Studie Abschreckung im 21. Jahrhundert - Nr. 16 | Mai 2020
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Studie Abschreckung im 21. Jahrhundert Nr. 16 | Mai 2020 Metis Studien geben die Meinung der Autor*innen wieder. Sie stellen nicht den Standpunkt der Bundeswehr, des Bundesministeriums der Verteidigung oder der Universität der Bundeswehr München dar. Metis Studien richten sich an die politische Praxis. Sie werten Fachliteratur, Reports, Pressetexte sowie Hintergrundgespräche mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Ministerien und Denkfabriken aus. Auf Referenzen wird verzichtet. Rückfragen zu Quellen können per Email an die Autor*innen gerichtet werden.
Metis Studie | Nr. 16 Abschreckung im 21. Jahrhundert Zusammenfassung A uf den ersten Blick fußt Abschreckung auf einer einfachen Idee: Ein Akteur droht mög- lichen Angreifern glaubhaft Vergeltung an. Er überzeugt sie auf diese Weise, dass die Kosten einer Aggression den Nutzen übersteigen. So verhindert Abschreckung Kriege. Auf den zweiten Blick wirft das Konzept schon seit Beginn des Atomzeitalters Fragen auf. Die vorliegende Studie prüft im Lichte aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen, ob und wie es noch anwendbar ist. Das Konzept der Abschreckung oder auch den US-Sicherheitsgarantien in Asien. „Direkte Abschreckung ist als Konzept durchgehend in der Ge- Abschreckung“ dient hingegen nur dazu, Angriffe auf das schichte politischer und militärischer Auseinandersetzun- eigene Territorium zu verhindern. Besteht wechselsei- gen anzutreffen. Aber erst im Kalten Krieg gewann es – in tige Abschreckung zwischen zwei Akteuren, die beide Gestalt der nuklearen Abschreckung – akademisch und überzeugt sind, dass sie ihr Gegenüber in einem Ver- praktisch seine bis heute anhaltende, hervorgehobene geltungsschlag sicher zerstören können (mutual assured Bedeutung. Abschreckung kann auf zwei Arten, durch An- destruction), ist vom Zustand der strategischen Stabilität drohung einer Bestrafung (deterrence by punishment) oder die Rede. durch Verweigerung der Erfolgsaussichten (deterrence by Abschreckung stellt sich nicht von alleine ein. Die „de- denial), erfolgen. Ziel eines Staates A im ersten Fall ist es, likate Balance“ muss mit politischen und militärischen Mit- Staat B glaubhaft zu signalisieren, dass eine bestimmte teln hergestellt werden. Ihr Effekt ist systemisch, wirkt sich Handlung oder ein Angriff rasche Vergeltung durch Staat also auf zwischenstaatliche Verhältnisse aus. Aber aus- A samt der Zerstörung essenzieller Werte in Staat B zur schlaggebend für ihr Funktionieren ist die Beeinflussung Folge haben wird. Im zweiten Fall demonstriert Staat A von (individuellen) Entscheidungsträgern. gegenüber Staat B Widerstand und verdeutlicht so, ohne eine Androhung von Vergeltung, dass die politischen und Theorie und Praxis der Abschreckung militärischen Ziele mittels eines Angriffs nicht erreichbar Die akademische und theoretische Beschäftigung mit sind. Die beiden Modelle sind nicht trennscharf. dem Konzept der Abschreckung kam mit der sogenann- Abschreckung wird häufig im Sinne einer strategischen ten ersten Forschungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg Ambiguität praktiziert. So war während des Kalten Krieges aufgrund der Notwendigkeit auf, dem Atomzeitalter poli- strategische Ambiguität aus Sicht der USA etwa mit Blick tisch zu begegnen. Bereits damals wurden die eingangs auf Deutschland attraktiv. Die Verteidigung des isolierten skizzierten Kernkonzepte entwickelt – ganz offenkundig West-Berlins war nicht praktikabel. Dessen Schutz wurde stark beeinflusst von der bipolaren Ordnung des Kalten daher durch die Androhung von Vergeltungsmaßnahmen Krieges. Die erste Welle hob auf den „Schrecken“ der Ab- anderswo gewährleistet. Wo und wie groß solche Reak- schreckung ab, sprach also buchstäblich davon, dem tionen ausfallen würden, das war der Sowjetunion unbe- Gegenüber Angst einzujagen. kannt. Zurückhaltung in Moskau war die Folge. Die zweite Forschungswelle in den 1950er und 1960er Das Beispiel verdeutlicht zugleich die „erweiterte Ab- Jahren entemotionalisierte das Konzept. Die Angst wurde schreckung“, die das Verhindern von Angriffen auf Dritte aus dem Vokabular gestrichen, und stattdessen wurden zum Ziel hat – zum Beispiel Verbündete oder Partner- rationale Akteure, Kosten-Nutzen-Kalküle und Model- staaten, wie im Falle des US-Nuklearschirms über Europa lierungen mittels Spieltheorie eingeführt in der Absicht, 3
