotivation von Betroffenen mit Symptomen einer Essstörung effektiv ist. Die folgenden Kapitel geben zunächst einen Überblick über das Erscheinungsbild und die Häufigkeit von AN und BN sowie bezüglich der Effektivität und Prognose der Essstörungsbehandlung. Nach einer Einführung in die Bedeutung der Änderungsmotivation für den Bereich der Essstörungen wird das transtheoretische 5
Einleitung Modell der Verhaltensänderung (TTM; Prochaska & DiClemente, 1992) vorgestellt und seine bisherige empirische Fundierung für den Essstörungsbereich erläutert. Im sich daran angliedernden Abschnitt zu Ansätzen zur Steigerung der Änderungsmotivation bei AN und BN wird das Motivational Interviewing (MI; Miller & Rollnick, 2002) als mögliche Intervention vorgestellt sowie die damit im Zusammenhang stehende Bedeutung expliziter Ziele aufgegriffen. Das Internet als eine mögliche Darbietungsform solcher Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation wird im darauf folgenden Kapitel beschrieben. Daran schließt sich die Ableitung der Fragestellungen an, auf welche die Darstellung der Studien bzw. eines Übersichtsartikels folgt. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse aus den drei Einzelarbeiten sowie einer integrierenden Diskussion der Untersuchungsbefunde, in welcher Implikationen abgeleitet werden und ein Ausblick auf weitere Forschungsfragen gegeben wird. 6
Anorexia und Bulimia nervosa 3. Anorexia und Bulimia nervosa In den heutigen westlichen Kulturen weisen insbesondere Frauen häufig zumindest phasenweise im Laufe ihres Lebens Symptome eines gestörten Essverhaltens auf (van Hoeken, Seidell & Hoek, 2003). Sie empfinden sich beispielsweise trotz eines gesunden Normalgewichts als zu dick, verfolgen ein unrealistisches Schankheitsideal, haben große Angst vor einer Gewichtszunahme, sind unzufrieden mit ihrem Körper, zählen täglich Kalorien, halten Diäten oder vermeiden längerfristig bestimmte Lebensmittel (Hoek & van Hoeken, 2003; Vocks & Legenbauer, 2010). Insbesondere Frauen in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter sind für ein solches, subklinisch gestörtes Essverhalten gefährdet (Hudson, Hiripi, Pope & Kessler, 2007). Treten solche Auffälligkeiten gemeinsam mit grundsätzlichen Gegebenheiten wie einem niedrigen Selbstwertgefühl auf, ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer klinisch relevanten Essstörung wie einer AN oder BN erhöht (Jacobi, Hayward, de Zwaan, Kraemer & Agras, 2004). 3.1. Erscheinungsbild, Klassifikation und Epidemiologie In der vorliegenden Dissertationsschrift sind unter dem Begriff „Essstörung“ die Störungsbilder AN und BN sowie Essstörungen dieses Formenkreises zu verstehen. Obwohl bezüglich derer Diagnosekriterien 2013 die fünfte Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) erschienen ist, wird im Folgenden auf die vorherige Version der diagnostischen Kriterien (DSM-IV-TR; American Psychiatric Association, 2000) zurückgegriffen. Dies ist so gewählt, da alle bishigen und in dieser Forschungsarbeit aufgeführten Befunde auf dem DSM-IV-TR basieren und weil das DSM-IV-TR zum Zeitpunkt der Durchführung der Studien die aktuellste Fassung des Manuals darstellte. Eine AN ist demnach durch vier Kriterien gekennzeichnet, und zwar (A) die Weigerung, ein Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichtes zu halten (d. h. weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts), (B) die große Angst vor einer Gewichtszunahme oder vor dem Dicksein trotz bestehenden Untergewichts, 7
Anorexia und Bulimia nervosa (C) das Vorliegen einer Körperschemastörung, ein übertriebener Einfluss des Gewichts auf die Selbstwertung und/oder Krankheitsverleugnung sowie (D) das Aufweisen einer Amenorrhö bei Frauen (d. h. das Ausbleiben der Regelblutung über drei Menstruationszyklen). Für die Diagnose einer BN wird hingegen gefordert, dass fünf Kriterien vorliegen, (A) wiederkehrende Episoden von Essanfällen, gekennzeichnet durch 1. Essensaufnahme in einer kurzen Zeitspanne (bis zu zwei Stunden), wobei die Nahrungsmenge größer ist als bei den meisten Menschen in einer vergleichbaren Zeit unter ähnlichen Umständen, und 2. ein Gefühl von Kontrollverlust