Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

 
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Steigerung der Änderungsmotivation bei
     Anorexia und Bulimia nervosa

           Kumulative Dissertation
  zur Erlangung des Grades eines Doktors der
             Naturwissenschaften

    des Fachbereichs Humanwissenschaften

                     der

                vorgelegt von:

          Dipl.-Psych. Katrin Hötzel
                 aus Bochum

              Osnabrück, 2014
Danksagung

Herzlich bedanken möchte ich mich bei allen, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit
auf unterschiedliche Art und Weise unterstützt haben. Mein Dank gilt insbesondere
meiner weltbesten Betreuerin Prof. Dr. Silja Vocks sowie meiner lieben Kollegin und
Freundin Ruth von Brachel. Außerdem möchte ich mich herzlich bei den weiteren Co-
Autoren meiner publizierten Artikel bedanken. Mein Dank gilt auch meiner Familie
(meinen Eltern Gotthold und Brigitte Hötzel sowie meiner Schwester Verena Hötzel)
und meinem Freund Quirin Thadeusz für all die Unterstützung, die nicht direkt etwas
mit der wissenschaftlichen Arbeit zu tun hatte. Last but not least auch ein großes
Dankeschön an all die Frauen, die am „ESS-KIMO“-Programm teilgenommen haben.

                                          ii
Hinweise zur Veröffentlichung der Dissertation

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine kumulative Dissertation gemäß §10
Absatz (3) der aktuellen Promotionsordnung des Faches Psychologie (geändert
veröffentlicht am 27.10.2009). Die drei Artikel „Explizite Lebensziele von Patientinnen
mit Anorexia und Bulimia nervosa“, „Assessing motivation to change in eating
disorders: A systematic review“ und „An internet-based program to enhance motivation
to change in females with symptoms of an eating disorder: A randomized-controlled
trial“ wurden alle in wissenschaftlichen Zeitschriften mit „peer review“-Verfahren
veröffentlicht.

Zeitschriftenbeiträge:

Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörries, A., von Brachel, R., Braks, K., Huber, T.
       J. & Vocks, S. (2012). Explizite Lebensziele von Patientinnen mit Anorexia und
       Bulimia nervosa. Verhaltenstherapie, 22, 173-180.

Hötzel, K., von Brachel, R., Schloßmacher, L. & Vocks, S. (2013). Assessing
       motivation to change in eating disorders: A systematic review. Journal of Eating
       Disorders, 1, 1-9.

Hötzel, K., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, E., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte,
       D. & Vocks, S. (2013). An internet-based program to enhance motivation to
       change in females with symptoms of an eating disorder: A randomized-
       controlled trial. Psychological Medicine, 16, 1-17.

Teilergebnisse dieser Arbeit wurden in folgenden Kongressbeiträgen präsentiert:

Hötzel, K., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte,
       D. & Vocks, S. (2013, September). An internet-based program to enhance
       motivation to change in females with symptoms of an eating disorder: A
       randomized-controlled trial (Vortrag). 43rd Annual Congress European
       Association for Behavioural and Cognitive Therapies (EABCT), Marrakech,
       Morocco.

                                            iii
Vocks, S., von Brachel, R., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte,
       D. & Hötzel, K. (2013, Mai). Wirksamkeit eines Internetprogramms zur
       Steigerung der Änderungsmotivation bei Essstörungen (ESS-KIMO): Eine
       randomisiert-kontrollierte Studie (Vortrag). 31. Symposium der Fachgruppe
       Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für
       Psychologie (DGPs), Trier, Deutschland.

von Brachel, R., Hötzel, K., Schmidt, U., Rieger, L., Kosfelder, J., Hechler, T., Schulte,
       D. & Vocks, S. (2012, März). ESS-KIMO – Ein Online-Programm für Frauen
       mit Essstörungen. Erste Ergebnisse der randomisiert-kontrollierten Studie
       (Vortrag). 27. DGVT-Kongress für Klinische Psychologie, Psychotherapie und
       Beratung, Berlin, Deutschland.

Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörris, A., Braks, C., Huber, T., von Brachel, R.
       & Vocks, S. (2011, September). Explicit goals of patients with anorexia and
       bulimia nervosa (Poster). 41st Annual Congress of the European Association of
       Cognitive and Behavioural Therapies (EABCT), Reykjavik, Iceland.

Hötzel, K., Michalak, J., Striegler, K., Dörris, A., Braks, C., Huber, T., von Brachel, R.
       & Vocks, S. (2011, Juni). Explizite Lebensziele bei Patientinnen mit Anorexia
       und Bulimia nervosa (Poster). 7. Workshop Kongress der Fachgruppe Klinische
       Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
       (DGPs), Berlin, Deutschland.

von Brachel, R., Hötzel, K., Hechler, T., Schulte, D., Schmidt, U., Rieger, E.,
       Kosfelder, J. & Vocks, S. (2009, Mai). Internetbasierte Interventionen zur
       Erhöhung der Psychotherapiemotivation bei Essstörungen (Poster). 6. Workshop
       Kongress für Klinische Psychologie und Psychotherapie und 27. Symposium der
       Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen
       Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Zürich, Schweiz.

                                            iv
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1.    Zusammenfassung .............................................................................................. 1
      1.1. Abstract ..................................................................................................... 2
2.    Einleitung ............................................................................................................ 5
3.    Anorexia und Bulimia nervosa .......................................................................... 7
      3.1. Erscheinungsbild, Klassifikation und Epidemiologie ............................... 7
      3.2. Behandungserfolg und Prognose ............................................................. 10
4.    Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa ...................... 12
      4.1. Das transtheoretische Modell der Veränderung ...................................... 12
      4.2. Übertragung des transtheoretischen Modells auf Anorexia und
           Bulimia nervosa ....................................................................................... 14
      4.3. Das transtheoretische Modell als theoretischer Rahmen zur Messung
           der Änderungsmotivation ........................................................................ 15
5.    Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und
      Bulimia nervosa ................................................................................................ 17
      5.1. Motivational Interviewing ....................................................................... 17
      5.2. Die Berücksichtigung von Lebenszielen ................................................. 19
6.    Das Internet als Versorgungsansatz ............................................................... 22
      6.1. Internetbasierte Behandlungsansätze bei Essstörungen .......................... 23
7.    Fragestellung ..................................................................................................... 25
8.    Publikationen .................................................................................................... 26
      8.1. Artikel 1 ................................................................................................... 26
      8.2. Artikel 2 ................................................................................................... 28
      8.3. Artikel 3 ................................................................................................... 29
9.    Zusammenfassung, Diskussion, Ausblick und Schlusswort ......................... 30
      9.1. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ................................... 30
      9.2. Diskussion der Ergebnisse und Ausblick ................................................ 33
      9.3. Schlusswort ............................................................................................. 42
10. Literaturverzeichnis ......................................................................................... 43
11. Anhang............................................................................................................... 64
    11.1. Persönliche Daten .................................................................................... 64
    11.2. Vita .......................................................................................................... 64
    11.3. Liste der Veröffentlichungen................................................................... 66
    11.4. Erklärung über die Eigenständigkeit der erbrachten
          wissenschaftlichen Leistung .................................................................... 70

