Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

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Theoretische Grundlagen
zur Entstehung
und Aufrechterhaltung von
Anorexia und Bulimia nervosa
T. Legenbauer, S. Vocks

2.1      Prädisponierende Faktoren für Essstörungen – 24
2.1.1    Biologische Faktoren – 24
2.1.2    Soziokulturelle Faktoren – 26
2.1.3    Familiäre Faktoren – 27
2.1.4    Individuelle Faktoren – 27

2.2      Auslösende Faktoren von Essstörungen – 29
2.3      Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen – 29
2.3.1    Gezügeltes Essverhalten – 30
2.3.2    Stress, Coping und Emotionsregulation – 30
2.3.3    Dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse – 31

2.4      Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen – 32
2.4.1    Definition von Essanfällen – 32
2.4.2    Auslösende Faktoren für Essanfälle – 32
2.4.3    Funktion des Essanfalls – 34

2.5      Zusammenfassung – 34
         Literatur – 34

         T. Legenbauer, S. Vocks, Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie,
         DOI 10.1007/978-3-642-20385-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
24     Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     Essstörungen gelten als komplexe Störungsbilder, deren            2.1     Prädisponierende Faktoren
1    einzelne Mechanismen nach wie vor ungeklärt bleiben,                      für Essstörungen
     trotz einer regen Forschungstätigkeit und einer Vielzahl
2    an theoretischen Modellen, welche die Entstehung und              Prädisponierende Faktoren sind zeitlich überdauernde
     Aufrechterhaltung von Essstörungen im Allgemeinen oder            Merkmale auf Seiten der Person oder der Umwelt, welche
     der Anorexia bzw. Bulimia nervosa im Besonderen erklä-            die Grundlage für die Entstehung einer möglichen Essstö-
3    ren. Diese verschiedenen Modelle gehen aus unterschied-           rung darstellen. Hierbei wurden verschiedenste Faktoren
     lichen Forschungsbereichen hervor. Zu nennen sind hier            identifiziert, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit für
4    beispielsweise kognitive Modelle (Vitousek und Hollon             eine Essstörung erhöhen bzw. einer späteren Essstörung
     1990), lerntheoretische Modelle (Jansen 1998), Affekt- bzw.       vorausgehen können. Diese prädisponierenden Faktoren
5    Spannungsregulationsmodelle (Orleans und Barnett 1984)            können folgenden Unterkategorien zugeordnet werden, die
     oder kognitiv-behaviorale Modelle wie das transdiagnosti-
     sche Modell von Fairburn et al. (2003). Allen diesen Mo-
                                                                       --
                                                                       im Folgenden beschrieben werden:
                                                                           biologische Faktoren,

                                                                        --
6    dellen ist gemein, dass sie die Entstehung von Essstörungen           soziokulturelle Faktoren,
     nur durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren                   familiäre Faktoren und
7    und somit aus einer multidimensionalen Sichtweise der                 Persönlichkeitsfaktoren.
     Symptomatik erklären. In den theoretischen Modellen sind
8
9
     -
     3 Bereiche von Relevanz:
         sog. prädisponierende oder Vulnerabilitätsfakto-
         ren, welche den „Boden“ für die Entwicklung einer
         Essstörung bereiten; diese sind im Ansatz bereits in
                                                                       2.1.1    Biologische Faktoren

                                                                       Es wird davon ausgegangen, dass biologische Faktoren eine
         ▶ Abschn. 1.1.5 und ▶ Abschn. 1.2.5 im Überblick der          Vulnerabilität darstellen, die unter Einwirkung zusätzlicher
10
     -   Risikofaktoren dargestellt;
         Auslösefaktoren, die zur Manifestation der Essstö-
                                                                       Faktoren die Entwicklung einer Essstörung unterstützen
                                                                       (Kaye et al. 2004). Zu den biologischen Faktoren zählen

11
12
     -   rung geführt haben;
         aufrechterhaltende Faktoren, die erklären, warum die
         Störung dauerhaft bestehen bleibt, obwohl die Fak-
         toren, die zur Entwicklung der Erkrankung geführt
                                                                       genetische Faktoren und biologische Veränderungen
                                                                       wie hypothalamische Dysfunktionen, Dysfunktionen des
                                                                       endokrin-metabolischen Systems und Neurotransmitter-
                                                                       störungen. Daneben scheinen zudem körperliche Fakto-
         haben, gegebenenfalls nicht mehr wirksam sind.                ren, wie prämorbides Gewicht, ernährungsphysiologische
                                                                       Aspekte, wie restriktives Essverhalten, und Störungen des
13   Im Folgenden wird auf diese 3 Faktoren differenzierter ein-       Hunger- und Sättigungshaushaltes relevant zu sein.
     gegangen. Hierbei werden verschiedene Störungsmodelle
14   in einem Modell integriert und daraus die therapeutischen         zz Genetische Faktoren
     Interventionen abgeleitet. Aufgrund der großen Ähnlich-           Die Relevanz genetischer Faktoren bei der Entstehung der
15   keiten in der Symptomatik der Anorexia und der Bulimia            Essstörungen wird durch Ergebnisse aus der Zwillingsfor-
     nervosa (Fairburn et al. 2003) wird hierbei ein Modell            schung gestützt: So können 50–83 % der Varianz hinsicht-
     entwickelt, welches beide Störungsbilder umfasst. Bei der         lich des Auftretens der Bulimia nervosa und 28–83 % der
16   Darstellung der einzelnen Unterpunkte wird jedoch auf             Anorexia nervosa durch genetische Faktoren erklärt wer-
     mögliche Unterschiede zwischen Anorexia und Bulimia               den (Frieling und Bleich 2008). Auch Essstörungssymptome
17   nervosa eingegangen. Das von uns vorgeschlagene Modell            selbst scheinen zum Teil genetisch bedingt zu sein. So kann
     wird in . Abb. 2.1 abschließend grafisch dargestellt und          das Auftreten von Essanfällen, Erbrechen und restriktivem
     stellt eine Integration der bisherigen Befunde dar.               Essverhalten zu 46–72 % durch genetische Faktoren erklärt
18        Darüber hinaus wird im Rahmen eines Exkurses eine            werden (Klump et al. 2000). Ähnliches gilt für dysfunktio-
     genaue Analyse der Auslösebedingungen für einen Essan-            nale Einstellungen zu Figur und Gewicht: Hierbei liegt die
19   fall durchgeführt. Dies liegt darin begründet, dass Essan-        Erblichkeitswahrscheinlichkeit zwischen 32 % und 72 %
     fällen zwar eine große Bedeutung in der Symptomatik vor           (Klump et al. 2000). In den letzten Jahren wurden verstärkt
20   allem der Bulimia nervosa zukommt, aber bislang kaum              Versuche unternommen spezifische Genloci zu identifizie-
     Modelle zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhal-           ren, die an der erblichen Weitergabe einer Vulnerabilität für
     tung der Essanfälle im Speziellen vorliegen.                      Essstörungen beteiligt sein könnten. Bislang wird angenom-
21                                                                     men, dass insbesondere Genloci, welche an der serotoner-
                                                                       gen (z. B. das 5HT2 A Rezeptor-Gen) und dopaminergen
22                                                                     (z. B. das DRD2 Rezeptor-Gen) Neurotransmission betei-
                                                                       ligt sind, eine bedeutende Rolle für die Entwicklung von
2.1 • Prädisponierende Faktoren für Essstörungen
                                                                                                                  25                   2

.. Abb. 2.1 Multifaktorielles Modell der Essstörungen Anorexia und Bulimia nervosa

