Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa
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23 2 Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa T. Legenbauer, S. Vocks 2.1 Prädisponierende Faktoren für Essstörungen – 24 2.1.1 Biologische Faktoren – 24 2.1.2 Soziokulturelle Faktoren – 26 2.1.3 Familiäre Faktoren – 27 2.1.4 Individuelle Faktoren – 27 2.2 Auslösende Faktoren von Essstörungen – 29 2.3 Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen – 29 2.3.1 Gezügeltes Essverhalten – 30 2.3.2 Stress, Coping und Emotionsregulation – 30 2.3.3 Dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse – 31 2.4 Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen – 32 2.4.1 Definition von Essanfällen – 32 2.4.2 Auslösende Faktoren für Essanfälle – 32 2.4.3 Funktion des Essanfalls – 34 2.5 Zusammenfassung – 34 Literatur – 34 T. Legenbauer, S. Vocks, Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie, DOI 10.1007/978-3-642-20385-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
24 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa Essstörungen gelten als komplexe Störungsbilder, deren 2.1 Prädisponierende Faktoren 1 einzelne Mechanismen nach wie vor ungeklärt bleiben, für Essstörungen trotz einer regen Forschungstätigkeit und einer Vielzahl 2 an theoretischen Modellen, welche die Entstehung und Prädisponierende Faktoren sind zeitlich überdauernde Aufrechterhaltung von Essstörungen im Allgemeinen oder Merkmale auf Seiten der Person oder der Umwelt, welche der Anorexia bzw. Bulimia nervosa im Besonderen erklä- die Grundlage für die Entstehung einer möglichen Essstö- 3 ren. Diese verschiedenen Modelle gehen aus unterschied- rung darstellen. Hierbei wurden verschiedenste Faktoren lichen Forschungsbereichen hervor. Zu nennen sind hier identifiziert, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit für 4 beispielsweise kognitive Modelle (Vitousek und Hollon eine Essstörung erhöhen bzw. einer späteren Essstörung 1990), lerntheoretische Modelle (Jansen 1998), Affekt- bzw. vorausgehen können. Diese prädisponierenden Faktoren 5 Spannungsregulationsmodelle (Orleans und Barnett 1984) können folgenden Unterkategorien zugeordnet werden, die oder kognitiv-behaviorale Modelle wie das transdiagnosti- sche Modell von Fairburn et al. (2003). Allen diesen Mo- -- im Folgenden beschrieben werden: biologische Faktoren, -- 6 dellen ist gemein, dass sie die Entstehung von Essstörungen soziokulturelle Faktoren, nur durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren familiäre Faktoren und 7 und somit aus einer multidimensionalen Sichtweise der Persönlichkeitsfaktoren. Symptomatik erklären. In den theoretischen Modellen sind 8 9 - 3 Bereiche von Relevanz: sog. prädisponierende oder Vulnerabilitätsfakto- ren, welche den „Boden“ für die Entwicklung einer Essstörung bereiten; diese sind im Ansatz bereits in 2.1.1 Biologische Faktoren Es wird davon ausgegangen, dass biologische Faktoren eine ▶ Abschn. 1.1.5 und ▶ Abschn. 1.2.5 im Überblick der Vulnerabilität darstellen, die unter Einwirkung zusätzlicher 10 - Risikofaktoren dargestellt; Auslösefaktoren, die zur Manifestation der Essstö- Faktoren die Entwicklung einer Essstörung unterstützen (Kaye et al. 2004). Zu den biologischen Faktoren zählen 11 12 - rung geführt haben; aufrechterhaltende Faktoren, die erklären, warum die Störung dauerhaft bestehen bleibt, obwohl die Fak- toren, die zur Entwicklung der Erkrankung geführt genetische Faktoren und biologische Veränderungen wie hypothalamische Dysfunktionen, Dysfunktionen des endokrin-metabolischen Systems und Neurotransmitter- störungen. Daneben scheinen zudem körperliche Fakto- haben, gegebenenfalls nicht mehr wirksam sind. ren, wie prämorbides Gewicht, ernährungsphysiologische Aspekte, wie restriktives Essverhalten, und Störungen des 13 Im Folgenden wird auf diese 3 Faktoren differenzierter ein- Hunger- und Sättigungshaushaltes relevant zu sein. gegangen. Hierbei werden verschiedene Störungsmodelle 14 in einem Modell integriert und daraus die therapeutischen zz Genetische Faktoren Interventionen abgeleitet. Aufgrund der großen Ähnlich- Die Relevanz genetischer Faktoren bei der Entstehung der 15 keiten in der Symptomatik der Anorexia und der Bulimia Essstörungen wird durch Ergebnisse aus der Zwillingsfor- nervosa (Fairburn et al. 2003) wird hierbei ein Modell schung gestützt: So können 50–83 % der Varianz hinsicht- entwickelt, welches beide Störungsbilder umfasst. Bei der lich des Auftretens der Bulimia nervosa und 28–83 % der 16 Darstellung der einzelnen Unterpunkte wird jedoch auf Anorexia nervosa durch genetische Faktoren erklärt wer- mögliche Unterschiede zwischen Anorexia und Bulimia den (Frieling und Bleich 2008). Auch Essstörungssymptome 17 nervosa eingegangen. Das von uns vorgeschlagene Modell selbst scheinen zum Teil genetisch bedingt zu sein. So kann wird in . Abb. 2.1 abschließend grafisch dargestellt und das Auftreten von Essanfällen, Erbrechen und restriktivem stellt eine Integration der bisherigen Befunde dar. Essverhalten zu 46–72 % durch genetische Faktoren erklärt 18 Darüber hinaus wird im Rahmen eines Exkurses eine werden (Klump et al. 2000). Ähnliches gilt für dysfunktio- genaue Analyse der Auslösebedingungen für einen Essan- nale Einstellungen zu Figur und Gewicht: Hierbei liegt die 19 fall durchgeführt. Dies liegt darin begründet, dass Essan- Erblichkeitswahrscheinlichkeit zwischen 32 % und 72 % fällen zwar eine große Bedeutung in der Symptomatik vor (Klump et al. 2000). In den letzten Jahren wurden verstärkt 20 allem der Bulimia nervosa zukommt, aber bislang kaum Versuche unternommen spezifische Genloci zu identifizie- Modelle zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhal- ren, die an der erblichen Weitergabe einer Vulnerabilität für tung der Essanfälle im Speziellen vorliegen. Essstörungen beteiligt sein könnten. Bislang wird angenom- 21 men, dass insbesondere Genloci, welche an der serotoner- gen (z. B. das 5HT2 A Rezeptor-Gen) und dopaminergen 22 (z. B. das DRD2 Rezeptor-Gen) Neurotransmission betei- ligt sind, eine bedeutende Rolle für die Entwicklung von