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Zusammenfassung

1.       Zusammenfassung
Eine     hohe     Änderungsmotivation    nach    dem   transtheoretischen   Modell   der
Verhaltensänderung hat sich bei Essstörungen in vielen Studien als mit einem
wünschenswerten Therapieausgang im Zusammenhang stehend gezeigt. Gleichzeitig
weisen insbesondere Betroffene mit einer Anorexia oder Bulimia nervosa eine geringe
Änderungsmotivation auf. Für den Essstörungsbereich entwickelte Interventionen zur
Steigerung der Änderungsmotivation sind überwiegend im Motivational Interviewing
verankert, worin u. a. der Arbeit mit Lebenszielen von Patienten eine wichtige
Bedeutung zugeschrieben wird. Die Rolle solcher expliziter Ziele ist jedoch bisher für
Anorexia und Bulimia nervosa nicht untersucht worden. Dennoch sind die
Forschungsergebnisse zum Motivational Interviewing bei Essstörungen überwiegend
vielversprechend und in den Studien, in denen lediglich vergleichbare Verbesserungen
in Kontroll- sowie Interventionsgruppe zu verzeichnen waren, könnten potentielle
Unterschiede möglicherweise aufgrund des Einsatzes inadäquater Messinstrumente
unentdeckt geblieben sein. Zur gezielten Auswahl eines geeigneten Messinstruments
wäre deshalb ein systematischer Überblick über Verfahren zur Erfassung der
Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa hilfreich, den die Literatur
bisher jedoch nicht bietet. Studien bezüglich Interventionen zur Steigerung der
Änderungsmotivation bei Essstörungen wurden außerdem bisher ausschließlich im
„face-to-face“-Setting durchgeführt und evaluiert, obwohl das Internet aufgrund seiner
Niederschwelligkeit besonders geeignet für einen ersten Zugang zu Hilfsangeboten für
von Anorexia und Bulimia nervosa Betroffene zu sein scheint.
         Nachdem zunächst die Rolle expliziter Ziele bei Anorexia und Bulimia nervosa
untersucht sowie ein systematischer Überblick über Messinstrumente zur Erfassung der
Änderungsmotivation bei Essstörungen erstellt wurde, lag das primäre Ziel dieser
Arbeit       in   der   Evaluation   eines   Online-Programms    zur    Steigerung   der
Änderungsmotivation bei Frauen mit Symptomen einer Anorexia und Bulimia nervosa.
Dieses am transtheoretischen Modell orientierte und sich der Prinzipien des
Motivational Interviewing bedienende Programm wurde in einem randomisiert-
kontrollierten Versuchsdesign mit Warte-Kontrollgruppe im Prä-Post-Vergleich
evaluiert.

                                             1
Zusammenfassung

       Es stellte sich heraus, dass Frauen mit Anorexia und Bulimia nervosa im
Wesentlichen die gleichen Ziele verfolgen wie gesunde Kontrollprobandinnen, wobei
sie ihre Ziele untereinander förderlicher wahrnehmen als gesunde Frauen, ihnen die
Realisierung der Ziele aber schlechter gelingt. Die im Motivational Interviewing
vorgeschlagene Arbeit mit Zielen scheint somit im Bereich der Essstörungen sinnvoll
und wurde auch in dem hier evaluierten Online-Programm berücksichtigt, wobei den
Ergebnissen   entsprechend    dabei   nicht   auf   essstörungsspezifische   Zielinhalte
eingegangen wurde. Für die systematische Überblicksarbeit ließen sich ausschließlich
auf dem transtheoretischen Modell basierende Verfahren zusammentragen. Da sich eine
symptomspezifische Erfassung der Änderungsmotivation einer globalen Messung
gegenüber als überlegen herausstellte, wurde ein symptomspezifisches Maß in Form
eines Fragebogens zur Erfassung der primären Outcome-Variablen für die Evaluation
des Online-Programms gewählt. Im Prä-Post-Vergleich der web-basierten Intervention
ließen sich ein signifikanter Anstieg der Änderungsmotivation in mehreren
Symptombereichen sowie Verbesserungen in einigen weiteren klinischen Maßen in der
Experimentalgruppe nachweisen, jedoch nicht in der Kontrollgruppe. Es wurde eine
Dropout-Rate von 41% verzeichnet.
       Das Internet ist ein geeignetes Medium für den Einsatz von Interventionen zur
Steigerung der Änderungsmotivation bei Frauen mit Symptomen einer Anorexia oder
Bulimia nervosa. Bei Online-Programmen für Essstörungen stellt die Reduktion hoher
Dropout-Raten eine Herausforderung für zukünftige Forschungsarbeiten dar. Bezüglich
der Erfassung der Änderungsmotivation wären vom transtheoretischen Modell
unabhängige Verfahren wünschenswert, die einen möglicherweise von der kategorialen
Konzeption abweichenden Ansatz bieten. Bei der weiteren Erforschung von
Lebenszielen bei Frauen mit Anorexia und Bulimia nervosa sollte zusätzlich der
Einfluss impliziter Motive berücksichtigt werden.

1.1.   Abstract
A high motivation to change, as defined in the transtheoretical model of change, has
been shown to be associated with a more desirable treatment outcome in several studies.
However, especially individuals affected by anorexia and bulimia nervosa show a low
motivation to change. Interventions that aim to enhance motivation to change in eating

                                          2
Zusammenfassung

disorders are mostly based on the motivational interviewing approach, in which the
work on explicit life-goals is thought to have a major impact. However, so far no studies
on life-goals concerning anorexia and bulimia nervosa have been conducted.
Nevertheless, to sum up, research on motivational interviewing with regard to eating
disorders is promising. In studies showing improvements in both intervention and
control groups, potential differences might have remained undetected due to
inappropriate assessment tools. In order to choose appropriate assessment measures, it
would be beneficial to systematically review the measures assessing motivation to
change in anorexia and bulimia nervosa, which have not been documented in scientific
literature yet. So far, interventions to enhance motivation to change have only been
evaluated in face-to-face settings. However, the Internet could be a more suitable
medium for delivering such interventions, as its low threshold might ease access for
individuals affected by anorexia and bulimia nervosa.
       Following a study on the role of explicit goals in anorexia and bulimia nervosa
and a systematic review on instruments assessing motivation to change in eating
disorders, the primary aim of the current work was the evaluation of an online program
to increase motivation to change in females with symptoms of anorexia and bulimia
nervosa. The program, which was designed on the basis of the transtheoretical model
and used the principals of the motivational interviewing approach, was evaluated in a
randomised-controlled design with a wait-control condition by pre-post-comparison.
       Results showed that women with anorexia and bulimia nervosa pursued explicit
goals essentially identical to those of healthy participants, even though they attributed a
higher instrumentality to their goals than healthy females while displaying distinct
deficits concerning the realization of explicit goals. Thus, the motivational interviewing
approach and the associated work with life-goals seem to be helpful and were therefore
applied in the online program, while – with respect to the results – no attention was paid
to specific content of goals. Considering the systematic review, only assessment tools
based on the transtheoretical model were found and a symptom-specific assessment of
motivation to change has been shown to be superior to a global one. Accordingly, a
symptom-specific measure in the form of a questionnaire was chosen to assess the
primary outcome variable in the online program. A significant improvement in
motivation to change several symptom domains as well as in some further clinical

                                            3
Zusammenfassung

variables could be shown in the pre-post-comparison for the intervention, but not for the
control group. The dropout rate was 41%.
       The Internet is a suitable medium for interventions that aim at enhancing the
motivation to change in women with symptoms of anorexia and bulimia nervosa. High
dropout rates are a major problem concerning online approaches for eating disorders.
Future research might help to reduce this problem. Concerning the assessment of
motivation to change, such tools which are independent from the transtheoretical model
and offer a non-categorial approach are in demand. For future research on life-goals in
women with anorexia and bulimia nervosa, implicit motives should also be considered.