Essstörungen spielen. Auch hormonelle Dysfunktionen,                   ligte Kortikotropin-Releasing-Hormon oder Peptide wie
die mit der Appetit- und Energieregulation assoziiert sind,            das Leptin, welches für die Reduktion der Nahrungszufuhr
werden aktuell diskutiert (Frieling und Bleich 2008). Zudem            verantwortlich ist. Diese Störungen der Hormonherstel-
sprechen familiäre Häufungen von Essstörungen bei Ver-                 lung oder -sekretion führen nachfolgend zu Appetitlosig-
wandten ersten und zweiten Grades ebenfalls für eine gene-             keit oder gegenteilig zu Überessen und Heißhunger (Über-
tische Beeinflussung (Strober et al. 2000), allerdings kann            sicht vgl. Fichter 2000).
hierbei nicht unterschieden werden, inwieweit die familiäre                 Hinsichtlich der Neurotransmitterdysfunktionen
Häufung durch Umgebungsvariablen oder Lernerfahrungen                  scheint Serotonin eine zentrale Rolle zu spielen, da es eben-
(z. B. Modelllernen) zustande kommt.                                   falls an der Sättigungsreaktion beteiligt ist und als Indika-
                                                                       tor für die Menge aufgenommener Kohlenhydrate dient.
zz Neurobiologische Veränderungen                                      Dies liegt darin begründet, dass Serotonin aus Tryptophan
Hinsichtlich der neurobiologischen Veränderungen sind                  gewonnen wird und dafür Kohlenhydrate benötigt wer-
Dysfunktionen des Hypothalamus sowie Störungen der mit                 den. Es wird vermutet, dass Serotonin damit vor allem in
der Sättigungsregulation verbundenen Hormone allgemein                 Bezug auf die Auslösung von Essanfällen eine Rolle spielt,
und Neurotransmittern wie dem Serotonin zu nennen.                     da die Kohlenhydrataufnahme durch die Störung dieser
    Der Hypothalamus ist für die Hunger- und Sätti-                    Feedbackschleife weitgehend ungesteuert durch den Be-
gungsregulation über verschiedene Feedbackschleifen im                 darf erfolgt. Das Einsetzen von Essanfällen kann dement-
Körper verantwortlich. Entsprechend können Dysfunk-                    sprechend durch den endogen bedingt niedrigen Wert des
tionen in diesem Bereich, beispielsweise ausgelöst durch               Serotonins erklärt werden (Goldbloom et al. 1991; Kaye
frühkindliche Hirnschädigungen bzw. Geburtstraumata,                   und Weltzin 1991). Diese „Carbohydrate-craving-Theorie“
die Hunger- und die Sättigungsregulation dadurch stören,               postuliert damit die hohe Aufnahme von Kohlenhydraten
dass verschiedene Hormone nicht mehr an Nahrungsauf-                   als „Selbstmedikation“, um den niedrigen Serotoninspiegel
nahme gekoppelt ausgeschüttet werden. Davon betroffen                  zu erhöhen (Jansen et al. 1989). Des Weiteren nimmt man
sind das an der Hunger- und Sättigungsregulation betei-                an, dass durch die Unregelmäßigkeiten in der Ernährung
26      Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     bulimischer Patientinnen schon vor dem eigentlichen Stö-           Diese beziehen sich vor allem auf ein überhöhtes Schlank-
1    rungsbeginn eine Dysfunktion des Sättigungsmechanismus             heitsideal, das sich in den westlichen Gesellschaften ver-
     ausgelöst wird und die neurobiologischen Veränderungen             breitet hat und über Massenmedien sowie auch die Familie
2    deshalb als Prädiktor für die Essstörung zu betrachten sind.       und Peers vermittelt zu werden scheint.

     zz Körperliche Faktoren                                            zz Gesellschaftliches Schlankheitsideal
3    Als weiterer Risikofaktor gilt ein biologisch höheres Ge-          Für den Einfluss soziokultureller Einflüsse spricht die
     wicht bei normaler Nahrungsaufnahme, da ein höherer                hohe Prävalenz von Essstörungen in der westlichen Welt
4    BMI häufiger mit einem negativeren Körperbild einhergeht           gegenüber anderen Kulturkreisen. Durch die Globalisie-
     (Stice und Shaw 2002). Für die Betroffenen bedeutet dies,          rung scheint aber auch hier ein Wandel im Schönheitsideal
5    dass das angestrebte Schlankheitsideal nur durch eine deut-        stattzufinden – im Sinne einer Ausbreitung des westlichen
     liche Einschränkung der Nahrungszufuhr erreicht werden             Schlankheitsideals. Im Rahmen einer großangelegten
     kann und damit die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung               Studie in 10 Ländern (International Body Project, IBP-
6    einer Essstörung erhöht wird (Fairburn et al. 1997). Auch          I), wurden mehr als 7000 Menschen hinsichtlich des ge-
     eine frühe Menarche kann möglicherweise die Entstehung             sellschaftlichen Schönheitsideals befragt. Es zeigten sich
7    von Essstörungen begünstigen. Unklar bleibt jedoch, ob             dabei kulturelle und sozioökonomische Einflüsse, wobei
     dies durch den häufig mit der frühen Menarche assozi-              Gewicht und die Exposition mit dem westlichen Schön-
     ierten höheren Körperfettanteil bedingt ist oder aber über         heitsideal das Ausmaß körperlicher Unzufriedenheit
8    eine stärkere körperliche Unzufriedenheit erklärt werden           voraussagten (Swami et al. 2012). Dies scheint mitunter
     kann (Thompson 1992; Wertheim et al. 2004).                        bedingt durch den Wandel hin zu einem immer dünner
9                                                                       werdenden Ideal, das für die meisten Frauen unerreichbar
     zz Ernährungsphysiologische Faktoren                               geworden ist (Garner 1997). So geben Mangweth-Matzek
10   Es gibt Hinweise darauf, dass Mütter mit Essstörungen              et al. (2006) an, dass auch bei älteren Frauen über 60 % un-
     ihre Kinder eher nach externen Zeitgebern gefüttert ha-            zufrieden mit dem eigenen Körper sind und mehr als 80 %
     ben, anstatt auf die Hungersignale der Kinder zu achten            das Körpergewicht aus diesem Grunde kontrollieren. Der
11   (Evans und Le Grange 1995). Dadurch kann es zu einer               gewünschte BMI lag fast 2 Punkte unter dem BMI, den die
     Entkopplung von Nahrungsaufnahme und physiologi-                   Frauen durchschnittlich hatten. Aber bereits bei Grund-
12   schem Bedürfnis bzw. Hunger gekommen sein. Die Hun-                schulkindern zeigen sich die Einflüsse des omnipräsenten
     ger- und Sättigungswahrnehmung wird so möglicher-                  gesellschaftlichen Schlankheitsideals (Schur et al. 2000).
     weise gestört, so dass das Essverhalten weitgehend external             Der Grund für den großen Einfluss dieses Schlank-
13   durch Auslösereize in der Umgebung (z. B. Verfügbarkeit            heitsideals wird darin gesehen, dass das von den Medien
     von Nahrung) oder internal durch Kognitionen (z. B.                dargestellte Ideal vor allem bei Frauen gleichzeitig an
14   „Jetzt ist 13.00 Uhr – Essenszeit“ bzw. „Ein Teller Suppe          positive Attribute wie Attraktivität, Glück und Erfolg ge-
     ist genug“) gesteuert wird. Durch die weggefallene Sätti-          koppelt ist. In welchem Ausmaß sich eine Person jedoch
15   gungswahrnehmung ist das Risiko, sich zu überessen und             dem Schlankheitsideal beugt, hängt vom Grad des wahr-
     langfristig bei Vorhandensein weiterer Risikofaktoren eine         genommenen Drucks in Richtung Schlankheit und dem
     Essanfallstörung zu entwickeln, hoch (de Zwaan 2003). Es           Ausmaß der Internalisierung dieses Schlankheitsideals ab
16   ist jedoch anzunehmen, dass ernährungsphysiologische               (Keery et al. 2004). Als positiv assoziiert mit einer stärke-
     Aspekte neben der Entstehung einer Essstörung vor allem            ren Verinnerlichung des Schlankheitsideals gelten dabei
17   in der Aufrechterhaltung eine Rolle spielen, da durch das          bestimmte Charakteristika wie bereits vorhandene Körper­
     ungeregelte Essverhalten vor allem bei der Bulimia nervosa         unzufriedenheit, depressive Stimmung sowie Tendenzen,
     und wiederholte Fastenphasen eine internale physiologi-            seinen Körper mit dem anderer Menschen zu vergleichen
18   sche Sättigungsregulation nicht mehr verlässlich stattfin-         (Durkin und Paxton 2002). Neben diesen Mediatoren wer-
     den kann (Connan und Stanley 2003). Eine differenziertere          den zudem noch ein geringes Selbstwertgefühl, ein höhe-
19   Darstellung ernährungsphysiologischer Faktoren wie die             res Körpergewicht sowie Schwierigkeiten mit der eigenen
     Regulation von Hunger und Sättigung findet sich bei Pudel          Identität (z. B. in der Adoleszenz im Rahmen der Persön-
20   und Westenhöfer (1998).                                            lichkeitsentwicklung) im Zusammenhang mit der Inter-
                                                                        nalisierung des Schlankheitsideals genannt (Keery et al.
                                                                        2004). Experimentelle Untersuchungen zum Einfluss der
21   2.1.2   Soziokulturelle Faktoren                                   Medien auf Stimmung und Körperwahrnehmung belegen
                                                                        einen Teil dieser Annahmen. So sind Frauen nach Darbie-
22   Neben biologischen Faktoren werden soziokulturelle Ein-            tung von schlanken Models in Zeitungen, Werbespots und
     flüsse auf die Entwicklung von Essstörungen diskutiert.            Bildern schlechter gestimmt und unzufriedener mit ihrem
2.1 • Prädisponierende Faktoren für Essstörungen
                                                                                                         27                  2