2.1 • Prädisponierende Faktoren für Essstörungen 25 2 .. Abb. 2.1 Multifaktorielles Modell der Essstörungen Anorexia und Bulimia nervosa Essstörungen spielen. Auch hormonelle Dysfunktionen, ligte Kortikotropin-Releasing-Hormon oder Peptide wie die mit der Appetit- und Energieregulation assoziiert sind, das Leptin, welches für die Reduktion der Nahrungszufuhr werden aktuell diskutiert (Frieling und Bleich 2008). Zudem verantwortlich ist. Diese Störungen der Hormonherstel- sprechen familiäre Häufungen von Essstörungen bei Ver- lung oder -sekretion führen nachfolgend zu Appetitlosig- wandten ersten und zweiten Grades ebenfalls für eine gene- keit oder gegenteilig zu Überessen und Heißhunger (Über- tische Beeinflussung (Strober et al. 2000), allerdings kann sicht vgl. Fichter 2000). hierbei nicht unterschieden werden, inwieweit die familiäre Hinsichtlich der Neurotransmitterdysfunktionen Häufung durch Umgebungsvariablen oder Lernerfahrungen scheint Serotonin eine zentrale Rolle zu spielen, da es eben- (z. B. Modelllernen) zustande kommt. falls an der Sättigungsreaktion beteiligt ist und als Indika- tor für die Menge aufgenommener Kohlenhydrate dient. zz Neurobiologische Veränderungen Dies liegt darin begründet, dass Serotonin aus Tryptophan Hinsichtlich der neurobiologischen Veränderungen sind gewonnen wird und dafür Kohlenhydrate benötigt wer- Dysfunktionen des Hypothalamus sowie Störungen der mit den. Es wird vermutet, dass Serotonin damit vor allem in der Sättigungsregulation verbundenen Hormone allgemein Bezug auf die Auslösung von Essanfällen eine Rolle spielt, und Neurotransmittern wie dem Serotonin zu nennen. da die Kohlenhydrataufnahme durch die Störung dieser Der Hypothalamus ist für die Hunger- und Sätti- Feedbackschleife weitgehend ungesteuert durch den Be- gungsregulation über verschiedene Feedbackschleifen im darf erfolgt. Das Einsetzen von Essanfällen kann dement- Körper verantwortlich. Entsprechend können Dysfunk- sprechend durch den endogen bedingt niedrigen Wert des tionen in diesem Bereich, beispielsweise ausgelöst durch Serotonins erklärt werden (Goldbloom et al. 1991; Kaye frühkindliche Hirnschädigungen bzw. Geburtstraumata, und Weltzin 1991). Diese „Carbohydrate-craving-Theorie“ die Hunger- und die Sättigungsregulation dadurch stören, postuliert damit die hohe Aufnahme von Kohlenhydraten dass verschiedene Hormone nicht mehr an Nahrungsauf- als „Selbstmedikation“, um den niedrigen Serotoninspiegel nahme gekoppelt ausgeschüttet werden. Davon betroffen zu erhöhen (Jansen et al. 1989). Des Weiteren nimmt man sind das an der Hunger- und Sättigungsregulation betei- an, dass durch die Unregelmäßigkeiten in der Ernährung
26 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa bulimischer Patientinnen schon vor dem eigentlichen Stö- Diese beziehen sich vor allem auf ein überhöhtes Schlank- 1 rungsbeginn eine Dysfunktion des Sättigungsmechanismus heitsideal, das sich in den westlichen Gesellschaften ver- ausgelöst wird und die neurobiologischen Veränderungen breitet hat und über Massenmedien sowie auch die Familie 2 deshalb als Prädiktor für die Essstörung zu betrachten sind. und Peers vermittelt zu werden scheint. zz Körperliche Faktoren zz Gesellschaftliches Schlankheitsideal 3 Als weiterer Risikofaktor gilt ein biologisch höheres Ge- Für den Einfluss soziokultureller Einflüsse spricht die wicht bei normaler Nahrungsaufnahme, da ein höherer hohe Prävalenz von Essstörungen in der westlichen Welt 4 BMI häufiger mit einem negativeren Körperbild einhergeht gegenüber anderen Kulturkreisen. Durch die Globalisie- (Stice und Shaw 2002). Für die Betroffenen bedeutet dies, rung scheint aber auch hier ein Wandel im Schönheitsideal 5 dass das angestrebte Schlankheitsideal nur durch eine deut- stattzufinden – im Sinne einer Ausbreitung des westlichen liche Einschränkung der Nahrungszufuhr erreicht werden Schlankheitsideals. Im Rahmen einer großangelegten kann und damit die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung Studie in 10 Ländern (International Body Project, IBP- 6 einer Essstörung erhöht wird (Fairburn et al. 1997). Auch I), wurden mehr als 7000 Menschen hinsichtlich des ge- eine frühe Menarche kann möglicherweise die Entstehung sellschaftlichen Schönheitsideals befragt. Es zeigten sich 7 von Essstörungen begünstigen. Unklar bleibt jedoch, ob dabei kulturelle und sozioökonomische Einflüsse, wobei dies durch den häufig mit der frühen Menarche assozi- Gewicht und die Exposition mit dem westlichen Schön- ierten höheren Körperfettanteil bedingt ist oder aber über heitsideal das Ausmaß körperlicher Unzufriedenheit 8 eine stärkere körperliche Unzufriedenheit erklärt werden voraussagten (Swami et al. 2012). Dies scheint mitunter kann (Thompson 1992; Wertheim et al. 2004). bedingt durch den Wandel hin zu einem immer dünner 9 werdenden Ideal, das für die meisten Frauen unerreichbar zz Ernährungsphysiologische Faktoren geworden ist (Garner 1997). So geben Mangweth-Matzek 10 Es gibt Hinweise darauf, dass Mütter mit Essstörungen et al. (2006) an, dass auch bei älteren Frauen über 60 % un- ihre Kinder eher nach externen Zeitgebern gefüttert ha- zufrieden mit dem eigenen Körper sind und mehr als 80 % ben, anstatt auf die Hungersignale der Kinder zu achten das Körpergewicht aus diesem Grunde kontrollieren. Der 11 (Evans und Le Grange 1995). Dadurch kann es zu einer gewünschte BMI lag fast 2 Punkte unter dem BMI, den die Entkopplung von Nahrungsaufnahme und physiologi- Frauen durchschnittlich hatten. Aber bereits bei Grund- 12 schem Bedürfnis bzw. Hunger gekommen sein. Die Hun- schulkindern zeigen sich die Einflüsse des omnipräsenten ger- und Sättigungswahrnehmung wird so möglicher- gesellschaftlichen Schlankheitsideals (Schur et al. 2000). weise gestört, so dass das Essverhalten weitgehend external Der Grund für den großen Einfluss dieses Schlank- 13 durch Auslösereize in der Umgebung (z. B. Verfügbarkeit heitsideals wird darin gesehen, dass das von den Medien von Nahrung) oder internal durch Kognitionen (z. B. dargestellte Ideal vor allem bei Frauen gleichzeitig an 14 „Jetzt ist 13.00 Uhr – Essenszeit“ bzw. „Ein Teller Suppe positive Attribute wie Attraktivität, Glück und Erfolg ge- ist genug“) gesteuert wird. Durch die weggefallene Sätti- koppelt ist. In welchem Ausmaß sich eine Person jedoch 15 gungswahrnehmung ist das Risiko, sich zu überessen und dem Schlankheitsideal beugt, hängt vom Grad des wahr- langfristig bei Vorhandensein weiterer Risikofaktoren eine genommenen Drucks in Richtung Schlankheit und dem Essanfallstörung zu entwickeln, hoch (de Zwaan 2003). Es