                                           4
Einleitung

2.     Einleitung
Der Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und der Motivation, sich bzw. ein
Problemverhalten zu verändern, hat in den vergangenen Jahren ein deutlich wachsendes
Interesse erlangt. Veränderungsmotivation lässt sich als „the probability that a person
will enter into, continue and adhere a specific change strategy“ (Miller & Rollnick,
1991, p. 19) definieren, also die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person Strategien zur
Veränderung einsetzen wird. Verschiedene Studien haben die Veränderungsmotivation
bei Personen mit unterschiedlichen psychischen Störungsbildern oder problematischen
Verhaltensweisen untersucht und belegen ihre Bedeutung für Verhaltensweisen wie
Rauchen (Prochaska, DiClemente & Norcross, 1992), problematischen Alkoholkonsum
(Figlie, Dunn & Laranjeira, 2005; Shields & Hufford, 2005), Kokainabhängigkeit
(Levin et al., 2006; Rohsenow et al., 2004), Zwangsstörungen (Dalle Grave et al., 2005;
Doyle, Siegel & Supe, 2006) oder Angststörungen (Nickel et al., 2005; Westra, 2004).
Auch im Bereich der Essstörungen ist ein gesteigertes Interesse an der mit der Aufgabe
der Störung zusammenhängenden Änderungsmotivation zu verzeichnen (Vansteenkiste,
Soenens & Vandereycken, 2005; Waller, 2012).
       Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, unterschiedliche Teilaspekte im
Zusammenhang mit der Änderungsmotivation bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia
nervosa (BN) aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu beleuchten bzw. zu
evaluieren. Nach einer Untersuchung zur Rolle persönlicher Lebensziele bei
Essstörungen sowie einem Überblick über Messmethoden zur Erfassung der
Änderungsmotivation für diesen Störungsbereich soll untersucht werden, inwieweit eine
Steigerung der Änderungsmotivation durch ein internetbasiertes Programm erreicht
werden kann. Derartige Studien können Aufschluss darüber geben, ob bestimmte
Lebensziele in der Behandlung von AN und BN spezieller Aufmerksamkeit bedürfen,
welche Messinstrumente für welche Untersuchungen geeignet sind und ob der Einsatz
eines Online-Programms zur Steigerung der Veränderungsmotivation von Betroffenen
mit Symptomen einer Essstörung effektiv ist.
       Die   folgenden    Kapitel   geben       zunächst   einen   Überblick   über   das
Erscheinungsbild und die Häufigkeit von AN und BN sowie bezüglich der Effektivität
und Prognose der Essstörungsbehandlung. Nach einer Einführung in die Bedeutung der
Änderungsmotivation für den Bereich der Essstörungen wird das transtheoretische

                                            5
Einleitung

Modell der Verhaltensänderung (TTM; Prochaska & DiClemente, 1992) vorgestellt und
seine bisherige empirische Fundierung für den Essstörungsbereich erläutert. Im sich
daran angliedernden Abschnitt zu Ansätzen zur Steigerung der Änderungsmotivation
bei AN und BN wird das Motivational Interviewing (MI; Miller & Rollnick, 2002) als
mögliche Intervention vorgestellt sowie die damit im Zusammenhang stehende
Bedeutung    expliziter    Ziele   aufgegriffen.      Das    Internet   als   eine    mögliche
Darbietungsform solcher Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation wird
im darauf folgenden Kapitel beschrieben. Daran schließt sich die Ableitung der
Fragestellungen   an,     auf   welche   die       Darstellung   der    Studien   bzw.    eines
Übersichtsartikels folgt. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Zusammenfassung der
Ergebnisse aus den drei Einzelarbeiten sowie einer integrierenden Diskussion der
Untersuchungsbefunde, in welcher Implikationen abgeleitet werden und ein Ausblick
auf weitere Forschungsfragen gegeben wird.

                                               6
Anorexia und Bulimia nervosa

3.     Anorexia und Bulimia nervosa
In den heutigen westlichen Kulturen weisen insbesondere Frauen häufig zumindest
phasenweise im Laufe ihres Lebens Symptome eines gestörten Essverhaltens auf (van
Hoeken, Seidell & Hoek, 2003). Sie empfinden sich beispielsweise trotz eines gesunden
Normalgewichts als zu dick, verfolgen ein unrealistisches Schankheitsideal, haben
große Angst vor einer Gewichtszunahme, sind unzufrieden mit ihrem Körper, zählen
täglich Kalorien, halten Diäten oder vermeiden längerfristig bestimmte Lebensmittel
(Hoek & van Hoeken, 2003; Vocks & Legenbauer, 2010). Insbesondere Frauen in der
Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter sind für ein solches, subklinisch gestörtes
Essverhalten gefährdet (Hudson, Hiripi, Pope & Kessler, 2007). Treten solche
Auffälligkeiten gemeinsam mit grundsätzlichen Gegebenheiten wie einem niedrigen
Selbstwertgefühl auf, ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer klinisch
relevanten Essstörung wie einer AN oder BN erhöht (Jacobi, Hayward, de Zwaan,
Kraemer & Agras, 2004).

3.1.   Erscheinungsbild, Klassifikation und Epidemiologie
In der vorliegenden Dissertationsschrift sind unter dem Begriff „Essstörung“ die
Störungsbilder AN und BN sowie Essstörungen dieses Formenkreises zu verstehen.
Obwohl bezüglich derer Diagnosekriterien 2013 die fünfte Version des Diagnostischen
und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-5; American Psychiatric
Association, 2013) erschienen ist, wird im Folgenden auf die vorherige Version der
diagnostischen Kriterien (DSM-IV-TR; American Psychiatric Association, 2000)
zurückgegriffen. Dies ist so gewählt, da alle bishigen und in dieser Forschungsarbeit
aufgeführten Befunde auf dem DSM-IV-TR basieren und weil das DSM-IV-TR zum
Zeitpunkt der Durchführung der Studien die aktuellste Fassung des Manuals darstellte.
Eine AN ist demnach durch vier Kriterien gekennzeichnet, und zwar
       (A)    die Weigerung, ein Minimum des für Alter und Körpergröße normalen
              Körpergewichtes zu halten (d. h. weniger als 85% des zu erwartenden
              Gewichts),
       (B)    die große Angst vor einer Gewichtszunahme oder vor dem Dicksein trotz
              bestehenden Untergewichts,