Körper. Dies trifft vor allem auf junge Frauen (
28     Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     lung von Essstörungen zu sein (Jacobi 2000). Die negative         nismus ein relativ stabiles Merkmal auf Seiten einer Person
1    Selbstbewertung wird dabei als unmittelbar wirkender              und kein Epiphänomen der Essstörung ist. Auch die inhalt-
     Faktor, welcher dem gestörten Essverhalten vorausgeht,            liche Betrachtung der bei Patientinnen mit Essstörungen
2    beschrieben (Fairburn et al. 1986). Dies zeigte sich auch in      charakteristischerweise auftretenden kognitiven Grundan-
     laborexperimentellen Studien, welche die Höhe des Selbst-         nahmen (z. B. „Wenn ich nicht alles perfekt mache, bin ich
     wertgefühls als Prädiktor für die Menge der verzehrten            ein Versager!“) erbringen Hinweise auf perfektionistische
3    Nahrung bestätigen konnten, wobei ein niedriger Selbst-           Ansprüche an sich selbst („Kognitive Defizite“).
     wert mit geringerer Nahrungsaufnahme assoziiert war.
4    (Jansen et al. 1998). Weitere Untersuchungen weisen auf           zz Impulsivität
     die eng mit dem Selbstwert verknüpfte Selbstwirksamkeit           Verschiedene Autoren nehmen Defizite in der Impulskon-
5    hin, welche ebenfalls einen Einfluss auf das Essverhalten         trolle bei Essstörungen an und postulieren, dass es einen
     hat (Bardone et al. 2003). Einschränkend ist hier jedoch          Zusammenhang zwischen Impulsivität als Persönlichkeits-
     anzumerken, dass ein niedriges Selbstwertgefühl auch bei          faktor und der Entstehung von Essstörungen, insbeson-
6    anderen psychischen Störungen eine Rolle spielt und so            dere der Bulimia nervosa, gibt. (Hawkins und Clement
     möglicherweise nicht spezifisch für die Essstörungsent-           1984; Welch und Fairburn 1996; Krug et al. 2011). Hier-
7    wicklung ist (Jacobi et al. 2003).                                bei werden Essanfälle und selbstinduziertes Erbrechen als
                                                                       impulsives Verhalten betrachtet. Allerdings ist der bislang
     zz Perfektionismus                                                angenommene Zusammenhang zwischen Essanfällen, Er-
8    Perfektionismus gilt als gut belegter prädisponierender und       brechen und Impulsivität als Trait empirisch nicht kon-
     aufrechterhaltender Faktor für Essstörungen. So zeigte die        sistent nachweisbar (Brown et al. 2011). Neuere Studien
9    Analyse von Shafran et al. (2002) einen deutlichen Zusam-         weisen darauf hin, dass sich Patientinnen mit Anorexia
     menhang zwischen einem hohen Ausmaß an Perfektionis-              nervosa vom Purging-Typus nicht von Patientinnen mit
10   mus und der Entstehung von Essstörungen, vor allem bei            Bulimia nervosa im Ausmaß der Trait-Impulsivität un-
     anorektischen Patientinnen. Bezüglich des Perfektionis-           terscheiden (Zalar et al. 2011).. Möglicherweise ist das
     mus kann zudem zwischen selbst- und sozial orientiertem           Ausmaß negativer Stimmung moderierend für diese Ver-
11   Perfektionismus unterschieden werden (Sherry et al. 2004).        bindung: so wiesen Bekker et al. (2004) nach, dass sich Per-
     Während sich der selbstorientierte Perfektionismus auf            sonen mit hoher Impulsivität stärker durch die Induktion
12   hohe Ansprüche an sich selbst bezieht („Ich hasse es, nicht       einer negativen Emotion beeinflussen lassen und dadurch
     die Beste zu sein“), umfasst der sozial orientierte Perfekti-     bedingt mehr Nahrung zu sich nehmen. Wonderlich et al.
     onismus subjektive Vergleiche und angenommene Erwar-              (2004) weisen darauf hin, dass Impulsivität – als Trait ge-
13   tungen anderer Menschen an die Person selbst („Nur eine           messen – keinen Zusammenhang mit der Entstehung einer
     hervorragende Leistung ist gut genug in meiner Familie“;          Essstörung aufweist; erst der Einbezug impulsiver Verhal-
14   „Als Kind habe ich mich sehr angestrengt, meine Eltern            tensweisen als State-Merkmal erwies sich als aussagekräf-
     und die Lehrer nicht zu enttäuschen“). Es ist anzunehmen,         tiger Prädiktor für die Essstörungsentwicklung. Zudem
15   dass sich selbstorientierter Perfektionismus vor allem dann       konnte für Patientinnen mit einer Bulimie nachgewiesen
     entwickelt, wenn in der Familie hohe Leistungsansprüche           werden, dass eine geringere Impulsivität zu Behandlungs-
     vermittelt werden. Vermutlich ist selbstorientierter Perfek-      beginn mit einem besseren Therapieerfolg zusammenhing
16   tionismus vor allem bei Frauen mit einer Anorexia nervosa         (Castellini et al. 2012).
     vorhanden. Sherry et al. (2004) konnten zudem nachwei-
17   sen, dass der Einfluss von selbstorientiertem Perfektionis-       zz Kognitive Faktoren
     mus auf die Essstörungssymptomatik von der Stärke des             Die Überbewertung von Figur und Gewicht gilt als ein Ri-
     sozial orientierten Perfektionismus abhängt.                      sikofaktor für die Entstehung von Essstörungen (Fairburn
18        Neben der prädiktiven Bedeutung des Perfektionismus          et al. 2003). Es wird daher vermutet, dass dysfunktionale
     ist ihm des Weiteren eine aufrechterhaltende Funktion             kognitive Prozesse in Form von spezifischen Grundannah-
19   zuzuordnen. So konnte beispielsweise in Therapiestudien           men („core beliefs“) bei der Entstehung und Aufrechter-
     gezeigt werden, dass ein hoch ausgeprägter Perfektionis-          haltung von Essstörungen eine Rolle spielen (Waller et al.
20   mus negativ mit dem Behandlungsergebnis korrelierte. Des          2000; Legenbauer et al. 2007). Dabei geht man davon aus,
     Weiteren konnte in dieser Untersuchung im Verlaufe eines          dass essens- und gewichtsbezogene Inhalte durch Lerner-
     Follow-up-Zeitraumes beobachtet werden, dass das Aus-             fahrungen ▶ Abschn. 2.1.2 und ▶ Abschn. 2.1.3) an die
21   maß an Perfektionismus nicht auf das Niveau von gesun-            Selbstbewertung gekoppelt werden (Morris et al. 2001).
     den Kontrollpersonen absank, obwohl die Essstörungssym-           Diese werden in kognitiven Strukturen, sog. kognitiven
22   ptome deutlich reduziert waren (Sutandar-Pinnock et al.           Schemata verankert und enthalten dysfunktionale Grund-
     2003). Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Perfektio-         annahmen, welche zumeist als absolute, bedingungslose
2.3 • Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen
                                                                                                         29                   2