während des Essanfalls (z. B. das Essen nicht stoppen können oder eine Ohnmacht der Kontrolle darüber, was oder wie viel gegessen wird), (B) wiederkehrendes, unangemessenes Kompensationsverhalten wie selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Medikamenten, Fasten oder exzessives Sporttreiben zur Verhinderung einer Gewichtszunahme, (C) im Durchschnitt mindestens zweimaliges wöchentliches Auftreten von Essanfällen und unangemessenem Kompensationsverhalten über mindestens drei Monate, (D) ein unangemessen stark durch die Figur und das Gewicht beeinflusster Selbstwert sowie (E) ein nicht ausschließliches Auftreten der Störung während Episoden einer AN. Die vollständige Erfüllung dieser Kriterien war bisher nur bei einer relativ geringen Anzahl Betroffener der Fall, auch wenn sich dies durch die nun breiter gefassten Kriterien des neu erschienenen DSM-5 ändern mag. In diesen liegt die Betonung bezüglich des A-Kritierums bei der AN deutlicher auf Verhaltensweisen (wie dem Begrenzen der Kalorieneinnahme) als auf der „Weigerung“ und es entfällt das D- Kriterium bezüglich der Amenorrhö. Für die BN hingegen ist laut der neuen Kriterien wöchentlich eine Essattacke mit kompensatorischem Verhalten ausreichend, um die Diagnose zu vergeben. Im diagnostischen Kontext sei diesbezüglich angemerkt, dass häufig ein Wechsel zwischen den unterschiedlichen Essstörungsdiagnosen über die Zeit zu 8
Anorexia und Bulimia nervosa beobachten ist (Fichter & Quadflieg, 2007; Stice, Marti, Shaw & Jaconis, 2009). Die sogenannte „transdiagnostische Perspektive“ (Fairburn, Cooper & Shafran, 2003) betont daher eher die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Esssstörungen als unterschiedliche Diagnosekategorien für wichtig zu erachten, da Betroffene im Laufe ihres Lebens zeitweilig z. B. die Kriterien einer AN, dann aber auch einer BN erfüllen können. Die auf DSM-IV-TR basierenden Prävalenzraten für BN bzw. AN fallen mit 1% bzw. 0,3% oder 0.6% (Hoek & van Hoeken, 2003; Machado, Machado, Goncalves & Hoek, 2007) insbesondere hinsichtlich des grundsätzlichen „Figurbewusstseins“ junger Frauen relativ niedrig aus, zumal in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der Inzidenzraten dokumentiert wurde (Keel & Klump, 2003; Rastam, Gillberg, van Hoeken & Hoek, 2004; van Hoeken et al., 2003). Allerdings scheinen die Zahlen für atypische Formen von Essstörungen („Eating Disorder Not Otherwise Specified“; EDNOS), welche beispielsweise nicht die vollen Kriterien für die Diagnose einer AN oder BN erfüllen, deutlich höher zu sein (Fairburn & Bohn, 2005; Stice et al., 2009). Insgesamt liegt die Lebenszeitprävalenz für Frauen zu 1¾ bis 3mal höher als bei Männern (Hudson et al., 2007). Somit zählen Essstörungen im Allgemeinen nicht zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Ihre dennoch hohe klinische Relevanz ergibt sich eher aufgrund der schwerwiegenden psychosozialen und medizinischen Konsequenzen (Mitchell & Crow, 2006; Rome et al., 2003), welche als Auswirkungen des gestörten Essverhaltens auf die verschiedenen Organsysteme auftreten können und im schlimmsten Fall zum Tode führen. So nimmt die Erkrankung in fast 10% der Fälle einer AN und bei ca. 7% der von BN Betroffenen einen tödlichen Verlauf (Nielsen, 2001), wobei insbesondere für AN die Todesursache neben den direkten Effekten der Mangelernährung häufig im Suizid liegt (Keel et al., 2003; Pompili, Mancinelli, Girardi, Ruberto & Tatarelli, 2004). Weitere physische Folgeerscheinungen liegen in reduzierter Stoffwechseltätigkeit, Nierenschäden sowie aufgrund der funktionalen Beeinträchtigung der Hypothalamus- Gonaden-Achse hormonelle Störungen bis zur Amenorrhö, was sich negativ auf die Fertilität auswirken kann und als nur bedingt reversibel gilt (Herpertz, 1997). Bezüglich der psychosozialen Konsequenzen sind neben kognitiven Beeinträchtigungen und rigiden Denkmustern in Bezug auf Ernährung und Körpergewicht insbesondere 9
