STRESS - DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG

 
WEITER LESEN
STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM
FRÜHKINDLICHER BETREUUNG

   RAINER BÖHM || Frühkindliche Bildung und Betreuung heißt ein Zauberwort der derzeiti-
gen deutschen Sozial- und Familienpolitik. Dass fast alle Parteien des politischen Spektrums
dieses Ziel in seltener Einmütigkeit verfolgen, ist erstaunlich und sollte durchaus zu Skepsis
Anlass geben. Neue Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften
zeigen, dass kritische Wachsamkeit dringend geboten ist.

FRÜHE BETREUUNG UND KINDERMEDI-                  Faktoren sowie mögliche Risiken und Vor-
ZIN                                              teile für die soziale, mentale und kognitive
   Warum sollte sich ein Kinderarzt, speziell    Persönlichkeitsentwicklung einzubeziehen.“1
mit der Fachrichtung Kinderneurologie, mit           Es ist also in der Pädiatrie zumindest ein
Fragen der frühen Betreuung und Bildung          Bewusstsein dafür entstanden, dass hier ein
von Kindern befassen? Dieser Bereich ist         Zuständigkeitsfeld der Kindermedizin weit-
insbesondere in Deutschland seit jeher eine      gehend brachliegt und dass Bedarf an me-
fast ausschließliche Domäne der Pädagogik        dizinischer Forschung und Bewertung be-
gewesen. Anders ist dies z. B. in den USA.       steht. Und es wird festgehalten, dass es
Hier beschäftigen sich pädiatrische Fachge-      dabei nicht nur um somatische, sondern
sellschaften schon seit Jahrzehnten mit          auch um psychische, soziale und Persön-
Kinderbetreuungsaspekten,       insbesondere     lichkeitsaspekte geht, also um Fragen der
aus der Perspektive des öffentlichen Ge-         seelischen Gesundheit. Eine erste Über-
sundheitsdienstes.                               sichtsarbeit, die auch den letztgenannten
   Bei uns beklagten Autoren in der „Mo-         Bereich beinhaltete, wurde 2011 publiziert.2
natsschrift Kinderheilkunde“, dem offiziellen
Organ der Deutschen Gesellschaft für Kin-        ENTWICKLUNG UND VERHALTEN NACH
derheilkunde und Jugendmedizin: „Es gibt         KRIPPENBETREUUNG
keinen einzigen Artikel, der systematisch           Wie ist nun die derzeitige Datenlage zur
Daten zum Thema Krippen und Gesundheit           sozialen und kognitiven Entwicklung bei der
in Deutschland in einer Peer-reviewed-           außerfamiliären Betreuung Unter-3-jähriger
Zeitschrift publiziert hat und eine datenge-     Kinder? In Deutschland besteht hier auch in
stützte Antwort gibt auf die Frage, inwieweit    der pädagogischen und psychologischen
mit der Kinderbetreuung in einer Krippe          wissenschaftlichen Literatur ein erhebliches
erhöhte (oder auch verminderte) gesund-          Erkenntnisdefizit. Aber auch international
heitliche Risiken verbunden sind.“               waren die Forschungsdaten bis in die
   Ferner wird im gleichen Beitrag festge-       1990er-Jahre des vergangenen Jahrhun-
halten: „Die Rolle der Kinderbetreuung kann      derts hinein unbefriedigend.
insgesamt allerdings nicht sachgerecht be-          Der Verhaltensbiologe und Bildungsfor-
wertet werden, ohne auch psychosoziale           scher Joachim Bensel stellte 1994 fest,

            ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM

dass „die internationalen Krippenstudien,      − Die Effekte elterlicher Erziehung sind
auf die immer wieder verwiesen wird, me-          wesentlich stärker als jene außerfamiliä-
thodische Schwächen aufweisen, ihre Er-           rer Betreuung.
gebnisse zeigen nicht in die gleiche Rich-     Aus diesen Resultaten leitete das Autoren-
tung, und sie sind selten zu verallgemei-      kollektiv drei unmittelbar plausible Grund-
nern, da die Rahmenbedingungen nur man-        satzforderungen ab:
gelhaft erfasst wurden“. Die Datenlage kön-    − Die Qualität frühkindlicher Betreuung
ne „eine bedenkenlose Befürwortung der            muss hoch sein.
Krippenbetreuung nicht unterstützen“.3         − Die Dauer frühkindlicher Betreuung sollte
    Dieses Forschungsdefizit wurde von            niedrig sein.
Entwicklungspsychologen in den USA zum         − Elterliche Erziehung sollte besonders
Anlass genommen, eine Großstudie in An-           unterstützt und gefördert werden.4 Inter-
griff zu nehmen, die mehr Klarheit in den         national, besonders aber auch in
widersprüchlichen Datensumpf zur frühen           Deutschland, wird derzeit praktisch aus-
Betreuung bringen sollte. Unter Federfüh-         schließlich die erste Forderung debattiert
rung des National Institute of Child Health       (deren Umsetzung in weiter Ferne liegt),
and Development (NICHD) wurden mehr als           während hinsichtlich der zweiten und drit-
1.300 Neugeborene und ihre Familien rekru-        ten Forderung weitgehendes Stillschwei-
tiert und der Entwicklungsverlauf der Kinder      gen herrscht.
bis zum 15. Lebensjahr regelmäßig und
detailliert gemessen. Dabei wurde größter      FAMILIÄRE EFFEKTE FRÜHER BETREU-
Wert darauf gelegt, auch die bereits be-       UNG
nannten Rahmenbedingungen exakt zu                 Interessant und wichtig ist in diesem Zu-
erfassen, z. B. Bildungsniveau, Familien-      sammenhang die Frage, wie sich eigentlich
stand und sozioökonomischen Status der         die Kombination von vermehrter elterlicher
Eltern, Eltern-Kind-Interaktion, Art und Um-   Berufstätigkeit und außerfamiliärer Betreu-
fang von Betreuungsarrangements sowie          ung auf die elterliche Gesundheit, das Er-
Struktur- und Prozessqualität der Betreu-      ziehungsverhalten und die familiäre Situati-
ungseinrichtungen. Diese sogenannte „mul-      on insgesamt auswirkt. Hier wurde ja von
tivariate Analyse“ ist wissenschaftlich un-    der deutschen Familienpolitik postuliert,
umgänglich, wenn man einen „Netto-Effekt“      dass an ihre Kinder gefesselte und dadurch
feststellen will, also die Auswirkungen, die   depressive Eltern (speziell Mütter) durch
allein auf den Faktor „frühe außerfamiliäre    frühere und längere Berufstätigkeit „geheilt“
Betreuung“ zurückzuführen sind.                werden könnten.
    Die Fülle der NICHD-Daten, die heute als       Zu dieser Frage gibt es eine exzellente
Gold-Standard der Betreuungsforschung          Studie, die in Kanada gemeinsam von Öko-
gelten, lässt sich auf drei wesentliche Er-    nomen und Medizinern durchgeführt wurde.
kenntnisse kondensieren:                       Im Bundesstaat Quebec wurde dort in den
− Höhere Betreuungsqualität führt zu et-       1990er-Jahren ein umfassendes, hochsub-
    was besseren kognitiven Leistungen.        ventioniertes und qualitätskontrolliertes Be-
− Die Dauer früher Betreuung ist linear mit    treuungsprogramm aufgelegt, das zu einer
    einer Zunahme aggressiven und impulsi-     erheblichen Zunahme mütterlicher Berufstä-
    ven Verhaltens verbunden, und zwar un-     tigkeit führte. Die Effekte auf Familien wur-
    abhängig von der Betreuungsqualität(!)     den im Rahmen einer laufenden, national
    und insbesondere in Krippen. (Beide Ef-    repräsentativen Längsschnittstudie erfasst
    fekte halten bis zum 15. Lebensjahr an,    (NLSCY), in der ein Vergleich zu den ande-
    scheinen also längerfristig „program-      ren kanadischen Bundesstaaten gezogen
    miert“ zu werden.)                         wurde, die kein vergleichbares Betreuungs-
                                               programm eingeführt hatten.

            ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG

    Die Ergebnisse waren mehr als ernüch-           Die erste Studie zum Cortisol-Tagesprofil
ternd. Bei den Kindern in Quebec zeigten        von Krippenkindern wurde Ende der 1990er-
sich eine Zunahme von Hyperaktivität, Un-       Jahre in den USA durchgeführt. Zur Überra-
aufmerksamkeit, Aggressivität, eine Ver-        schung der Autoren fand sich trotz hoher
schlechterung sozialer und motorischer          Betreuungsqualität bei der Mehrheit der
Kompetenzen und eine Verschlechterung           Kinder ein kontinuierlicher Anstieg des Cor-
des Gesundheitszustands, hauptsächlich in       tisol zum Nachmittag hin, mithin eine Um-
Form vermehrter Infektionserkrankungen.         kehrung des normalen Verlaufs und der
Auf Elternseite zeigten sich eine Ver-          Nachweis einer chronischen Stressbelas-
schlechterung          aller     Eltern-Kind-   tung. Diese Ergebnisse konnten auch in
Interaktionsparameter, u. a. eine Zunahme       einer späteren Meta-Analyse bestätigt wer-
feindseliger und inkonsistenter Erziehung,      den6 und zeigen, dass die Stressbelastung
eine schlechtere elterliche psychische Ge-      für ein ganztags betreutes Krippenkind
sundheit (u. a. vermehrte(!) mütterliche De-    durchschnittlich deutlich höher liegt als für
pression) und eine geringere Beziehungszu-      einen erwerbstätigen Erwachsenen.7
friedenheit der Frauen. Noch nicht einmal           Eine einfache Definition besagt: „Stress
ökonomisch zahlte sich das Programm aus:        liegt dann vor, wenn die Anforderungen die
Die Kosten des Programms lagen über dem         Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten.“
zusätzlich erzielten Steueraufkommen.5          Biologisch ist das Cortisol-Stresssystem auf
ERGEBNISSE DER STRESSFORSCHUNG                  die Bewältigung von Notfall-Situationen
    Mittlerweile werden die bisher aufgeführ-   ausgelegt. Eine chronische Aktivierung
ten Ergebnisse von einem anderen For-           (sozusagen der Dauernotfall) führt zu vielfäl-
schungsansatz in den Hintergrund gedrängt,      tigen gesundheitlichen Störungen. Infektio-
der ein noch kritischeres Bild frühkindlicher   nen, Kopfschmerzen, Neurodermitis – alle-
Krippenbetreuung zeichnet, nämlich der          samt bei früher Tagesbetreuung vermehrt
Stressforschung. Seit sich das wichtigste       auftretend – sind mit hoher Wahrscheinlich-
menschliche Stresshormon, Cortisol, ein-        keit auf diese Ursache zurückzuführen. Kri-
fach und zuverlässig aus Speichelproben         tisch sind auch die Auswirkungen auf das
messen lässt, haben sich zahlreiche Stu-        Gehirn. Eine vermehrte Exposition gegen-
dien mit der Stressbelastung kleiner Kinder     über Cortisol führt in verschiedenen Gehirn-
in außerfamiliärer Betreuung befasst.           regionen zu Nervenzell-Untergängen. Be-
    Das normale, physiologische Tagesprofil     sonders empfindlich ist hier das sich noch
von Cortisol etabliert sich beim Menschen       entwickelnde kindliche Gehirn, speziell die
bereits innerhalb der ersten Lebensmonate.      Bereiche, die für die sozioemotionale Regu-
Es zeigt einen Anstieg zum Morgen hin mit       lation und die Verhaltenskontrolle (exekutive
einem Maximum etwa 30 Minuten nach dem          Funktionen) verantwortlich sind.8
Aufwachen (awakening response). Dann                Im Verlauf des Säuglingsalters nimmt die
kommt es zunächst zu einem steilen Abfall       Empfindlichkeit des Stresssystems rasch
über wenige Stunden, gefolgt von einem          ab. Negative Ereignisse, die bei Säuglingen
langsamen Absinken bis in die Nacht hinein.     noch eine deutliche Erhöhung von Cortisol
Bei erwerbstätigen Erwachsenen liegen die       hervorrufen, lassen Kleinkinder häufig un-
Werte der awakening response an Werkta-         beeindruckt. Diese Zeit wird auch als
gen bis zu 50 Prozent höher als an arbeits-     „Stress-hyporesponsive Periode“ bezeich-
freien Tagen, bewegen sich aber bereits am      net. Es wird vermutet, dass das weiterhin
späten Vormittag wieder in einen identi-        rasch wachsende Gehirn in dieser Phase
schen Bereich. Dieser erhöhte Morgen-           vor zu starker Cortisol-Exposition geschützt
Peak des Cortisol antizipiert die erhöhten      werden soll. Umso bedenklicher sind die
Belastungen, die im Rahmen eines durch-         hohen Cortisol-Spiegel bei Krippenkindern
schnittlichen Arbeitstags zu erwarten sind.     einzuschätzen.

            ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM

    Kleinkinder, die unter einer derart hohen   werden. Was Großeltern oder enge Freunde
Stressbelastung stehen, entwickeln einen        der Familie, wenn sie sich einem Kind emo-
alternativen Notfall-Mechanismus, um ihr        tional verbunden fühlen, in einer 1:1-
Gehirn zu schützen. Der morgendliche Cor-       Betreuung noch in ausreichendem Maß
tisol-Wert wird zunehmend heruntergefah-        anbieten können, scheint Erzieherinnen in
ren, um die Gesamtmenge an Cortisol, die        Krippen, die aufgrund der Kinderzahl viel
auf das Hirngewebe einwirken kann, zu           häufiger Gruppenprozesse als individuelle
reduzieren. Dieser Effekt konnte sowohl bei     Bedürfnisse regulieren, oft auch dann nicht
Kleinkindern aus rumänischen und russi-         zu gelingen, wenn sie engagiert, freundlich
schen Waisenhäusern als auch bei Kindern        und zugewandt sind. Die Stresshormon-
aus der Wiener Krippenstudie nachgewie-         Werte sind hierfür ein untrügliches Zeichen.
sen werden.9 Nach früher und umfangrei-             Es ist wichtig zu wissen, dass es keinen
cher Krippenbetreuung kann dieser ernied-       festen Grenzwert gibt, ab dem Stress
rigte morgendliche Cortisol-Wert noch im        schädlich wird. Egal, ob täglicher Dauer-
Alter von 15 Jahren nachgewiesen werden         stress oder seltenere massive Stressereig-
(NICHD-Studie), quasi als „Stress-Narbe“.10     nisse (Trauma), die Effekte addieren sich
    Tarullo und Gunnar schreiben hierzu in      und führen zu einer kumulativen Gesund-
einer Übersichtsarbeit: „Verschiedene Stu-      heitsbelastung, ein Phänomen, das im eng-
dien haben gezeigt, dass Kleinkinder in         lischen als „allostatic load“ bezeichnet wird.
Waisenhäusern in Russland und Rumänien          In der modernen Stressforschung werden
erniedrigte morgendliche Cortison-Spiegel       daher zunehmend nicht mehr isolierte
und ein abgeschwächtes Absinken der             Stressoren (z. B. Missbrauch, Vernachlässi-
Spiegel über den Tag zeigen … Erniedrigte       gung, Verlusterlebnisse) betrachtet, sondern
morgendliche Cortison-Spiegel bei diesen        alle Mechanismen, die das kindliche Cor-
Kindern korrespondierten mit dem Ausmaß         tisol-System überaktivieren, zusammenfas-
von Vernachlässigung, was die Kinder zuvor      send als „Early Life Stress“ bezeichnet, an
erfahren hatten. Es scheint also, dass das      dessen Schädlichkeit kein Zweifel besteht.
Ausbleiben eines evolutionären zu erwar-        An anderer Stelle habe ich dies so formu-
tenden Standards von Fürsorge, also des         liert: „Chronische Stressbelastung ist im
speziestypischen Familienumfelds, mit einer     Kindesalter die biologische Signatur der
Dysregulation des Cortison-Tagesprofils bei     Misshandlung.“12
jungen Kindern verbunden ist, speziell mit          Es kann mittlerweile als wissenschaftlich
einem Absinken des morgendlichen Spit-          gut abgesichert gelten, dass „Early Life
zenwerts bei der Cortison-Produktion. Diese     Stress“ das Risiko für psychische Störungen
Befunde stimmen mit der Literatur über          im Erwachsenenalter erhöht, insbesondere
Tierversuche überein, bei denen abge-           für Depressionen, aber auch für Angst- und
schwächte morgendliche Cortison-Spitzen         Schmerzstörungen.13 Dies ist insbesondere
und eine eingeschränkte Variabilität des        vor dem epidemiologischen Hintergrund der
Tagesspiegels bei Rhesusaffen mit chroni-       in den letzten Jahren bereits stark anstei-
schen Stress und Unterbrechungen von            genden Zahlen von Burnout und Depression
Fürsorge verbunden waren.“11                    bei Erwerbstätigen als bedenklich einzustu-
    Wir sehen also, dass für sehr junge Kin-    fen. Abgesehen von dem erheblichen Lei-
der die psychische Sicherheit, die sie aus      densdruck und den nicht selten fatalen Ver-
ihrer primären Bindungsbeziehung zu ihren       läufen (Suizid) führen Depressionen in den
Eltern erlangen, nicht ohne Weiteres er-        Industrienationen schon heute zu volkswirt-
setzbar ist. Die feinfühlige Zuwendung, ja      schaftlichen Verlusten von mehr als
Liebe, auf die Kinder in diesem Alter biolo-    500 Milliarden Dollar pro Jahr.14
gisch programmiert sind, kann offenbar
selbst in qualitativ hochwertigen Krippen
nicht ausreichend zur Verfügung gestellt

            ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
STRESS – DAS UNTERSCHÄTZTE PROBLEM FRÜHKINDLICHER BETREUUNG

DIE BIELEFELDER EMPFEHLUNGEN                   durchsetzen, dass wir das ‚growth and re-
   Nachdem das Thema Krippenbetreuung          laxation-‘ bzw. das ‚calm- and connection-
im Rahmen eines gemeinsamen Schwer-            System‘ stärken müssen. Wenn das nicht
punktsymposiums bei der wissenschaftli-        geschieht, dann könnten Abwehr- und
chen Jahrestagung der pädiatrischen Fach-      Stressreaktionen in der Gesellschaft die
gesellschaften 2011 in Bielefeld eingehend     Oberhand gewinnen.“18
beleuchtet wurde, wurden aufgrund der ak-         Elizabeth Blackburn, australische Mole-
tuellen Datenlage evidenzbasierte Empfeh-      kularbiologin und Nobelpreisträgerin für
lungen erarbeitet, die insbesondere die For-   Medizin, die sich mit biologischer Voralte-
derungen der NICHD-Studie und die Ergeb-       rung durch Stress befasst, erläutert: „Die
nisse der Stressforschung umsetzen:15          Lebensumstände spielen eine wichtige Rol-
− Gruppentagesbetreuung für Unter-3-           le – vor allem chronischer Stress. … Be-
   Jährige muss hohe Qualitätsanforderun-      sonders tiefe Spuren im Zellkern scheinen
   gen erfüllen. Für Standards wird auf das    die frühen Belastungen zu hinterlassen.
   Positionspapier der Deutschen Gesell-       Damit machen die Ergebnisse eines sehr
   schaft für Sozialpädiatrie und Jugendme-    klar: wie dringend es ist, die Kinder zu
   dizin verwiesen.16                          schützen.“19
− Folgende Alters- und Mengenbegren-              Der Freiburger Psychosomatiker Joachim
   zungen werden empfohlen: keine Grup-        Bauer gibt zu bedenken: „Ein Staat, der
   pentagesbetreuung bei Unter-2-Jährigen,     Eltern nicht ausreichende Möglichkeiten
   zwischen dem zweiten und dritten Ge-        einräumt, sich in der frühen Lebensphase
   burtstag maximal halbtägige Gruppenta-      ihrer Kinder intensiv um diese zu kümmern,
   gesbetreuung (bis 20 Std. / Woche) und      zahlt später einen hohen Preis – in Form
   ab drei Jahren bis zu ganztägige Grup-      einer Zunahme psychischer, insbesondere
   pentagesbetreuung möglich, je nach in-      depressiver Störungen und anderer Stress-
   dividueller Disposition.                    krankheiten.“20
− Elterliche Betreuung sollte insbesondere        Und Aric Sigman, britischer Biologe und
   in den ersten drei Lebensjahren gezielt     Psychologe, mahnt einen Paradigmen-
   unterstützt und gefördert werden.           wechsel an: „Derzeit werden elterliche Er-
                                               ziehung und frühe Tagesbetreuung als
FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN                         gleichwertige Alternativen dargestellt. Neu-
    Die beschriebene Problematik früher au-    robiologisch basierte Forschung führt jetzt
ßerfamiliärer Betreuung wird von internatio-   zu einer deutlich veränderten Perspektive.
nalen Forschern verschiedener Fachrich-        … Egal wie unangenehm es sein mag, un-
tungen zunehmend wahrgenommen:                 sere Gesellschaft braucht neue, ehrliche
    Megan Gunnar, führende Stressforsche-      Rahmenbedingungen für frühkindliche Be-
rin in den USA, schreibt in einer Studie zur   treuung.“21
Tagespflege: „Die Tatsache, dass dieser
(Cortisol)Anstieg mit ängstlichem Verhalten    AUSBLICK
bei Mädchen und aggressivem Verhalten              Mit dem zunehmenden Bewusstsein für
bei Jungen verbunden ist, kann uns hin-        die Probleme frühkindlicher außerfamiliärer
sichtlich potenzieller Auswirkungen auf die    Betreuung stehen wir in den Industrielän-
kindliche Entwicklung nicht optimistisch       dern am Anfang eines gesellschaftlichen
stimmen.“17                                    Prozesses, der Zeit erfordern wird. Es ist
    Kerstin Uvnäs-Moberg, renommierte          allerdings dringend geboten, dass wir mit
Neurobiologin aus Schweden, stellt fest:       Blick auf das Kindeswohl ökonomistische,
„Lang anhaltender Stress ist schädlich für     aber auch feministische Ideologien, die flä-
Funktionen, die mit Entwicklung und Wachs-     chendeckende, immer frühere und länger-
tum zu tun haben. … Auch auf der Ebene         dauernde außerfamiliäre Betreuung fordern,
der Gesellschaft sollte sich der Gedanke       hinterfragen. Dies hat primär nichts mit

            ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
RAINER BÖHM

Konservatismus oder Restauration zu tun.                  10
                                                               Roisman, Glenn I. / Susman, Elizabeth / Bar-
Der Anspruch unserer Kinder auf Gesund-                        nett-Walker, Kortnee u. a.: Early Family and
heit und Wohlbefinden ist schlicht ein Men-                    Child-Care Antecedents of Awakening Cortisol
schenrecht, das anhaltender Wachsamkeit                        Levels in Adolescence, in: Child Development
                                                               80/2009, S. 907-920.
bedarf.                                                   11
                                                               Tarullo, Amanda R. / Gunnar, Megan R.: Child
                                                               Maltreatment and the developing HPA axis, in:
||   DR. MED. RAINER BÖHM                                      Hormones and Behavior 50/2006, S. 632-639.
                                                          12
     Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin,                   Böhm, Rainer: Die dunkle Seite der Kindheit, in:
     Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am                Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2012.
                                                          13
     Evangelischen Krankenhaus Bielefeld-Bethel                McCrory, Eamon / De Brito, Stephane A. / Viding,
                                                               Essi: Research Review: The neurobiology and
                                                               genetics of maltreatment and adversity, in:
                                                               Journal of Child Psychology and Psychiatry
ANMERKUNGEN                                                    10/2010, S. 1079-1095.
                                                          14
1                                                              Bloom, David E. / Cafiero, Elizabeth T. / Jané-
     Heinrich, Joachim / Koletzko, Berthold: Kinderge-
                                                               Llopis, Eva: The Global Economic Burden of
     sundheit und Kinderbetreuung bei Unter-3-
                                                               Noncommunicable Diseases, Cologny / Geneva
     Jährigen, in: Monatsschrift Kinderheilkunde
                                                               2011, S. 26-27.
     156/2008, S. 562-568.                                15
2                                                              http://www.fachportal-bildung-und-seelische-
     Böhm, Rainer: Auswirkungen frühkindlicher
                                                               gesund
     Gruppenbetreuung auf Entwicklung und Ge-
                                                               heit.de/index.php?option=com_content&view=ar
     sundheit, in: Kinderärztliche Praxis 82/2011,
                                                               ticle&id=18&Itemid=181, Stand: 21.7.2012.
     S. 316-21.                                           16
3                                                              www.dgspj.de
     Bensel, Joachim: Ist die Tagesbetreuung in           17