Ausmaß der Internalisierung dieses Schlankheitsideals ab 16 ist jedoch anzunehmen, dass ernährungsphysiologische (Keery et al. 2004). Als positiv assoziiert mit einer stärke- Aspekte neben der Entstehung einer Essstörung vor allem ren Verinnerlichung des Schlankheitsideals gelten dabei 17 in der Aufrechterhaltung eine Rolle spielen, da durch das bestimmte Charakteristika wie bereits vorhandene Körper ungeregelte Essverhalten vor allem bei der Bulimia nervosa unzufriedenheit, depressive Stimmung sowie Tendenzen, und wiederholte Fastenphasen eine internale physiologi- seinen Körper mit dem anderer Menschen zu vergleichen 18 sche Sättigungsregulation nicht mehr verlässlich stattfin- (Durkin und Paxton 2002). Neben diesen Mediatoren wer- den kann (Connan und Stanley 2003). Eine differenziertere den zudem noch ein geringes Selbstwertgefühl, ein höhe- 19 Darstellung ernährungsphysiologischer Faktoren wie die res Körpergewicht sowie Schwierigkeiten mit der eigenen Regulation von Hunger und Sättigung findet sich bei Pudel Identität (z. B. in der Adoleszenz im Rahmen der Persön- 20 und Westenhöfer (1998). lichkeitsentwicklung) im Zusammenhang mit der Inter- nalisierung des Schlankheitsideals genannt (Keery et al. 2004). Experimentelle Untersuchungen zum Einfluss der 21 2.1.2 Soziokulturelle Faktoren Medien auf Stimmung und Körperwahrnehmung belegen einen Teil dieser Annahmen. So sind Frauen nach Darbie- 22 Neben biologischen Faktoren werden soziokulturelle Ein- tung von schlanken Models in Zeitungen, Werbespots und flüsse auf die Entwicklung von Essstörungen diskutiert. Bildern schlechter gestimmt und unzufriedener mit ihrem
2.1 • Prädisponierende Faktoren für Essstörungen 27 2 Körper. Dies trifft vor allem auf junge Frauen (
28 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa lung von Essstörungen zu sein (Jacobi 2000). Die negative nismus ein relativ stabiles Merkmal auf Seiten einer Person 1 Selbstbewertung wird dabei als unmittelbar wirkender und kein Epiphänomen der Essstörung ist. Auch die inhalt- Faktor, welcher dem gestörten Essverhalten vorausgeht, liche Betrachtung der bei Patientinnen mit Essstörungen 2 beschrieben (Fairburn et al. 1986). Dies zeigte sich auch in charakteristischerweise auftretenden kognitiven Grundan- laborexperimentellen Studien, welche die Höhe des Selbst- nahmen (z. B. „Wenn ich nicht alles perfekt mache, bin ich wertgefühls als Prädiktor für die Menge der verzehrten ein Versager!“) erbringen Hinweise auf perfektionistische 3 Nahrung bestätigen konnten, wobei ein niedriger Selbst- Ansprüche an sich selbst („Kognitive Defizite“). wert mit geringerer Nahrungsaufnahme assoziiert war. 4 (Jansen et al. 1998). Weitere Untersuchungen weisen auf zz Impulsivität die eng mit dem Selbstwert verknüpfte Selbstwirksamkeit Verschiedene Autoren nehmen Defizite in der Impulskon- 5 hin, welche ebenfalls einen Einfluss auf das Essverhalten trolle bei Essstörungen an und postulieren, dass es einen hat (Bardone et al. 2003). Einschränkend ist hier jedoch Zusammenhang zwischen Impulsivität als Persönlichkeits- anzumerken, dass ein niedriges Selbstwertgefühl auch bei faktor und der Entstehung von Essstörungen, insbeson- 6 anderen psychischen Störungen eine Rolle spielt und so dere der Bulimia nervosa, gibt. (Hawkins und Clement möglicherweise nicht spezifisch für die Essstörungsent- 1984; Welch und Fairburn 1996; Krug et al. 2011). Hier- 7 wicklung ist (Jacobi et al. 2003). bei werden Essanfälle und selbstinduziertes Erbrechen als impulsives Verhalten betrachtet. Allerdings ist der bislang zz Perfektionismus angenommene Zusammenhang zwischen Essanfällen, Er- 8 Perfektionismus gilt als gut belegter prädisponierender und brechen und Impulsivität als Trait empirisch nicht kon- aufrechterhaltender Faktor für Essstörungen. So zeigte die sistent nachweisbar (Brown et al. 2011). Neuere Studien 9 Analyse von Shafran et al. (2002) einen deutlichen Zusam- weisen darauf hin, dass sich Patientinnen mit Anorexia menhang zwischen einem hohen Ausmaß an Perfektionis- nervosa vom Purging-Typus nicht von Patientinnen mit 10 mus und der Entstehung von Essstörungen, vor allem bei Bulimia nervosa im Ausmaß der Trait-Impulsivität un- anorektischen Patientinnen. Bezüglich des Perfektionis- terscheiden (Zalar et al. 2011).. Möglicherweise ist das mus kann zudem zwischen selbst- und sozial orientiertem Ausmaß negativer Stimmung moderierend für diese Ver- 11 Perfektionismus unterschieden werden (Sherry et al. 2004). bindung: so wiesen Bekker et al. (2004) nach, dass sich Per- Während sich der selbstorientierte Perfektionismus auf sonen mit hoher Impulsivität stärker durch die Induktion 12 hohe Ansprüche an sich selbst bezieht („Ich hasse es, nicht einer negativen Emotion beeinflussen lassen und dadurch die Beste zu sein“), umfasst der sozial orientierte Perfekti- bedingt mehr Nahrung zu sich nehmen. Wonderlich et al. onismus subjektive Vergleiche und angenommene Erwar- (2004) weisen darauf hin, dass Impulsivität – als Trait ge- 13 tungen anderer Menschen an die Person selbst („Nur eine messen – keinen Zusammenhang mit der Entstehung einer hervorragende Leistung ist gut genug in meiner Familie“; Essstörung aufweist; erst der Einbezug impulsiver Verhal- 14 „Als Kind habe ich mich sehr angestrengt, meine Eltern tensweisen als State-Merkmal erwies sich als aussagekräf- und die Lehrer nicht zu enttäuschen“). Es ist anzunehmen, tiger Prädiktor für die Essstörungsentwicklung. Zudem 15 dass sich selbstorientierter Perfektionismus vor allem dann konnte für Patientinnen mit einer Bulimie nachgewiesen entwickelt, wenn in der Familie hohe Leistungsansprüche werden, dass eine geringere Impulsivität zu Behandlungs- vermittelt werden. Vermutlich ist selbstorientierter Perfek- beginn mit einem besseren Therapieerfolg zusammenhing 16 tionismus vor allem bei Frauen mit einer Anorexia nervosa (Castellini et al. 2012). vorhanden. Sherry et al. (2004) konnten zudem nachwei- 17 sen, dass der Einfluss von selbstorientiertem Perfektionis- zz Kognitive Faktoren mus auf die Essstörungssymptomatik von der Stärke des Die Überbewertung von Figur und Gewicht gilt als ein Ri- sozial orientierten Perfektionismus abhängt. sikofaktor für die Entstehung von Essstörungen (Fairburn 18 Neben der prädiktiven Bedeutung des Perfektionismus et al. 2003). Es wird daher vermutet, dass dysfunktionale ist ihm des Weiteren eine aufrechterhaltende Funktion kognitive Prozesse in Form von spezifischen Grundannah- 19 zuzuordnen. So konnte beispielsweise in Therapiestudien men („core beliefs“) bei der Entstehung und Aufrechter- gezeigt werden, dass ein hoch ausgeprägter Perfektionis- haltung von Essstörungen eine Rolle spielen (Waller et al. 20 mus negativ mit dem Behandlungsergebnis korrelierte. Des 2000; Legenbauer et al. 2007). Dabei geht man davon aus, Weiteren konnte in dieser Untersuchung im Verlaufe eines dass essens- und gewichtsbezogene Inhalte durch Lerner- Follow-up-Zeitraumes beobachtet werden, dass das Aus- fahrungen ▶ Abschn. 