Anorexia und Bulimia nervosa Veränderungen auf emotionaler Ebene zu nennen. Die darunter zu fassenden Aspekte wie Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit oder soziale Ängste gehen häufig mit einer fortschreitenden Isolation der Betroffenen einher, welche die hohe Komorbidität von Essstörungen mit anderen psychischen Erkrankungen erklären mag. So leiden etwa 68% der an AN und 63% der an BN erkrankten Personen gleichzeitig an einer klinisch relevanten Depression (Brewerton et al., 1995; Halmi et al., 1991; O’Brien & Vincent, 2003). Auch Zwangs- (Milos, Spindler, Ruggiero, Klaghofer & Schnyder, 2002) und Persönlichkeitsstörungen (Rø, Martinsen, Hoffart, Sexton & Rosenvinge, 2005) werden häufig parallel diagnostiziert. 3.2. Behandungserfolg und Prognose Obwohl die Gefährdung durch die aufgeführten Folgeerscheinungen von AN und BN offensichtlich erscheint sowie frühzeitigeres Intervenieren erwiesenermaßen zu besseren Ergebnissen führt (Reas, Williamson, Martin & Zucker, 2000), erfahren nur wenige Patientinnen eine adäquate Behandlung (Hoek & van Hoeken, 2003). Etwa die Hälfte derjenigen mit AN und ca. ein Drittel der Betroffenen mit BN werden laut Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung tatsächlich erst gar nicht im Gesundheitssystem registriert (Keski-Rahkonen et al., 2007; 2009). Dies scheint einerseits u. a. durch die Angst vor einer Stigmatisierung hinsichtlich der Erkrankung begründet zu sein (Becker, Arrindell, Perloe, Fay & Striegel-Moore, 2010; Evans et al., 2011). Andererseits gelangen insbesondere Personen mit Essstörungen oftmals nicht auf eigenen Wunsch in eine Behandlung, sondern z. B. auf die Initiative von Angehörigen. Betroffene, welche hingegegen aus eigenem Antrieb Hilfe aufsuchen, haben meistens eher eine Reduktion der starken Beschäftigung mit Essen oder der die Essstörung häufig begleitenden Depressionen sowie Ängste zum Ziel als eine Gewichtszunahme (Vitousek, Watson & Wilson, 1998). Im Vergleich zu AN suchen Patientinnen mit BN dabei zwar häufiger auf eigene Initiative eine Behandlung auf (Casasnovas et al., 2007; Fairburn & Cooper, 1991), jedoch führt die Angst vor einer Gewichtszunahme in beiden Fällen oft zu einem vorzeitigen Therapieabbruch (Vansteenkiste et al., 2005). Unbefriedigende Behandlungsergebnisse, welche sich dementsprechend vor allem durch hohe Dropout-Raten kennzeichnen lassen, sind insbesondere für AN bekannt (DeJong, Broadbent & Schmidt, 2012) und keine Ausnahme. Die Prognose ist 10
Anorexia und Bulimia nervosa jedoch generell eher schlecht und viele Patientinnen mit sowohl AN als auch BN brechen die Behandlung unabhängig vom Setting vorzeitig ab (Bandini et al., 2006; Fairburn, 2005; Halmi et al., 2005; Lundgren, Danoff-Burg & Anderson, 2004; Masson, Perlman, Ross & Gates, 2007; Treat et al., 2005). Abgesehen von der schlechten Prognose bezüglich des Abschlusses der Behandlung sind hohe Rezidivraten (Fairburn, Cooper, Doll, Norman & O’Connor, 2000; Grilo et al., 2007) und chronische Verläufe (Berkman, Lohr & Bulik, 2007; Halmi et al., 2002; Richards et al., 2000) für Essstörungen bekannt. Zusätzlich deuten die wenigen Untersuchungen zum Spontanverlauf der Erkrankung auf eine hohe Persistenz der Symptome hin. Etwa zwei Drittel der Betroffenen mit AN und ca. die Hälfte der Personen mit BN zeigen auch nach fünf Jahren noch Essstörungssymptome (Keski-Rahkonen et al., 2007; 2009). 11
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa 4. Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Als eine mögliche Ursache für diese ungünstigen Behandlungsprognosen bei AN und BN wird häufig eine fehlende Veränderungsbereitschaft der Patientinnen angenommen (z. B. Blake, Turnbull & Treasure, 1997; Casasnovas et al., 2007). Den Störungsbildern AN und BN scheint es gemeinsam zu sein, dass bezüglich der Motivation für die Veränderung der Symptomatik eine Ambivalenz besteht (Martínez et al., 2007; Rieger, Touyz & Beumont, 2002; Schmidt & Treasure, 2006). Diese Ambivalenz wird als ein Hauptgrund für die unzureichende Motivation der Betroffenen gesehen (Körkel & Veltrup, 2003). So existieren neben dem offenkundigen Leidensdruck aufgrund der oben dargestellten Folgen einer Essstörung wie körperlicher Beeinträchtigung, kognitiver Einbußen, sozialer Isolation oder hoher Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen auch latente Nutzen der Essstörung (Serpell, Treasure, Teasdale & Sullivan, 1999). Diese können beispielsweise in einer Selbstwertsteigerung aufgrund der wahrgenommenen Stärke durch das rigide Essverhalten oder die Gewichsreduktion begründet sein sowie in einem durch die AN oder BN gefundenen Lebenssinn bzw. -inhalt liegen (Serpell & Treasure, 2002). Das Resultat dieser Ambivalenz aus negativen und positiven Aspekten der Essstörung ist eine zumeist niedrig ausgeprägte Änderungsmotivation bezüglich der Essstörungssymptomatik bei AN und BN (Blake et al., 1997; Casasnovas et al., 2007; Geller, Zaitsoff & Srikameswaran, 2005), wobei Betroffene einer AN sogar noch eine geringere Änderungsmotivation aufweisen als solche mit BN. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine gering ausgeprägte Veränderungsmotivation bei Patientinnen mit Essstörungen mit weniger erfolgreichen Therapien (Bewell & Carter, 2008; Geller, Cassin, Brown & Srikameswaran, 2009; Gusella, Bird & Butler, 2003a; Treasure et al., 1999; Wolk & Devlin, 2001) sowie häufigeren Abbrüchen der Behandlung einhergeht (Geller, Cockell & Drab, 2001a; Halmi et al., 2002). 4.1. Das transtheoretische Modell der Veränderung Ein in der klinisch-psychologischen Forschung bekanntes Modell bezüglich der Motivation, ein problematisches Verhalten zu ändern, stellt das transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (TTM) dar (z. B. Prochaska & DiClemente, 1982; 12
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Prochaska, Velicer, Wayne, DiClemente & Fava, 1988; Prochaska et al., 1992). Dieses Modell wurde ursprünglich für den Suchtbereich konzipiert (z. B. DiClemente & Prochaska, 1985; Prochaska, Redding & Evers, 2002; Rollnick, Heather, Gold & Hall, 1992) und durch Befragungen ehemaliger Raucher, welche das Rauchen erfolgreich aufgegeben haben, abgeleitet. Das TTM bietet eine generelle Erklärung für Verhaltensänderungen und die damit einhergehenden motivationalen Zustände von Menschen, wie sie idealtypisch aufeinander folgen. Dafür werden von den Autoren des TTM sechs verschiedene, aufeinander folgende Stufen („Stages“) oder Phasen der Bereitschaft zur Veränderung definiert, welche durch unterschiedliches Involviertsein in den therapeutischen Prozess gekennzeichnet sind (z. B. Prochaska & Velicier, 1997). Das „eingeschränkte Problembewusstsein“ („Precontemplation“) als erste Stufe beschreibt einen Zustand, in welchem das Individuum sich des Problems nicht bewusst ist oder nicht gewillt ist, etwas zu verändern. In der darauf folgenden Phase der „Nachdenklichkeit“ („Contemplation“) denkt die Person ernsthaft über eine Veränderung nach, steigt aber noch nicht aktiv in den tatsächlichen Änderungsprozess ein. In der dritten Phase, der Phase der „Vorbereitung“ („Preparation“), entscheidet sich der Betroffene für eine Veränderung und trifft die dafür zu Beginn notwendigen Maßnahmen, während in der vierten Phase, der „Handlungs“-Phase („Action“), aktiv an der Verhaltensmodifizierung gearbeitet wird. In der Phase der „Aufrechterhaltung“ („Maintenance“) werden darauf erzielte Erfolge stabilisiert und es wird einem Rückfall vorgebeugt, während das ursprüngliche Problemverhalten in der letzten Phase, der des „Abschlusses“ („Termination“), als nicht mehr existent betrachtet wird (Prochaska & DiClemente, 1992; Prochaska et al., 1994). Typischerweise ergeben sich mehrere Rückfalle von späteren auf frühere Stufen während des Voranschreitens durch die Phasen der Veränderung, bevor eine stabile „Aufrechterhaltung“ oder ein endgültiger „Abschluss“ erreicht wird (Prochaska et al., 1992). Das TTM beinhaltet überdies hinaus theoretische Annahmen darüber, wie Entscheidungen getroffen werden (Janis & Mann, 1977). Dieser Prozess wird als notwendig für ein Voranschreiten durch die Phasen erachtet und hängt nach den Autoren von dem Verhältnis der wahrgenommenen Pros und Contras der jeweiligen Veränderung ab. Das Treffen von Entscheidungen in Abhängigkeit von den Pro- und 13