Metis Studie | Nr. 16 Abschreckung im 21. Jahrhundert allgemeingültige Aussagen über Nu- klearstrategien abzuleiten. Der bis heute bestehende Mainstream der Abschreckungstheorie, explizit ver- standen als „Manipulation des geg- nerischen Kosten-Nutzen-Kalküls“, geht auf diese einflussreichen Arbei- ten zurück. Auch das Schlüsselkon- zept der „Eskalationsdominanz“, also selbst stets den einen, entscheiden- den, letztendlich abschreckenden Schritt weiter gehen zu können, geht auf diese Phase zurück. In der dritten Welle ab den 1970er Jahren wurde kognitive Psychologie herangezogen und anhand von Fallstudien überprüft, ob reale Ent scheidungsträger tatsächlich wie rationale Akteure handeln: Es zeigte sich, dass die Annahmen der zwei- ten Welle nur begrenzt Gültigkeit beanspruchen konnten, weil in der Realität Fehlwahrnehmungen, Waghalsigkeit, Ideologie bis hin zu Drogeneinfluss von Entscheidungs- trägern dem, was man als rationa- les Kalkül verstand, zuwiderliefen. Empirische Studien offenbarten da- rüber hinaus, dass Entscheidungs- träger auch aus innerstaatlichen Beweggründen, etwa zur eigenen Machterhaltung, der Abschreckungs- drohung trotzend den Konflikt suchten. In Summe legte die empi- rische Analyse von Abschreckungs- strategien nahe, dass das Konzept das Risiko birgt, genau den Krieg Abb. 1 Permanente Konfrontation: Abschreckung sieht die glaubwürdige Androhung von Vergeltung vor, um kriegerische Eskalation zu verhindern (Checkpoint Charlie, 1961). herbeizuführen, den es eigentlich verhindern soll. Mit anderen Worten: Man hatte das in der Abschreckungs- theorie inhärente Paradox – dass ihretwillen permanent vorbereitet und glaubhaft angedroht werden muss, was doch eigentlich niemals stattfinden soll – in der Praxis wiedergefunden. Welle die Rede, die für ein Sammelsurium von Ansätzen Eine vierte Welle reagierte nach dem Ende des Kalten steht, das quasi tagesaktuell nicht-kinetische, cyberspe- Krieges auf den Rückgang zwischenstaatlicher Kriege, zifische, terroristische und hybride Risiken mit diploma- den Anstieg innerstaatlicher Konflikte und das Phäno- tischen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen men des internationalen Terrorismus. Asymmetrische Mitteln adressieren soll, damit aber nur mehr analytische Akteurskonstellationen und sogenannte „Schurken- Konfusion rund um das Konzept der Abschreckung er- staaten“ rückten in den Blick – erneut wurden, in der zeugt. Längst droht, auch angesichts der seit dem Kalten Diskussion um Motive von Selbstmordattentätern und Krieg nicht thematisierten Paradoxien und problemati- Wertvorstellungen von Autokraten, die westlichen Vor- schen Grundannahmen, eine konzeptionelle Überdeh- stellungen von Rationalität in der Mainstream-Abschre- nung, die im Begriff ist die Idee der Abschreckung ad ckungstheorie hinterfragt. Aktuell ist von einer fünften absurdum zu führen. 4