                                           7
Anorexia und Bulimia nervosa

       (C)    das Vorliegen einer Körperschemastörung, ein übertriebener Einfluss des
              Gewichts auf die Selbstwertung und/oder Krankheitsverleugnung sowie
       (D)    das Aufweisen einer Amenorrhö bei Frauen (d. h. das Ausbleiben der
              Regelblutung über drei Menstruationszyklen).
Für die Diagnose einer BN wird hingegen gefordert, dass fünf Kriterien vorliegen,
       (A)    wiederkehrende Episoden von Essanfällen, gekennzeichnet durch
              1. Essensaufnahme in einer kurzen Zeitspanne (bis zu zwei Stunden),
                  wobei die Nahrungsmenge größer ist als bei den meisten Menschen
                  in einer vergleichbaren Zeit unter ähnlichen Umständen, und
              2. ein Gefühl von Kontrollverlust während des Essanfalls (z. B. das
                  Essen nicht stoppen können oder eine Ohnmacht der Kontrolle
                  darüber, was oder wie viel gegessen wird),
       (B)    wiederkehrendes, unangemessenes Kompensationsverhalten wie selbst
              induziertes Erbrechen, Missbrauch von Medikamenten, Fasten oder
              exzessives Sporttreiben zur Verhinderung einer Gewichtszunahme,
       (C)    im Durchschnitt mindestens zweimaliges wöchentliches Auftreten von
              Essanfällen   und    unangemessenem      Kompensationsverhalten       über
              mindestens drei Monate,
       (D)    ein unangemessen stark durch die Figur und das Gewicht beeinflusster
              Selbstwert sowie
       (E)    ein nicht ausschließliches Auftreten der Störung während Episoden einer
              AN.
Die vollständige Erfüllung dieser Kriterien war bisher nur bei einer relativ geringen
Anzahl Betroffener der Fall, auch wenn sich dies durch die nun breiter gefassten
Kriterien des neu erschienenen DSM-5 ändern mag. In diesen liegt die Betonung
bezüglich des A-Kritierums bei der AN deutlicher auf Verhaltensweisen (wie dem
Begrenzen der Kalorieneinnahme) als auf der „Weigerung“ und es entfällt das D-
Kriterium bezüglich der Amenorrhö. Für die BN hingegen ist laut der neuen Kriterien
wöchentlich eine Essattacke mit kompensatorischem Verhalten ausreichend, um die
Diagnose zu vergeben.
       Im diagnostischen Kontext sei diesbezüglich angemerkt, dass häufig ein
Wechsel zwischen den unterschiedlichen Essstörungsdiagnosen über die Zeit zu

                                          8
Anorexia und Bulimia nervosa

beobachten ist (Fichter & Quadflieg, 2007; Stice, Marti, Shaw & Jaconis, 2009). Die
sogenannte „transdiagnostische Perspektive“ (Fairburn, Cooper & Shafran, 2003) betont
daher     eher   die   Gemeinsamkeiten    der   unterschiedlichen    Esssstörungen     als
unterschiedliche Diagnosekategorien für wichtig zu erachten, da Betroffene im Laufe
ihres Lebens zeitweilig z. B. die Kriterien einer AN, dann aber auch einer BN erfüllen
können.
        Die auf DSM-IV-TR basierenden Prävalenzraten für BN bzw. AN fallen mit 1%
bzw. 0,3% oder 0.6% (Hoek & van Hoeken, 2003; Machado, Machado, Goncalves &
Hoek, 2007) insbesondere hinsichtlich des grundsätzlichen „Figurbewusstseins“ junger
Frauen relativ niedrig aus, zumal in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der
Inzidenzraten dokumentiert wurde (Keel & Klump, 2003; Rastam, Gillberg, van
Hoeken & Hoek, 2004; van Hoeken et al., 2003). Allerdings scheinen die Zahlen für
atypische Formen von Essstörungen („Eating Disorder Not Otherwise Specified“;
EDNOS), welche beispielsweise nicht die vollen Kriterien für die Diagnose einer AN
oder BN erfüllen, deutlich höher zu sein (Fairburn & Bohn, 2005; Stice et al., 2009).
Insgesamt liegt die Lebenszeitprävalenz für Frauen zu 1¾ bis 3mal höher als bei
Männern (Hudson et al., 2007).
        Somit zählen Essstörungen im Allgemeinen nicht zu den häufigsten psychischen
Erkrankungen. Ihre dennoch hohe klinische Relevanz ergibt sich eher aufgrund der
schwerwiegenden psychosozialen und medizinischen Konsequenzen (Mitchell & Crow,
2006; Rome et al., 2003), welche als Auswirkungen des gestörten Essverhaltens auf die
verschiedenen Organsysteme auftreten können und im schlimmsten Fall zum Tode
führen. So nimmt die Erkrankung in fast 10% der Fälle einer AN und bei ca. 7% der
von BN Betroffenen einen tödlichen Verlauf (Nielsen, 2001), wobei insbesondere für
AN die Todesursache neben den direkten Effekten der Mangelernährung häufig im
Suizid liegt (Keel et al., 2003; Pompili, Mancinelli, Girardi, Ruberto & Tatarelli, 2004).
Weitere physische Folgeerscheinungen liegen in reduzierter Stoffwechseltätigkeit,
Nierenschäden sowie aufgrund der funktionalen Beeinträchtigung der Hypothalamus-
Gonaden-Achse hormonelle Störungen bis zur Amenorrhö, was sich negativ auf die
Fertilität auswirken kann und als nur bedingt reversibel gilt (Herpertz, 1997). Bezüglich
der psychosozialen Konsequenzen sind neben kognitiven Beeinträchtigungen und
rigiden Denkmustern in Bezug auf Ernährung und Körpergewicht insbesondere

                                            9
Anorexia und Bulimia nervosa

Veränderungen auf emotionaler Ebene zu nennen. Die darunter zu fassenden Aspekte
wie Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit oder soziale Ängste gehen häufig mit einer
fortschreitenden Isolation der Betroffenen einher, welche die hohe Komorbidität von
Essstörungen mit anderen psychischen Erkrankungen erklären mag. So leiden etwa 68%
der an AN und 63% der an BN erkrankten Personen gleichzeitig an einer klinisch
relevanten Depression (Brewerton et al., 1995; Halmi et al., 1991; O’Brien & Vincent,
2003). Auch Zwangs- (Milos, Spindler, Ruggiero, Klaghofer & Schnyder, 2002) und
Persönlichkeitsstörungen (Rø, Martinsen, Hoffart, Sexton & Rosenvinge, 2005) werden
häufig parallel diagnostiziert.