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Contra-Argumenten eines Verhaltens bzw. einer Verhaltensänderung wird auch als „Decisional Balance“ bezeichnet (Prochaska & Velicer, 1997). Trotz seines heuristischen Wertes wurde das TTM gleichzeitig immer wieder kritisiert (Treasure & Schmidt, 2001; Waller, 2012; Wilson & Schlam, 2004). Als problematisch wurde u. a. die kategoriale Konzeption der verschiedenen Stufen angemerkt, da die unterschiedlichen Ausprägungen der Veränderungsmotivation möglicherweise eher als Kontinuum abgebildet werden können (Wilson & Schlam, 2004). So kann sich eine Person laut empirischer Befunde gleichzeitig in mehreren der unterschiedlichen Phasen befinden, was die Einteilung in Kategorien überflüssig mache (Littell & Girvin, 2002). Zusätzlich wird dadurch die Zuordnung zu einer einzelnen Phase unmöglich, was wiederum den gezielten Einsatz von phasenspezifischen Interventionen erschwere (Sullivan & Terris, 2001). Gleichzeitig besagt jedoch die „Matching Hypothesis“, eine Implikation des TTM, dass die therapeutische Behandlung auf die jeweilige Stufe der Veränderung des Patienten zugeschnitten sein sollte (Prochaska et al., 2002). Trotz aller Kritik findet das Modell seinen Einsatz in Forschung und Praxis. So konnte die Gültigkeit der in ihm formulierten Stufen der Veränderung in vielen empirischen Studien belegt werden und es ließ sich bei der Behandlung zahlreicher Problemverhaltensweisen bestätigen (Norcross, Krebs & Prochaska, 2011). Zusätzlich bietet das TTM einen theoretischen Rahmen für die Konzeption diverser Messinstrumente zur Erfassung der Veränderungsmotivation (siehe Abschnitt 4.3). 4.2. Übertragung des transtheoretischen Modells auf Anorexia und Bulimia nervosa Auch im Bereich der Essstörungen ist das TTM für Forschungszwecke herangezogen worden (z. B. Geller, Brown, Srikameswaran, Piper & Dunn, 2013; Hasler, Delsignore, Milos, Buddeberg & Schnyder, 2004; Wade, Frayne, Edwards, Robertson & Gilchrist, 2009) und seine Gültigkeit konnte größtenteils belegt werden (Dray & Wade, 2012). So ließ sich, wie auch im Kontext verschiedener anderer Störungsbereiche (Norcross et al., 2011), in vielen Studien nachweisen, dass die Stufe der Veränderung, in der sich ein Individuum vor oder zu Beginn der Behandlung befindet, mit unterschiedlichen Maßen des Behandlungserfolges bei AN und BN im Zusammenhang steht. Eine höhere Stufe 14
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa der Veränderung zeigte sich dementsprechend als assoziiert mit einer deutlicheren Symptomreduktion (Castro-Fornieles et al., 2011; Franko, 1997; Geller et al., 2009; Treasure et al., 1999; Wolk & Devlin, 2001), beispielsweise bezüglich der Häufigkeit von Essanfällen. Überdies erwiesen sich höhere Stufen des TTM als prädiktiv für eine Verbesserung des pathologischen Essverhaltens (Castro-Fornieles et al., 2011; Rodriguez-Cano & Beato-Fernandez, 2005; Wade et al., 2009), z. B. erkennbar an einer Gewichtszunahme. Andere Untersuchungen hingegen zeigten, dass eine niedrigere Stufe der Veränderung bzw. eine geringer ausgeprägte Veränderungsmotivation einen Prädiktor für Rückfälle darstellt (Ametller, Castro, Serrano, Martínez & Toro, 2005; Halmi et al., 2002; Richard, Bauer & Kordy, 2005). Derartige Befunde wurden nicht nur im Erwachsenen-, sondern auch im Jugendbereich dokumentiert (Castro-Fornieles et al., 2011; Gusella et al., 2003a). Des Weiteren hat sich eine höhere Stufe zu Beginn der Behandlung bei Essstörungen auch als zusammenhängend mit einer besseren therapeutischen Beziehung (Treasure et al., 1999) sowie der Initiierung und Weiterführung einer Psychotherapie gezeigt (Hasler et al., 2004). 4.3. Das transtheoretische Modell als theoretischer Rahmen zur Messung der Änderungsmotivation Da das TTM zunehmend in Forschung und Praxis zum Einsatz kommt, haben auch diverse Messinstrumente zur Erfassung der Veränderungsmotivation für unterschiedliche Störungsbereiche ihren theoretischen Ursprung in dem Modell. Eines dieser Messinstrumente ist der Fragebogen „University of Rhode Island Change Assessment“ (URICA; McConnaughy, Prochaska & Velicer, 1983; McConnaughy, DiClemente, Prochaska & Velicer, 1989), welcher neben der Untersuchung diverser Problemverhaltensweisen bereits mehrfach seinen Einsatz im Bereich der Essstörungen fand (z. B. Franko, 1997; Hasler et al., 2004; Treasure et al., 1999). Die URICA nimmt eine allgemeine oder globale Messung der Motivation vor, da einem Individuum eine Phase der Veränderung nach dem TTM, in welcher es sich befindet, zugeordnet wird. Dieser globalen Erfassung der Veränderungsmotivation steht die symptomspezifische Messung gegenüber, bei welcher jedem einzelnen Symptombereich eines Störungsbildes oder eines Problemverhaltens eine Phase der Veränderung zugeordnet wird. 15