Metis Studie | Nr. 16 Abschreckung im 21. Jahrhundert Voraussetzungen für das Funktionie- ren von Abschreckung nicht gege- ben sind. Im Informationsraum werfen Cy- berangriffe die Frage auf, ob diese sich abschrecken lassen. Das Haupt- problem bei der Anwendung von Abschreckung im Cyberraum ist das sogenannte Attributionsproblem, also die fehlende Möglichkeit, den Urheber eines Cyberangriffs eindeu- tig zu bestimmen. Wenn ein Staat einen Angreifer lokalisieren kann, beispielsweise in einem Internetca- fé oder Privathaushalt in Asien, wäre diese Information nur bedingt hilf- reich um auf den Angriff tatsächlich ausführenden Akteur zu schließen. Selbst wenn der Angriff auf ein Re- chenzentrum eines lokalen Militärs zurückgeführt würde, bliebt das Risiko bestehen, dass Elemente der Cyber- architektur des vermeintlichen Verur- sacherstaats in Wahrheit durch Dritte kompromittiert wurden. Diese Prob- lematik wird zunehmend komplexer, da einige Staaten nicht-staatliche Ak- teure für Operationen im Cyberraum beauftragen. Dadurch kann der an- gegriffene Staat auch mit ausgereif- ter Cyberintelligence die glaubhafte Abstreitbarkeit (plausible deniability) (Quelle: wikimedia) des vermeintlichen Verursacherstaats nur schwer oder nur nach sehr zeit- intensiven forensischen Untersuchun- gen entkräften. Die Androhung einer raschen Vergeltung im Sinne der deterrence by punishment läuft somit mangels Adressaten ins Leere. Durch die Anstrengungen staat- licher Akteure, den Cyberraum und kritische Infrastrukturen gegen Cyber- angriffe zu schützen, hat sich in den letzten Jahren die Hürde für erfolgrei- Abschreckung in neuen Räumen? che Cyberangriffe stark erhöht. Gegnerische Netzwerkope- Die „klassische“ Abschreckungstheorie des Kalten Krieges rationen müssen mehr Ressourcen, Energie, Personal und und ihre Anwendung in der Praxis war, wenngleich nicht Zeit aufwenden, um einen erfolgreichen Angriff auf staat- so verlässlich und verallgemeinerbar wie während der liche Schlüsselkapazitäten durchzuführen. Ein Angriff auf zweiten Welle erhofft, zweifellos nicht ohne Effekt. Dass militärische Strukturen mit einem Laptop aus dem Inter- sie das Verhalten zwischen Nuklearwaffenstaaten regu- netcafé ist höchstens in Hollywoodfilmen plausibel. Somit liert, lässt sich schwerlich bestreiten, auch wenn vielleicht kann davon ausgegangen werden, dass zumindest deter- bis heute nicht verstanden sein mag, wann wie viel ratio- rence by denial gegen eine Vielzahl ressourcenschwacher nales Kalkül oder doch blanke Angst im Spiel ist. Im Falle Akteure erfolgreich angewendet werden kann. Das Kon- neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen sticht al- zept der Resilienz spielt hier eine hervorgehobene Rolle, lerdings ins Auge, dass bereits einige der grundlegenden wie im Folgenden noch weiter ausgeführt werden wird. 5
Metis Studie | Nr. 16 Abschreckung im 21. Jahrhundert Für den Weltraum werden zum einen Szenarien auf- Fehlwahrnehmung, Signale im militärischen Kontext ge- geworfen, die die Anwendbarkeit klassischer Abschre- sendet werden müssen, würde eine deterrence by resilience ckungskonzepte in Zweifel ziehen. Zum anderen ergeben einfach aus Robustheit und der demonstrierten Fähigkeit sich mit der militärischen Nutzung des Weltraums neue zur Absorption von Angriffen erwachsen. Es geht also Szenarien, in denen die „delikate Balance“ am Boden tan- nicht um Abwehr und Gegenangriff in Reaktion auf, bei- giert würde. spielsweise, hybride Angriffe, sondern, in Anlehnung an Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Gruppe der „üb- gängiges Abschreckungsvokabular, um das Entwickeln lichen Verdächtigen“ im Orbit mangels Verbreitung von von „Absorptionsdominanz“ und damit das Beherrschen Weltraumkapazitäten sehr überschaubar. Durch das Vor- der Schadensentfaltung sowie der zeitlichen Dimension dringen privater Akteure besteht hier nun mit Blick auf zwischen Angriff und Rückkehr zum status quo ex ante. kinetische Wirkungen ein Attributionsproblem, welches Wenn Staat A also beispielsweise eine hybride Interven- – wie oben geschildert – im Falle nicht-kinetischer Ope- tion seitens Staat B durch Fake-News oder Cyberangriffe rationen schon länger Bestand hatte. Auch hier läuft die nahezu unbeschadet und unbeeindruckt – ohne nen- gängige Abschreckungspraxis ins Leere. nenswerte Kosten – übersteht, reduziert dies drastisch Neue Weltraumfähigkeiten