und dichotome Überzeugungen in Bezug auf sich selbst          neuen Lebensabschnitt, die Trennung von einem Partner,
und die Welt verstanden werden. Diese dysfunktionalen         der Umzug in eine andere Stadt oder weitere Belastungen.
Grundannahmen entwickeln sich meist früh im Leben als         Insgesamt kann festgehalten werden, dass durch diese kri-
adaptive Reaktion auf die Umwelt und bleiben auch dann        tischen Lebensereignisse an die Person Bewältigungsan-
noch bestehen, wenn die damals relevanten Bedingungen         forderungen gestellt werden, denen sie sich nicht gewach-
nicht mehr wirksam sind, so dass die möglicherweise zu-       sen fühlt. Stress scheint zumindest bei gesunden Frauen,
nächst funktionalen Überzeugungen unangemessen wer-           die einige der Vulnerabilitätsfaktoren aufweisen, eine bis
den (Young 1994).                                             dahin nicht vorhandene Verbindung zwischen psycholo-
     In den letzten Jahren konnte in mehreren Studien ein     gisch prädisponierenden Faktoren und dem Wunsch nach
Zusammenhang zwischen dysfunktionalen kognitiven              Gewichtsverlust oder zumindest der Planung einer Diät
Schemata und der Essstörungssymptomatik nachgewie-            auszulösen (Sassaroli und Ruggiero 2005).
sen werden (Dingemans et al. 2005; Unoka et al. 2010).             Wenn bei den für Essstörungen gefährdeten Personen
Insbesondere erwiesen sich negative Schemata zu den           durch einen Gewichtsverlust infolge einer Nahrungsmit-
Bereichen „wahrgenommene Unzulänglichkeit/Scham“,             telrestriktion positive Rückmeldungen von Angehörigen
„unzureichende Selbstkontrolle“ und „Leistungsversagen“       und Peers folgen, kann dies verstärkend wirken und die
als relevant, die sich in typischen Gedanken wie „Ich muss    Verbindung zwischen einer Gewichtsreduktion und einer
alle meine Handlungen kontrollieren, um mich sicher zu        Selbstwertgefühlerhöhung stabilisieren. Die Angst vor ei-
fühlen“, „Ich muss alles perfekt machen, sonst ist es wert-   ner erneuten Gewichtszunahme wird etabliert und hält das
los“ und „Jeder muss mich lieben und mein Verhalten           restriktive Essverhalten aufrecht. Vor allem bei der Ano-
gutheißen“ äußern (Bauer und Anderson 1989). Diese in         rexia nervosa ziehen die Frauen aus dem Empfinden, eine
den kognitiven Schemata verankerten dysfunktionalen           außergewöhnliche Selbstdisziplin zu besitzen, eine so po-
Grundannahmen besitzen Handlungsrelevanz (Vitousek            sitive Verstärkung, dass es zu einem Streben nach weiterer
und Hollon 1990) und führen durch Fehler in der Informa-      Gewichtsabnahme und übermäßigem Kontrollverhalten
tionsverarbeitung ankommender Reize von außen zu Fehl-        kommt. Allerdings kann es durch die Nahrungsmittelres-
interpretationen (Cooper 1997) und damit auch zur Aus-        triktion auch zu einer höheren Auftretenswahrscheinlich-
wahl dysfunktionaler Verhaltensweisen. Die fehlerhaften       keit von Essanfällen kommen, auf welche die Betroffenen
Informationsverarbeitungsprozesse sind gekennzeichnet         häufig mit kompensatorischen Maßnahmen wie selbstin-
durch selektive Aufmerksamkeit und Erinnerungsprozesse.       duziertem Erbrechen reagieren. Diese Gegenmaßnahmen
Es wird angenommen, dass diese kognitiven Defizite zu         gehen meist mit Schuldgefühlen einher, so dass eine Ab-
einer Verstärkung der negativen Sichtweise über sich selbst   wärtsspirale aus Diäthalten, Gewichtsverlust, Essanfällen
und den eigenen Körper führen und im Weiteren dadurch         und Erbrechen auftritt und die Vollsymptomatik der Buli-
zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen (William-      mia nervosa entsteht.
son et al. 2004; ▶ Abschn. 2.3.3).                                 Im Folgenden werden die Mechanismen beschrieben,
                                                              die bedingen, dass eine Essstörung über längere Zeit be-
>> Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ            stehen bleibt.
      stabile Merkmale auf Seiten einer Person oder ihrer
      Umwelt, welche die Grundlage für die Entwicklung
      einer Essstörung darstellen. Diese prädisponieren-      2.3    Aufrechterhaltende Faktoren
      den Faktoren umfassen biologische, soziokulturelle,            von Essstörungen
      familiäre und individuelle Aspekte.
                                                              Zu den aufrechterhaltenden Faktoren zählen ein gezügeltes
                                                              Essverhalten, ein hohes Ausmaß an Stress sowie fehlende
2.2      Auslösende Faktoren von                              Bewältigungsfertigkeiten und eine dysfunktionale Infor-
         Essstörungen                                         mationsverarbeitung. Diese Faktoren wirken dabei verstär-
                                                              kend auf die vorhandenen prädisponierenden Faktoren und
Das Vorhandensein eines oder einiger der oben genann-         sorgen dafür, dass es zu einem sich selbst perpetuierenden
ten prädisponierenden Faktoren bei einer Person kann          Teufelskreis kommt. Die aufrechterhaltenden Faktoren für
das Risiko für die Entstehung einer Essstörung im Laufe       die Bulimia und Anorexia nervosa entsprechen sich größ-
ihres Lebens erhöhen. Jedoch kann hierdurch der Mani-         tenteils, für die Anorexia nervosa wird ergänzend ein aus-
festationszeitpunkt nicht vorhergesagt werden. In diesem      geprägtes Kontrollgefühl diskutiert, was aufgrund nur we-
Zusammenhang werden auslösende Ereignisse relevant:           niger wissenschaftlicher Studien an dieser Stelle nicht näher
Hierzu zählen – wie auch bei anderen psychischen Störun-      erläutert wird. Im Folgenden sind die einzelnen Faktoren
gen – kritische Lebensereignisse wie der Eintritt in einen    anhand von Forschungsbefunden beschrieben.
30      Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     2.3.1   Gezügeltes Essverhalten                                    trolle beinhaltet hierbei, dass Diätregeln ganz genau und
1                                                                       ausnahmslos befolgt werden müssen, während bei der fle-
     Das Modell des gezügelten Essverhaltens oder „Restraint            xiblen Kontrolle Abweichungen von den Diätregeln (z. B.
2    Eating“ (Herman und Polivy 1980) wird im Rahmen der                gelegentlicher Verzehr eines „verbotenen“ Nahrungsmit-
     Essstörungsforschung seit vielen Jahren umfassend unter-           tels) von den Betroffenen eher toleriert werden und später
     sucht. Es ist definiert als selbstauferlegte Nahrungsdepri-        (z. B. durch eine verstärkte Nahrungsrestriktion) wieder
3    vation und wird von den Betroffenen eingesetzt, um ein             kompensiert werden können. Es zeigte sich, dass die rigide
     Gewicht unterhalb des eigenen „Set Point“ zu erreichen             Kontrolle in stärkerer Verbindung zu bulimischer Symp-
4    bzw. zu halten (Nisbett 1972). Hierzu versuchen die Perso-         tomatik steht (Westenhöfer et al. 1999), was dadurch zu
     nen, sich an bestimmte Regeln bezüglich einer Begrenzung           erklären ist, dass die rigide Kontrolle von den Betroffenen
5    der aufgenommenen Nahrungsmittel bzw. die Auswahl be-              dauerhaft schwer aufrechtzuerhalten ist und daher oft in
     stimmter niederkalorischer Nahrungsmittel zu halten. Das           Essanfälle mündet.
     Konzept des Restraint Eating wird sowohl in der Entstehung             Es kann trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze
6    als auch in der Aufrechterhaltung diskutiert. Allerdings tritt     festgehalten werden, dass Diäthalten bzw. gezügeltes Ess-
     nicht bei allen Patientinnen mit Essstörungen, insbesondere        verhalten eine zentrale Stellung bei der Entstehung, Aus-
7    der Bulimia nervosa, auch gezügeltes Essverhalten vor dem          lösung und Aufrechterhaltung von Essanfällen einnimmt,
     Beginn der Störung auf. Daher wird dieses Konzept hier             wobei ein gezügeltes Essverhalten nur bei einem Teil der
     vornehmlich im Zusammenhang mit der Aufrechterhal-                 Betroffenen den Essanfällen vorangeht.
8    tung beschrieben: kommt es zu einem Verstoß gegen die
     selbstauferlegten Regeln und damit einhergehend zu einem
9    Gefühl des Versagens, kann ein Kontrollverlust über das            2.3.2    Stress, Coping
     Essen resultieren (Herman und Polivy 1984). Vor allem das                   und Emotionsregulation
10   „Alles-oder-Nichts-Denken“ spielt hier eine Rolle. Neben
     der kognitiven Komponente, d. h. dem Bewusstsein darü-             Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass Stress und
     ber, die Diätregeln gebrochen zu haben, können auch starke         dysfunktionales Stressbewältigungsverhalten in Verbin-
11   negative emotionale Zustände wie Angst, Depression oder            dung mit der Aufrechterhaltung von bulimischer Sym-
     Stress zur Enthemmung führen und Essanfälle nach sich              ptomatik stehen (Crowther et al. 2001). Zunächst wird
12   ziehen (Herman und Polivy 1984).                                   kurz auf die Art der in diesem Zusammenhang relevanten
          In Feldstudien konnte nachgewiesen werden, dass               Belastung eingegangen; gefolgt von der Erläuterung der
     Frauen vor einem Essanfall im Vergleich zu Kontroll-               Rolle von Defiziten im Stressbewältigungsverhalten als die
13   personen häufig kalorisch depriviert waren (Davis et al.           Essstörung aufrechterhaltende Mechanismen.
     1988) und die Vorhersage eines Essanfalls durch das Aus-               In der Forschung hat sich bei der Überprüfung der
14   maß selbstberichteter Restriktion möglich ist (Zunker              Art der im Zusammenhang mit Essstörungen zentralen
     et al. 2011). In den 80er-Jahren zeigten Studien, dass ein         Belastungssituationen insbesondere das Feld der interper-
15   positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des ge-                 sonalen Konflikte als ausschlaggebend erwiesen (Tuschen-
     zügelten Essverhaltens auf der einen und dem Schweregrad           Caffier und Vögele 1999).
     der Essanfallssymptomatik auf der anderen Seite besteht                Dass tägliche Belastungen als stressreicher empfunden
16   (Byrne und McLean 2002). Diese Verbindung scheint                  werden und auch zu einer höheren Kalorienaufnahme füh-
     insbesondere für subjektive Esssanfälle, d. h. Kontrollver-        ren, konnte in einer Feldstudie gezeigt werden: Frauen, die
17   lust beim Essen, ohne dass eine objektiv zu große Menge            unter Essanfällen leiden, empfanden tägliche Belastungen
     verzehrt wird, zu gelten (Kerzhnerman und Lowe 2002).              als stressreicher als gesunde Kontrollpersonen und nah-
     Die Autoren gehen deshalb davon aus, dass die Beziehung            men an Tagen mit höherem Ausmaß von Stress mehr Ka-
18   in kognitiven und nicht in physiologischen deprivations-           lorien zu sich als an weniger stressigen Tagen (Crowther
     basierten Aspekten des gezügelten Essens begründet ist.            et al. 2001).
19   Die Existenz eines Zusammenhangs zwischen gezügeltem                   Des Weiteren wird vermutet, dass nicht nur das
     Essverhalten und Essanfällen ist jedoch nicht unumstrit-           Stressempfinden, sondern vor allem auch Defizite in der
20   ten. Ein Grund dafür könnte die vage Begrifflichkeit von           Bewältigung von Belastungssituationen ein aufrechter-
     „dietary restraint“ (gezügeltes Essen) und „dieting“ (Diät         haltender Faktor bei Essstörungen ist. Frauen mit einer
     halten) darstellen (Lowe et al. 1991).                             Bulimia nervosa scheinen beispielsweise geringe Fähig-
21        Westenhöfer et al. (1999) schlagen vor, die Art der           keiten zu besitzen, negative Gefühlszustände auszuhalten
     ausgeübten Kontrolle beim gezügelten Essen stärker zu              sowie sich zu entspannen und zu beruhigen (Esplen et al.
22   beachten. Ihrer Auffassung nach muss zwischen rigider              2000). Defizite in der Bewältigung von Anspannungs-
     und flexibler Kontrolle unterschieden werden. Rigide Kon-          und Belastungssituationen scheinen daher an der Auf-
2.3 • Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen
                                                                                                          31                  2