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Mittlerweile wurden abgesehen von der störungsunspezifischen URICA viele Messinstrumente entwickelt, die der konkreten Erfassung der Änderungsmotivation für Essstörungen dienen (z. B. Geller et al., 2001a; Rieger et al., 2002). Diese stellen vermutlich eine validere Erfassung des Konstrukts dar als es die URICA vermag. Jedoch existiert bisher kein systematischer Überblick über solche essstörungspezifischen Instrumente, der eine Entscheidungshilfe für die Wahl von Messinstrumenten bezüglich unterschiedlicher Forschungsfragen bietet. Eine Zusammenfassung und kritische Würdigung der Vor- und Nachteile solcher Verfahren könnte die Auswahl erleichtern und auf methodische Besonderheiten hinweisen. Dies könnte insbesondere aktuell von Bedeutung sein, da in den letzten Jahren ein gesteigertes Forschungsinteresse im Bereich der Änderungsmotivation bei Essstörungen zu verzeichnen ist. So beschäftigt sich z. B. ein Forschungsstrang mit der Entwicklung bzw. Evaluation von Interventionen, welche zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Essstörungen eingesetzt werden. 16
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa 5. Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Aufgrund der großen Bedeutsamkeit einer hohen Änderungsmotivation für den Therapieerfolg weisen viele Autoren auf die Entwicklung und den Einsatz von Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation hin (Geller & Dunn, 2011; Geller, Williams & Srikameswaran, 2001b; Tantillo, Nappa Bitter & Adams, 2001). In diesem Zusammenhang hat sich im Bereich der Essstörungen sowie in anderen Störungsbereichen auch das MI (Miller & Rollnick, 2002) und Abwandlungen dessen als ein gängiges und häufig eingesetztes Verfahren etabliert (z. B. Cassin, von Ranson, Heng, Brar & Wojtowicz, 2008). 5.1. Motivational Interviewing Das ursprünglich für den Suchtbereich entwickelte MI ist eine klientenzentrierte, semi- direktive Methode zur Erhöhung der intrinsischen Änderungsmotivation (Miller & Rollnick, 2002). Die Änderungsmotivation soll dabei durch das Erkunden und Auflösen der Ambivalenz bezüglich der Veränderung gesteigert werden. Die grundsätzliche Annahme, dass auf Patientenseite eine Ambivalanz bezüglich der Probleme vorliegt, sowie die Akzeptanz der Autonomie des Patienten bezüglich seiner Ziele und Entscheidungen sind dabei wesentliche Annahmen des Menschenbildes bzw. der Einstellung des Therapeuten (Körkel & Veltrup, 2003). Mittlerweile existieren mehrere Abwandlungen des MI wie z. B. die Motivational Enhancement Therapy (MET; z. B. Dean, Touyz, Rieger & Thornton, 2008), welche sich aber eher in ihrer zeitlichen Gestaltung als in der generellen Methodik vom „klassischen“ MI unterscheiden. Für Abhängigkeitserkrankungen konnte in Meta-Analysen die Wirksamkeit des MI gut belegt werden (Hettema, Steele & Miller, 2005; Rubak, Sandbæk, Lauritzen & Christensen, 2005; Vasilaki, Hosier & Cox, 2006). Für den Bereich der Essstörungen hingegen liefert die empirische Befundlage zwar ebenfalls teils vielversprechende, aber insgesamt gemischte Ergebnisse bezüglich der Effektivität des Einsatzes von MI sowie MET (Knowles, Anokhina & Serpell, 2013; Macdonald, Hibbs, Corfield & Treasure, 2012). So konnte beispielsweise in zwei unkontrollierten Studien (Feld, Woodside, Kaplan, Olmsted & Carter, 2001; Gowers & Smyth, 2004) durch eine Intervention bestehend aus vier Gruppen- bzw. einer Einzelsitzung eine gesteigerte 17