2.1.2 und ▶ Abschn. 2.1.3) an die 21 maß an Perfektionismus nicht auf das Niveau von gesun- Selbstbewertung gekoppelt werden (Morris et al. 2001). den Kontrollpersonen absank, obwohl die Essstörungssym- Diese werden in kognitiven Strukturen, sog. kognitiven 22 ptome deutlich reduziert waren (Sutandar-Pinnock et al. Schemata verankert und enthalten dysfunktionale Grund- 2003). Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Perfektio- annahmen, welche zumeist als absolute, bedingungslose
2.3 • Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen 29 2 und dichotome Überzeugungen in Bezug auf sich selbst neuen Lebensabschnitt, die Trennung von einem Partner, und die Welt verstanden werden. Diese dysfunktionalen der Umzug in eine andere Stadt oder weitere Belastungen. Grundannahmen entwickeln sich meist früh im Leben als Insgesamt kann festgehalten werden, dass durch diese kri- adaptive Reaktion auf die Umwelt und bleiben auch dann tischen Lebensereignisse an die Person Bewältigungsan- noch bestehen, wenn die damals relevanten Bedingungen forderungen gestellt werden, denen sie sich nicht gewach- nicht mehr wirksam sind, so dass die möglicherweise zu- sen fühlt. Stress scheint zumindest bei gesunden Frauen, nächst funktionalen Überzeugungen unangemessen wer- die einige der Vulnerabilitätsfaktoren aufweisen, eine bis den (Young 1994). dahin nicht vorhandene Verbindung zwischen psycholo- In den letzten Jahren konnte in mehreren Studien ein gisch prädisponierenden Faktoren und dem Wunsch nach Zusammenhang zwischen dysfunktionalen kognitiven Gewichtsverlust oder zumindest der Planung einer Diät Schemata und der Essstörungssymptomatik nachgewie- auszulösen (Sassaroli und Ruggiero 2005). sen werden (Dingemans et al. 2005; Unoka et al. 2010). Wenn bei den für Essstörungen gefährdeten Personen Insbesondere erwiesen sich negative Schemata zu den durch einen Gewichtsverlust infolge einer Nahrungsmit- Bereichen „wahrgenommene Unzulänglichkeit/Scham“, telrestriktion positive Rückmeldungen von Angehörigen „unzureichende Selbstkontrolle“ und „Leistungsversagen“ und Peers folgen, kann dies verstärkend wirken und die als relevant, die sich in typischen Gedanken wie „Ich muss Verbindung zwischen einer Gewichtsreduktion und einer alle meine Handlungen kontrollieren, um mich sicher zu Selbstwertgefühlerhöhung stabilisieren. Die Angst vor ei- fühlen“, „Ich muss alles perfekt machen, sonst ist es wert- ner erneuten Gewichtszunahme wird etabliert und hält das los“ und „Jeder muss mich lieben und mein Verhalten restriktive Essverhalten aufrecht. Vor allem bei der Ano- gutheißen“ äußern (Bauer und Anderson 1989). Diese in rexia nervosa ziehen die Frauen aus dem Empfinden, eine den kognitiven Schemata verankerten dysfunktionalen außergewöhnliche Selbstdisziplin zu besitzen, eine so po- Grundannahmen besitzen Handlungsrelevanz (Vitousek sitive Verstärkung, dass es zu einem Streben nach weiterer und Hollon 1990) und führen durch Fehler in der Informa- Gewichtsabnahme und übermäßigem Kontrollverhalten tionsverarbeitung ankommender Reize von außen zu Fehl- kommt. Allerdings kann es durch die Nahrungsmittelres- interpretationen (Cooper 1997) und damit auch zur Aus- triktion auch zu einer höheren Auftretenswahrscheinlich- wahl dysfunktionaler Verhaltensweisen. Die fehlerhaften keit von Essanfällen kommen, auf welche die Betroffenen Informationsverarbeitungsprozesse sind gekennzeichnet häufig mit kompensatorischen Maßnahmen wie selbstin- durch selektive Aufmerksamkeit und Erinnerungsprozesse. duziertem Erbrechen reagieren. Diese Gegenmaßnahmen Es wird angenommen, dass diese kognitiven Defizite zu gehen meist mit Schuldgefühlen einher, so dass eine Ab- einer Verstärkung der negativen Sichtweise über sich selbst wärtsspirale aus Diäthalten, Gewichtsverlust, Essanfällen und den eigenen Körper führen und im Weiteren dadurch und Erbrechen auftritt und die Vollsymptomatik der Buli- zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen (William- mia nervosa entsteht. son et al. 2004; ▶ Abschn. 2.3.3). Im Folgenden werden die Mechanismen beschrieben, die bedingen, dass eine Essstörung über längere Zeit be- >> Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ stehen bleibt. stabile Merkmale auf Seiten einer Person oder ihrer Umwelt, welche die Grundlage für die Entwicklung einer Essstörung darstellen. Diese prädisponieren- 2.3 Aufrechterhaltende Faktoren den Faktoren umfassen biologische, soziokulturelle, von Essstörungen familiäre und individuelle Aspekte. Zu den aufrechterhaltenden Faktoren zählen ein gezügeltes Essverhalten, ein hohes Ausmaß an Stress sowie fehlende 2.2 Auslösende Faktoren von Bewältigungsfertigkeiten und eine dysfunktionale Infor- Essstörungen mationsverarbeitung. Diese Faktoren wirken dabei verstär- kend auf die vorhandenen prädisponierenden Faktoren und Das Vorhandensein eines oder einiger der oben genann- sorgen dafür, dass es zu einem sich selbst perpetuierenden ten prädisponierenden Faktoren bei einer Person kann Teufelskreis kommt. Die aufrechterhaltenden Faktoren für das Risiko für die Entstehung einer Essstörung im Laufe die Bulimia und Anorexia nervosa entsprechen sich größ- ihres Lebens erhöhen. Jedoch kann hierdurch der Mani- tenteils, für die Anorexia nervosa wird ergänzend ein aus- festationszeitpunkt nicht vorhergesagt werden. In diesem geprägtes Kontrollgefühl diskutiert, was aufgrund nur we- Zusammenhang werden auslösende Ereignisse relevant: niger wissenschaftlicher Studien an dieser Stelle nicht näher Hierzu zählen – wie auch bei anderen psychischen Störun- erläutert wird. Im Folgenden sind die einzelnen Faktoren gen – kritische Lebensereignisse wie der Eintritt in einen anhand von Forschungsbefunden beschrieben.