3.2.   Behandungserfolg und Prognose
Obwohl die Gefährdung durch die aufgeführten Folgeerscheinungen von AN und BN
offensichtlich erscheint sowie frühzeitigeres Intervenieren erwiesenermaßen zu besseren
Ergebnissen führt (Reas, Williamson, Martin & Zucker, 2000), erfahren nur wenige
Patientinnen eine adäquate Behandlung (Hoek & van Hoeken, 2003). Etwa die Hälfte
derjenigen mit AN und ca. ein Drittel der Betroffenen mit BN werden laut
Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung tatsächlich erst gar nicht im
Gesundheitssystem registriert (Keski-Rahkonen et al., 2007; 2009). Dies scheint
einerseits u. a. durch die Angst vor einer Stigmatisierung hinsichtlich der Erkrankung
begründet zu sein (Becker, Arrindell, Perloe, Fay & Striegel-Moore, 2010; Evans et al.,
2011). Andererseits gelangen insbesondere Personen mit Essstörungen oftmals nicht auf
eigenen Wunsch in eine Behandlung, sondern z. B. auf die Initiative von Angehörigen.
Betroffene, welche hingegegen aus eigenem Antrieb Hilfe aufsuchen, haben meistens
eher eine Reduktion der starken Beschäftigung mit Essen oder der die Essstörung häufig
begleitenden Depressionen sowie Ängste zum Ziel als eine Gewichtszunahme
(Vitousek, Watson & Wilson, 1998). Im Vergleich zu AN suchen Patientinnen mit BN
dabei zwar häufiger auf eigene Initiative eine Behandlung auf (Casasnovas et al., 2007;
Fairburn & Cooper, 1991), jedoch führt die Angst vor einer Gewichtszunahme in beiden
Fällen oft zu einem vorzeitigen Therapieabbruch (Vansteenkiste et al., 2005).
       Unbefriedigende Behandlungsergebnisse, welche sich dementsprechend vor
allem durch hohe Dropout-Raten kennzeichnen lassen, sind insbesondere für AN
bekannt (DeJong, Broadbent & Schmidt, 2012) und keine Ausnahme. Die Prognose ist

                                          10
Anorexia und Bulimia nervosa

jedoch generell eher schlecht und viele Patientinnen mit sowohl AN als auch BN
brechen die Behandlung unabhängig vom Setting vorzeitig ab (Bandini et al., 2006;
Fairburn, 2005; Halmi et al., 2005; Lundgren, Danoff-Burg & Anderson, 2004; Masson,
Perlman, Ross & Gates, 2007; Treat et al., 2005). Abgesehen von der schlechten
Prognose bezüglich des Abschlusses der Behandlung sind hohe Rezidivraten (Fairburn,
Cooper, Doll, Norman & O’Connor, 2000; Grilo et al., 2007) und chronische Verläufe
(Berkman, Lohr & Bulik, 2007; Halmi et al., 2002; Richards et al., 2000) für
Essstörungen bekannt. Zusätzlich deuten die wenigen Untersuchungen zum
Spontanverlauf der Erkrankung auf eine hohe Persistenz der Symptome hin. Etwa zwei
Drittel der Betroffenen mit AN und ca. die Hälfte der Personen mit BN zeigen auch
nach fünf Jahren noch Essstörungssymptome (Keski-Rahkonen et al., 2007; 2009).

                                        11
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

4.     Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia
       nervosa
Als eine mögliche Ursache für diese ungünstigen Behandlungsprognosen bei AN und
BN wird häufig eine fehlende Veränderungsbereitschaft der Patientinnen angenommen
(z. B. Blake, Turnbull & Treasure, 1997; Casasnovas et al., 2007). Den Störungsbildern
AN und BN scheint es gemeinsam zu sein, dass bezüglich der Motivation für die
Veränderung der Symptomatik eine Ambivalenz besteht (Martínez et al., 2007; Rieger,
Touyz & Beumont, 2002; Schmidt & Treasure, 2006). Diese Ambivalenz wird als ein
Hauptgrund für die unzureichende Motivation der Betroffenen gesehen (Körkel &
Veltrup, 2003). So existieren neben dem offenkundigen Leidensdruck aufgrund der
oben dargestellten Folgen einer Essstörung wie körperlicher Beeinträchtigung,
kognitiver Einbußen, sozialer Isolation oder hoher Komorbidität mit anderen
psychischen Erkrankungen auch latente Nutzen der Essstörung (Serpell, Treasure,
Teasdale & Sullivan, 1999). Diese können beispielsweise in einer Selbstwertsteigerung
aufgrund der wahrgenommenen Stärke durch das rigide Essverhalten oder die
Gewichsreduktion begründet sein sowie in einem durch die AN oder BN gefundenen
Lebenssinn bzw. -inhalt liegen (Serpell & Treasure, 2002). Das Resultat dieser
Ambivalenz aus negativen und positiven Aspekten der Essstörung ist eine zumeist
niedrig ausgeprägte Änderungsmotivation bezüglich der Essstörungssymptomatik bei
AN und BN (Blake et al., 1997; Casasnovas et al., 2007; Geller, Zaitsoff &
Srikameswaran, 2005), wobei Betroffene einer AN sogar noch eine geringere
Änderungsmotivation aufweisen als solche mit BN. Verschiedene Studien haben
gezeigt, dass eine gering ausgeprägte Veränderungsmotivation bei Patientinnen mit
Essstörungen mit weniger erfolgreichen Therapien (Bewell & Carter, 2008; Geller,
Cassin, Brown & Srikameswaran, 2009; Gusella, Bird & Butler, 2003a; Treasure et al.,
1999; Wolk & Devlin, 2001) sowie häufigeren Abbrüchen der Behandlung einhergeht
(Geller, Cockell & Drab, 2001a; Halmi et al., 2002).

4.1.   Das transtheoretische Modell der Veränderung
Ein in der klinisch-psychologischen Forschung bekanntes Modell bezüglich der
Motivation, ein problematisches Verhalten zu ändern, stellt das transtheoretische
Modell der Verhaltensänderung (TTM) dar (z. B. Prochaska & DiClemente, 1982;

