STRESS - DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG
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STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG RAINER BÖHM || Frühkindliche Bildung und Betreuung heißt ein Zauberwort der derzeiti- gen deutschen Sozial- und Familienpolitik. Dass fast alle Parteien des politischen Spektrums dieses Ziel in seltener Einmütigkeit verfolgen, ist erstaunlich und sollte durchaus zu Skepsis Anlass geben. Neue Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften zeigen, dass kritische Wachsamkeit dringend geboten ist. FRÜHE BETREUUNG UND KINDERMEDI- Faktoren sowie mögliche Risiken und Vor- ZIN teile für die soziale, mentale und kognitive Warum sollte sich ein Kinderarzt, speziell Persönlichkeitsentwicklung einzubeziehen.“1 mit der Fachrichtung Kinderneurologie, mit Es ist also in der Pädiatrie zumindest ein Fragen der frühen Betreuung und Bildung Bewusstsein dafür entstanden, dass hier ein von Kindern befassen? Dieser Bereich ist Zuständigkeitsfeld der Kindermedizin weit- insbesondere in Deutschland seit jeher eine gehend brachliegt und dass Bedarf an me- fast ausschließliche Domäne der Pädagogik dizinischer Forschung und Bewertung be- gewesen. Anders ist dies z. B. in den USA. steht. Und es wird festgehalten, dass es Hier beschäftigen sich pädiatrische Fachge- dabei nicht nur um somatische, sondern sellschaften schon seit Jahrzehnten mit auch um psychische, soziale und Persön- Kinderbetreuungsaspekten, insbesondere lichkeitsaspekte geht, also um Fragen der aus der Perspektive des öffentlichen Ge- seelischen Gesundheit. Eine erste Über- sundheitsdienstes. sichtsarbeit, die auch den letztgenannten Bei uns beklagten Autoren in der „Mo- Bereich beinhaltete, wurde 2011 publiziert.2 natsschrift Kinderheilkunde“, dem offiziellen Organ der Deutschen Gesellschaft für Kin- ENTWICKLUNG UND VERHALTEN NACH derheilkunde und Jugendmedizin: „Es gibt KRIPPENBETREUUNG keinen einzigen Artikel, der systematisch Wie ist nun die derzeitige Datenlage zur Daten zum Thema Krippen und Gesundheit sozialen und kognitiven Entwicklung bei der in Deutschland in einer Peer-reviewed- außerfamiliären Betreuung Unter-3-jähriger Zeitschrift publiziert hat und eine datenge- Kinder? In Deutschland besteht hier auch in stützte Antwort gibt auf die Frage, inwieweit der pädagogischen und psychologischen mit der Kinderbetreuung in einer Krippe wissenschaftlichen Literatur ein erhebliches erhöhte (oder auch verminderte) gesund- Erkenntnisdefizit. Aber auch international heitliche Risiken verbunden sind.“ waren die Forschungsdaten bis in die Ferner wird im gleichen Beitrag festge- 1990er-Jahre des vergangenen Jahrhun- halten: „Die Rolle der Kinderbetreuung kann derts hinein unbefriedigend. insgesamt allerdings nicht sachgerecht be- Der Verhaltensbiologe und Bildungsfor- wertet werden, ohne auch psychosoziale scher Joachim Bensel stellte 1994 fest, ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM dass „die internationalen Krippenstudien, − Die Effekte elterlicher Erziehung sind auf die immer wieder verwiesen wird, me- wesentlich stärker als jene außerfamiliä- thodische Schwächen aufweisen, ihre Er- rer Betreuung. gebnisse zeigen nicht in die gleiche Rich- Aus diesen Resultaten leitete das Autoren- tung, und sie sind selten zu verallgemei- kollektiv drei unmittelbar plausible Grund- nern, da die Rahmenbedingungen nur man- satzforderungen ab: gelhaft erfasst wurden“. Die Datenlage kön- − Die Qualität frühkindlicher Betreuung ne „eine bedenkenlose Befürwortung der muss hoch sein. Krippenbetreuung nicht unterstützen“.3 − Die Dauer frühkindlicher Betreuung sollte Dieses Forschungsdefizit wurde von niedrig sein. Entwicklungspsychologen in den USA zum − Elterliche