30 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa 2.3.1 Gezügeltes Essverhalten trolle beinhaltet hierbei, dass Diätregeln ganz genau und 1 ausnahmslos befolgt werden müssen, während bei der fle- Das Modell des gezügelten Essverhaltens oder „Restraint xiblen Kontrolle Abweichungen von den Diätregeln (z. B. 2 Eating“ (Herman und Polivy 1980) wird im Rahmen der gelegentlicher Verzehr eines „verbotenen“ Nahrungsmit- Essstörungsforschung seit vielen Jahren umfassend unter- tels) von den Betroffenen eher toleriert werden und später sucht. Es ist definiert als selbstauferlegte Nahrungsdepri- (z. B. durch eine verstärkte Nahrungsrestriktion) wieder 3 vation und wird von den Betroffenen eingesetzt, um ein kompensiert werden können. Es zeigte sich, dass die rigide Gewicht unterhalb des eigenen „Set Point“ zu erreichen Kontrolle in stärkerer Verbindung zu bulimischer Symp- 4 bzw. zu halten (Nisbett 1972). Hierzu versuchen die Perso- tomatik steht (Westenhöfer et al. 1999), was dadurch zu nen, sich an bestimmte Regeln bezüglich einer Begrenzung erklären ist, dass die rigide Kontrolle von den Betroffenen 5 der aufgenommenen Nahrungsmittel bzw. die Auswahl be- dauerhaft schwer aufrechtzuerhalten ist und daher oft in stimmter niederkalorischer Nahrungsmittel zu halten. Das Essanfälle mündet. Konzept des Restraint Eating wird sowohl in der Entstehung Es kann trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze 6 als auch in der Aufrechterhaltung diskutiert. Allerdings tritt festgehalten werden, dass Diäthalten bzw. gezügeltes Ess- nicht bei allen Patientinnen mit Essstörungen, insbesondere verhalten eine zentrale Stellung bei der Entstehung, Aus- 7 der Bulimia nervosa, auch gezügeltes Essverhalten vor dem lösung und Aufrechterhaltung von Essanfällen einnimmt, Beginn der Störung auf. Daher wird dieses Konzept hier wobei ein gezügeltes Essverhalten nur bei einem Teil der vornehmlich im Zusammenhang mit der Aufrechterhal- Betroffenen den Essanfällen vorangeht. 8 tung beschrieben: kommt es zu einem Verstoß gegen die selbstauferlegten Regeln und damit einhergehend zu einem 9 Gefühl des Versagens, kann ein Kontrollverlust über das 2.3.2 Stress, Coping Essen resultieren (Herman und Polivy 1984). Vor allem das und Emotionsregulation 10 „Alles-oder-Nichts-Denken“ spielt hier eine Rolle. Neben der kognitiven Komponente, d. h. dem Bewusstsein darü- Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass Stress und ber, die Diätregeln gebrochen zu haben, können auch starke dysfunktionales Stressbewältigungsverhalten in Verbin- 11 negative emotionale Zustände wie Angst, Depression oder dung mit der Aufrechterhaltung von bulimischer Sym- Stress zur Enthemmung führen und Essanfälle nach sich ptomatik stehen (Crowther et al. 2001). Zunächst wird 12 ziehen (Herman und Polivy 1984). kurz auf die Art der in diesem Zusammenhang relevanten In Feldstudien konnte nachgewiesen werden, dass Belastung eingegangen; gefolgt von der Erläuterung der Frauen vor einem Essanfall im Vergleich zu Kontroll- Rolle von Defiziten im Stressbewältigungsverhalten als die 13 personen häufig kalorisch depriviert waren (Davis et al. Essstörung aufrechterhaltende Mechanismen. 1988) und die Vorhersage eines Essanfalls durch das Aus- In der Forschung hat sich bei der Überprüfung der 14 maß selbstberichteter Restriktion möglich ist (Zunker Art der im Zusammenhang mit Essstörungen zentralen et al. 2011). In den 80er-Jahren zeigten Studien, dass ein Belastungssituationen insbesondere das Feld der interper- 15 positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des ge- sonalen Konflikte als ausschlaggebend erwiesen (Tuschen- zügelten Essverhaltens auf der einen und dem Schweregrad Caffier und Vögele 1999). der Essanfallssymptomatik auf der anderen Seite besteht Dass tägliche Belastungen als stressreicher empfunden 16 (Byrne und McLean 2002). Diese Verbindung scheint werden und auch zu einer höheren Kalorienaufnahme füh- insbesondere für subjektive Esssanfälle, d. h. Kontrollver- ren, konnte in einer Feldstudie gezeigt werden: Frauen, die 17 lust beim Essen, ohne dass eine objektiv zu große Menge unter Essanfällen leiden, empfanden tägliche Belastungen verzehrt wird, zu gelten (Kerzhnerman und Lowe 2002). als stressreicher als gesunde Kontrollpersonen und nah- Die Autoren gehen deshalb davon aus, dass die Beziehung men an Tagen mit höherem Ausmaß von Stress mehr Ka- 18 in kognitiven und nicht in physiologischen deprivations- lorien zu sich als an weniger stressigen Tagen (Crowther basierten Aspekten des gezügelten Essens begründet ist. et al. 2001). 19 Die Existenz eines Zusammenhangs zwischen gezügeltem Des Weiteren wird vermutet, dass nicht nur das Essverhalten und Essanfällen ist jedoch nicht unumstrit- Stressempfinden, sondern vor allem auch Defizite in der 20 ten. Ein Grund dafür könnte die vage Begrifflichkeit von Bewältigung von Belastungssituationen ein aufrechter- „dietary restraint“ (gezügeltes Essen) und „dieting“ (Diät haltender Faktor bei Essstörungen ist. Frauen mit einer halten) darstellen (Lowe et al. 1991). Bulimia nervosa scheinen beispielsweise geringe Fähig- 21 Westenhöfer et al. (1999) schlagen vor, die Art der keiten zu besitzen, negative Gefühlszustände auszuhalten ausgeübten Kontrolle beim gezügelten Essen stärker zu sowie sich zu entspannen und zu beruhigen (Esplen et al. 22 beachten. Ihrer Auffassung nach muss zwischen rigider 2000). Defizite in der Bewältigung von Anspannungs- und flexibler Kontrolle unterschieden werden. Rigide Kon- und Belastungssituationen scheinen daher an der Auf-
2.3 • Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen 31 2 rechterhaltung der Essstörung insofern beteiligt zu sein, 2.3.3 Dysfunktionale als durch die Essstörung die Auseinandersetzung mit den Informationsverarbeitungsprozesse Problemen vermieden bzw. die daraus resultierende An- spannung vermindert werden kann, da Essattacken und Dysfunktionale Denkmuster haben nicht nur Einfluss Erbrechen kurzfristig oft eine entspannende und emo- auf die Entstehung einer Essstörung (▶ Ausführungen tionsregulierende Funktion besitzen. Diese Annahmen zu prädisponierenden Faktoren, ▶ Abschn. 2.1), sondern konnten anhand verschiedener Studien belegt werden: tragen auch zu deren Aufrechterhaltung bei (Fairburn So wurden Zusammenhänge zwischen gestörtem Ess- et al. 1986), da sie die Handlungskompetenz der betrof- verhalten auf der einen und defizitärem problem- bzw. fenen Person negativ beeinflussen (Vitousek und Hollon aufgabenorientiertem Coping auf der anderen Seite nach- 1990; ▶ Abschn. 