                                          12
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

Prochaska, Velicer, Wayne, DiClemente & Fava, 1988; Prochaska et al., 1992). Dieses
Modell wurde ursprünglich für den Suchtbereich konzipiert (z. B. DiClemente &
Prochaska, 1985; Prochaska, Redding & Evers, 2002; Rollnick, Heather, Gold & Hall,
1992) und durch Befragungen ehemaliger Raucher, welche das Rauchen erfolgreich
aufgegeben haben, abgeleitet. Das TTM bietet eine generelle Erklärung für
Verhaltensänderungen und die damit einhergehenden motivationalen Zustände von
Menschen, wie sie idealtypisch aufeinander folgen. Dafür werden von den Autoren des
TTM sechs verschiedene, aufeinander folgende Stufen („Stages“) oder Phasen der
Bereitschaft zur Veränderung definiert, welche durch unterschiedliches Involviertsein in
den therapeutischen Prozess gekennzeichnet sind (z. B. Prochaska & Velicier, 1997).
Das „eingeschränkte Problembewusstsein“ („Precontemplation“) als erste Stufe
beschreibt einen Zustand, in welchem das Individuum sich des Problems nicht bewusst
ist oder nicht gewillt ist, etwas zu verändern. In der darauf folgenden Phase der
„Nachdenklichkeit“ („Contemplation“) denkt die Person ernsthaft über eine
Veränderung nach, steigt aber noch nicht aktiv in den tatsächlichen Änderungsprozess
ein. In der dritten Phase, der Phase der „Vorbereitung“ („Preparation“), entscheidet sich
der Betroffene für eine Veränderung und trifft die dafür zu Beginn notwendigen
Maßnahmen, während in der vierten Phase, der „Handlungs“-Phase („Action“), aktiv an
der Verhaltensmodifizierung gearbeitet wird. In der Phase der „Aufrechterhaltung“
(„Maintenance“) werden darauf erzielte Erfolge stabilisiert und es wird einem Rückfall
vorgebeugt, während das ursprüngliche Problemverhalten in der letzten Phase, der des
„Abschlusses“ („Termination“), als nicht mehr existent betrachtet wird (Prochaska &
DiClemente, 1992; Prochaska et al., 1994). Typischerweise ergeben sich mehrere
Rückfalle von späteren auf frühere Stufen während des Voranschreitens durch die
Phasen der Veränderung, bevor eine stabile „Aufrechterhaltung“ oder ein endgültiger
„Abschluss“ erreicht wird (Prochaska et al., 1992).
       Das TTM beinhaltet überdies hinaus theoretische Annahmen darüber, wie
Entscheidungen getroffen werden (Janis & Mann, 1977). Dieser Prozess wird als
notwendig für ein Voranschreiten durch die Phasen erachtet und hängt nach den
Autoren von dem Verhältnis der wahrgenommenen Pros und Contras der jeweiligen
Veränderung ab. Das Treffen von Entscheidungen in Abhängigkeit von den Pro- und

                                           13
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

Contra-Argumenten eines Verhaltens bzw. einer Verhaltensänderung wird auch als
„Decisional Balance“ bezeichnet (Prochaska & Velicer, 1997).
       Trotz seines heuristischen Wertes wurde das TTM gleichzeitig immer wieder
kritisiert (Treasure & Schmidt, 2001; Waller, 2012; Wilson & Schlam, 2004). Als
problematisch wurde u. a. die kategoriale Konzeption der verschiedenen Stufen
angemerkt, da die unterschiedlichen Ausprägungen der Veränderungsmotivation
möglicherweise eher als Kontinuum abgebildet werden können (Wilson & Schlam,
2004). So kann sich eine Person laut empirischer Befunde gleichzeitig in mehreren der
unterschiedlichen Phasen befinden, was die Einteilung in Kategorien überflüssig mache
(Littell & Girvin, 2002). Zusätzlich wird dadurch die Zuordnung zu einer einzelnen
Phase unmöglich, was wiederum den gezielten Einsatz von phasenspezifischen
Interventionen erschwere (Sullivan & Terris, 2001). Gleichzeitig besagt jedoch die
„Matching Hypothesis“, eine Implikation des TTM, dass die therapeutische Behandlung
auf die jeweilige Stufe der Veränderung des Patienten zugeschnitten sein sollte
(Prochaska et al., 2002).
       Trotz aller Kritik findet das Modell seinen Einsatz in Forschung und Praxis. So
konnte die Gültigkeit der in ihm formulierten Stufen der Veränderung in vielen
empirischen Studien belegt werden und es ließ sich bei der Behandlung zahlreicher
Problemverhaltensweisen bestätigen (Norcross, Krebs & Prochaska, 2011). Zusätzlich
bietet das TTM einen theoretischen Rahmen für die Konzeption diverser
Messinstrumente zur Erfassung der Veränderungsmotivation (siehe Abschnitt 4.3).

4.2.   Übertragung des transtheoretischen Modells auf Anorexia und
       Bulimia nervosa
Auch im Bereich der Essstörungen ist das TTM für Forschungszwecke herangezogen
worden (z. B. Geller, Brown, Srikameswaran, Piper & Dunn, 2013; Hasler, Delsignore,
Milos, Buddeberg & Schnyder, 2004; Wade, Frayne, Edwards, Robertson & Gilchrist,
2009) und seine Gültigkeit konnte größtenteils belegt werden (Dray & Wade, 2012). So
ließ sich, wie auch im Kontext verschiedener anderer Störungsbereiche (Norcross et al.,
2011), in vielen Studien nachweisen, dass die Stufe der Veränderung, in der sich ein
Individuum vor oder zu Beginn der Behandlung befindet, mit unterschiedlichen Maßen
des Behandlungserfolges bei AN und BN im Zusammenhang steht. Eine höhere Stufe

                                          14
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

der Veränderung zeigte sich dementsprechend als assoziiert mit einer deutlicheren
Symptomreduktion (Castro-Fornieles et al., 2011; Franko, 1997; Geller et al., 2009;
Treasure et al., 1999; Wolk & Devlin, 2001), beispielsweise bezüglich der Häufigkeit
von Essanfällen. Überdies erwiesen sich höhere Stufen des TTM als prädiktiv für eine
Verbesserung des pathologischen Essverhaltens (Castro-Fornieles et al., 2011;
Rodriguez-Cano & Beato-Fernandez, 2005; Wade et al., 2009), z. B. erkennbar an einer
Gewichtszunahme. Andere Untersuchungen hingegen zeigten, dass eine niedrigere
Stufe der Veränderung bzw. eine geringer ausgeprägte Veränderungsmotivation einen
Prädiktor für Rückfälle darstellt (Ametller, Castro, Serrano, Martínez & Toro, 2005;
Halmi et al., 2002; Richard, Bauer & Kordy, 2005). Derartige Befunde wurden nicht
nur im Erwachsenen-, sondern auch im Jugendbereich dokumentiert (Castro-Fornieles
et al., 2011; Gusella et al., 2003a). Des Weiteren hat sich eine höhere Stufe zu Beginn
der Behandlung bei Essstörungen auch als zusammenhängend mit einer besseren
therapeutischen Beziehung (Treasure et al., 1999) sowie der Initiierung und
Weiterführung einer Psychotherapie gezeigt (Hasler et al., 2004).

4.3.      Das transtheoretische Modell als theoretischer Rahmen zur Messung
          der Änderungsmotivation
Da das TTM zunehmend in Forschung und Praxis zum Einsatz kommt, haben auch
diverse     Messinstrumente     zur   Erfassung   der    Veränderungsmotivation     für
unterschiedliche Störungsbereiche ihren theoretischen Ursprung in dem Modell. Eines
dieser Messinstrumente ist der Fragebogen „University of Rhode Island Change
Assessment“ (URICA; McConnaughy, Prochaska & Velicer, 1983; McConnaughy,
DiClemente, Prochaska & Velicer, 1989), welcher neben der Untersuchung diverser
Problemverhaltensweisen bereits mehrfach seinen Einsatz im Bereich der Essstörungen
fand (z. B. Franko, 1997; Hasler et al., 2004; Treasure et al., 1999). Die URICA nimmt
eine allgemeine oder globale Messung der Motivation vor, da einem Individuum eine
Phase der Veränderung nach dem TTM, in welcher es sich befindet, zugeordnet wird.
Dieser globalen Erfassung der Veränderungsmotivation steht die symptomspezifische
Messung      gegenüber,   bei   welcher   jedem   einzelnen    Symptombereich     eines
Störungsbildes oder eines Problemverhaltens eine Phase der Veränderung zugeordnet
wird.