wie Anti-Satellitenraketen die Wahrscheinlichkeit eines zweiten, ähnlich gearteten oder andere Wirkmittel 1 können zudem etwa die Früh- Angriffs. Um diesen Ansatz zu implementieren, müssten erkennung eines nuklearen Erstschlags oder sogar die Staaten ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, eine nukleare Zweitschlagfähigkeit gefährden, also die strate- gesamtstaatliche, alle kritischen Bereiche umfassende Wi- gische Stabilität unterminieren. Die Abschreckungslogik derstands- und Absorptionsfähigkeit aufzubauen, um so wäre in diesem Fall intakt. Es ergeben sich allerdings neue gegen Angriffe und Disruption resilienter zu werden. Risiken für ihre Wirkung als stabilem Garant für den anhal- Auch solche Gedankenspiele sind nicht frei von analyti- ten Nichtgebrauch von Nuklearwaffen. So wäre zum Bei- schen und praktischen Fallstricken, da im oben genannten spiel denkbar, dass ein Nuklearwaffenstaat einen Angriff Beispiel ein Angriff eventuell kaum als solcher registriert auf seine weltraumgestützten Fähigkeiten mit nuklearer werden könnte und, wenn doch, dann mitunter auch nur Vergeltung – im Sinne eines use them or lose them – zu schwer einem bestimmten Akteur zugeordnet werden beantworten, um einer Außerkraftsetzung seiner Zweit- kann. Auch hier begegnen wir also dem Attributionspro- schlagfähigkeit zuvorzukommen. blem – allerdings in entschärfter Form, denn da im Rah- men einer Resilienzstrategie keine Vergeltungsdrohung Abschreckung als Resilienz? ausgesprochen würde, könnten fehlende Attributions- Die Abschreckung begleitet die Menschheit in Theorie möglichkeiten auch nicht deren Glaubwürdigkeit unter- und Praxis also ins 21. Jahrhundert, wenngleich dabei minieren. Identität und Intention des Angreifers wären, alte und neue Fragen aufgeworfen werden. Eine vielver- zumindest fürs erste, gleichgültig, so lange er denn kräf- sprechende, vorausschauende Überlegung besteht darin, tig entmutigt und von erneuten Anläufen abgeschreckt über Abschreckung insbesondere in neuen Anwendungs- würde. Mit anderen Worten: Die Resilienzstrategie selbst bereichen radikal vereinfacht und im Sinne von Resilienz ist, etwa mit Blick auf den Cyberraum, resilienter als eine nachzudenken – wodurch man sich nebenbei auch dem Abschreckungsstrategie. Abschreckungsparadox und anderer Altlasten der Ab- Das Konzept der Abschreckung – insbesondere seine schreckungstheorie, wie etwa dem stets schwelenden nukleare Dimension – birgt Risiken, bleibt aber weltweit Problem der Glaubwürdigkeit, entledigt. Ein solcher Denk- strategisch fest verankert. Nicht jedes neue Phänomen anstoß würde die Grundlogik der deterrence by denial zum der Sicherheitspolitik kann – und sollte – mit Abschre- Ausgangspunkt nehmen. ckung adressiert werden. Aber Abschreckungstheorie Die Idee dabei bliebe, einem potenziellen Angrei- und die von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse fer die Sinnlosigkeit seines Unterfangens zu verdeutli- ihrer Anwendung in der Praxis, können als Impuls dienen chen, weil es offenkundig keinen Erfolg verspricht. Aber für neue, der Komplexität der heutigen sicherheitspoliti- während dazu in der klassischen Abschreckungstheorie schen Herausforderungen angemessenen strategischen im Sinne eines deterrence by denial, mit dem Risiko der Überlegungen. 1 Siehe „Sicherheitspolitische Dimensionen der Weltraum nutzung“, Metis Studie Nr. 13 (August 2019). 6
IMPRESSUM Herausgeber Metis Institut für Strategie und Vorausschau Universität der Bundeswehr München metis.unibw.de Autor Dr. Konstantinos Tsetsos metis@unibw.de Creative Director Christoph Ph. Nick, M. A. c-studios.net Bildnachweis Titel: Grafik von ndul auf 123RF S. 4/5: Photo von USAMHI auf wikimedia ISSN-2627 – 0587 Dieses Werk ist unter einer Creative Commons Lizenz vom Typ Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International zugänglich.
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