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa Änderungsmotivation der Patienten sowie mehr Problemeinsicht bzw. eine niedrigere Rate von Therapieabbrüchen verzeichnet werden. Da in diesen beiden Studien jedoch auf kein randomisiert-kontrolliertes Versuchsdesign zurückgegriffen wurde, bleibt unklar, inwiefern sich die Ergebnisse tatsächlich auf die eingesetzten Interventionen zurückführen lassen. In den eher wenig existierenden randomisiert-kontrollierten Studien konnten teils ebenfalls empirische Belege für die Wirksamkeit von MI und MET im Essstörungsbereich gefunden werden. So zeigten Allen et al. (2012), dass vier Sitzungen einer MI-Intervention zu einer Steigerung der Änderungsmotivation in der Experimentalgruppe führten, während sich dieser Anstieg nicht in der Warte- Kontrollgruppe verzeichnen ließ. In einer weiteren Studie (Dunn, Neighbors & Larimer, 2006) wurde Personen mit einer voll- oder teilausgeprägten BN oder Binge Eating Störung die Teilnahme an einem Selbsthilfeprogramm angeboten, bei dem für die Hälfte der Teilnehmerinnen eine Sitzung zur Steigerung der Änderungsmotivation vorgeschaltet war. Nur diejenigen Personen in der MI-Bedingung zeigten nachher eine erhöhte Bereitschaft zur Aufgabe der Essanfälle. Andere randomisiert-kontrollierte Studien hingegen konnten keine signifikante Besserung der Experimentalgruppe verzeichnen, da sich Kontroll- und Experimentalgruppe gleichermaßen verbesserten. So verglichen Treasure et al. (1999) eine MI-Intervention bestehend aus vier Einzelsitzungen mit einer ebenso langen kognitiven Verhaltenstherapie als Kontrollbedingung im Vorfeld einer weiteren Behandlung bei Frauen mit BN. Hier ergaben sich keine Unterschiede zwischen beiden Bedingungen bezüglich der Änderungsmotivation. In einer nicht randomisierten aber kontrollierten Studie stellten Dean et al. (2008) vier Sitzungen einer zusätzlichen MET- Gruppenbehandlung der ausschließlichen Routine-Versorgung in einer stationären Einrichtung gegenüber. Auch hier konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen gefunden werden. In einer späteren, wiederum randomisiert-kontrollierten Untersuchung von Katzman et al. (2010) konnten ebenfalls keine Gruppenunterschiede nachgewiesen werden, da sich in der MET-Bedingung und der Kontrollgruppe, welche eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention erhielt, nach vier Sitzungen gleichermaßen Verbesserungen abzeichneten. Von einer Steigerung der Änderungsmotivation für sowohl Warte-Kontroll- als auch Experimentalbedingung, 18
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa obwohl nur die Experimentalgruppe eine aus fünf Sitzungen bestehende, motivationssteigernde Intervention erhielt, berichteten auch Geller, Brown und Srikameswaran (2011). In diesem Zusammenhang ist allerdings anzumerken, dass einige dieser nicht gefundenen signifikanten Unterschiede möglicherweise auf methodische Probleme zurückzuführen sind (Dray & Wade, 2012). So waren in einer Studie (Treasure et al., 1999) beispielsweise deutlich mehr Probanden (18,4%) der kognitiv- verhaltenstherapeutischen Kontrollbedingung bereits in der „Action“-Phase und somit von Beginn an motivierter, während dies nur wenige (2,3%) der MET-Experimental- Bedingung betraf. Zusätzlich bestand die Erfassung der Änderungsmotivation bei vielen dieser Studien in einer globalen (im Gegensatz zu einer symptomspezifischen) und zusätzlich essstörungsunspezifischen Messung, teilweise mittels der URICA. Durch den Einsatz solcher Messinstrumente könnte einerseits die störungsspezifische Problematik nicht valide erfasst worden und andererseits könnten Veränderungen in einzelnen Symptom-Domänen unentdeckt geblieben sein. Die weitere Erforschung MI-basierter Ansätze mit einer adäquateren Methodik mag diesbezüglich Aufschluss geben. 5.2. Die Berücksichtigung von Lebenszielen Das MI bedient sich u. a. verschiedener Techniken, die an persönliche Lebensziele anknüpfen (Körkel & Veltrup, 2003). So sollen Diskrepanzen zwischen dem jetzigen Verhalten des Patienten und seinen langfristigen Zielen sowie Werten entwickelt werden, um eine Steigerung der Änderungsmotivation zu erzielen (Miller & Rollnick, 2002). Eine solch konkrete Arbeit mit Lebenszielen ist möglich, da sie Bestandteil des expliziten Motivsystems sind (McClelland, 1985) und deshalb im Gegensatz zu impliziten Motiven dem Bewusstsein unmittelbar zugänglich und verbal repräsentiert sind. Sie stellen kognitive Repräsentationen von Aspekten dar, die eine Person in ihrem Leben erreichen oder vermeiden möchte (Brunstein, Schultheiß & Grässmann, 1998) und machen demnach das menschliche Verhalten kausal nachvollziehbar (Moskowitz & Grant, 2009). Die Berücksichtigung von expliziten Zielen wie Therapie- oder Lebenszielen wird auch im verhaltenstherapeutischen Kontext für wichtig erachtet (Grosse-Holtforth & Grawe, 2004). Persönlichen Zielen kommt demnach eine entscheidende 19