2.1.4, Unterabs. „Kognitive Faktoren“). gewiesen (Ghaderi und Scott 2000). Zudem zeigte sich in Beispielsweise scheinen insbesondere das gezügelte Essen, weiteren Untersuchungen, dass Frauen mit einer Essstö- Erbrechen, andere Kompensationsmaßnahmen und ext- rung mehr vermeidendes Bewältigungsverhalten zeigen remes Gewichtskontrollverhalten infolge der spezifischen als gesunde Kontrollpersonen (Koo-Loeb et al. 2000), dysfunktionalen Kognitionen aufzutreten (Fairburn et al. sich häufiger ablenken und stärker emotionsorientiertes 1999). Erklärt werden kann dies durch die schemakon- Coping einsetzen als Gesunde (Koff und Sangani 1997). forme Informationsverarbeitung, welche beispielsweise zu Troop et al. (1998) beschreiben außerdem, dass Frauen Irrationalität und dichotomer Kategorisierung von Nah- mit einer Essstörung in einem stärkeren Maße kognitive rungsmitteln als gut/schlecht, massiver Selbstabwertung Vermeidung und Verdrängung in Konfliktsituationen nach dem Essen verbotener Speisen, überhöhten Ansprü- zeigen, ihre Probleme weniger stark bagatellisieren, aber chen beim Durchhalten einer Diät und der Antizipation eher dazu neigen, sich selbst zu beschuldigen und weniger von Kontrollverlust beim Essen (Legenbauer 2003) und Unterstützung bei anderen zu suchen. Der Zusammen- anderen verwandten depressionstypischen Kognitionen hang zwischen Copingverhalten und dem Auftreten von (Göbel et al. 1989) führt. Mit einer Pfadanalyse wurde Essanfällen konnte von Freeman und Gil (2004) nach- diese Annahme überprüft und dabei gezeigt, dass eine gewiesen werden: Die Autoren zeigten, dass Frauen mit Verbindung zwischen extremer Besorgnis über Figur und einer Essstörung, die vermehrt Ablenkungsstrategien Gewicht auf der einen und kompensatorischem Verhal- einsetzten, ein höheres Risiko hatten, nachfolgend einen ten auf der anderen Seite besteht. Legenbauer et al. (2011) Essanfall zu erleiden. konnten zudem zeigen, dass beispielsweise die Reduktion Ein defizitäres Bewältigungsverhalten scheint damit diätbezogener Gedanken im Rahmen einer Behandlung sowohl zur Entstehung als auch zur Aufrechterhaltung die Reduktion des restriktiven Essens vorhersagte und die einer Essstörung beizutragen, wobei unterschiedliche Fa- Reduktion von körperbezogenen und selbstwertbezogenen cetten des Bewältigungsverhaltens mit unterschiedlichen Gedanken die Reduktion von Essanfällen prädizierte. Die Essstörungssymptomen im Zusammenhang zu stehen Befunde bestätigen den Zusammenhang zwischen dys- scheinen (Freeman und Gil 2004). Maladaptive Stressbe- funktionalen Annahmen und bestehendem gestörten Ess- wältigung im weitesten Sinne könnte als Teil von Störun- verhalten. Des Weiteren wurden die verschiedenen Infor- gen der Emotionsregulation verstanden werden. Dies ist mationsverarbeitungsprozesse experimentell überprüft. Es insofern von Interesse, als in den letzten Jahren Störungen konnte beispielsweise mit dem Paradigma des Stroop-Tests der Emotionsregulation vermehrt Aufmerksamkeit erfah- nachgewiesen werden, dass Frauen mit einer Essstörung ren haben und eine rege Forschungstätigkeit angestoßen eine selektive Aufmerksamkeitszuwendung hinsichtlich wurde (Gross 2002). Tatsächlich belegen neuere Studien nahrungs-, figur- und gewichtsbezogener Wörter aufwei- die Existenz von Störungen der Emotionsregulation bei sen (Lovell et al. 1997). Diese Ergebnisse werden dahinge- Patientinnen mit Essstörungen – unabhängig von der Art hend interpretiert, dass die mit den bedrohlichen Reizen der Diagnose: Frauen mit Essstörungen erleben Emotionen verbundenen kognitiven Strukturen (Schemata) bei den mit stärkerer Intensität, können Emotionen weniger gut Patientinnen mit Essstörungen stärker ausgebildet sind annehmen und sind sich deren weniger bewusst. Außer- und so mehr Verarbeitungskapazität beanspruchen, wo- dem berichten sie weniger adaptive und vermehrt malad- durch sich die Reaktionszeit bei der Farbnennung verlang- aptive Regulationsstrategien (Svaldi et al. 2012). Zudem samt (Foa et al. 1991). Die Ergebnisse von Cooper (1997) scheinen Frauen mit Essstörungen Schwierigkeiten in der weisen in eine vergleichbare Richtung: Hier wurde ein Bias Erkennung von Emotionen bei anderen Menschen aufzu- in Richtung negativer Körper- und Selbstbewertung bei weisen (Harrison et al. 2010), allerdings sind die Ergebnisse Frauen mit Essstörungen nachgewiesen, wenn diese mehr- inkonsistent und legen ein mögliches kognitiv-emotionales deutige soziale Interaktionen bewerten sollten. Defizit anstatt eines basalen perzeptiven Defekts nahe (Le- Kognitionen scheinen demnach insbesondere als Aus- genbauer et al. 2008). löser von Essanfällen zu fungieren (▶ Abschn. 2.4) und so
32 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa als aufrechterhaltende Faktoren einer Essstörung zu wir- einer Übersichtsstudie von Mitchell et al. (1998) werden im 1 ken. Hierbei kommt sowohl der Art der kognitiven Verar- Rahmen von Laborstudien (also nachgestellten Essanfäl- beitung als auch dem Inhalt der Kognitionen eine wichtige len) zwischen 3000 und 4500 kcal bei Frauen mit Bulimia 2 Bedeutung zu (Waller et al. 2000). nervosa und 1500–3000 kcal bei Frauen mit Binge Eating Disorder pro Essanfall angegeben. Es wird vermutet, dass >> Aufrechterhaltende Faktoren sind meist eng mit prä- Essanfälle auf Grund unbekannter Größen variieren. Man- 3 disponierenden Faktoren assoziiert oder sind Folge che Studien beschreiben zudem, dass Patientinnen mit ei- der zugrunde liegenden Defizite, die auch zur Entste- ner Bulimia nervosa häufiger auch subjektive Essattacken 4 hung der Essstörung geführt haben. Sie werden nach mit weniger als 100 kcal beschreiben. dem Beginn der Essstörungssymptomatik relevant Der empfundene Kontrollverlust gilt als stabilstes 5 und interagieren in Form eines Teufelskreises. Meist Maß in der diagnostischen Bewertung von Essanfällen, wirken sie kurzfristig positiv verstärkend. Zu den was auch durch verschiedene Studien bestätigt werden aufrechterhaltenden Faktoren zählen: gezügeltes konnte (Johnson et al. 2000). Als zweitwichtigstes Kri- 6 Essverhalten, defizitäre Emotionsregulation sowie terium wird dann erst die Menge angesehen, die Zeit- dysfunktionale Informationsverarbeitung und kogni- dauer stellt sich für die diagnostische Einordnung von 7 tive Prozesse. geringerem Wert dar, wobei eine Mahlzeit bei größerer Menge in kürzerer Zeit eher als Essanfall gewertet wurde als bei größerer Menge in längerer Zeit. Damit wären die 8 2.4 Exkurs: Mikroanalyse Beurteilungen konsistent mit den im DSM angelegten von Essanfällen Kriterien. Zu bedenken ist jedoch, dass Essanfälle auch 9 geplant stattfinden können und damit das Kriterium des Ein detailliertes Wissen über die Abläufe im Ess-Brech- Kontrollverlustes nicht erfüllen. Gerade diese Essanfälle 10 Zyklus hinsichtlich auslösender Bedingungen, vermitteln- jedoch dienen eher zur Regulation der Stimmung, wäh- der Faktoren und aufrechterhaltender Aspekte der Buli- rend „spontane“ Essanfälle auf das Brechen von Diätre- mia nervosa und dem Binge-Eating-/Purging-Typus der geln zurückgeführt werden können und dadurch einen 11 Anorexia nervosa sind für ein effektives therapeutisches Kontrollverlust beinhalten. Arbeiten von Wichtigkeit, da die Mikroanalyse Aufschluss 12 über die Funktion des Essens und Erbrechens erlaubt und bedeutsame Hinweise auf mögliche zugrunde liegende 2.4.2 Auslösende Faktoren für Essanfälle Problembereiche gibt. Daraus können die notwendigen 13 Interventionsansätze abgeleitet werden. Daher soll im Es gibt verschiedene Faktoren, die bei der Auslösung von Folgenden noch einmal spezifisch auf konkrete Auslösesi- Essanfällen eine Rolle spielen. Aus kognitiv-behavioraler 14 tuationen für Essanfälle und die Funktion von Essanfällen Sicht sind dies situative Faktoren, subjektive Befindlichkeit eingegangen werden. und dysfunktionale Bewertungsprozesse. Im Folgenden 15 werden die einzelnen Faktoren im Überblick dargestellt. 