Erziehung sollte besonders Anlass genommen, eine Großstudie in An- unterstützt und gefördert werden.4 Inter- griff zu nehmen, die mehr Klarheit in den national, besonders aber auch in widersprüchlichen Datensumpf zur frühen Deutschland, wird derzeit praktisch aus- Betreuung bringen sollte. Unter Federfüh- schließlich die erste Forderung debattiert rung des National Institute of Child Health (deren Umsetzung in weiter Ferne liegt), and Development (NICHD) wurden mehr als während hinsichtlich der zweiten und drit- 1.300 Neugeborene und ihre Familien rekru- ten Forderung weitgehendes Stillschwei- tiert und der Entwicklungsverlauf der Kinder gen herrscht. bis zum 15. Lebensjahr regelmäßig und detailliert gemessen. Dabei wurde größter FAMILIÄRE EFFEKTE FRÜHER BETREU- Wert darauf gelegt, auch die bereits be- UNG nannten Rahmenbedingungen exakt zu Interessant und wichtig ist in diesem Zu- erfassen, z. B. Bildungsniveau, Familien- sammenhang die Frage, wie sich eigentlich stand und sozioökonomischen Status der die Kombination von vermehrter elterlicher Eltern, Eltern-Kind-Interaktion, Art und Um- Berufstätigkeit und außerfamiliärer Betreu- fang von Betreuungsarrangements sowie ung auf die elterliche Gesundheit, das Er- Struktur- und Prozessqualität der Betreu- ziehungsverhalten und die familiäre Situati- ungseinrichtungen. Diese sogenannte „mul- on insgesamt auswirkt. Hier wurde ja von tivariate Analyse“ ist wissenschaftlich un- der deutschen Familienpolitik postuliert, umgänglich, wenn man einen „Netto-Effekt“ dass an ihre Kinder gefesselte und dadurch feststellen will, also die Auswirkungen, die depressive Eltern (speziell Mütter) durch allein auf den Faktor „frühe außerfamiliäre frühere und längere Berufstätigkeit „geheilt“ Betreuung“ zurückzuführen sind. werden könnten. Die Fülle der NICHD-Daten, die heute als Zu dieser Frage gibt es eine exzellente Gold-Standard der Betreuungsforschung Studie, die in Kanada gemeinsam von Öko- gelten, lässt sich auf drei wesentliche Er- nomen und Medizinern durchgeführt wurde. kenntnisse kondensieren: Im Bundesstaat Quebec wurde dort in den − Höhere Betreuungsqualität führt zu et- 1990er-Jahren ein umfassendes, hochsub- was besseren kognitiven Leistungen. ventioniertes und qualitätskontrolliertes Be- − Die Dauer früher Betreuung ist linear mit treuungsprogramm aufgelegt, das zu einer einer Zunahme aggressiven und impulsi- erheblichen Zunahme mütterlicher Berufstä- ven Verhaltens verbunden, und zwar un- tigkeit führte. Die Effekte auf Familien wur- abhängig von der Betreuungsqualität(!) den im Rahmen einer laufenden, national und insbesondere in Krippen. (Beide Ef- repräsentativen Längsschnittstudie erfasst fekte halten bis zum 15. Lebensjahr an, (NLSCY), in der ein Vergleich zu den ande- scheinen also längerfristig „program- ren kanadischen Bundesstaaten gezogen miert“ zu werden.) wurde, die kein vergleichbares Betreuungs- programm eingeführt hatten. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG Die Ergebnisse waren mehr als ernüch- Die erste Studie zum Cortisol-Tagesprofil ternd. Bei den Kindern in Quebec zeigten von Krippenkindern wurde Ende der 1990er- sich eine Zunahme von Hyperaktivität, Un- Jahre in den USA durchgeführt. Zur Überra- aufmerksamkeit, Aggressivität, eine Ver- schung der Autoren fand sich trotz hoher schlechterung sozialer und motorischer Betreuungsqualität bei der Mehrheit der Kompetenzen und eine Verschlechterung Kinder ein kontinuierlicher Anstieg des Cor- des Gesundheitszustands, hauptsächlich in tisol zum Nachmittag hin, mithin eine Um- Form vermehrter Infektionserkrankungen. kehrung des normalen Verlaufs und der Auf Elternseite zeigten sich eine Ver- Nachweis einer chronischen Stressbelas- schlechterung aller