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa motivationale Rolle zu, beispielsweise was deren Konflikte untereinander innerhalb einer Person betrifft. So können unterschiedliche Ziele eines Individuums einerseits füreinander förderlich sein und sich gegenseitig positiv beeinflussen, sie können sich aber andererseits auch gegenseitig behindern und Zielerreichungen erschweren (Michalak & Schulte, 2002). Diesbezüglich ließ sich für unterschiedliche Patientengruppen belegen, dass eine geringe Anzahl an Zielkonflikten auf expliziter Ebene bzw. eine bessere Integration der Ziele untereinander mit einer höheren Therapiemotivation im Zusammenhang steht (Heidenreich, 2000; Michalak & Schulte, 2002). Andererseits zeigte sich der gegenteilige Effekt bei ausgesprägten Zielkonflikten (Emmons & Kings, 1988; Hoyer, 1992). Stark ausgesprägte Zielkonflikte lassen sich zudem als mit negativem Affekt, Depression, Neurotizismus und psychosomatischen Beschwerden im Zusammenhang stehend kennzeichnen (Emmons & King, 1988). In der klinisch-psychologischen Forschung beschäftigt sich die „Konsistenztheorie“ von Grawe (1998, 2004) mit dem Einfluss des expliziten Zielsystems auf das menschliche Wohlbefinden. Der Theorie zufolge wird zwischen einerseits Annäherungszielen wie Intimität bzw. Bindung, Status sowie Leistung und andererseits Vermeidungszielen wie Alleinsein bzw. Trennung, Geringschätzung sowie Versagen unterschieden. Bei der Entwicklung von Psychopathologie bzw. Unwohlsein wird in diesem Zusammenhang insbesondere deutlich ausgeprägten Vermeidungszielen eine wichtige Rolle zugeschrieben. Diese Annahme ließ sich insofern in Studien bestätigen, als sich in Psychotherapie befindende Personen stärker ausgeprägte Vermeidungsziele aufweisen als gesunde Kontrollprobanden (Grosse Holtforth & Grawe, 2000; 2002). Das Vorhandensein ausgeprägter Annäherungsziele stellt somit das menschliche Wohlbefinden betreffend eine funktionalere Zielstruktur dar. Bei einer unzureichenden Umsetzung motivationaler Ziele spricht Grawe (1998, 2004) von „Inkongruenz“, was die misslungene Realisierung von Annäherungs- und Vermeidungszielen meint. Da insbesondere Betroffene von Essstörungen für eine niedrige Änderungsmotivation bzw. ausgeprägte Ambivalenzen bezüglich der Aufgabe ihrer Symptomatik bekannt sind (Casasnovas et al., 2007; Serpell & Treasure, 2002; siehe Abschnitt 4) und persönlichen Zielen eine entscheidende Rolle bezüglich der Therapiemotivation sowie der Entwicklung von Psychopathologie zukommt, könnten 20
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa für diese Patientengruppe Besonderheiten für ihre persönlichen Lebenszielen angenommen werden. Bisher existieren jedoch keine Studien zur Rolle expliziter Ziele bei AN und BN. Insofern liegen auch keine Forschungsergebnisse darüber vor, ob Betroffene einer Essstörung möglicherweise andere Lebensziele verfolgen als gesunde Personen. Dies ist jedoch gerade im Kontext der Essstörungen relevant, da die physischen Folgeerscheinungen von AN und BN bekannter Maßen nur bedingt reversibel sind und somit langfristig zu massiven Einschränkungen der Lebensgestaltung führen können (Herpertz, 1997). Dementsprechend sind manche essstörungssymptomatologische Verhaltensweisen oder Konsequenzen derer unvereinbar mit dem Erreichen bestimmter Lebensziele, welche von den meisten Menschen verfolgt werden, wie z. B. die Gründung einer Familie (Cox & Klinger, 2002). Empirische Befunde zur Rolle von Lebenszielen bei von Essstörungen Betroffenen wären von großer Bedeutung, um Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation weiterzuentwickeln. 21
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