2.4.1 Definition von Essanfällen zz Situative Faktoren 16 Verschiedene Untersuchungen konnten die Kontextabhän- Essanfälle sind per Definition gekennzeichnet als „über- gigkeit des Auftretens von Essanfällen belegen. Es scheint, 17 mäßige Nahrungsaufnahme innerhalb eines bestimmten dass Essanfallsepisoden typischerweise stattfinden, wenn Zeitraumes“, wobei die Menge diejenige überschreiten die Person zu Hause und allein ist (Waters et al. 2001a), sollte, die andere Menschen in demselben Zeitraum essen d. h. vor allem nachmittags und abends auftreten (He- 18 würden. Essanfälle sollten gemäß den DSM-IV-Kriterien therington et al. 1994). Ein weiterer Kontextfaktor, der (▶ Kap. 1) auch einen Kontrollverlust beinhalten, das heißt, Essanfälle zu begünstigen scheint, ist eine unstrukturierte 19 die Person kann entgegen ihrem eigenen Willen nicht Zeiteinteilung (Schlundt et al. 1985). Eine mögliche Erklä- aufhören zu essen, oder sie isst hochkalorische, fetthaltige rung dafür, warum gerade die eben genannten Situationen 20 Nahrungsmittel, die sie sich ansonsten verbietet. Essanfälle auslösen können, bieten Konditionierungsmo- Rossiter et al. (1992) zufolge wird bei einem Essanfall delle. So gestalten Patientinnen mit Essstörungen ihre im Durchschnitt eine Kalorienmenge von 602 kcal in ei- Nahrungsaufnahme oft sehr rigide, regelgeleitet und mit 21 nem Zeitraum von 38 min verzehrt, wobei eine große in- stark eingeschränkter Nahrungsaufnahme. Durch die im- tra- und interindividuelle Variabilität besteht. So werden mer wieder auftretende Kopplung bestimmter nahrungs- 22 Mengen zwischen 1000 und 2000 kcal (Rosen et al. 1986) bezogener Reize mit spezifischen situativen Faktoren kann bis teilweise 20.000 kcal (Mitchell et al. 1985) angegeben. In es zu einer Konditionierung von Nahrungsaufnahme mit
2.4 • Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen 33 2 Zeit, Ort, Stimmungen oder bestimmten Lebensmitteln aber deren Reduktion durch den Essanfall nicht allgemein kommen. Basierend auf diesen Annahmen entwickelte nachweisbar war. Es gibt Hinweise, dass eine Verbesserung Jansen (1998) ein Modell, welches besagt, dass die Ein- des emotionalen Zustands durch das Erbrechen erzielt wird nahme von Nahrung spezifische körperliche Reaktionen (Haedt-Matt und Keel 2010). Die Autoren postulieren, auslöst. Diese körperlichen Reaktionen werden längerfris- dass die Bestätigung des Emotionsregulationsmodells von tig im Sinne einer klassischen Konditionierung an die mit Essanfällen möglicherweise nicht eindeutig gelingt, da die der Nahrungsaufnahme verbundenen Reize (z. B. Fern- bisher angewandten Methoden negative Emotionen unidi- sehschauen, Geruch, Küche) gekoppelt, so dass Letztere mensional messen, Emotionsveränderungen während des die körperlichen Reaktionen auslösen können, auch wenn Essanfalls nicht direkt oder nur unzureichend abgebildet keine Nahrungsaufnahme stattfindet. Es wird folglich an- werden und mögliche spezifische Facetten der Emotions- genommen, dass gelernte Reiz-Reaktions-Verbindungen regulation so bislang nicht erfasst werden. automatische oder biochemische Reaktionen auslösen, welche die Wahrscheinlichkeit einer Nahrungsaufnahme zz Stress oder auch einer exzessiven Nahrungsaufnahme steigern Neuere Befunde unterstützen die bereits in den 90er-Jahren können (Wardle 1990). Diese Annahme wird indirekt postulierte Verbindung zwischen Stresserleben und Essen. durch bisherige Untersuchungsergebnisse zu Essanfällen So zeigten Groesz et al. (2012) in einer Studie mit normal- unterstützt. So wurde beispielsweise herausgefunden, dass gewichtigen und adipösen Personen, dass Stress zu einem gezügelte Esser dann ein stärkeres Verlangen zu essen ver- erhöhten Verlangen zu essen führt und dies auch mit der spüren, wenn sie einem Reiz ausgesetzt waren, der typi- Tendenz zu Essanfällen und verringerter Kontrolle zusam- scherweise Nahrungsaufnahme vorhersagt, z. B. der Ge- menhängt (Groesz et al. 2012). Befunde an Personen, die ruch von „Binge-Food“ oder auch nur der Gedanke daran bereits ein gestörtes Essverhalten aufweisen, unterstützen (Fedoroff et al. 1997). Dieses Modell erweitert den Einfluss diese Ergebnisse: es konnte beispielsweise in einer Unter- bereits identifizierter Enthemmer (z. B. den Bruch der Di- suchung demonstriert werden, dass gezügelte Esser im ätregeln) bei restriktiv essenden Personen (▶ Abschn. 2.4.1) Vergleich zu ungezügelten insbesondere unter interper- und unterstützt die Annahme, dass Lernerfahrungen sonellem Stress dazu neigen, bei Stress zu überessen (Ta- aufrechterhaltend für eine Essstörung, insbesondere die nofsky-Kraff et al. 2000). Insbesondere zeigten Heatherton Essanfallssymptomatik, sein können. Es ist jedoch auch et al. (1991), dass Stress, der das Selbstbild einer Person be- denkbar, dass durch Bedingungen wie Alleinsein und Lan- droht, wie Misserfolg bei einer leichten Aufgabe oder auch geweile dysfunktionale Kognitionen sowie eine negative das Halten einer Rede vor einem wertenden Publikum bei Emotion gefördert werden. gezügelten Essern zu Enthemmung beim Essen führt. Auch für klinisch relevante Essstörungen konnte eine zz Negative Emotion Verbindung zwischen Stress und Essverhalten nachgewie- Wie bereits in den Ausführungen zum gezügelten Essver- sen werden. So scheinen restriktiv essende und bulimische halten erwähnt wurde, wird angenommen, dass negative Frauen verglichen mit gesunden Kontrollpersonen alltäg- Emotionen bei der Auslösung und Aufrechterhaltung von liche Belastungsereignisse als stressreicher zu empfinden Essanfällen eine wichtige Rolle spielen. Viele Studien konn- und unter Stress größere Nahrungsmengen zu sich zu ten zeigen, dass negative Stimmungen Essanfällen voraus- nehmen. Insbesondere interpersonale Stresssituationen