rechterhaltung der Essstörung insofern beteiligt zu sein,       2.3.3   Dysfunktionale
als durch die Essstörung die Auseinandersetzung mit den                 Informationsverarbeitungsprozesse
Problemen vermieden bzw. die daraus resultierende An-
spannung vermindert werden kann, da Essattacken und             Dysfunktionale Denkmuster haben nicht nur Einfluss
Erbrechen kurzfristig oft eine entspannende und emo-            auf die Entstehung einer Essstörung (▶ Ausführungen
tionsregulierende Funktion besitzen. Diese Annahmen             zu prädisponierenden Faktoren, ▶ Abschn. 2.1), sondern
konnten anhand verschiedener Studien belegt werden:             tragen auch zu deren Aufrechterhaltung bei (Fairburn
So wurden Zusammenhänge zwischen gestörtem Ess-                 et al. 1986), da sie die Handlungskompetenz der betrof-
verhalten auf der einen und defizitärem problem- bzw.           fenen Person negativ beeinflussen (Vitousek und Hollon
aufgabenorientiertem Coping auf der anderen Seite nach-         1990; ▶ Abschn. 2.1.4, Unterabs. „Kognitive Faktoren“).
gewiesen (Ghaderi und Scott 2000). Zudem zeigte sich in         Beispielsweise scheinen insbesondere das gezügelte Essen,
weiteren Untersuchungen, dass Frauen mit einer Essstö-          Erbrechen, andere Kompensationsmaßnahmen und ext-
rung mehr vermeidendes Bewältigungsverhalten zeigen             remes Gewichtskontrollverhalten infolge der spezifischen
als gesunde Kontrollpersonen (Koo-Loeb et al. 2000),            dysfunktionalen Kognitionen aufzutreten (Fairburn et al.
sich häufiger ablenken und stärker emotionsorientiertes         1999). Erklärt werden kann dies durch die schemakon-
Coping einsetzen als Gesunde (Koff und Sangani 1997).           forme Informationsverarbeitung, welche beispielsweise zu
Troop et al. (1998) beschreiben außerdem, dass Frauen           Irrationalität und dichotomer Kategorisierung von Nah-
mit einer Essstörung in einem stärkeren Maße kognitive          rungsmitteln als gut/schlecht, massiver Selbstabwertung
Vermeidung und Verdrängung in Konfliktsituationen               nach dem Essen verbotener Speisen, überhöhten Ansprü-
zeigen, ihre Probleme weniger stark bagatellisieren, aber       chen beim Durchhalten einer Diät und der Antizipation
eher dazu neigen, sich selbst zu beschuldigen und weniger       von Kontrollverlust beim Essen (Legenbauer 2003) und
Unterstützung bei anderen zu suchen. Der Zusammen-              anderen verwandten depressionstypischen Kognitionen
hang zwischen Copingverhalten und dem Auftreten von             (Göbel et al. 1989) führt. Mit einer Pfadanalyse wurde
Essanfällen konnte von Freeman und Gil (2004) nach-             diese Annahme überprüft und dabei gezeigt, dass eine
gewiesen werden: Die Autoren zeigten, dass Frauen mit           Verbindung zwischen extremer Besorgnis über Figur und
einer Essstörung, die vermehrt Ablenkungsstrategien             Gewicht auf der einen und kompensatorischem Verhal-
einsetzten, ein höheres Risiko hatten, nachfolgend einen        ten auf der anderen Seite besteht. Legenbauer et al. (2011)
Essanfall zu erleiden.                                          konnten zudem zeigen, dass beispielsweise die Reduktion
    Ein defizitäres Bewältigungsverhalten scheint damit         diätbezogener Gedanken im Rahmen einer Behandlung
sowohl zur Entstehung als auch zur Aufrechterhaltung            die Reduktion des restriktiven Essens vorhersagte und die
einer Essstörung beizutragen, wobei unterschiedliche Fa-        Reduktion von körperbezogenen und selbstwertbezogenen
cetten des Bewältigungsverhaltens mit unterschiedlichen         Gedanken die Reduktion von Essanfällen prädizierte. Die
Essstörungssymptomen im Zusammenhang zu stehen                  Befunde bestätigen den Zusammenhang zwischen dys-
scheinen (Freeman und Gil 2004). Maladaptive Stressbe-          funktionalen Annahmen und bestehendem gestörten Ess-
wältigung im weitesten Sinne könnte als Teil von Störun-        verhalten. Des Weiteren wurden die verschiedenen Infor-
gen der Emotionsregulation verstanden werden. Dies ist          mationsverarbeitungsprozesse experimentell überprüft. Es
insofern von Interesse, als in den letzten Jahren Störungen     konnte beispielsweise mit dem Paradigma des Stroop-Tests
der Emotionsregulation vermehrt Aufmerksamkeit erfah-           nachgewiesen werden, dass Frauen mit einer Essstörung
ren haben und eine rege Forschungstätigkeit angestoßen          eine selektive Aufmerksamkeitszuwendung hinsichtlich
wurde (Gross 2002). Tatsächlich belegen neuere Studien          nahrungs-, figur- und gewichtsbezogener Wörter aufwei-
die Existenz von Störungen der Emotionsregulation bei           sen (Lovell et al. 1997). Diese Ergebnisse werden dahinge-
Patientinnen mit Essstörungen – unabhängig von der Art          hend interpretiert, dass die mit den bedrohlichen Reizen
der Diagnose: Frauen mit Essstörungen erleben Emotionen         verbundenen kognitiven Strukturen (Schemata) bei den
mit stärkerer Intensität, können Emotionen weniger gut          Patientinnen mit Essstörungen stärker ausgebildet sind
annehmen und sind sich deren weniger bewusst. Außer-            und so mehr Verarbeitungskapazität beanspruchen, wo-
dem berichten sie weniger adaptive und vermehrt malad-          durch sich die Reaktionszeit bei der Farbnennung verlang-
aptive Regulationsstrategien (Svaldi et al. 2012). Zudem        samt (Foa et al. 1991). Die Ergebnisse von Cooper (1997)
scheinen Frauen mit Essstörungen Schwierigkeiten in der         weisen in eine vergleichbare Richtung: Hier wurde ein Bias
Erkennung von Emotionen bei anderen Menschen aufzu-             in Richtung negativer Körper- und Selbstbewertung bei
weisen (Harrison et al. 2010), allerdings sind die Ergebnisse   Frauen mit Essstörungen nachgewiesen, wenn diese mehr-
inkonsistent und legen ein mögliches kognitiv-emotionales       deutige soziale Interaktionen bewerten sollten.
Defizit anstatt eines basalen perzeptiven Defekts nahe (Le-         Kognitionen scheinen demnach insbesondere als Aus-
genbauer et al. 2008).                                          löser von Essanfällen zu fungieren (▶ Abschn. 2.4) und so
32       Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     als aufrechterhaltende Faktoren einer Essstörung zu wir-            einer Übersichtsstudie von Mitchell et al. (1998) werden im
1    ken. Hierbei kommt sowohl der Art der kognitiven Verar-             Rahmen von Laborstudien (also nachgestellten Essanfäl-
     beitung als auch dem Inhalt der Kognitionen eine wichtige           len) zwischen 3000 und 4500 kcal bei Frauen mit Bulimia
2    Bedeutung zu (Waller et al. 2000).                                  nervosa und 1500–3000 kcal bei Frauen mit Binge Eating
                                                                         Disorder pro Essanfall angegeben. Es wird vermutet, dass
     >> Aufrechterhaltende Faktoren sind meist eng mit prä-              Essanfälle auf Grund unbekannter Größen variieren. Man-
3          disponierenden Faktoren assoziiert oder sind Folge            che Studien beschreiben zudem, dass Patientinnen mit ei-
           der zugrunde liegenden Defizite, die auch zur Entste-         ner Bulimia nervosa häufiger auch subjektive Essattacken
4          hung der Essstörung geführt haben. Sie werden nach            mit weniger als 100 kcal beschreiben.
           dem Beginn der Essstörungssymptomatik relevant                    Der empfundene Kontrollverlust gilt als stabilstes
5          und interagieren in Form eines Teufelskreises. Meist          Maß in der diagnostischen Bewertung von Essanfällen,
           wirken sie kurzfristig positiv verstärkend. Zu den            was auch durch verschiedene Studien bestätigt werden
           aufrechterhaltenden Faktoren zählen: gezügeltes               konnte (Johnson et al. 2000). Als zweitwichtigstes Kri-
6          Essverhalten, defizitäre Emotionsregulation sowie             terium wird dann erst die Menge angesehen, die Zeit-
           dysfunktionale Informationsverarbeitung und kogni-            dauer stellt sich für die diagnostische Einordnung von
7          tive Prozesse.                                                geringerem Wert dar, wobei eine Mahlzeit bei größerer
                                                                         Menge in kürzerer Zeit eher als Essanfall gewertet wurde
                                                                         als bei größerer Menge in längerer Zeit. Damit wären die
8    2.4      Exkurs: Mikroanalyse                                       Beurteilungen konsistent mit den im DSM angelegten
              von Essanfällen                                            Kriterien. Zu bedenken ist jedoch, dass Essanfälle auch
9                                                                        geplant stattfinden können und damit das Kriterium des
     Ein detailliertes Wissen über die Abläufe im Ess-Brech-             Kontrollverlustes nicht erfüllen. Gerade diese Essanfälle
10   Zyklus hinsichtlich auslösender Bedingungen, vermitteln-            jedoch dienen eher zur Regulation der Stimmung, wäh-
     der Faktoren und aufrechterhaltender Aspekte der Buli-              rend „spontane“ Essanfälle auf das Brechen von Diätre-
     mia nervosa und dem Binge-Eating-/Purging-Typus der                 geln zurückgeführt werden können und dadurch einen
11   Anorexia nervosa sind für ein effektives therapeutisches            Kontrollverlust beinhalten.
     Arbeiten von Wichtigkeit, da die Mikroanalyse Aufschluss
12   über die Funktion des Essens und Erbrechens erlaubt und
     bedeutsame Hinweise auf mögliche zugrunde liegende                  2.4.2    Auslösende Faktoren für Essanfälle
     Problembereiche gibt. Daraus können die notwendigen
13   Interventionsansätze abgeleitet werden. Daher soll im               Es gibt verschiedene Faktoren, die bei der Auslösung von
     Folgenden noch einmal spezifisch auf konkrete Auslösesi-            Essanfällen eine Rolle spielen. Aus kognitiv-behavioraler
14   tuationen für Essanfälle und die Funktion von Essanfällen           Sicht sind dies situative Faktoren, subjektive Befindlichkeit
     eingegangen werden.                                                 und dysfunktionale Bewertungsprozesse. Im Folgenden
15                                                                       werden die einzelnen Faktoren im Überblick dargestellt.