                                           15
Veränderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

         Mittlerweile wurden abgesehen von der störungsunspezifischen URICA viele
Messinstrumente entwickelt, die der konkreten Erfassung der Änderungsmotivation für
Essstörungen dienen (z. B. Geller et al., 2001a; Rieger et al., 2002). Diese stellen
vermutlich eine validere Erfassung des Konstrukts dar als es die URICA vermag.
Jedoch      existiert    bisher     kein   systematischer    Überblick     über      solche
essstörungspezifischen Instrumente, der eine Entscheidungshilfe für die Wahl von
Messinstrumenten        bezüglich   unterschiedlicher   Forschungsfragen   bietet.    Eine
Zusammenfassung und kritische Würdigung der Vor- und Nachteile solcher Verfahren
könnte die Auswahl erleichtern und auf methodische Besonderheiten hinweisen. Dies
könnte insbesondere aktuell von Bedeutung sein, da in den letzten Jahren ein
gesteigertes Forschungsinteresse im Bereich der Änderungsmotivation bei Essstörungen
zu verzeichnen ist. So beschäftigt sich z. B. ein Forschungsstrang mit der Entwicklung
bzw. Evaluation von Interventionen, welche zur Steigerung der Änderungsmotivation
bei Essstörungen eingesetzt werden.

                                             16
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

5.      Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei
        Anorexia und Bulimia nervosa
Aufgrund der großen Bedeutsamkeit einer hohen Änderungsmotivation für den
Therapieerfolg weisen viele Autoren auf die Entwicklung und den Einsatz von
Interventionen zur Steigerung der Änderungsmotivation hin (Geller & Dunn, 2011;
Geller, Williams & Srikameswaran, 2001b; Tantillo, Nappa Bitter & Adams, 2001). In
diesem Zusammenhang hat sich im Bereich der Essstörungen sowie in anderen
Störungsbereichen auch das MI (Miller & Rollnick, 2002) und Abwandlungen dessen
als ein gängiges und häufig eingesetztes Verfahren etabliert (z. B. Cassin, von Ranson,
Heng, Brar & Wojtowicz, 2008).

5.1.    Motivational Interviewing
Das ursprünglich für den Suchtbereich entwickelte MI ist eine klientenzentrierte, semi-
direktive Methode zur Erhöhung der intrinsischen Änderungsmotivation (Miller &
Rollnick, 2002). Die Änderungsmotivation soll dabei durch das Erkunden und Auflösen
der Ambivalenz bezüglich der Veränderung gesteigert werden. Die grundsätzliche
Annahme, dass auf Patientenseite eine Ambivalanz bezüglich der Probleme vorliegt,
sowie die Akzeptanz der Autonomie des Patienten bezüglich seiner Ziele und
Entscheidungen sind dabei wesentliche Annahmen des Menschenbildes bzw. der
Einstellung des Therapeuten (Körkel & Veltrup, 2003). Mittlerweile existieren mehrere
Abwandlungen des MI wie z. B. die Motivational Enhancement Therapy (MET; z. B.
Dean, Touyz, Rieger & Thornton, 2008), welche sich aber eher in ihrer zeitlichen
Gestaltung als in der generellen Methodik vom „klassischen“ MI unterscheiden.
        Für Abhängigkeitserkrankungen konnte in Meta-Analysen die Wirksamkeit des
MI gut belegt werden (Hettema, Steele & Miller, 2005; Rubak, Sandbæk, Lauritzen &
Christensen, 2005; Vasilaki, Hosier & Cox, 2006). Für den Bereich der Essstörungen
hingegen liefert die empirische Befundlage zwar ebenfalls teils vielversprechende, aber
insgesamt gemischte Ergebnisse bezüglich der Effektivität des Einsatzes von MI sowie
MET (Knowles, Anokhina & Serpell, 2013; Macdonald, Hibbs, Corfield & Treasure,
2012). So konnte beispielsweise in zwei unkontrollierten Studien (Feld, Woodside,
Kaplan, Olmsted & Carter, 2001; Gowers & Smyth, 2004) durch eine Intervention
bestehend    aus   vier   Gruppen-   bzw.      einer   Einzelsitzung   eine   gesteigerte

                                          17
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

Änderungsmotivation der Patienten sowie mehr Problemeinsicht bzw. eine niedrigere
Rate von Therapieabbrüchen verzeichnet werden. Da in diesen beiden Studien jedoch
auf kein randomisiert-kontrolliertes Versuchsdesign zurückgegriffen wurde, bleibt
unklar, inwiefern sich die Ergebnisse tatsächlich auf die eingesetzten Interventionen
zurückführen lassen.
       In den eher wenig existierenden randomisiert-kontrollierten Studien konnten
teils ebenfalls empirische Belege für die Wirksamkeit von MI und MET im
Essstörungsbereich gefunden werden. So zeigten Allen et al. (2012), dass vier
Sitzungen einer MI-Intervention zu einer Steigerung der Änderungsmotivation in der
Experimentalgruppe führten, während sich dieser Anstieg nicht in der Warte-
Kontrollgruppe verzeichnen ließ. In einer weiteren Studie (Dunn, Neighbors & Larimer,
2006) wurde Personen mit einer voll- oder teilausgeprägten BN oder Binge Eating
Störung die Teilnahme an einem Selbsthilfeprogramm angeboten, bei dem für die
Hälfte der Teilnehmerinnen eine Sitzung zur Steigerung der Änderungsmotivation
vorgeschaltet war. Nur diejenigen Personen in der MI-Bedingung zeigten nachher eine
erhöhte Bereitschaft zur Aufgabe der Essanfälle.
       Andere randomisiert-kontrollierte Studien hingegen konnten keine signifikante
Besserung    der    Experimentalgruppe     verzeichnen,     da     sich    Kontroll-   und
Experimentalgruppe gleichermaßen verbesserten. So verglichen Treasure et al. (1999)
eine MI-Intervention bestehend aus vier Einzelsitzungen mit einer ebenso langen
kognitiven Verhaltenstherapie als Kontrollbedingung im Vorfeld einer weiteren
Behandlung bei Frauen mit BN. Hier ergaben sich keine Unterschiede zwischen beiden
Bedingungen bezüglich der Änderungsmotivation. In einer nicht randomisierten aber
kontrollierten Studie stellten Dean et al. (2008) vier Sitzungen einer zusätzlichen MET-
Gruppenbehandlung der ausschließlichen Routine-Versorgung in einer stationären
Einrichtung gegenüber. Auch hier konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen
den Gruppen gefunden werden. In einer späteren, wiederum randomisiert-kontrollierten
Untersuchung von Katzman et al. (2010) konnten ebenfalls keine Gruppenunterschiede
nachgewiesen werden, da sich in der MET-Bedingung und der Kontrollgruppe, welche
eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention erhielt, nach vier Sitzungen
gleichermaßen      Verbesserungen    abzeichneten.    Von        einer    Steigerung   der
Änderungsmotivation für sowohl Warte-Kontroll- als auch Experimentalbedingung,