gingen (Greeno et al. 2000; Waters et al. 2001b; Wegner werden in Verbindung mit Essanfällen genannt (Tanosfky- et al. 2002). In Feldstudien konnte dies bestätigt werden, Kraff et al. 2000). da bis zu einer Stunde vor einem Essanfall eine negativere Stimmung nachgewiesen wurde (Davis et al. 1988; Alpers zz Dysfunktionale Kognitionen und Tuschen-Caffier 2001). Detailliertere Analysen wei- Verschiedene Forschungsarbeiten bestätigen die Relevanz sen insbesondere auf Anspannung, schlechte Stimmung kognitiver Prozesse bei der Auslösung von Essanfällen und ein größeres Verlangen nach Nahrung als Auslöser für (Waller et al. 2002). Kognitive Prozesse spielen je nach si- Essanfälle hin (Greeno et al. 2000). Nach Stice und Agras tuativer Begebenheit eine unterschiedliche Rolle. So kann (1999) scheinen negative Emotionen zudem zu einer Ver- zum Beispiel die Bewertung einer bereits konsumierten schlimmerung bulimischer Symptomatik beizutragen, da Mahlzeit zu einem Essanfall führen, wenn die Betroffene im Sinne einer dysfunktionalen Emotionsbewältigungs- das Gefühl hat, zu viel gegessen zu haben – also die selbst strategie (▶ Kap. 10) durch den Essanfall die negative auferlegten Diätregeln gebrochen hat (Huon 1997; Herman Stimmung reduziert wird. Eine Metaanalyse, welche Da- und Polivy 1984). Das heißt, die Bewertung, gegen eine ten aus Studien mit Ecological Momentary Assessment selbst auferlegte Diätvorschrift wie „ich darf keine Schoko- (EMA)-Technik auswertete, zeigte allerdings, dass zwar lade essen“ verstoßen zu haben, kann einen Essanfall vor- dem Essanfall eine stärkere negative Emotion voranging, aussagen. Neben der negativen Emotion ist dieser zweite
34 Kapitel 2 • Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa Faktor ausschlaggebend für die Aufklärung der Varianz bei Auslösung beteiligt. Positiv verstärkend wirken die 1 der Auslösung eines Essanfalles. kurzfristige Erleichterung und die mögliche Ablen- Auch wurde anhand von retrospektiv erfassten Essan- kung von negativen Ereignissen. 2 fallsberichten bei Patientinnen mit Binge-Eating-Störung gezeigt, dass vor einem Essanfall meistens Kognitionen, welche die Intention, eine Essattacke zu haben („Ich brau- 2.5 Zusammenfassung - 3 che jetzt was Süßes“) bzw. die antizipierte Veränderung der Emotion („Wenn ich die Schokolade esse, geht es mir Bei der Erklärung von Essstörungen wie auch 4 besser“) beinhalteten, auftraten. Während des Essanfalls anderen Erkrankungen ist eine Unterteilung in drehten sich die Kognitionen meist um den Kontrollver- prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende 5 6 lust, nach dem Essanfall traten dann vorwiegend selbstab- wertende Kognitionen auf (Arnow et al. 1992). Neuere Theorien beschäftigen sich mit einem mögli- chen Rebound-Effekt: je stärker die Betroffenen sich ver- - Faktoren sinnvoll. Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ stabil und begünstigen die Entstehung einer Essstörung. Diese umfassen biologische, soziokulturelle, famili- bieten, bestimmte Speisen zu essen oder überhaupt an Es- äre und individuelle Faktoren. Zu den biologischen 7 sen zu denken, desto höher wurde die Valenz der Speisen. Faktoren zählen neben genetischen auch neurobio- Dies bedeutet, dass die Gedanken einem paradoxen Effekt logische, körperliche und ernährungsphysiologische nach sich ziehen. Diese Annahme konnte bereits in Labor- Faktoren. Soziokulturelle Aspekte beinhalten das 8 versuchen an gezügelt essenden Frauen verifiziert werden gesellschaftliche Schlankheitsideal und den Ein- (Stirling und Yeomans 2004). fluss von Familie und Peers. Familiäre Faktoren 9 beziehen sich meist auf die Interaktionsmuster der Familie, während individuelle Faktoren bestimmte Funktion des Essanfalls 10 2.4.3 Charakteristika der jeweiligen Person, wie niedriger Selbstwert, Perfektionismus und Impulsivität sowie 11 12 Viele Autoren halten es im Zusammenhang mit dem Auftreten negativer Emotionen vor Essanfällen für wahr- scheinlich, dass ein Essanfall der Reduzierung dieses un- angenehmen Gefühlszustands dienen soll. Das Modell der - kognitive Defizite, umfassen. Auslösende Faktoren bestimmen über den Zeit- punkt der Manifestation einer Essstörung und beinhalten zumeist kritische Lebensereignisse (z. B. 13 Flucht vor aversiver Selbstaufmerksamkeit von Heatherton und Baumeister (1991) beispielsweise erklärt die Funktion eines Essanfalls damit, dass durch eine kognitive Einen- gung der Wahrnehmungsfokus ausschließlich auf die ge- - Trennungen). Aufrechterhaltende Faktoren erklären, warum eine Essstörung dauerhaft bestehen bleibt, auch wenn die Bedingungen, die ursprünglich zur Entstehung der 14 genwärtige Stimulusumgebung gerichtet wird und dadurch Essstörung geführt haben, nicht mehr wirksam sind. Selbstaufmerksamkeit reduziert und negative Emotionen, Hierzu zählen gezügeltes Essverhalten, erhöhtes Be- 15 bedrohliche Gedanken und innerer Druck ausgeblendet lastungsempfinden bei geringen Copingfertigkeiten, werden. Es werden in diesem Zustand nur noch aktuelle defizitäre Emotionsregulation und kognitive Aspekte Reize wie beispielsweise Geruch und Geschmack von Nah- wie dysfunktionale Informationsverarbeitungspro- 16 rungsmitteln wahrgenommen, so das anstatt über kom- zesse. Daneben wird eine Konditionierung von Ess- plexe Themen dann beispielsweise über den Kaloriengehalt anfällen an spezifische Auslösesituationen vermutet. 17 der Nahrungsmittel nachgedacht wird. Auch Beruhigung und Entspannung werden als mögliche Funktion von Ess- anfällen genannt (Pudel und Westenhöfer 1998). Literatur 18 Daraus ist zu schließen, dass Essanfälle dazu dienen, als aversiv erlebte Emotionen – verschiedenste Facetten Alpers GW, Tuschen-Caffier B (2001) Negative feelings and the desire to 19 von Ärger (vor allem Ärgerunterdrückung), Einsamkeit, eat in bulimia nervosa. Eat Behav 2:339–352 Arnow B, Kenardy J, Agras WS (1992) Binge eating among the obese: A Scham, Ängstlichkeit und Depression – zeitweise aus dem descriptive study. J Behav Med 15:155–170 20 Bewusstsein auszuschließen. Bardone AM, Perez M, Abramson LY, Joiner TE (2003) Self-competence and self-liking in the prediction of change in bulimic symptomes. >> Essanfälle sind gekennzeichnet durch eine große, Int J Eat Disord 34:361–369 21 in kurzer Zeit aufgenommene Nahrungsmenge und Bauer BG, Anderson WP (1989) Bulimic beliefs: Food for thought. J Coun- sel Dev 67:416–419 Kontrollverlust. Sie treten in spezifischen Situationen Bekker M, van de Meerendonk C, Mollerus J (2004) Effects of negative 22 auf und folgen meist negativer Stimmung. Zudem mood induction and impulsivity on self-perceived emotional ea- sind dysfunktionale kognitive Prozesse an der ting. Int J Eat Disord 36:461–469
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