Eltern-Kind- tung. Diese Ergebnisse konnten auch in Interaktionsparameter, u. a. eine Zunahme einer späteren Meta-Analyse bestätigt wer- feindseliger und inkonsistenter Erziehung, den6 und zeigen, dass die Stressbelastung eine schlechtere elterliche psychische Ge- für ein ganztags betreutes Krippenkind sundheit (u. a. vermehrte(!) mütterliche De- durchschnittlich deutlich höher liegt als für pression) und eine geringere Beziehungszu- einen erwerbstätigen Erwachsenen.7 friedenheit der Frauen. Noch nicht einmal Eine einfache Definition besagt: „Stress ökonomisch zahlte sich das Programm aus: liegt dann vor, wenn die Anforderungen die Die Kosten des Programms lagen über dem Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten.“ zusätzlich erzielten Steueraufkommen.5 Biologisch ist das Cortisol-Stresssystem auf ERGEBNISSE DER STRESSFORSCHUNG die Bewältigung von Notfall-Situationen Mittlerweile werden die bisher aufgeführ- ausgelegt. Eine chronische Aktivierung ten Ergebnisse von einem anderen For- (sozusagen der Dauernotfall) führt zu vielfäl- schungsansatz in den Hintergrund gedrängt, tigen gesundheitlichen Störungen. Infektio- der ein noch kritischeres Bild frühkindlicher nen, Kopfschmerzen, Neurodermitis – alle- Krippenbetreuung zeichnet, nämlich der samt bei früher Tagesbetreuung vermehrt Stressforschung. Seit sich das wichtigste auftretend – sind mit hoher Wahrscheinlich- menschliche Stresshormon, Cortisol, ein- keit auf diese Ursache zurückzuführen. Kri- fach und zuverlässig aus Speichelproben tisch sind auch die Auswirkungen auf das messen lässt, haben sich zahlreiche Stu- Gehirn. Eine vermehrte Exposition gegen- dien mit der Stressbelastung kleiner Kinder über Cortisol führt in verschiedenen Gehirn- in außerfamiliärer Betreuung befasst. regionen zu Nervenzell-Untergängen. Be- Das normale, physiologische Tagesprofil sonders empfindlich ist hier das sich noch von Cortisol etabliert sich beim Menschen entwickelnde kindliche Gehirn, speziell die bereits innerhalb der ersten Lebensmonate. Bereiche, die für die sozioemotionale Regu- Es zeigt einen Anstieg zum Morgen hin mit lation und die Verhaltenskontrolle (exekutive einem Maximum etwa 30 Minuten nach dem Funktionen) verantwortlich sind.8 Aufwachen (awakening response). Dann Im Verlauf des Säuglingsalters nimmt die kommt es zunächst zu einem steilen Abfall Empfindlichkeit des Stresssystems rasch über wenige Stunden, gefolgt von einem ab. Negative Ereignisse, die bei Säuglingen langsamen Absinken bis in die Nacht hinein. noch eine deutliche Erhöhung von Cortisol Bei erwerbstätigen Erwachsenen liegen die hervorrufen, lassen Kleinkinder häufig un- Werte der awakening response an Werkta- beeindruckt. Diese Zeit wird auch als gen bis zu 50 Prozent höher als an arbeits- „Stress-hyporesponsive Periode“ bezeich- freien Tagen, bewegen sich aber bereits am net. Es wird vermutet, dass das weiterhin späten Vormittag wieder in einen identi- rasch wachsende Gehirn in dieser Phase schen Bereich. Dieser erhöhte Morgen- vor zu starker Cortisol-Exposition geschützt Peak des Cortisol antizipiert die erhöhten werden soll. Umso bedenklicher sind die Belastungen, die im Rahmen eines durch- hohen Cortisol-Spiegel bei Krippenkindern schnittlichen Arbeitstags zu erwarten sind. einzuschätzen. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM Kleinkinder, die unter einer derart hohen werden. Was Großeltern oder enge Freunde Stressbelastung stehen, entwickeln einen der Familie, wenn sie sich einem Kind emo- alternativen Notfall-Mechanismus, um ihr tional verbunden fühlen, in einer 1:1- Gehirn zu schützen. Der morgendliche Cor- Betreuung noch in ausreichendem Maß tisol-Wert wird zunehmend heruntergefah- anbieten können, scheint Erzieherinnen in ren, um die Gesamtmenge an Cortisol, die Krippen, die aufgrund der Kinderzahl viel auf das Hirngewebe einwirken kann, zu häufiger Gruppenprozesse als individuelle reduzieren. Dieser Effekt konnte sowohl bei Bedürfnisse regulieren, oft auch dann nicht Kleinkindern aus rumänischen und russi- zu gelingen, wenn sie engagiert, freundlich schen Waisenhäusern als auch bei Kindern und zugewandt sind. Die Stresshormon- aus der Wiener Krippenstudie nachgewie- Werte sind hierfür ein untrügliches Zeichen. sen werden.9 Nach früher und umfangrei- Es ist wichtig zu wissen, dass es keinen cher Krippenbetreuung kann dieser ernied- festen Grenzwert gibt, ab dem Stress rigte morgendliche Cortisol-Wert noch im schädlich wird. Egal, ob täglicher Dauer- Alter von 15 Jahren nachgewiesen werden stress oder seltenere massive Stressereig- (NICHD-Studie), quasi als „Stress-Narbe“.10 nisse (Trauma), die Effekte addieren sich Tarullo und Gunnar schreiben hierzu in und führen zu einer kumulativen Gesund- einer Übersichtsarbeit: „Verschiedene Stu- heitsbelastung, ein Phänomen, das im eng- dien haben gezeigt, dass Kleinkinder in lischen als „allostatic load“ bezeichnet wird. Waisenhäusern in Russland und Rumänien In der modernen Stressforschung werden erniedrigte morgendliche Cortison-Spiegel daher zunehmend nicht mehr isolierte und ein abgeschwächtes Absinken der Stressoren (z. B. Missbrauch, Vernachlässi- Spiegel über den Tag zeigen … Erniedrigte gung, Verlusterlebnisse) betrachtet, sondern morgendliche Cortison-Spiegel bei diesen alle Mechanismen, die das kindliche Cor- Kindern korrespondierten mit dem Ausmaß tisol-System überaktivieren, zusammenfas- von Vernachlässigung, was die Kinder zuvor send als „Early Life Stress“ bezeichnet, an erfahren hatten. Es scheint also, dass das dessen Schädlichkeit kein Zweifel besteht. Ausbleiben eines evolutionären zu erwar- An anderer Stelle habe ich dies so formu- tenden Standards von Fürsorge, also des liert: „Chronische Stressbelastung ist im speziestypischen Familienumfelds, mit einer Kindesalter die biologische Signatur der Dysregulation des Cortison-Tagesprofils bei Misshandlung.“12 jungen Kindern verbunden ist, speziell mit Es kann mittlerweile als wissenschaftlich einem Absinken des morgendlichen Spit- gut abgesichert gelten, dass „Early Life zenwerts bei der Cortison-Produktion. Diese Stress“ das Risiko für psychische Störungen Befunde stimmen mit der Literatur über im Erwachsenenalter erhöht, insbesondere Tierversuche überein, bei denen abge- für Depressionen, aber auch für Angst- und schwächte morgendliche Cortison-Spitzen Schmerzstörungen.13 Dies ist insbesondere und eine eingeschränkte Variabilität des vor dem epidemiologischen Hintergrund der Tagesspiegels bei Rhesusaffen mit chroni- in den letzten Jahren bereits stark anstei- schen Stress und Unterbrechungen von genden Zahlen von Burnout und Depression Fürsorge verbunden waren.“11 bei Erwerbstätigen als bedenklich einzustu- Wir sehen also, dass für sehr junge Kin- fen. Abgesehen von dem erheblichen Lei- der die psychische Sicherheit, die sie aus densdruck und den nicht selten fatalen Ver- ihrer primären Bindungsbeziehung zu ihren läufen (Suizid) führen Depressionen in den Eltern erlangen, nicht ohne Weiteres er- Industrienationen schon heute zu volkswirt- setzbar ist. Die feinfühlige Zuwendung, ja schaftlichen Verlusten von mehr als Liebe, auf die Kinder in diesem Alter biolo- 500 Milliarden Dollar pro Jahr.14 gisch programmiert sind, kann offenbar selbst in qualitativ hochwertigen Krippen nicht ausreichend zur Verfügung gestellt ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG DIE BIELEFELDER EMPFEHLUNGEN durchsetzen, dass wir das ‚growth and re- Nachdem das Thema Krippenbetreuung laxation-‘ bzw. das ‚calm- and connection- im Rahmen eines gemeinsamen Schwer- System‘ stärken müssen. Wenn das nicht punktsymposiums bei der wissenschaftli- geschieht, dann könnten Abwehr- und chen Jahrestagung der pädiatrischen Fach- Stressreaktionen in der Gesellschaft die gesellschaften 2011 in Bielefeld eingehend Oberhand gewinnen.