                                          18
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

obwohl    nur   die   Experimentalgruppe    eine   aus   fünf   Sitzungen    bestehende,
motivationssteigernde Intervention erhielt, berichteten auch Geller, Brown und
Srikameswaran (2011).
        In diesem Zusammenhang ist allerdings anzumerken, dass einige dieser nicht
gefundenen signifikanten Unterschiede möglicherweise auf methodische Probleme
zurückzuführen sind (Dray & Wade, 2012). So waren in einer Studie (Treasure et al.,
1999)    beispielsweise   deutlich   mehr       Probanden   (18,4%)    der     kognitiv-
verhaltenstherapeutischen Kontrollbedingung bereits in der „Action“-Phase und somit
von Beginn an motivierter, während dies nur wenige (2,3%) der MET-Experimental-
Bedingung betraf. Zusätzlich bestand die Erfassung der Änderungsmotivation bei vielen
dieser Studien in einer globalen (im Gegensatz zu einer symptomspezifischen) und
zusätzlich essstörungsunspezifischen Messung, teilweise mittels der URICA. Durch den
Einsatz solcher Messinstrumente könnte einerseits die störungsspezifische Problematik
nicht valide erfasst worden und andererseits könnten Veränderungen in einzelnen
Symptom-Domänen unentdeckt geblieben sein. Die weitere Erforschung MI-basierter
Ansätze mit einer adäquateren Methodik mag diesbezüglich Aufschluss geben.

5.2.    Die Berücksichtigung von Lebenszielen
Das MI bedient sich u. a. verschiedener Techniken, die an persönliche Lebensziele
anknüpfen (Körkel & Veltrup, 2003). So sollen Diskrepanzen zwischen dem jetzigen
Verhalten des Patienten und seinen langfristigen Zielen sowie Werten entwickelt
werden, um eine Steigerung der Änderungsmotivation zu erzielen (Miller & Rollnick,
2002). Eine solch konkrete Arbeit mit Lebenszielen ist möglich, da sie Bestandteil des
expliziten Motivsystems sind (McClelland, 1985) und deshalb im Gegensatz zu
impliziten Motiven dem Bewusstsein unmittelbar zugänglich und verbal repräsentiert
sind. Sie stellen kognitive Repräsentationen von Aspekten dar, die eine Person in ihrem
Leben erreichen oder vermeiden möchte (Brunstein, Schultheiß & Grässmann, 1998)
und machen demnach das menschliche Verhalten kausal nachvollziehbar (Moskowitz &
Grant, 2009).
        Die Berücksichtigung von expliziten Zielen wie Therapie- oder Lebenszielen
wird auch im verhaltenstherapeutischen Kontext für wichtig erachtet (Grosse-Holtforth
& Grawe, 2004). Persönlichen Zielen kommt demnach eine entscheidende

                                           19
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

motivationale Rolle zu, beispielsweise was deren Konflikte untereinander innerhalb
einer Person betrifft. So können unterschiedliche Ziele eines Individuums einerseits
füreinander förderlich sein und sich gegenseitig positiv beeinflussen, sie können sich
aber andererseits auch gegenseitig behindern und Zielerreichungen erschweren
(Michalak   &      Schulte,     2002).   Diesbezüglich    ließ    sich   für   unterschiedliche
Patientengruppen belegen, dass eine geringe Anzahl an Zielkonflikten auf expliziter
Ebene bzw. eine bessere Integration der Ziele untereinander mit einer höheren
Therapiemotivation im Zusammenhang steht (Heidenreich, 2000; Michalak & Schulte,
2002). Andererseits zeigte sich der gegenteilige Effekt bei ausgesprägten Zielkonflikten
(Emmons & Kings, 1988; Hoyer, 1992). Stark ausgesprägte Zielkonflikte lassen sich
zudem als mit negativem Affekt, Depression, Neurotizismus und psychosomatischen
Beschwerden im Zusammenhang stehend kennzeichnen (Emmons & King, 1988).
       In    der     klinisch-psychologischen         Forschung      beschäftigt      sich   die
„Konsistenztheorie“ von Grawe (1998, 2004) mit dem Einfluss des expliziten
Zielsystems auf das menschliche Wohlbefinden. Der Theorie zufolge wird zwischen
einerseits Annäherungszielen wie Intimität bzw. Bindung, Status sowie Leistung und
andererseits Vermeidungszielen wie Alleinsein bzw. Trennung, Geringschätzung sowie
Versagen unterschieden. Bei der Entwicklung von Psychopathologie bzw. Unwohlsein
wird in diesem Zusammenhang insbesondere deutlich ausgeprägten Vermeidungszielen
eine wichtige Rolle zugeschrieben. Diese Annahme ließ sich insofern in Studien
bestätigen, als sich in Psychotherapie befindende Personen stärker ausgeprägte
Vermeidungsziele aufweisen als gesunde Kontrollprobanden (Grosse Holtforth &
Grawe, 2000; 2002). Das Vorhandensein ausgeprägter Annäherungsziele stellt somit
das menschliche Wohlbefinden betreffend eine funktionalere Zielstruktur dar. Bei einer
unzureichenden Umsetzung motivationaler Ziele spricht Grawe (1998, 2004) von
„Inkongruenz“,     was    die     misslungene      Realisierung    von    Annäherungs-       und
Vermeidungszielen meint.
       Da    insbesondere        Betroffene     von    Essstörungen      für   eine     niedrige
Änderungsmotivation bzw. ausgeprägte Ambivalenzen bezüglich der Aufgabe ihrer
Symptomatik bekannt sind (Casasnovas et al., 2007; Serpell & Treasure, 2002; siehe
Abschnitt 4) und persönlichen Zielen eine entscheidende Rolle bezüglich der
Therapiemotivation sowie der Entwicklung von Psychopathologie zukommt, könnten

                                              20
Ansätze zur Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa

für diese Patientengruppe Besonderheiten für ihre persönlichen Lebenszielen
angenommen werden. Bisher existieren jedoch keine Studien zur Rolle expliziter Ziele
bei AN und BN. Insofern liegen auch keine Forschungsergebnisse darüber vor, ob
Betroffene einer Essstörung möglicherweise andere Lebensziele verfolgen als gesunde
Personen. Dies ist jedoch gerade im Kontext der Essstörungen relevant, da die
physischen Folgeerscheinungen von AN und BN bekannter Maßen nur bedingt
reversibel   sind   und   somit   langfristig   zu   massiven   Einschränkungen    der
Lebensgestaltung führen können (Herpertz, 1997). Dementsprechend sind manche
essstörungssymptomatologische      Verhaltensweisen     oder    Konsequenzen      derer
unvereinbar mit dem Erreichen bestimmter Lebensziele, welche von den meisten
Menschen verfolgt werden, wie z. B. die Gründung einer Familie (Cox & Klinger,
2002). Empirische Befunde zur Rolle von Lebenszielen bei von Essstörungen
Betroffenen wären von großer Bedeutung, um Interventionen zur Steigerung der
Änderungsmotivation weiterzuentwickeln.

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