     2.4.1     Definition von Essanfällen                                zz Situative Faktoren
16                                                                       Verschiedene Untersuchungen konnten die Kontextabhän-
     Essanfälle sind per Definition gekennzeichnet als „über-            gigkeit des Auftretens von Essanfällen belegen. Es scheint,
17   mäßige Nahrungsaufnahme innerhalb eines bestimmten                  dass Essanfallsepisoden typischerweise stattfinden, wenn
     Zeitraumes“, wobei die Menge diejenige überschreiten                die Person zu Hause und allein ist (Waters et al. 2001a),
     sollte, die andere Menschen in demselben Zeitraum essen             d. h. vor allem nachmittags und abends auftreten (He-
18   würden. Essanfälle sollten gemäß den DSM-IV-Kriterien               therington et al. 1994). Ein weiterer Kontextfaktor, der
     (▶ Kap. 1) auch einen Kontrollverlust beinhalten, das heißt,        Essanfälle zu begünstigen scheint, ist eine unstrukturierte
19   die Person kann entgegen ihrem eigenen Willen nicht                 Zeiteinteilung (Schlundt et al. 1985). Eine mögliche Erklä-
     aufhören zu essen, oder sie isst hochkalorische, fetthaltige        rung dafür, warum gerade die eben genannten Situationen
20   Nahrungsmittel, die sie sich ansonsten verbietet.                   Essanfälle auslösen können, bieten Konditionierungsmo-
          Rossiter et al. (1992) zufolge wird bei einem Essanfall        delle. So gestalten Patientinnen mit Essstörungen ihre
     im Durchschnitt eine Kalorienmenge von 602 kcal in ei-              Nahrungsaufnahme oft sehr rigide, regelgeleitet und mit
21   nem Zeitraum von 38 min verzehrt, wobei eine große in-              stark eingeschränkter Nahrungsaufnahme. Durch die im-
     tra- und interindividuelle Variabilität besteht. So werden          mer wieder auftretende Kopplung bestimmter nahrungs-
22   Mengen zwischen 1000 und 2000 kcal (Rosen et al. 1986)              bezogener Reize mit spezifischen situativen Faktoren kann
     bis teilweise 20.000 kcal (Mitchell et al. 1985) angegeben. In      es zu einer Konditionierung von Nahrungsaufnahme mit
2.4 • Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen
                                                                                                            33                   2