                                                               Gunnar, Megan R: The Rise in Cortisol in Fami-
     Krippen ein Risiko? Eine kritische Beurteilung
                                                               ly Daycare: Associations With Aspects of Care
     der internationalen Krippenforschung, in: Zeit-
                                                               Quality, Child Behavior, and Child Sex, in: Child
     schrift für Pädagogik 40/1994, S. 303-326.
4                                                              Dev 81/2010, S. 851-869.
     NICHD Early Childcare Research Network:              18
                                                               Uvnäs-Moberg, Kerstin: Die Funktion von Oxy-
     Child Care Effect Sizes for the NICHD Study of
                                                               tocin in der frühen Entwicklung, in: Bindung und
     Early Child Care and Youth Development, in:
                                                               frühe Störungen der Entwicklung, hrsg. von
     American Psychologist 61/2006, S. 114.
5                                                              Karl-Heinz Brisch, Stuttgart 2011, S. 13-33.
     Baker, Michael / Gruber, Jonathan / Milligan,        19
                                                               http://www.zeit.de/2012/16/Gespraech-
     Kevin: Universal Childcare, Maternal Labor Sup-
                                                               Blackburn-Klein, Stand: 29.8.2012.
     ply      and       Family    Well-Being,     2005,   20
                                                               Spork, Peter: In der depressiven Falle, in:
     http://faculty.arts.ubc.ca/kmilligan/
                                                               Frankfurter Rundschau, 21./22.11.2009, S. 12.
     research/childcare.oct2005.final.pdf,       Stand:   21
                                                               Sigman, Aric: Mother superior? The Biological
     8.7.2011.
6                                                              Effects of Day Care, in: The Biologist 58/2011,
     Vermeer, Harriet J. / Ijzendoorn, Marius H. van:
                                                               S. 28-32.
     Children's elevated cortisol levels at daycare: A
     review and meta-analysis, in: Early Childhood
     Research Quarterly 21/2006, S. 390-401.
7
     Wie sich dieser Sachverhalt zum Verbot der
     Kinderarbeit, eine Errungenschaft fortschrittli-
     cher Gesellschaften, verhält, wurde bisher öf-
     fentlich nicht diskutiert.
8
     Lupien, Sonia J. / McEwen, Bruce S. / Gunnar,
     Megan R. / Heim, Christine: Effects of stress
     throughout the lifespan on the brain, behaviour
     and cognition, in: Nat Rev Neurosci 10/2009,
     S. 434-445.
9
     Böhm, Rainer / Böhm, Dorothea: Krippenbe-
     treuung – Risikofaktor Stressbelastung, Poster
     beim Deutschen Kongress für psychosomati-
     sche Medizin und Psychotherapie, München
     2012,           http://www.fachportal-bildung-und-
     eelische-gesundheit.de/index.php?option
     =com_content&view=article&id=13&Itemid=177,
     Stand: 30.8.2012.

                ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 2013
Sie können auch lesen