“18 beleuchtet wurde, wurden aufgrund der ak- Elizabeth Blackburn, australische Mole- tuellen Datenlage evidenzbasierte Empfeh- kularbiologin und Nobelpreisträgerin für lungen erarbeitet, die insbesondere die For- Medizin, die sich mit biologischer Voralte- derungen der NICHD-Studie und die Ergeb- rung durch Stress befasst, erläutert: „Die nisse der Stressforschung umsetzen:15 Lebensumstände spielen eine wichtige Rol- − Gruppentagesbetreuung für Unter-3- le – vor allem chronischer Stress. … Be- Jährige muss hohe Qualitätsanforderun- sonders tiefe Spuren im Zellkern scheinen gen erfüllen. Für Standards wird auf das die frühen Belastungen zu hinterlassen. Positionspapier der Deutschen Gesell- Damit machen die Ergebnisse eines sehr schaft für Sozialpädiatrie und Jugendme- klar: wie dringend es ist, die Kinder zu dizin verwiesen.16 schützen.“19 − Folgende Alters- und Mengenbegren- Der Freiburger Psychosomatiker Joachim zungen werden empfohlen: keine Grup- Bauer gibt zu bedenken: „Ein Staat, der pentagesbetreuung bei Unter-2-Jährigen, Eltern nicht ausreichende Möglichkeiten zwischen dem zweiten und dritten Ge- einräumt, sich in der frühen Lebensphase burtstag maximal halbtägige Gruppenta- ihrer Kinder intensiv um diese zu kümmern, gesbetreuung (bis 20 Std. / Woche) und zahlt später einen hohen Preis – in Form ab drei Jahren bis zu ganztägige Grup- einer Zunahme psychischer, insbesondere pentagesbetreuung möglich, je nach in- depressiver Störungen und anderer Stress- dividueller Disposition. krankheiten.“20 − Elterliche Betreuung sollte insbesondere Und Aric Sigman, britischer Biologe und in den ersten drei Lebensjahren gezielt Psychologe, mahnt einen Paradigmen- unterstützt und gefördert werden. wechsel an: „Derzeit werden elterliche Er- ziehung und frühe Tagesbetreuung als FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN gleichwertige Alternativen dargestellt. Neu- Die beschriebene Problematik früher au- robiologisch basierte Forschung führt jetzt ßerfamiliärer Betreuung wird von internatio- zu einer deutlich veränderten Perspektive. nalen Forschern verschiedener Fachrich- … Egal wie unangenehm es sein mag, un- tungen zunehmend wahrgenommen: sere Gesellschaft braucht neue, ehrliche Megan Gunnar, führende Stressforsche- Rahmenbedingungen für frühkindliche Be- rin in den USA, schreibt in einer Studie zur treuung.“21 Tagespflege: „Die Tatsache, dass dieser (Cortisol)Anstieg mit ängstlichem Verhalten AUSBLICK bei Mädchen und aggressivem Verhalten Mit dem zunehmenden Bewusstsein für bei Jungen verbunden ist, kann uns hin- die Probleme frühkindlicher außerfamiliärer sichtlich potenzieller Auswirkungen auf die Betreuung stehen wir in den Industrielän- kindliche Entwicklung nicht optimistisch dern am Anfang eines gesellschaftlichen stimmen.“17 Prozesses, der Zeit erfordern wird. Es ist Kerstin Uvnäs-Moberg, renommierte allerdings dringend geboten, dass wir mit Neurobiologin aus Schweden, stellt fest: Blick auf das Kindeswohl ökonomistische, „Lang anhaltender Stress ist schädlich für aber auch feministische Ideologien, die flä- Funktionen, die mit Entwicklung und Wachs- chendeckende, immer frühere und länger- tum zu tun haben. … Auch auf der Ebene dauernde außerfamiliäre Betreuung fordern, der Gesellschaft sollte sich der Gedanke hinterfragen. Dies hat primär nichts mit ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM Konservatismus oder Restauration zu tun. 10 Roisman, Glenn I. / Susman, Elizabeth / Bar- Der Anspruch unserer Kinder auf Gesund- nett-Walker, Kortnee u. a.: Early Family and heit und Wohlbefinden ist schlicht ein Men- Child-Care Antecedents of Awakening Cortisol schenrecht, das anhaltender Wachsamkeit Levels in Adolescence, in: Child Development 80/2009, S. 907-920. bedarf. 