Zeit, Ort, Stimmungen oder bestimmten Lebensmitteln            aber deren Reduktion durch den Essanfall nicht allgemein
kommen. Basierend auf diesen Annahmen entwickelte              nachweisbar war. Es gibt Hinweise, dass eine Verbesserung
Jansen (1998) ein Modell, welches besagt, dass die Ein-        des emotionalen Zustands durch das Erbrechen erzielt wird
nahme von Nahrung spezifische körperliche Reaktionen           (Haedt-Matt und Keel 2010). Die Autoren postulieren,
auslöst. Diese körperlichen Reaktionen werden längerfris-      dass die Bestätigung des Emotionsregulationsmodells von
tig im Sinne einer klassischen Konditionierung an die mit      Essanfällen möglicherweise nicht eindeutig gelingt, da die
der Nahrungsaufnahme verbundenen Reize (z. B. Fern-            bisher angewandten Methoden negative Emotionen unidi-
sehschauen, Geruch, Küche) gekoppelt, so dass Letztere         mensional messen, Emotionsveränderungen während des
die körperlichen Reaktionen auslösen können, auch wenn         Essanfalls nicht direkt oder nur unzureichend abgebildet
keine Nahrungsaufnahme stattfindet. Es wird folglich an-       werden und mögliche spezifische Facetten der Emotions-
genommen, dass gelernte Reiz-Reaktions-Verbindungen            regulation so bislang nicht erfasst werden.
automatische oder biochemische Reaktionen auslösen,
welche die Wahrscheinlichkeit einer Nahrungsaufnahme           zz Stress
oder auch einer exzessiven Nahrungsaufnahme steigern           Neuere Befunde unterstützen die bereits in den 90er-Jahren
können (Wardle 1990). Diese Annahme wird indirekt              postulierte Verbindung zwischen Stresserleben und Essen.
durch bisherige Untersuchungsergebnisse zu Essanfällen         So zeigten Groesz et al. (2012) in einer Studie mit normal-
unterstützt. So wurde beispielsweise herausgefunden, dass      gewichtigen und adipösen Personen, dass Stress zu einem
gezügelte Esser dann ein stärkeres Verlangen zu essen ver-     erhöhten Verlangen zu essen führt und dies auch mit der
spüren, wenn sie einem Reiz ausgesetzt waren, der typi-        Tendenz zu Essanfällen und verringerter Kontrolle zusam-
scherweise Nahrungsaufnahme vorhersagt, z. B. der Ge-          menhängt (Groesz et al. 2012). Befunde an Personen, die
ruch von „Binge-Food“ oder auch nur der Gedanke daran          bereits ein gestörtes Essverhalten aufweisen, unterstützen
(Fedoroff et al. 1997). Dieses Modell erweitert den Einfluss   diese Ergebnisse: es konnte beispielsweise in einer Unter-
bereits identifizierter Enthemmer (z. B. den Bruch der Di-     suchung demonstriert werden, dass gezügelte Esser im
ätregeln) bei restriktiv essenden Personen (▶ Abschn. 2.4.1)   Vergleich zu ungezügelten insbesondere unter interper-
und unterstützt die Annahme, dass Lernerfahrungen              sonellem Stress dazu neigen, bei Stress zu überessen (Ta-
aufrechterhaltend für eine Essstörung, insbesondere die        nofsky-Kraff et al. 2000). Insbesondere zeigten Heatherton
Essanfallssymptomatik, sein können. Es ist jedoch auch         et al. (1991), dass Stress, der das Selbstbild einer Person be-
denkbar, dass durch Bedingungen wie Alleinsein und Lan-        droht, wie Misserfolg bei einer leichten Aufgabe oder auch
geweile dysfunktionale Kognitionen sowie eine negative         das Halten einer Rede vor einem wertenden Publikum bei
Emotion gefördert werden.                                      gezügelten Essern zu Enthemmung beim Essen führt.
                                                                    Auch für klinisch relevante Essstörungen konnte eine
zz Negative Emotion                                            Verbindung zwischen Stress und Essverhalten nachgewie-
Wie bereits in den Ausführungen zum gezügelten Essver-         sen werden. So scheinen restriktiv essende und bulimische
halten erwähnt wurde, wird angenommen, dass negative           Frauen verglichen mit gesunden Kontrollpersonen alltäg-
Emotionen bei der Auslösung und Aufrechterhaltung von          liche Belastungsereignisse als stressreicher zu empfinden
Essanfällen eine wichtige Rolle spielen. Viele Studien konn-   und unter Stress größere Nahrungsmengen zu sich zu
ten zeigen, dass negative Stimmungen Essanfällen voraus-       nehmen. Insbesondere interpersonale Stresssituationen
gingen (Greeno et al. 2000; Waters et al. 2001b; Wegner        werden in Verbindung mit Essanfällen genannt (Tanosfky-
et al. 2002). In Feldstudien konnte dies bestätigt werden,     Kraff et al. 2000).
da bis zu einer Stunde vor einem Essanfall eine negativere
Stimmung nachgewiesen wurde (Davis et al. 1988; Alpers         zz Dysfunktionale Kognitionen
und Tuschen-Caffier 2001). Detailliertere Analysen wei-        Verschiedene Forschungsarbeiten bestätigen die Relevanz
sen insbesondere auf Anspannung, schlechte Stimmung            kognitiver Prozesse bei der Auslösung von Essanfällen
und ein größeres Verlangen nach Nahrung als Auslöser für       (Waller et al. 2002). Kognitive Prozesse spielen je nach si-
Essanfälle hin (Greeno et al. 2000). Nach Stice und Agras      tuativer Begebenheit eine unterschiedliche Rolle. So kann
(1999) scheinen negative Emotionen zudem zu einer Ver-         zum Beispiel die Bewertung einer bereits konsumierten
schlimmerung bulimischer Symptomatik beizutragen, da           Mahlzeit zu einem Essanfall führen, wenn die Betroffene
im Sinne einer dysfunktionalen Emotionsbewältigungs-           das Gefühl hat, zu viel gegessen zu haben – also die selbst
strategie (▶ Kap. 10) durch den Essanfall die negative         auferlegten Diätregeln gebrochen hat (Huon 1997; Herman
Stimmung reduziert wird. Eine Metaanalyse, welche Da-          und Polivy 1984). Das heißt, die Bewertung, gegen eine
ten aus Studien mit Ecological Momentary Assessment            selbst auferlegte Diätvorschrift wie „ich darf keine Schoko-
(EMA)-Technik auswertete, zeigte allerdings, dass zwar         lade essen“ verstoßen zu haben, kann einen Essanfall vor-
dem Essanfall eine stärkere negative Emotion voranging,        aussagen. Neben der negativen Emotion ist dieser zweite
34       Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa

     Faktor ausschlaggebend für die Aufklärung der Varianz bei                 Auslösung beteiligt. Positiv verstärkend wirken die
1    der Auslösung eines Essanfalles.                                          kurzfristige Erleichterung und die mögliche Ablen-
          Auch wurde anhand von retrospektiv erfassten Essan-                  kung von negativen Ereignissen.
2    fallsberichten bei Patientinnen mit Binge-Eating-Störung
     gezeigt, dass vor einem Essanfall meistens Kognitionen,
     welche die Intention, eine Essattacke zu haben („Ich brau-          2.5      Zusammenfassung

                                                                         -
3    che jetzt was Süßes“) bzw. die antizipierte Veränderung
     der Emotion („Wenn ich die Schokolade esse, geht es mir                   Bei der Erklärung von Essstörungen wie auch
4    besser“) beinhalteten, auftraten. Während des Essanfalls                  anderen Erkrankungen ist eine Unterteilung in
     drehten sich die Kognitionen meist um den Kontrollver-                    prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende
5
6
     lust, nach dem Essanfall traten dann vorwiegend selbstab-
     wertende Kognitionen auf (Arnow et al. 1992).
          Neuere Theorien beschäftigen sich mit einem mögli-
     chen Rebound-Effekt: je stärker die Betroffenen sich ver-
                                                                         -     Faktoren sinnvoll.
                                                                               Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ stabil
                                                                               und begünstigen die Entstehung einer Essstörung.
                                                                               Diese umfassen biologische, soziokulturelle, famili-
     bieten, bestimmte Speisen zu essen oder überhaupt an Es-                  äre und individuelle Faktoren. Zu den biologischen
7    sen zu denken, desto höher wurde die Valenz der Speisen.                  Faktoren zählen neben genetischen auch neurobio-
     Dies bedeutet, dass die Gedanken einem paradoxen Effekt                   logische, körperliche und ernährungsphysiologische
     nach sich ziehen. Diese Annahme konnte bereits in Labor-                  Faktoren. Soziokulturelle Aspekte beinhalten das
8    versuchen an gezügelt essenden Frauen verifiziert werden                  gesellschaftliche Schlankheitsideal und den Ein-
     (Stirling und Yeomans 2004).                                              fluss von Familie und Peers. Familiäre Faktoren
9                                                                              beziehen sich meist auf die Interaktionsmuster der
                                                                               Familie, während individuelle Faktoren bestimmte
              Funktion des Essanfalls
10   2.4.3                                                                     Charakteristika der jeweiligen Person, wie niedriger
                                                                               Selbstwert, Perfektionismus und Impulsivität sowie

11
12
     Viele Autoren halten es im Zusammenhang mit dem
     Auftreten negativer Emotionen vor Essanfällen für wahr-
     scheinlich, dass ein Essanfall der Reduzierung dieses un-
     angenehmen Gefühlszustands dienen soll. Das Modell der
                                                                         -     kognitive Defizite, umfassen.
                                                                               Auslösende Faktoren bestimmen über den Zeit-
                                                                               punkt der Manifestation einer Essstörung und
                                                                               beinhalten zumeist kritische Lebensereignisse (z. B.

13
     Flucht vor aversiver Selbstaufmerksamkeit von Heatherton
     und Baumeister (1991) beispielsweise erklärt die Funktion
     eines Essanfalls damit, dass durch eine kognitive Einen-
     gung der Wahrnehmungsfokus ausschließlich auf die ge-
                                                                         -     Trennungen).
                                                                               Aufrechterhaltende Faktoren erklären, warum eine
                                                                               Essstörung dauerhaft bestehen bleibt, auch wenn die
                                                                               Bedingungen, die ursprünglich zur Entstehung der
14   genwärtige Stimulusumgebung gerichtet wird und dadurch                    Essstörung geführt haben, nicht mehr wirksam sind.
     Selbstaufmerksamkeit reduziert und negative Emotionen,                    Hierzu zählen gezügeltes Essverhalten, erhöhtes Be-
15   bedrohliche Gedanken und innerer Druck ausgeblendet                       lastungsempfinden bei geringen Copingfertigkeiten,
     werden. Es werden in diesem Zustand nur noch aktuelle                     defizitäre Emotionsregulation und kognitive Aspekte
     Reize wie beispielsweise Geruch und Geschmack von Nah-                    wie dysfunktionale Informationsverarbeitungspro-
16   rungsmitteln wahrgenommen, so das anstatt über kom-                       zesse. Daneben wird eine Konditionierung von Ess-
     plexe Themen dann beispielsweise über den Kaloriengehalt                  anfällen an spezifische Auslösesituationen vermutet.
17   der Nahrungsmittel nachgedacht wird. Auch Beruhigung
     und Entspannung werden als mögliche Funktion von Ess-
     anfällen genannt (Pudel und Westenhöfer 1998).                      Literatur
18       Daraus ist zu schließen, dass Essanfälle dazu dienen,
     als aversiv erlebte Emotionen – verschiedenste Facetten             Alpers GW, Tuschen-Caffier B (2001) Negative feelings and the desire to
19   von Ärger (vor allem Ärgerunterdrückung), Einsamkeit,
                                                                             eat in bulimia nervosa. Eat Behav 2:339–352
                                                                         Arnow B, Kenardy J, Agras WS (1992) Binge eating among the obese: A
     Scham, Ängstlichkeit und Depression – zeitweise aus dem                 descriptive study. J Behav Med 15:155–170
20   Bewusstsein auszuschließen.                                         Bardone AM, Perez M, Abramson LY, Joiner TE (2003) Self-competence
                                                                             and self-liking in the prediction of change in bulimic symptomes.
     >> Essanfälle sind gekennzeichnet durch eine große,                     Int J Eat Disord 34:361–369
21        in kurzer Zeit aufgenommene Nahrungsmenge und
                                                                         Bauer BG, Anderson WP (1989) Bulimic beliefs: Food for thought. J Coun-
                                                                             sel Dev 67:416–419
          Kontrollverlust. Sie treten in spezifischen Situationen        Bekker M, van de Meerendonk C, Mollerus J (2004) Effects of negative
22        auf und folgen meist negativer Stimmung. Zudem                     mood induction and impulsivity on self-perceived emotional ea-
          sind dysfunktionale kognitive Prozesse an der                      ting. Int J Eat Disord 36:461–469
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