11 Tarullo, Amanda R. / Gunnar, Megan R.: Child Maltreatment and the developing HPA axis, in: || DR. MED. RAINER BÖHM Hormones and Behavior 50/2006, S. 632-639. 12 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Böhm, Rainer: Die dunkle Seite der Kindheit, in: Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2012. 13 Evangelischen Krankenhaus Bielefeld-Bethel McCrory, Eamon / De Brito, Stephane A. / Viding, Essi: Research Review: The neurobiology and genetics of maltreatment and adversity, in: Journal of Child Psychology and Psychiatry ANMERKUNGEN 10/2010, S. 1079-1095. 14 1 Bloom, David E. / Cafiero, Elizabeth T. / Jané- Heinrich, Joachim / Koletzko, Berthold: Kinderge- Llopis, Eva: The Global Economic Burden of sundheit und Kinderbetreuung bei Unter-3- Noncommunicable Diseases, Cologny / Geneva Jährigen, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 2011, S. 26-27. 156/2008, S. 562-568. 15 2 http://www.fachportal-bildung-und-seelische- Böhm, Rainer: Auswirkungen frühkindlicher gesund Gruppenbetreuung auf Entwicklung und Ge- heit.de/index.php?option=com_content&view=ar sundheit, in: Kinderärztliche Praxis 82/2011, ticle&id=18&Itemid=181, Stand: 21.7.2012. S. 316-21. 16 3 www.dgspj.de Bensel, Joachim: Ist die Tagesbetreuung in 17 Gunnar, Megan R: The Rise in Cortisol in Fami- Krippen ein Risiko? Eine kritische Beurteilung ly Daycare: Associations With Aspects of Care der internationalen Krippenforschung, in: Zeit- Quality, Child Behavior, and Child Sex, in: Child schrift für Pädagogik 40/1994, S. 303-326. 4 Dev 81/2010, S. 851-869. NICHD Early Childcare Research Network: 18 Uvnäs-Moberg, Kerstin: Die Funktion von Oxy- Child Care Effect Sizes for the NICHD Study of tocin in der frühen Entwicklung, in: Bindung und Early Child Care and Youth Development, in: frühe Störungen der Entwicklung, hrsg. von American Psychologist 61/2006, S. 114. 5 Karl-Heinz Brisch, Stuttgart 2011, S. 13-33. Baker, Michael / Gruber, Jonathan / Milligan, 19 http://www.zeit.de/2012/16/Gespraech- Kevin: Universal Childcare, Maternal Labor Sup- Blackburn-Klein, Stand: 29.8.2012. ply and Family Well-Being, 2005, 20 Spork, Peter: In der depressiven Falle, in: http://faculty.arts.ubc.ca/kmilligan/ Frankfurter Rundschau, 21./22.11.2009, S. 12. research/childcare.oct2005.final.pdf, Stand: 21 Sigman, Aric: Mother superior? The Biological 8.7.2011. 6 Effects of Day Care, in: The Biologist 58/2011, Vermeer, Harriet J. / Ijzendoorn, Marius H. van: S. 28-32. Children's elevated cortisol levels at daycare: A review and meta-analysis, in: Early Childhood Research Quarterly 21/2006, S. 390-401. 7 Wie sich dieser Sachverhalt zum Verbot der Kinderarbeit, eine Errungenschaft fortschrittli- cher Gesellschaften, verhält, wurde bisher öf- fentlich nicht diskutiert. 8 Lupien, Sonia J. / McEwen, Bruce S. / Gunnar, Megan R. / Heim, Christine: Effects of stress throughout the lifespan on the brain, behaviour and cognition, in: Nat Rev Neurosci 10/2009, S. 434-445. 9 Böhm, Rainer / Böhm, Dorothea: Krippenbe- treuung – Risikofaktor Stressbelastung, Poster beim Deutschen Kongress für psychosomati- sche Medizin und Psychotherapie, München 2012, http://www.fachportal-bildung-und- eelische-gesundheit.de/index.php?option =com_content&view=article&id=13&Itemid=177, Stand: 30.8.2012. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
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